Kultur und kulturelles Gedächtnis

 

Gaby Herchert / Karl Helmer

 

Wissenschaften organisieren Wissen nach Leitbegriffen, die in der Regel aus einer Disziplin stammen, die augenblicklich große Erfolge verzeichnet und Theorien anbietet, die sich auf andere Gebiete (scheinbar) einfach übertragen lassen. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Biologie die Leitwissenschaft. Die Trias „Wachstum – Blüte – Verfall“ wurde als Erklärungsmodell vielfältig genutzt. Man sprach von Wachstum, Blüte und Verfall eines Volkes, einer literarischen Gattung, einer Wissenschaft. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlangte der Begriff ‚Gesellschaft’ Leitfunktion. Den theoretischen Hintergrund lieferte die Kritische Theorie. Überall wurden Muster unterstellt und „entdeckt“, die dem Gedanken von Gesellschaft entsprachen. Sowohl die Fragestellungen als auch die Deutungen richteten sich nach dieser Perspektive. Historiker veröffentlichten spezielle Werke zu gesellschaftlichen Gruppen, Bauern in der Antike, Spielleute in Mittelalter, Frauen in den Städten der frühen Neuzeit. In der Biologie sprach man von Pflanzengesellschaften.

Seit einigen Jahren ist der Begriff ‚Kultur’ zu einem Leitbegriff avanciert, und er hat den der Gesellschaft in dieser Funktion abgelöst. Zuletzt war Kultur im Kontext bürgerlicher Vorstellungen von Bildung und Deutschtum aktuell, und aus dieser Zeit stammt die Vorstellung einer nationalen deutschen Kultur, die geprägt ist von „Dichtern und Denkern“. Damals entstand die Tendenz, Kultur als Bestand von Bildungsinhalten festzuschreiben. Die Werke von Goethe, Schiller und Lessing, das Nibelungenlied und der Minnesang, die philosophischen Schriften von Kant und Hegel, die Musik von Bach, Mozart und Beethoven wurden als kulturelles Erbe gehandelt, und wer sie kannte, hatte Teil an Kultur und Bildung. Die Idee der nationalen deutschen Kultur war eng verbunden mit dem deutschen Nationalismus und wurde vom Nationalsozialismus ideologisiert. Dies führte dazu, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Kultur als Träger der Menschenverachtung heftig kritisiert wurde; Adorno nannte Kultur Müll.

Mittlerweile ist Kultur wieder salonfähig geworden und man bemüht sich um neue Definitionen. Zeigte der Begriff ‚Gesellschaft’ horizontale Strukturen, so ist der der ‚Kultur’ durch eine vertikale Zeitstruktur bestimmt. Vergangenes wird in der Erinnerung aktuell. Kultur übersteigt die Dimension der Geschichte, indem aus je gegenwärtigen Notwendigkeiten Vergangenes als Leitbild erinnert wird. Der Ägyptologe Jan Assmann erläutert eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die die Bedeutung von Kultur für die jeweils gegenwärtige Orientierung herausstellt. Durch die Erinnerung an zeitlich Zurückliegendes entstehen konnektive Strukturen, die Orientierungen in der Gegenwart ermöglichen. Assmann wählt zur Erläuterung die fernliegende Zeit der ägyptischen Geschichte mit der Absicht, gleichsam archäologisch verfahrend, die Funktion der Erinnerung als Konstruktionsmoment von Kultur ohne direkte Bezüge zur Gegenwart distanziert vorzustellen.

I

Jede Gemeinschaft ist bestimmt durch ihre zugrundeliegenden konnektiven Strukturen, sie ist Gemeinschaft in Bezug auf ihre gemeinsamen Erinnerungen, Riten, Traditionen, Regeln und Werte, ihr Wissen und ihre gemeinsamen Handlungen und Erfahrungen. Jede Gemeinschaft imaginiert Selbstbilder, die über die Generationenfolge hinweg durch vermittelte Erinnerungen kontinuiert werden. Dieses kollektive Gedächtnis hat gemeinschaftsstiftende Funktion, sofern es nicht beliebig übertragbar ist, sondern die Zugehörigkeit derer bezeugt, die an ihm teilhaben. Es umfasst die Summe ihrer Gemeinsamkeiten, den Rahmen der „Kultur“ dieser Gemeinschaft.

Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft lässt sich differenzieren in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist alltagsbezogen, das kulturelle alltagsfern. Alltagsbezogen sind Kenntnisse darüber, was auf dem Markt geschieht, welche Preise für Brot zu zahlen sind, wo man gut parkt, welche Autobahn man wann tunlichst meidet, welcher Politiker in, welcher out ist etc. Man tauscht sich darüber aus, gibt Meinungen und Erfahrungen weiter, leitet Wechsel und Änderungen ein. Was gestern war, interessiert nicht sehr, eher das, was heute ist und morgen sein wird, eben das, was die momentane Lebensbewältigung verlangt. Das kommunikative Gedächtnis hat eine synchrone Zeitstruktur, es umfasst drei bis vier Generationen, und sein Bezugspunkt ist das Gegenwärtige. Thematisiert und erinnert wird das, was aus je eigener Anschauung und Erfahrung direkt vermittelt werden kann. Da sich das kommunikative Gedächtnis autopoetisch aufbaut, ist das Wissen um seine Inhalte unstrukturiert, es basiert auf informeller Überlieferung, an der jeder gleichermaßen teilhaben kann. Der Wechsel der Generationen hält das kommunikative Gedächtnis in ständigem Fluss, indem Neues, Aktuelles hinzukommt, anderes aus dem synchronen Erinnerungsraum ausscheidet und vergessen wird. Einzelnes manifestiert sich als bedeutsam und scheint wert, längerfristig erinnert zu werden.

Das kulturelle Gedächtnis gibt dem Wechsel eine bleibende Struktur und ermöglicht dauerhafte Orientierung. Es hat eine diachrone Zeitstruktur, die Kommunikation erfolgt entlang der Generationenlinie, indem weit in die Vergangenheit zurückreichende Überlieferungen tradiert werden. Es ist ein Archiv von Wissensbeständen, die als Erinnerungsfiguren kulturell geformt sind. Texte, Bilder, Denkmäler, Riten und andere Formen institutionalisierter Kommunikation werden bewahrt, stehen zur Verfügung und können in der gegenwärtigen Situation aktualisiert werden. Diese Aktualisierung der Wissensbestände wirkt konnektiv und ist identitätskonkret, indem Zugehöriges von Nichtzugehörigem, Eigenes von Fremdem getrennt wird. Sie erfolgt rekonstruktiv und ist perspektivisch auf das Gegenwärtige bezogen, so dass die Aneignung eine je eigene ist und auf das aktuelle normative Selbstbild der Gruppe bezogen wird.

Der Kreis der Feste im Jahreslauf erinnert an Ereignisse der Vergangenheit, die Funktion des kulturellen Gedächtnisses ist es, diese zu vergegenwärtigen und sie als Orientierungen für Gegenwärtiges und Zukünftiges zu präsentieren. Geburt, Tod und Auferstehung des Jesus von Nazareth werden als Feste der Hoffnung gefeiert, der 3. Oktober wird als Tag der Identität der Deutschen begangen, das Gründungsfest des Vereins als Fest des Selbstbewusstseins, der Rüstung für kommende Jahre.

II

Das kulturelle Gedächtnis ist organisiert durch die institutionelle Absicherung der Kommunikation und die Spezialisierung seiner Träger, es bedarf der Pflege, denn es formt und erhält sich nicht von selbst. Es braucht Archive, die die Erfahrungen, das Denken und Handeln vergangener Generationen bewahren und es bedarf der Mühe, das Vergangene zu erinnern, es urteilend zu gewichten und das Wichtige zu binden, das Unwichtige beiseite zu stellen. Manches entfällt nach einiger Zeit, wird wieder aufgegriffen oder auch nicht, Neues kommt hinzu. Damit Kultur wirken kann und Orientierungen im Zusammenleben der Menschen möglich werden, müssen Menschen gebildet sein. Sie brauchen Ausbildung, damit das Leben gemeistert werde, sie brauchen Bildung, damit das Leben Orientierung erfahre. Kultur und Bildung sind Komplementärbegriffe.

