Christian Kracht
Faserland
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Faserland [ ↑ ]
Krachts Debütroman Faserland (1995) ist ein Reise- und Entwicklungsroman. Der namenlose Ich-Erzähler beginnt seine Reise auf der Insel Sylt und beendet sie in Zürich. Er macht Station an den Orten Hamburg, Frankfurt am Main, Karlsruhe, Heidelberg, München, Meersburg am Bodensee und beendet seine Erzählung in Zürich (Schweiz). An drei dieser Orte befinden sich Freunde, die ihm als männliche Bezugspersonen dienen. Anhand dieser kann man die zentralen Themen des Romans erkennen. Der Erzähler geht auf Partys, die von Alkohol- und Drogenexzessen geprägt sind. Er ist Mitte 20 und geht keiner festen Arbeit nach, während er in einem elitären sozialen Milieu verkehrt, in dem Geldsorgen keine Rolle spielen.
Bereits in Hamburg ekelt ihn die Welt der Extreme und Exzesse an. Nach einer langen Partynacht mit seinem Freund Nigel, findet er diesen später zu Hause in einer sexuellen Situation mit einem Mann und einer Frau vor. Er reagiert panisch, fluchtartig verlässt er die Wohnung, lässt demonstrativ seine Wohnungsschlüssel zurück und fährt zum Flughafen. Es drängt sich die Frage nach einer verdrängten Homosexualität des Ich-Erzählers auf.
Der Erzähler fliegt nach Frankfurt am Main, wo er andere Fluggäste mit seinem unangemessenen Verhalten belästigt und über die Schauspielerin Isabella Rossellini fantasiert. Dort angekommen möchte er Alexander, eine andere wichtige männliche Bezugsperson, treffen. Nachdem er ihn sieht, traut er sich jedoch nicht ihn aus Scham oder Angst vor Nähe anzusprechen. Deshalb flieht der Ich-Erzähler erneut und hat vor, nach Karlsruhe zu fahren. Er verlässt jedoch bereits in Heidelberg den Zug und gelangt dort auf eine Party, bei der er Nigel wiederzusehen glaubt. Dieser steht allerdings unter Drogen und ist nicht ansprechbar. Der Erzähler flieht aus dem Haus und wird ohnmächtig. Der extreme Alkoholkonsum lässt offen, ob Nigel wirklich anwesend war oder es sich nur um eine Einbildung gehandelt hat; diese Lesart wird insofern plausibel, als dass Nigel seit dem überstürzten Aufbruch aus Hamburg in der Gedankenwelt des Erzählers überaus präsent ist und die sexuelle Scham nur verdrängt nicht aber aufgearbeitet worden ist. In Heidelberg flüchtet der Erzähler vor seinem eigenen Spiegelbild, das ihm durch Nigel aufgezeigt wird.
Er erwacht erst wieder in München. Sein Freund Rollo war auch auf der Party in Heidelberg. Er hatte ihn gefunden und fährt mit ihm nun weiter nach Meersburg am Bodensee, wo Rollo seinen Geburtstag in der elterlichen Villa feiert. Der Erzähler spürt, dass Rollo einsam ist und die vielen Gäste auf der Geburtstagsparty keine wirklichen Freunde sind. Er erkennt, dass sich Rollos Leben auf sein eigenes übertragen lässt, packt seine Koffer und bricht nach Zürich auf. Wiederum flieht er vor der Selbstreflexion.
In Zürich liest er schließlich in der Zeitung, dass ein Millionärssohn während seiner Geburtstagsparty eine Überdosis Valium zu sich genommen hat und im Bodensee ertrunken ist. Der Ich-Erzähler bleibt von Rollos Suizid scheinbar unberührt. In Zürich fühlt sich der Erzähler zum ersten Mal wohl. Er glaubt, Deutschland hinter sich gelassen zu haben: „Es ist so, als habe sich das ganze riesengroße Land einfach verflüchtigt, […] als ob Deutschland nur noch eine Ahnung wäre“ (S. 155). Er besucht hier einen Friedhof und sucht dort die Gräber von Thomas und Katia Mann, doch er kann sie nicht finden. Anschließend zahlt er einem Mann 200 Franken, damit dieser ihn auf die Mitte des Zürichsees fährt. Es wird ein möglicher Selbstmord angedeutet, das Ende bleibt jedoch offen. Dass der Erzähler den Freitod wählt, ist anzunehmen. Es ist allen Beteiligten auf seiner Reise nicht gelungen, ihr Leben mit Sinn zu füllen. Ihre Leben prägen Markenwahn, soziale Abgrenzung, ästhetische Trivialitäten und Rauschzustände. Am Ende ist der Ich-Erzähler eins geblieben mit dieser Welt, der er eigentlich entfliehen wollte.
