Heimsuchung

» Werkverzeichnis

Inhaltsangabe und Interpretationsansätze [ ↑ ]

In Heimsuchung wird ein Haus am märkischen Scharmützelsee durch ein ganzes Jahrhundert begleitet und die Geschichten seiner wechselnden Bewohner erzählt. Ausgehend vom Großbauern Wurrach, der sein Land aufteilt und immer weitere Stücke verkauft, werden die einzelnen Besitzer in den Fokus genommen und von Ausschnitten ihres Lebens erzählt. Jedes Kapitel widmet sich einer dieser Personen: Dem ursprünglichen Besitzer, dem Käufer des Grundstückes und Architekten des Hauses sowie seiner Frau, dem jüdischen Besitzer des Nachbargrundstückes, dessen Eltern, seiner Schwester und Nichte, einem bei Kriegsende einquartierten russischen Rotarmisten, einer aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Schriftstellerin, ihrer Familie und Gästen, ihrer Enkelin und deren Kinderfreund sowie dem Gärtner, dessen Kapitel immer wieder die einzelnen Geschichten einrahmen. Die einzelnen Figuren bleiben dabei meist ohne Namen, sie werden lediglich in ihrer Funktion genannt, die sich auch in den Überschriften wiederfinden.
Die Kapitel sind nicht chronologisch gegliedert, sondern die einzelnen Episoden sind auf den ersten Blick willkürlich aneinandergereiht und zeichnen sich durch Brüche, Aussparungen, Vorausschauen und Rückblicke aus. Die Figuren werden so nur ausschnittartig beleuchtet und die angesprochenen Ereignisse und Lebensgeschichten werden jeweils streng aus der Sicht der jeweils fokussierten Figur erzählt, wodurch auch sich widersprechende Perspektiven möglich sind (beispielsweise in der Wahrnehmung des sexuellen Akts zwischen der Frau des Architekten und des Rotarmisten).
Dabei wissen die Figuren des Romans nur teilweise voneinander, und die scheinbar lose verbundenen Geschichten werden nur durch den Gärtner verbunden. Ihm kommt in Heimsuchung eine besondere Rolle zu, denn er ist die einzige Konstante und der einzige feste Orientierungspunkt des Romans, da ihm jedes zweite Kapitel gewidmet ist. Er bleibt von den gesellschaftlichen Veränderungen unangetastet und geht in stoischer Regelmäßigkeit seiner Arbeit nach. So ähneln sich die Kapitel des Gärtners stark, denn es werden hauptsächlich seine Tätigkeiten beschrieben, die er im Einklang mit der Natur unternimmt und die in jedem Kapitel zum Teil im gleichen Wortlaut wiederholt werden. Wenn die Bewohner des Hauses wechseln, bleibt der Gärtner und verrichtet schweigsam seine Arbeit, ohne die Geschehnisse je zu kommentieren oder seine Innenwelt zu offenbaren. Generell steht er abseits der Geschichte, wird ihr gar enthoben, indem er Züge einer mythischen Figur (Vgl. Köhler 2013, S. 237) trägt: Er ist namenlos, schweigsam und hält sich abseits der Gesellschaft auf. Zudem scheint es, als sei er schon immer da gewesen: „Woher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon da. […] [J]eder im Dorf kennt ihn und dennoch wird er […] nur Der Gärtner genannt, als hätte er sonst keinen Namen.“ (Heimsuchung, S. 13). So, wie der Gärtner altert, altert auch das Haus. Das vernachlässigte Haus ist über die Jahre baufällig geworden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch der Gärtner von der Bildfläche verschwindet, als der Abriss kurz bevorsteht.
Die Bewohner des Hauses erleben die wichtigsten Eckpunkte der deutschen Geschichte: dier Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, die Kriegsjahre,  die DDR, die Wiedervereinigung Deutschlands und den Mauerfall. Heimsuchung erzählt Geschichten von Anpassung und sozialem Aufstieg, Hoffnung und Desillusionierung, Flucht und Vertreibung, aber auch von Heimkehr.
Auf den ersten Blick kann man Heimsuchung als Familienroman verstehen, der Familiengeschichte vor dem Hintergrund deutscher Geschichte erzählt. Man könnte so in Versuchung kommen, in der Figur der Schriftstellerin Jenny Erpenbecks Großmutter, Hedda Zinner, und in deren Enkelin Erpenbeck selbst zu erkennen. Heimsuchung folgt jedoch dem Muster der traditionellen Familiengeschichte, also dem Erzählen entlang einer Generationsfolge, die einen familiären Mikrokosmos zum Fallbeispiel historischer Zeitgeschichte macht, nicht. Der Roman behandelt auch eben jene Themen, die in den letzten Jahrzehnten in Familienromanen aufgearbeitet wurden: die zwei Weltkriege, die Nazidiktatur, den Holocaust, Flucht und Vertreibung, die Teilung des Landes, die Wende, Schuld und Verdrängung. Heimsuchung kann dabei aber weniger als Familienchronik, sondern eher als Chronik eines Hauses, das für Deutschland steht, aufgefasst werden.

