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17.11.2011 - 08:50:51

"Stau-Papst" über den täglichen Wahnsinn auf der Straße

Michael Schreckenberg gilt als Wegbereiter der Physik von
Transport und Verkehr. Wir sprachen mit dem "Stau-Papst" über den täglichen Wahnsinn auf der Straße.

WirtschaftsBlatt.at, 09.11.2011

"Das Einzige, was im Fahrzeug stört, ist der Fahrer"

Michael Schreckenberg gilt als Wegbereiter der Physik von
Transport und Verkehr. Wir sprachen mit dem "Stau-Papst" über den täglichen Wahnsinn auf der Straße. Michael Schreckenberg hat sich als Pionier der Verkehrsforschung weltweit einen Namen gemacht. Er lehrt auch an der Uni Duisburg Essen.

WirtschaftsBlatt: Herr Professor, wie kommt man dazu, Stauforscher zu werden, noch dazu als Physiker?
Michael Schreckenberg: Ich bin Anfang der 1990er-Jahre mehr oder weniger zufällig darauf gestoßen. Wir haben mit Studenten ein Modell entwickelt, in dem wir Erkenntnisse der theoretischen Physik auf den Verkehr angewendet haben. Daraus ist dann das sogenannte Nagel-Schreckenberg-Modell des Autobahnverkehrs entstanden. Das ist übrigens die heute weltweit am meisten zitierte Arbeit zum Thema Verkehr.

Wie entsteht nun so ein Stau? Oft hat man den Eindruck, aus dem Nichts heraus, ist dann überrascht, wenn sich der Verkehr ebenso scheinbar grundlos wieder auflöst.
In der Tat entstehen die wenigsten Staus durch Unfälle oder Baustellen. 60 bis 70 Prozent entstehen einfach durch Überlastung, wenn der Zufluss hinten größer ist als der Ausfluss vorne. Problematisch sind Anschlussstellen, wo die Dichte höher ist und der einmündende Verkehr mit zehn bis 30 km/h daherkommt. Wenn dann einer kurz stehen bleibt, entsteht eine Stauwelle, die sich mit rund 15 Kilometern pro Stunde nach hinten bewegt, also gegen die Fahrtrichtung. Diese Stauwellen wirken wie Pumpen.

Wer bremst, verliert also bzw. verschuldet Staus. Sind nicht ohnehin nur allzu oft die Menschen selbst schuld an Staus, weil sie im Verkehr etwa rücksichtslos agieren?
In der Tat muss man neben der Physik auch die Psychologie berükksichtigen. Und hier zeigt sich, dass Menschen nicht sehr kooperativ handeln. In der Natur funktioniert das oft besser. Ameisen werden schneller, wenn der Verkehr dicht wird und wenn sie nicht mehr mitkommen, scheren sie aus, um den Rest nicht zu behindern. Der Autofahrer denkt aber nur nach vorne und ist sich über die Auswirkungen eines Verhaltens meist gar nicht bewusst.

Können Sie das an Hand eines Beispiels erläutern?
Das ständige Spurwechseln bringt überhaupt nichts. Alle Spuren sind in der Regel gleich schnell. Trotzdem tun es die meisten Autofahrer, weil sie immer nur die Fahrzeuge wahrnehmen, die vor ihnen sind, all jene, die sie selbst bereits überholt haben, hingegen vergessen. Und so nimmt man dann immer die andere Spur als die schnellere wahr. In Wahrheit erzeugen Spurwechsel aber noch mehr Staus. Man könnte sagen, das Einzige, was im Fahrzeug stört, ist der Mensch.

Also mehr Technik als Ausweg?
Wir haben gerade eine Versuchsreihe laufen, wo die Fahrzeuge über WLan miteinander kommunizieren und aufeinander abgestimmt beschleunigen und bremsen, ohne die Verzögerungen durch die menschliche Reaktionszeit. Der Trend geht in diese Richtung.

Könnten damit Staus vermieden werden?
Wir hätten damit zehn bis 20 Prozent weniger Staus und schon bei einem technischen Ausrüstungsgrad von nur fünf Prozent aller Autos - was ich innerhalb der nächsten zehn Jahren für realistisch halte - einen positiven Effekt. 80 Prozent aller Staus sind aber unvermeidbar. Staus sind etwas Natürliches, Engstellen und Überlastungen gibt es überall, auch in der Natur. Das Ziel ist deshalb nicht, Staus komplett zu vermeiden, sondern sie vielmehr planbar zu
machen. Es geht darum zu wissen, wann man ankommt - dann sind Staus kein Problem.

Was raten Sie Autofahrern, die im Stau stehen?
Meist ist es am besten, auf der Autobahn zu bleiben und die Ruhe zu bewahren. Denn auch das Ab- und Umfahren bringt nichts. Man verzettelt sich dann auf Landstraßen oder im Stadtverkehr und fährt Umwege. Die innere Geschwindigkeit von Staus liegt bei rund zehn km/h (wenn es nicht gerade eine Totalsperre gibt) und man spart sich zum Beispiel Ampeln. Wer ausweicht, braucht meist länger, um ans Ziel zu kommen, weil er aber ständig in
Bewegung war, ist ihm das meist gar nicht bewusst.

Wie viel stehen wir eigentlich statistisch betrachtet im Stau und wie hoch ist der volkswirtschaftliche Schaden?
Jeder Deutsche verbringt rund 58 Stunden pro Jahr im Stau, das sind zusammen 535.000 Jahre bzw. rund zehn Minuten am Tag. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind schwer zu beziffern, man kann aber davon ausgehen, dass ein Stau von vier Kilometern, drei Stunden und zwei Spuren rund 100.000 € kostet - die reine Verlustzeit an Lohnstunden, wohlgemerkt, also noch ohne Folgeschäden wie entgangene Geschäfte oder auch Umweltschäden
etc.

Stehen Sie selbst oft im Stau?
Ich fahre aufgrund meines Berufs oft absichtlich in einen Stau. Wenn es mir aber privat passiert, hat meine Familie kein Verständnis dafür und fragt mich, was ich denn den ganzen Tag so mache als Stauforscher.