Thematische Aspekte zu Faserland [ ↑ ]
Flucht
Das Motiv der Flucht ist in allen Romanen zu finden. Krachts Protagonisten suchen ihren Platz in der Welt und finden keine erfüllende Lebensweise. So reist der Ich-Erzähler in Faserland durch verschiedene Städte von Sylt bis Zürich. Er scheint eigentlich kein genaues Ziel zu haben. Sobald er mit einer Situation überfordert ist, flieht er in die nächste Stadt und kommt nie zur Ruhe.
Politische Ereignisse im historischen Kontext
In Krachts Romanen sind tatsächliche und fiktive historische Ereignisse Teil seiner Erzählwelten. Zum einen beschreiben die Texte die Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Gesellschaft, zum anderen regen sie die Erinnerungen der Protagonisten an. In Faserland geht es vielfach um die Verarbeitung der deutschen Nazi-Vergangenheit. Auch wenn der Ich-Erzähler einer Generation angehört, die sich nicht mehr für die Taten der Nationalsozialisten verantwortlich fühlt, wird er immer wieder daran erinnert. Gleichzeitig haben Relikte den Effekt, dass sich der Protagonist an seine eigene Vergangenheit, z. B. das Spielen in den alten Kriegsbunkern erinnert.
Dekadenz / Milieu
Die Dekadenz der Reichen spielt in Krachts Texten eine besondere Rolle. Nach seinem Erstlingsroman galt er direkt als Pop-Literat. Gründe dafür waren neben diversen popkulturellen Verweisen auch die Dekadenz, die ihm und seinen Freunden (z. B. Benjamin von Stuckrad-Barre) in den nächsten Jahren nachgesagt wird.
Der Protagonist in Faserland kommt aus einem reichen Elternhaus, er muss sich daher über Geld keine Gedanken machen. Er kann herumreisen und reflektiert nie mögliche finanzielle Konsequenzen. Er bewegt sich im Milieu einer reichen Minderheit. Diese Schicht stellt sich als eine hermetische Partyszene dar, die durch den immensen Konsum von Alkohol und anderen Drogen geprägt ist. Es handelt sich keineswegs um eine affirmative Darstellung einer lustigen Pop-Glitzerwelt, sondern um eine radikale Oberflächlichkeit und innere Vereinsamung der Feiernden. Die Figuren verlieren sich im Exzess, was bis zum Suizid reicht.
Grenzerfahrungen
Das Thema der Grenzerfahrungen, ob durch nahen Tod oder Drogenkonsum, ist in den Texten von Kracht allgegenwärtig. In Faserland bringen Drogen, Gewalt, Sexualität, Alkohol, Zigaretten, Ernährung und Musik die handelnden Personen immer wieder in Extremsituationen. In Faserland und 1979 führt diese Art der Grenzerfahrung in den Tod, wobei der Drogenkonsum in den geschilderten Partywelten allgegenwärtig ist.
Einsamkeit
Auch das Thema Einsamkeit ist in Krachts Erzählwelten zentral. Manche Figuren sind Einzelgänger oder Außenseiter, andere fühlen sich trotz Partner oder Begleitung von Menschen einsam. Einerseits lassen die Protagonisten niemanden an sich heran, andererseits wirken sie abgewandt und kalt. So hat der Protagonist in Faserland nie gelernt Bindungen einzugehen. Er bleibt distanziert, kann sich niemandem öffnen und flieht vor allen potentiellen Freunden in Phantasiewelten.
Deutsche Identität
Die Deutsche Identität, die sich vielfach von der Nazi-Vergangenheit geprägt zeigt, ist ein weiteres Thema in den meisten Romanen von Kracht. In Faserland bezeichnet sich der Protagonist als Deutscher. Er flieht am Ende vor Deutschland nach Zürich und schließt damit mit Deutschland ab.
