Pressemitteilung der Universität Duisburg-Essen

Professor Flüchter über Enteignungsverfahren in Peking

Zwangsumsiedlungen für Olympia

[15.05.2008] Das Erscheinungsbild chinesischer Städte verändert sich in rasantem Tempo. Die für die Olympischen Spiele 2008 errichteten Stadien und Sportpaläste gelten bereits jetzt als architektonische Glanzpunkte und Schaufenster des modernen Pekings.

Doch die Intensität der Verstädterung wäre ohne die rigorose Anwendung von Enteignungsverfahren gar nicht möglich, darauf weist Prof. Dr. Winfried Flüchter von der Uni Duisburg-Essen hin. Für die neue Ausgabe der Geographischen Rundschau (Heft 05/2008) hat der Experte für Kulturgeographie zusammen mit seinem Kollegen Weiluo Wang den Bau der Unternehmenszentrale des chinesischen Staatsfernsehens (CCTV) analysiert.

Mit seiner spektakulären Architektur gehört der geplante CCTV-Firmensitz zu den prestigeträchtigsten Bauvorhaben Chinas. Professor Flüchter analysiert in seinem Bericht unter anderem Aspekte wie fristgerechte Fertigstellung, Projektstandort, bauliche Ausnutzung des Grundstücks sowie gesetzliche Regelungen der Enteignung und vergleicht sie mit Deutschland. Sein Fazit: Die Voraussetzungen für die Enteignung sind nicht erfüllt. Auch der Zeitpunkt der Fertigstellung und die Ausnutzung des Neubaus hält der UDE-Wissenschaftler für fragwürdig.

Im Vergleich zu Deutschland ist das Enteignungsverfahren in China kurz und einfach. Da es weder ein Enteignungsgesetz noch ein unabhängiges juristisches System gibt, ist ein Prozess der betroffenen Anwohner gegen eine Enteignung so gut wie aussichtslos. „Nach chinesischer Verfassung dient eine Enteignung dem Wohl der Allgemeinheit“, erklärt Professor Flüchter. „Da das Projekt der CCTV für die Fernsehübertragung der Olympischen Spiele 2008 vorgesehen ist, hatten die meisten Betroffenen keinen Zweifel an der Zulässigkeit dieser Enteignung.“

Gemäß chinesischem Gesetz gehört städtischer Grund und Boden dem Staat. So wurde bereits 2004 mit dem Bau begonnen, ohne dass die Nutzung der Restflächen, auf denen zu diesem Zeitpunkt über neunhundert Familien wohnten, geklärt war. CCTV beantragte bei der Stadtbezirksregierung die Enteignung, der Vorgang wurde von der Stadtregierung genehmigt und die Bewohner mit Entschädigungszahlungen, die allerdings viel zu gering waren, zum Wegzug bewegt. Einige Familien waren mit dem Angebot nicht zufrieden und harrten solange aus, bis die letzten Flächen 2006 zwangsgeräumt wurden. Neben der aussichtslosen Lage, in die die Bewohner gebracht werden, kritisiert der Wissenschaftler vor allen Dingen die viel zu geringe Höhe der Entschädigungszahlungen, die nicht den ortsüblichen Immobilienpreisen entsprechen.

Auch sieht Flüchter Probleme bei der fristgerechten Fertigstellung und der baulichen Ausnutzung des Grundstücks. Er mutmaßt, dass der Baukomplex in seiner Gesamtheit nicht vor Ende 2008 fertig gestellt wird. Pünktlich zum Beginn der Sommerspiele wird gerade mal die Hälfte des Bauplans umgesetzt sein. Zudem kritisiert der Ostasienexperte, dass der Neubau für die mediale Berichterstattung keine zentrale Rolle spielt: „Weniger als 50 Prozent der riesigen Geschossfläche wird das Staatsfernsehen überhaupt benötigen.“ Die restliche Fläche wird laut Bauplan für ein Fünf-Sterne-Hotel, luxuriöse Penthousewohnungen, Kinos, Theater, Fitnesscenter und viele Ladenlokale für den gehobenen Bedarf verplant.

Dies könnte in Deutschland so nicht passieren: Hier darf ein Grundstück nur in dem Umfang enteignet werden, in dem dies zur Verwirklichung des Enteignungszwecks erforderlich ist. In China gibt es diese Einschränkungen nicht. „Auf dem Grundstück von CCTV lagen die enteigneten Wohngebäude nicht auf der Grundfläche des Neugebäudes, sondern zum Teil mehr als 100 Meter davon entfernt, die Enteignung diente ausschließlich der Schaffung von Verkehrs- und Freiflächen für das Neugebäude.“

Flüchter erkennt im Verlauf des Bauvorhabens „einen klassischen Fall von Rent-seeking“, also dem Erpressen von Rente. In diesem Fall hat das Staatsfernsehen versucht, die Stadtregierung beispielsweise mit Geld so zu beeinflussen, dass es ein zusätzliches, leistungsloses Einkommen erwirtschaftet. Die dafür aufgewendeten Mittel werden aus ökonomischer Sicht verschwendet, da die Abschöpfungen durch die Produzenten (neben CCTV auch das Abriss- und Umsiedlungsunternehmen und die Stadtregierung) auf Kosten der Betroffenen, also den zwangsenteigneten Familien, wachsen.

Redaktion: Cathrin Becker, Tel 0203/379-1489

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