Bericht

Zum Vortrag „Denaturierung der Lebenswelt. Sinn und Funktion der Geisteswissenschaften“ von Prof. Dr. Axel Honneth am 22. Mai

Prof. Honneth illustrierte in seinem Vortrag anhand des idealtypischen Verlaufes des Lebens einer Schülerin an einem Gymnasium, auf welch vielfältige Weise die Geisteswissenschaften, zu denen er auch die Rechtswissenschaften und die Sozialwissenschaften zählt, zum Verständnis und Gelingen unseres sozialen Zusammenlebens beitragen. Unter Rückgriff auf Denkmotive des amerikanischen Pragmatisten John Dewey zeigte Honneth drei Funktionen der Geisteswissenschaften auf, die sich entlang der Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzeigen ließen. Anhand paradigmatischer Konflikte, die bis in die Lebenswelt heutiger Heranwachsender hereinreichen (Gleichberechtigung der Geschlechter, Umgang der Politik mit der eigenen Vergangenheit (Stichworte: Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur), Mitbestimmungsrechte (z.B. Wahlrecht, Aufbau der Verfassung)) machte Honneth deutlich, wie stark sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Gegenwart durch die in den Geisteswissenschaften entwickelten Theorien, Leitideen und Modelle geprägt sind und unsere Orientierung – wie vermittelt auch immer – implizit auf das in den Geisteswissenschaften kritisch geprüfte und erzeugte Wissen zurückgreift. So erfährt die Schülerin bezüglich der genannten Konfliktfelder viel z.B. von der Familie, Freunden und Verwandten sowie aus der Tageszeitung, später evtl. auch aus Büchern oder Internetquellen, wobei viele dieser Quellen letztlich auf die Erträge geisteswissenschaftlicher Forschung zurückgreifen.

Bezüglich unserer eigenen Vergangenheit haben die Geisteswissenschaften die Aufgabe, unseren Traditionsbestand immer wieder aufs Neue kritisch zu durchmustern, auf seinen für die Gegenwart und Zukunft relevanten Gehalt hin zu prüfen und uns in der Gegenwart Orientierung zu ermöglichen. Bezüglich unserer eigenen Gegenwart besteht die Funktion der Geisteswissenschaften darin, diese an unseren eigenen normativen Ansprüchen und Zielen kritisch zu messen und sowohl diese Ansprüche als auch deren Umsetzungsversuche und Vorschläge immer wieder in Rückgriff auf den Traditionsbestand der Vergangenheit und unter Etablierung neuer Theoriebausteine zu prüfen. Bezüglich der Dimension der Zukunft übernehmen die Geisteswissenschaften die Funktion, in zahllosen Kontexten Vorschläge und Möglichkeiten (z.B. im Rahmen von potentiellen Gesetzesänderungen oder anhand der Analyse und Interpretation von literarischen Werken) zu mustern und durchzuspielen, wie eine gelingende Zukunft im Horizont unser Norm- und Wertvorstellungen gelingen kann und vor drohenden Fehlentwicklungen zu warnen.

Honneths Vortrag zeichnete sich vor allem durch eine hohe Sensibilität gegenüber der Eigenart des Zusammenhangs unseres alltäglichen Wissens und dessen sehr vermittelter Rückgebundenheit an geisteswissenschaftliche Forschung aus. Zum Abschluss des Vortrags trat Prof. Honneth noch einmal energisch dafür ein, die Rolle der Geisteswissenschaften für eine gelingende demokratische Gesellschaft keinesfalls zu unterschätzen.

24.05.2013/tr