Formale Aspekte zu Faserland [ ↑ ]
Popliterarische Elemente und Intertextualität
Kracht lässt Elemente der Populärkultur der Gegenwart in seine Romane mit einfließen. So sind die Texte durchzogen von expliziten Markennennungen aus der Warenwelt oder von popkulturellen Zitaten. Besonders Faserland ist davon durchzogen, der Roman markiert gleichsam den Beginn einer popliterarischen Welle in Deutschland. Popkulturelle Elemente stehen thematisch im Zentrum der Geschichte; so beginnt der Roman mit Überlegungen zu einer bestimmten Jacke und anderen Modelabels, die dazu dienen, die Menschen charakterlich einzuschätzen.
Sprache und Stil
In Faserland herrscht eine konzeptuelle Mündlichkeit vor. Die Sätze sind dementsprechend sehr kurz und einfach gehalten. Immer wieder finden sich Phrasen, die auf die Erzählsituation rekurrieren. Mit der Lexik des Protagonisten wird er in den Kontext seiner Szene und seines Alters gestellt. Auffällig sind zahlreiche Neologismen, wie “Understatement-Westmensch” (S. 110) und “Wagner-Nazigewitter” (S. 101).
Pressespiegel zu Faserland [ ↑ ]
Christian Krachts Debütroman Faserland (1995) wird in der Presse vielfach besprochen. Im Presseurteil befindet sich das gesamte Spektrum von sehr negativen bis überaus positiven Beurteilungen. Die Rezensionen von Faserland lassen vier Schwerpunkte erkennen.
Zum einen beschäftigt die Presse die Frage nach den literarischen Vorbildern Krachts. Thomas Hüetlins (Der Spiegel, 8/1995) These, „Kracht-Vorbilder seien Salinger, Ellis, Kerouac“, wird auch von anderen Rezensenten geteilt. Philipp Wegmüller (Berner Zeitung, 21.03.1995) etwa schreibt: Krachts “narkotischer Schreibstil erinnert denn auch stark an die Grössen der amerikanischen 'Beat'-Literatur. Wie in den 50er Jahren Jack Kerouac ('On the Road') oder J.D. Salinger ('Der Fänger im Roggen'), stellt der Deutsche seinen Erzähler in den Mittelpunkt und provoziert mit eigenwilliger Wortwahl und Ansichten“. Lob erfährt der Roman wegen seines Sounds: „Die ganz Schlauen werden bemerken, daß dieses Buch keine Substanz habe, statt dessen nur Oberfläche, Rhythmus und eine kleine Melodie – wie ein Popsong im Radio. Genau. Ein guter Popsong, das hat noch gefehlt“ (Alexander Ruddert in der Vogue, 3/95). Ilka Piepgras (Berliner Zeitung, 23.03.1995) sieht ebenfalls die Nähe Faserlands zur amerikanischen Erzählliteratur: „Das [...] soll authentisch wirken und vermeintlich naiv, zudem findet es sich auch bei J.D. Salinger – unverkennbar Vorbild des Autors. Oder Vorlage“. Spätere Rezensenten ergänzen die Reihe möglicher Vorbilder um weitere US-amerikanische Autoren oder auch um Autoren wie Thomas Mann (so u. A. Martin Krumbholz in der Freitag, 13/95) Goethe, Laurence Sterne oder Joseph von Eichendorff (Thomas Groß in der tageszeitung, 23.03.1995).
Zum anderen gilt die Aufmerksamkeit der Rezensent*innen den Markennamen, welche den Roman leitmotivisch durchziehen. Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: Für die einen gelten die Markennamen als authentische Elemente, für die anderen symbolisch als Darstellung des Zeitgeistes und „zur Darstellungen von Menschen und gesellschaftlichen Kreisen“, wie etwa Sandro Abbate (novelero, 07.12.2014) resümiert.