Wenn diese Überlegungen greifen, hat das Konsequenzen. Ohne ein vielschichtiges kulturelles Gedächtnis muss ein Zusammenleben der Menschen orientierungslos werden, es verfällt zwangsläufig dem Tagesgeschehen. Politik vermag dann keine Perspektiven zu setzen, sie reagiert auf alles und jedes gleichermaßen nervös, und letztlich diktiert die nackte Macht das Geschehen. Wenn heute betont wird, Schüler*innen und Studierende müssten auf den Beruf vorbereitet werden, so hat das gewiss gute Gründe. Wenn zugleich der Verzicht auf alles propagiert wird, was nicht der wirtschaftlichen Praxis dient, so ist das für ein Gemeinwesen gefährlich, weil den Menschen die Mitwirkung an der Bestimmung künftigen Lebens genommen wird und sie mehr und mehr auf ihre Funktionen in der Wirtschaft reduziert werden.

Zugleich wird deutlich, dass nicht alles, was Menschen tun oder niederschreiben, sinnvoll dem Gedanken der Kultur zuzuschlagen ist. Nicht jede Idee oder Errungenschaft der Menschen ist von der Art, dass sie kulturell erinnert werden sollte. Manches auch, das werbend mit dem Etikett der Kultur dekoriert wird, sollte besser mit dem Prädikat der Zivilisation belegt werden. Es ist des Merkens für eine Zeit wert, bietet aber kaum Orientierungen. So mag man unsicher bleiben, ob der Thyssen-Industriepark, die Zeche Zollverein orientierender Kultur zuzuschlagen sind, wie die Region und die Städte, wie besorgte Bürgermeister es verkünden, oder ob sie dem zeitbegrenzten kommunikativen Gedächtnis verbleiben und verfallen.

III

Zur Kultur gehört Religion. Kultur verlangt den Gedanken des Überschreitens der momentanen Lebensnotwendigkeiten zu Übergreifendem, der individuellen Lebenszeit zu Dauerhaftem, der Beschwörung dauerhaften Sinns, der Anerkenntnis der Machtlosigkeit angesichts des Sterbens, der Hoffnung, nicht verloren zu sein. Die Geschichte bietet vielfältige und vielschichtige Bilder der religiösen Bewältigung dieser Fragen: Der tradierte und gefestigte Kult, der dem jährlich Wiederkehrenden folgt, der Nilüberschwemmung, der Sonnenwende oder der jährlich erneut gefeierten Heilsgeschichte im jüdischen, christlichen oder islamischen Jahreskreis. Religion durchbricht die unmittelbare Sorge um das tägliche Leben, sie liefert die Motive für theoretische Anstrengungen, die hinter die äußerliche Erscheinung schauen lassen, sie drängt zu Bau- und Bildwerken. Ihr Zentrum jedoch ist der gelebte Kult, die Feier, die die Geheimnisse der Götter- und Menschenwelt vergegenwärtigt.

Nun mag man einwenden, die Bedeutung von Religion sei in unseren Zeiten zwar noch erkennbar und in Synagogen, Kirchen, Moscheen sichtbar, doch spiele sie nicht länger eine grundsätzliche Rolle. Das allerdings kann man anders deuten: Mit der Moderne, genauer mit der Aufklärung, distanzierte sich die westliche Welt von der Dominanz der Religionsgemeinschaften. Man suchte die Welt ohne Gott zu erklären und zu beherrschen. Doch führte das keineswegs zur Beseitigung des Religiösen, im Gegenteil, Religionsgemeinschaften lebten weiter. Menschen schufen sich ihre neuen Götter, zunächst in der Gestalt der Göttin Vernunft und ihrer Dienerin, der Wissenschaft. Jeder Mensch, so der Gedanke, partizipiert an dieser Göttlichkeit und kann zur „Besserung des Menschengeschlechts“ beitragen. Der Vernunftgebrauch wird zum Heilsweg der Menschheit stilisiert. Wissenschaft tritt an, die Welt zu erklären, sie zum Paradies zu wandeln und die Menschen von allen Übeln des gebrechlichen Lebens zu befreien. Bis ins letzte Jahrhundert wurde Wissenschaftlern prophetische und priesterliche Autorität zugesprochen.