Thematische Aspekte [ ↑ ]

Historische und politische Ereignisse
Erpenbeck greift in ihren Texten auf geschichtliche und politische Ereignisse zurück. In Heimsuchung greifen die Lebensgeschichten der Bewohner des Sommerhauses ineinander und spiegeln die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wider, jedoch wird diese nicht in den Vordergrund gestellt, sondern spielt sich im Privaten ab. Der Architekt wie auch sein Nachbar, der jüdische Tuchfabrikant, leben zur Zeit der Weimarer Republik am märkischen See. Der Übergang zum Nationalsozialismus wird durch den Wegzug des Tuchhändlers dargestellt, der gezwungen wird, sein Haus zu verkaufen. Auch die Wortwahl ändert sich und so wird im Kapitel um den jüdischen Tuchfabrikanten der aufkeimende Nationalsozialismus mit dem wiederkehrenden Wort „Heil“ angedeutet.
Im Kapitel um Doris (Das Mädchen), der Nichte des Tuchhändlers, befindet diese sich im Warschauer Ghetto und versucht, sich vor den Nazis zu verstecken. Der Einmarsch der Russen wird ebenso thematisiert (Die Frau des Architekten und Der Rotarmist) wie auch mehrmals die Flucht in den Westen (Der Architekt und Der Untermieter). Erpenbecks Roman reflektiert somit verschiedene Aspekte des historischen, sozialen und politischen Kosmos des 20. Jahrhunderts.
In Gehen, ging, gegangen werden der Zweite Weltkrieg und die DDR bzw. die Wende thematisiert, wenn auch eher zwischen den Zeilen. Der Protagonist Richard wäre beinahe bei der Übersiedlung von Schlesien nach Deutschland am Bahnhof von seiner Mutter getrennt worden, wenn ihn ein russischer Soldat nicht doch in ein Zugabteil gereicht hätte. Seine Frau wurde von deutschen Tieffliegern in die Beine geschossen und überlebte nur, weil ihr Bruder sie rettete. Auch wird mehrmals die polnische Stadt Rzeszów thematisiert, in der Richard früher seinen Urlaub verbracht hat und wo sich Juden in Katakomben versteckt hatten, aber schlussendlich von den Nazis ausgeräuchert wurden. Richard lebte die meiste Zeit seines Lebens in der DDR, wohnt auch noch nach dem Mauerfall im Osten Berlins und kennt sich in den westlichen Stadtteilen ohne Navigationsgerät nicht aus. Im Verlaufe des Buches wird das Leben des Ehepaares in der DDR (wie beispielsweise Urlaube) thematisiert, immer wieder sieht er Überbleibsel der DDR in Gegenständen, denen er eine ostdeutsche Herkunft zuordnet („Auch dieser Tisch stand vielleicht 25 Jahre zuvor in einem Büro der Volkssolidarität oder im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“, Gehen, ging, gegangen, S. 76.), zudem lässt Erpenbeck immer wieder russische Wörter einfließen („Wsjo w porjadkje“, Gehen, ging, gegangen, S. 58), die Richard plötzlich in den Sinn kommen. Die Berliner Mauer lässt Erpenbeck durch einen Flüchtling kommentieren, der die Idee, Menschen daran zu hindern, ein Land zu verlassen, nicht nachvollziehen kann und dies seltsam findet.