Einen dritten Schwerpunkt in den Rezensionen bildet die Frage nach dem gesellschaftskritischen Gehalt in Faserland. Abbate schreibt dem Roman eine ambivalent gelungene Konsumkritik zu: “Es ist nicht der Markenartikel als solcher, der im Mittelpunkt der Handlung steht. Es ist der symbolische Wert des Produktes, sei es nun das Pilsener von Jever, die Barbourjacke oder die Cartier-Uhr. Jede Marke ist emotional aufgeladen. Jedem Markenartikel wird eine über den Gebrauchswert hinausgehende Bedeutung beigemessen”. Thomas Groß (die tageszeitung, 23.03.1995) nimmt den Roman gar gegen eine moralische Verurteilung durch die Rezipient*innen in Schutz, wenn er konstatiert, dass “mit Moral […] diesem Roman umso weniger beizukommen” ist, “als ihm tatsächlich ein reich differenziertes Sensorium für die feinen Unterschiede des Alltags zugrunde liegt”. Hinzu kommen diejenigen, welche den Schwerpunkt des Romans in einer „nicht gerade neu[en]“ (Susanna Flühmann in der Zürichsee-Zeitung, 22.07.1995) Moral sehen, dass Geld alleine nicht glücklich mache und kommen dennoch zu dem Schluss: „Kracht hinterläßt einen fahlen Nachgeschmack mit seinem Einblick in die überspannten Formen des Wohlstandes und wenig Hoffnung, daß eine solche Welt Fiktion bleibt“ (Nicole Bröhan in der Berliner Morgenpost, 08.07.1995). Das vermeintliche Fehlen einer kritischen Distanz zu den geschilderten Gegenwartsphänomenen gibt wiederum anderen Rezensenten Anlass zu Unmut: „so dokumentarisch wie unerträglich“ (Christoph Vormweg in der Süddeutschen Zeitung, 06.04.1995); „reaktionäres Schnöseltum ohne jeden Biß“ (Helmut Ziegler in Die Woche, 13/95 ); „keine Kritik, [...] sondern [...] affirmativ“ (Sebastian Wehlings in Junge Welt, 06.03.1995).
Ein vierter Schwerpunkt, der sich in sämtlichen Rezensionen stark polarisierend ausdrückt, ist die Herkunft und die soziale Stellung des Autors. So beschreibt Christoph Riegling (Offenburger Tageblatt, 29.09.95) Kracht als „reichen Sprößling“. Als „Sohn des ehemaligen zweiten Mannes im Zeitungsimperium von Axel Springer“ wird Kracht von Helmut Ziegler (Die Woche, 13/1995) tituliert. Dass „der Senior [...] ein hohes Tier beim Springer Verlag“, so Hajo Steinert (Die Weltwoche, 13/95), war und Christian Kracht keine Geldsorgen kennt sowie ein Eliteinternat besucht hat, wird von der Mehrheit der Rezensenten erwähnt. Das bestärkt das Vorurteil einzelner Rezensenten, Krachts Faserland sei vorwiegend wegen „Seilschaften“, so nennt es Sönke Lundt im Kieler Stadtmagazin (7/95), publiziert worden.
Forschungsspiegel zu Faserland [ ↑ ]
Christian Krachts Romane haben in der Forschung in den letzten Jahren große Beachtung erfahren. Der Aspekt Popliteratur sowie Identitätsproblematik bilden die beiden dominanten Pole des Forschungsinteresses. Neben der Forschungsliteratur deutscher Literatur-, Sozial- und Sprachwissenschaftler*innen finden sich vermehrt Aufsätze und Texte aus der Auslandsgermanistik aus England, Portugal, Italien, Russland und Korea. In der Forschung sind Krachts Romane Teil der Kanondebatte in der deutschsprachigen Literatur (vgl. Reemtsma 2005). Bis heute werden Krachts Texte überwiegend isoliert betrachtet und in Themenkontexten analysiert, obwohl Kracht selbst seine Werke Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten als Triptychon ansieht (vgl. Lindemann 2008). Eine Ausnahme ist Gerhard Jens Lüdeker, der mit seinem Aufsatz Die Rückgewinnung der Freiheit aus der Moderne. Zu den Möglichkeiten von Selbstkonstitution und Autonomie in Christian Krachts Triptychon (2012) Krachts drei Romane als Einheit untersucht. Er stellt die These auf, dass Krachts Protagonisten „auf der Suche nach Möglichkeiten freier Selbstentfaltung innerhalb oder außerhalb der dargestellten Kulturen“ (Lüdeker 2012, S. 37) seien und dabei den Leser*innen die jeweilige Gesellschaft und die politischen Systeme aufzeigen.