Aus der monotheistisch angelegten Vernunft und ihrer Institution der Wissenschaft etablierten sich polytheistisch viele Götter, langlebige und kurzzeitige. Säkularisierte, weltliche, von Menschen erdachte Einrichtungen oder Prinzipien wurden sakralisiert, in den Bereich des Religiösen gerückt, wie Geschichte, Nation und Bildung im 19. Jahrhundert. Das Gefühl des Erhabenen und Vollkommenen wurde inszeniert in der Sakralisierung der Kunsttempel der Gegenwart. Gleich einem Pilgerstrom nähern sich seither die Touristen ehrfurchtsvoll den Gemälden Rembrandts im Reichsmuseum, verharren in stiller Andacht und erwerben im Museumsshop ein Souvenir als Pilgerabzeichen.

Familie wurde sakralisiert zu jener vollkommenen Gemeinschaft, die die Familie von Nazareth ersetzt. Weihnachten löste Ostern als höchstes christliches Fest ab. Familie als Insel der Geborgenheit und emotionalen Aufladung wurde mit Sentiment und der Erwartung dauerhaften Glücks überfrachtet. Bis in die Gegenwart fließt in die Kritik der Patch-work-Familien jene sakralisierte Form menschlichen Zusammenlebens als Leitbild ein. Die Überlieferung paradiesischer Vorstellungen in Erzählungen, Bildern, Werbung lässt einerseits die Lebenswirklichkeit defizitär erscheinen, entwirft andererseits Leitvorstellungen und Vorbilder.

Auch Genuss und Konsum werden in unserer Zeit sakralisiert. Esoterische Überhöhungen von Empfindung, Sinnenrausch, Jenseitserfahrungen zeigen religiöse Züge. Der Sport wird zum religiösen Ereignis: Volkslauf und Fußball als Kultsprachen. Wellness und Fitness verehren den Körper als etwas Heiliges. Die Nebenerscheinung der Heiligenverehrung erfährt ebenfalls ihre Kompensationen: Der Star, der Sänger, der große Politiker werden spätestens mit ihrem Tode heiliggesprochen.

Es mag der Andeutungen genug sein: Bis in unsere Zeit bleibt Religiöses oder Quasi-Religiöses, sakralisiertes Weltliches wichtig. Es stellt sich die Frage, ob all diesen Erscheinungen die Kraft zufällt, menschliches Leben zu orientieren, ob sie der Kultur zuzuschlagen sind, so dass sie mit Grund dem dauerhaften Gedächtnis, das über den Tag hinausreicht, zuzurechnen sind, oder ob sie im kommunikativen Gedächtnisses den Alltag nur für kurze Zeit überdeckende pseudoreligiöse Formen sind. Wie auch immer, zur Kultur gehört Religion.

IV

Das kulturelle Gedächtnis ist auf die Dauer des Geschriebenen verwiesen, auf jene Deutungen, die den Rausch des Augenblicks überstanden haben. Texte sind Sprechakte in zerdehnten Situationen, die der Kopräsenz von Sprechern und Hörern nicht bedürfen. Sie sind Ausdehnungen von Kommunikation in Raum und Zeit. Das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes fußt in weiten Teilen auf Schriftlichkeit. Tradition steht als verdinglichter Bestand im Medium schriftlicher Speicherung zur Verfügung, so dass sich Freiräume zu kritischem oder innovativem Verhalten eröffnen. Der Traditionsbestand der Texte wird dem Selbstverständnis der jeweiligen Generationen gemäß kanonisiert. Damit wird zugleich selektiert und archiviert. Neues und Fremdes kann zur Geltung gebracht und lange Zurückliegendes aktiviert, für wichtig Gehaltenes auf Dauer gesetzt werden. Archive sind Tresore des kulturellen Gedächtnisses.