Erinnerung
In Heimsuchung wird an die Geschichte des Familienanwesens erinnert, das im Zentrum des Romans steht und als Erinnerungsort die Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Es steht also kein einzelnes Ereignis im Vordergrund, an das erinnert wird. Das paradiesische Seegrundstück wird zum Hauptschauplatz und damit zum Fluchtpunkt des Romans. Das Haus und der See werden als Erinnerungsorte verdichtet, an denen die Geschichten aller Figuren zusammengeführt werden. Das Haus ist für seine Bewohner mehr als nur „vier Wände und ein Stück Luft“ (Heimsuchung, S. 39), durch häufige Wiederholung werden so Gegenstände zu Manifestationen der Erinnerung: So erinnert man sich an den geschmiedeten Vogel am Balkongitter, an die farbigen Scheiben der Fenster und Türen, auch der Geruch nach Pfefferminz und Kampfer, der noch Jahre später im Kleiderschrank wahrnehmbar ist, wird von mehreren Figuren beschrieben. Das Sommerhaus wird somit zum Speicher der Erinnerung.

Heimat und Flucht
In Heimsuchung sehnen sich viele der Figuren nach Heimat. Schon der doppeldeutige Titel kann sowohl als Leid, das über einen kommt, als auch als Suche nach Heimat gedeutet werden. Alle Romanfiguren erliegen der trügerischen Hoffnung, im Haus am See eine Heimat gefunden zu haben, denn sie alle müssen sie aus den verschiedensten Gründen wieder aufgeben. Exil und Flucht sind hier die Hauptgründe. Der jüdische Tuchfabrikant flieht vor den Nazis ins Exil nach Afrika, seine Eltern wollen ihre Heimat aber noch nicht aufgeben und entschließen sich erst dazu, als es schon zu spät für sie ist. Der Architekt musste sein altes Leben loslassen und seine Heimat verlassen, um zu überleben. Auch die Familie der Schriftstellerin floh ins Exil und kehrte später aus Russland zurück.
Die starke Sehnsucht des Architekten nach Heimat spiegelt sich in den detaillierten Beschreibungen des Hauses wider: Durch die lebendigen Schilderungen nicht nur des Hauses, sondern auch dessen Umgebung lässt sich erahnen, wie stark die emotionale Bindung des Architekten mit dem Haus ist. Das Haus ist für den Architekten eine „dritte Haut“ (Heimsuchung, S. 39) und damit ein fester Bestandteil seines Lebens und seiner Identität: „Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde. Dem Bleiben einen Körper zu geben, ist sein Beruf.“ (Heimsuchung, S. 42)
Auch beim Tuchfabrikanten zeigt sich eine starke Zusammengehörigkeit und Verbundenheit der Familie mit dem Grundstück und dem Haus. Dies zeigt sich in dem gemeinsamen Akt der Familie, als sie gemeinsam eine Weide pflanzen. Auch Doris erinnert sich in ihrem Versteck im Warschauer Ghetto an einen speziellen Baum – eine Kiefer – auf dem Grundstück. Sie sehnt sich nach dem Haus ihres Onkels und den dort verbrachten Sommern, wo ihre Welt und ihr Leben noch in Ordnung waren. Diese Erinnerungen an bessere Zeiten geben ihr Halt und die Zuversicht, die sie im Ghetto nicht finden kann.
Die Kinder des Tuchfabrikanten werden in Afrika geboren, verinnerlichen diese neue Sprache und identifizieren sich mit der neuen Umgebung. Dies zeigt sich darin, dass die Kinder fließend Englisch sprechen und der Tuchfabrikant ein Gemisch aus Deutsch und Englisch spricht („It is supposed to look as if der Baum in einem verschneiten Winterwald stünde“, Heimsuchung, S. 51), also immer noch zwischen der alten und neuen Heimat gefangen ist. Es scheint ihm schwer zu fallen, sich von den alten Gewohnheiten, Normen und Werten zu verabschieden. So fährt man auch in Afrika mit einem Auto der deutschen Marke „Adler“ zu einer Besichtigungsfahrt.
Mit den Worten „I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m“ (Heimsuchung, S. 112), die sie in ihre Schreibmaschine tippt, beginnt das Kapitel der Schriftstellerin. Auch ihre Familie floh in den Kriegsjahren aus Deutschland und versucht nun nach Jahren des Exils, wieder in der Heimat Fuß zu fassen. Im Gegensatz zu den anderen Figuren des Romans ist die Schriftstellerin tatsächlich heimgekehrt, jedoch ist sie nicht überzeugt, dass dieses Land tatsächlich wieder ihre Heimat werden kann.

Formale Aspekte [ ↑ ]

Wiederholung, Auslassung, Verdichtung
Wiederholung und Variation erweisen sich als Strukturprinzip in Heimsuchung. Die immer wiederkehrenden Gärtnerpassagen zeichnen sich durch stete saisonale Wiederholung aus. Durch diese Repetition fallen auch hier die kleinsten Abweichungen besonders auf und verweisen auf ‚große‘, gesellschaftliche Änderungen. Wenn also der große Garten zum Kartoffelacker umfunktioniert wird, müssen der die Nachkriegszeit prägende Hunger und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Zustände nicht zusätzlich beschrieben werden. Jedes Kapitel des Romans ist durch einen eigenen Stil gekennzeichnet und die Geschichten sind durch Leitmotive verknüpft sowie durch Wiederholungen und Wortspiele strukturiert, so ist beispielsweise das Kapitel Der Tuchfabrikant von Wiederholung gezeichnet; es werden ganze Absätze mit der Familienkonstellation wiederholt, zudem durchdringen Verwandtschaftsbeschreibungen wie „Komm, ich heb dich rauf, sagt Ludwig, der Onkel, zu Doris, seiner Nichte“ (Heimsuchung, S. 49) den Text. Das Kapitel des Architekten wiederum ist von Fragmentierung und Auslassung geprägt („Fremde Handtücher. Tuchfabrikanten, die Juden. Frottee. Erste Qualität. Möchte sein.“ Heimsuchung, S. 44). In Heimsuchung wird vieles angedeutet, abgeschnitten und ausgelassen und zwar gerade dort, wo der/die LeserIn auf eben seine Kenntnis des Romans zurückgreifen und die hiesigen Geschichten nach Bedarf ausfüllen kann.

Zeit
Erpenbeck arbeitet in Heimsuchung mit verschiedenen Zeitkonzepten, unter anderem auch mit dem Zeitzoom, so gibt es einen erdgeschichtlichen Vorspann über die Entstehung des Seegrundstücks, der einen „Effekt des Draufhaltens“ auf einen „als winzig gekennzeichneten historischen Punkt“ erzeugt (Köhler 2013, S. 238). Auch für die einzelnen Figuren von Heimsuchung gelten verschiedene Zeitmaße: Der Gärtner unterliegt dem Takt der Jahreszeiten, das Leben der Frau des Architekten wendet sich über ein prägendes Erlebnis von Stillstand („So gehen die Jahre und sind wie ein Jahr. Ob die Maikäferplage siebenunddreißig war oder doch ein Jahr später, könnte sie jetzt gar nicht mehr sagen […]. Alle Sommer wie einer. Ob es achtunddreißig war, oder neununddreißig, vielleicht auch erst vierzig […]. Heute kann heute sein, aber auch gestern oder vor zwanzig Jahren […].“, Heimsuchung, S. 69/70) in Dynamik („Und dabei rinnt nun schon seit etwa sechs Jahren durch das Loch, das der Russe Ende des Krieges in ihre Ewigkeit gebohrt hat, die Zeit fortwährend aus.“, Heimsuchung, S. 75). Die Zeit wird gestaut und verkürzt („Während sie zurückschaut, verschwistert sich die Zeit mit sich selbst und wird flach.“, Heimsuchung, S. 131) und nur durch den Wechsel der Sprach- und Stilebenen wird das Vergehen der Zeit markiert.

» Autor*innenstartseite

[ ↑ ]

Gehen, ging, gegangen

» Werkverzeichnis

Inhaltsangabe und Interpretationsansätze [ ↑ ]

Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen handelt von einem emeritierten Berliner Professor für Altphilologie, der im Ruhestand nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß und in seinem Alltagstrott gefangen ist. Richards Frau ist vor fünf Jahren gestorben und seine Geliebte hat ihn auch schon Jahre zuvor verlassen. Nachdem der strukturgebende Alltag eines Professors wegfällt, ist ihm das eigene Leben plötzlich fremd und er findet sich in einer leeren Routine,  aus Einkaufen, Garten- und Hausarbeit. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in der DDR verbracht und danach im Osten Berlins, jedoch war er nie ein politischer Mensch. Selbst in Stasi-Unterlagen wurde vermerkt, dass er als politisch unzuverlässig eingestuft wurde und somit untauglich für eine inoffizielle Mitarbeit war. Der Westen ist ihm zum Teil immer noch fremd, in den westlichen Stadtteilen Berlins findet er sich nur mit Navigationssystem zurecht.
So geschieht es auch, dass er zufällig am Alexanderplatz an protestierenden Flüchtlingen vorbeikommt, ohne dieses Szenario überhaupt wahrzunehmen. Erst beim Abendbrot sieht er die Demonstration im Fernsehen und wundert sich, dass sie ihm nicht aufgefallen ist. Dies weckt zunächst seine Neugier, die sich nach einem Infoabend an einer Kreuzberger Schule und einem Besuch der Flüchtlinge am Oranienplatz in ein tiefergreifendes Interesse entwickelt. Enttäuscht muss Richard dort feststellen, dass die Flüchtlinge das Camp abbauen. Da Richard Parallelen zwischen sich und den Flüchtlingen sieht – sie wissen alle nichts mit ihrer Zeit anzufangen –, will er diese und ihre Geschichten näherkennenlernen. In einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe seines Zuhauses erkennt er jedoch, dass ihm sein ausgearbeiteter Fragenkatalog nicht weiterhilft, wenn die Flüchtlinge von ihren Erfahrungen und den dabei erlebten Schrecken erzählen. Fortan ist sein Leben mit den Asylsuchenden verbunden: In vielen Gesprächen lernt er die Afrikaner besser kennen und muss miterleben, wie diese am Behördendschungel und an Paragrafen verzweifeln. Richard und auch der/die LeserIn lernen so beispielsweise den juristischen Unterschied zwischen Duldung und Aufenthaltsstatus. Statt nur Fragen zu stellen, begleitet Richard einige zu Behördengängen, begleitet einen Flüchtling zum Arzt und bringt einem anderen das Klavierspielen bei. Aus dem emeritierten Professor, der eigentlich nicht helfen, sondern nur sehen und verstehen, sich philosophisch betätigen will (Vgl. Gehen, ging, gegangen, S. 42), wird ein überaus engagierter Richard, der sich mit den behördlichen Schwierigkeiten auseinandersetzt, sich in Verordnungen (wie Dublin II) einliest und einer Familie in Ghana ein Grundstück kauft.
Als mehrere Flüchtlinge abgeschoben werden sollen, nehmen Richard sowie einige seiner Freunde und Bekannten diese Menschen bei sich zu Hause auf. Er wird also vom Beobachter zum Unterstützer. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er politisch aktiv, indem er eine Demonstration anmeldet, da er als Einziger mit einem deutschen Pass dazu berechtigt ist. Am Ende steht Richards Geburtstagsfeier an, bei der er eine Gemeinsamkeit mit einem seiner neuen Mitbewohner findet: Was man aushält, ist nur die Oberfläche von dem, was man nicht aushält. Dies musste Richard auf schmerzvolle Art lernen, als er seine Frau vor Jahrzehnten zu einer stümperhaften, illegalen Abtreibung drängte.
Erpenbeck greift in ihrem Roman viele reale Ereignisse des Jahres 2015 auf und gibt auch die Lage um den Oranienplatz bzw. um die dortigen Flüchtlinge meist chronologisch wieder. Auch die Flüchtlingsgeschichten sind realen Personen nachempfunden, mit denen Erpenbeck im Laufe ihrer Recherche gesprochen hat. Die Richard-Figur ist als Alter Ego der Autorin zu verstehen, da sie selbst die Dinge, die sie Richard erleben und tun lässt, gesehen, gehört oder getan hat. So hat sie selbst Klavierunterricht gegeben und ein Grundstück in Ghana gekauft. Erpenbeck erzählt von der Flüchtlingsproblematik, ohne Lösungen geben zu wollen. Stattdessen zeigt sie persönlichen Geschichten, die die Flüchtlinge einfach menschlich machen und ihnen ein Gesicht geben. Gehen, ging, gegangen kritisiert nicht nur den deutschen und europäischen Bürokratismus, an dem die Flüchtlinge letztendlich scheitern, sondern zeigt auch ein Aufeinanderprallen von Kulturen, das im Laufe des Romans von Austausch und Verständnis geprägt ist.
Leseprobe

Thematische Aspekte [ ↑ ]

Historische und politische Ereignisse
Vor allem aber bezieht sich Erpenbeck in Gehen, ging, gegangen auf tatsächliche gegenwärtige Ereignisse hinsichtlich der Flüchtlingslage. So werden Ereignisse wie die Bootskatastrophe vor Lampedusa, bei der 2013 mehr als hundert Flüchtlinge starben, oder dass ein Flüchtling als blinder Passagier aus einem fliegenden Flugzeug stürzte, aufgegriffen. Vor allem die Ereignisse in Berlin werden ausführlich verarbeitet, so auch die Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule 2014 in Berlin-Kreuzberg, in welcher die Romanfigur Richard an einem Informationstreffen teilnimmt. Die Situation um die überwiegend afrikanischen Flüchtlinge des Oranienplatzes nimmt dabei die Haupthandlung des Romans ein. Erpenbeck bleibt mit ihren Berichten über Hungerstreiks und Proteste mit zugenähten Lippen nah an der Realität. Mit dem Abriss des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz durch die Bewohner selbst, der Umverteilung auf verschiedene Flüchtlingsheime und die zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei literarisiert sie ebenfalls hochaktuelle Themen.

Heimat und Flucht
In Gehen, ging, gegangen spielen Flucht und die Suche nach einer neuen Heimat eine fundamentale Rolle. Die Flüchtlinge sind vor Krieg und Schrecken geflohen, kommen aber nirgendwo richtig an, weil sie höchstens geduldet werden. Der Oranienplatz ist nur eine Station auf einem langen Weg, ebenso wie die verschiedenen Flüchtlingscamps oder -heime. Die Flüchtlinge wünschen sich ein Ankommen, sind aber ständig in Bewegung, beispielsweise nach Italien und wieder zurück, da sie dort regelmäßig ihren Status verlängern müssen, weil sie den Gesetzen zufolge dort Asyl suchen müssen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Sie sind durch Wüsten gegangen und müssen bald schon wieder aus Deutschland weggehen. Der Roman stellt die Frage, wohin ein Mensch gehen soll, wenn er nicht weiß, wohin er gehen soll. Der Titel „Gehen, ging, gegangen“ zeigt den Widerspruch zwischen Aufbrechen und Ankommen, Fliehen und Festsitzen auf. Die Flüchtlinge sind nur temporär geduldet, erhalten jedoch Deutschunterricht und konjugieren stets von neuem dieses Verb der Bewegung. Sie befinden sich weiterhin im Zustand der Bewegung, da ihnen ein Ankommen und damit eine Heimat versagt wird. Sie bleiben fremd (Vgl. Birrer 2015). In Heimsuchung heißt es im Kapitel um die Besucherin treffend: „Wenn man angekommen ist, heißt die Flucht dann immer noch Flucht? Und wenn man auf der Flucht ist, kommt man dann jemals an?“ (Heimsuchung, S. 130).

Formale Aspekte [ ↑ ]

Zeit
Richard als emeritierter Professor hat zur Genüge Zeit, jedoch weiß er mit dieser nichts anzufangen. Er will wissen, was Zeit eigentlich bedeutet und will deshalb „[ü]ber das sprechen, was Zeit eigentlich ist“ und dies „kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt [wurden], wenn man so will.“ (Gehen, ging, gegangen, S. 51)

Stil
Erpenbeck vermischt indirekte und autonome direkte Rede. Direkte Rede wird in Gehen, ging, gegangen meist durch neue Absätze und Einrückungen gekennzeichnet. Nur durch den Lesefluss ist dann erkennbar, wer überhaupt spricht:
„Osarobo isst nur ein kleines Stück Pizza, mehr mag er nicht, danke. Und Wasser, ja, aus dem Wasserhahn, ja, ohne Sprudel.
Weißt du jetzt, wie du wieder zum Heim zurückkommst?
I don’t know.
Richard holt einen Stadtplan […].“ (Gehen, ging, gegangen, S. 154).
Durch die interne Fokalisierung und den dramatischen Modus wird das Geschehen für den/die LeserIn unmittelbar greifbar.

» Autor*innenstartseite

[ ↑ ]