Popliteratur
Eine mögliche Lesart der frühen Werke Krachts (Faserland und 1979) liegt darin, sie als Popliteratur zu lesen. Sergio Corrado fasst Krachts erstes Werk Faserland als Text der neuen deutschen Popliteratur auf. Gerade weil Krachts Texte deutungsoffen sind, sind sie aus popliterarischer Perspektive interessant (vgl. Corrado 2013, S. 217). Dabei bezieht sich Corrado auf Moritz Baßler, dessen herausgearbeitete Fülle von Markennamen als kulturelle Verknüpfungen er um Autonamen, Kleidung und Lebensmittel ergänzt (vgl. ebd., S. 214). Mit der Nennung dieser Realismusfetzen impliziere der Ich-Erzähler Normen und konstruiere damit eine soziale Identität, die sich stark auf einzelne Generationen beziehe (vgl. Baßler 2002).
Mehrfort erinnert daran, dass die Autoren der neuen deutschen Popliteratur ausnahmslos sehr jung waren, als sie ihre Texte verfassten (vgl. Mehrfort, 2009). Dem folgend befassen sich diese vielfach mit Adoleszenzthematiken, wie es an Faserland anschaulich nachvollziehbar ist. In direktem Zusammenhang mit Faserland und dem ersten Teil von 1979 stehen die Themen Konsumkultur, Markennennung und Dandyismus als Aspekte der Popliteratur. Diese können jedoch losgelöst von der Einordnung in die literarische Strömung der Popliteratur betrachtet werden.
Identität und Subjekt
Das Untersuchungsfeld Subjekt- und Identitätsbildung wurde wegen der engen Verflechtung mit den Feldern Popliteratur und Konsumwelt in der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Doris Pfaffinger zieht hingegen eine enge Verbindung zwischen der Identitätsbildung und dem popliterarischen Element des exzessiven Konsums (vgl. Pfaffinger 2008).
Die Subjekte in Krachts Romanen werden größtenteils als “Ego-Ich” bezeichnet, die sich auf der Suche nach ihrer Identität befinden (vgl. Larch 2013). Dabei werden unterschiedliche Ansätze von Einflüssen und Auswirkungen, die auf das jeweilige Subjekt einwirken, untersucht. Larch sieht in den popliterarischen Elementen eindeutige Parameter für die Identitätsproblematik der Subjekte. Das Ego-Ich befinde sich auf einer Sinn- und Identitätssuche und werde von großer Traurigkeit bestimmt. Diese Zuschreibung widerspricht damit der Einordnung in die von Oberflächlichkeit und Fröhlichkeit geprägte Popliteratur.
Sarah Monreal untersucht den Einfluss der Nicht-Orte (z. B. Flughafen, Bahnhof, Hafen etc.), die in vielen Kracht Romanen eine wichtige Rolle bei der Identitätsproblematik der Protagonisten spielen (vgl. Monreal 2013).
Mascha Vollhardt analysiert den Zusammenhang von hegemonialen Männlichkeitsidealen und der Identitätsbildung der Subjekte. Krachts männliche Protagonisten zeigen vielmehr weiblich konnotierte Attribute. Dieser körperliche Widerspruch verhindere ihre männliche Subjektwerdung.
Während der Großteil der Forschung versucht, die Subjekte in ihre sozialen Gefüge eingebettet zu betrachten, spricht Stefan Bronner von einem Ich, das sich „von der Welt und sich selbst entfremdet hat“ (Bronner 2012, S. 20) und kaum Verbindung zu der erzählten Welt aufnehmen kann. Mit dieser These offeriert er innerhalb der Forschungsliteratur einen der radikalsten Blicke auf die Subjektbildung in Krachts Texten.
Insgesamt liest die Forschung Krachts Romane als Krisentexte des Subjekts, das sich im Sinne einer postmodernen Gegenwartsdiagnose in Auflösung befindet. In diesem Sinne wird Krachts Protagonisten auch eine individuelle, stabile Ich-Identität abgesprochen.
Konsumkultur und Markennennung
Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einordnung von Krachts Texten in die Popliteratur steht u. a. die Konsumkultur, die auf verschiedenen Ebenen zu verstehen ist. In ihr werden sowohl der Konsum von Drogen aller Art als auch der Konsum von Luxusgegenständen sowie überhaupt das ungebremste Geldausgeben im Alltag vereint. Im Fokus der Forschung stehen dabei die Romane Faserland und 1979, aber auch in den anderen Romanen werden diese Aspekte erkannt.
Björn Weyand stellt in seiner Monographie Faserland und 1979 in eine Reihe konsumkultureller Romane des 20. Jahrhunderts (u. a. neben Thomas Manns Der Zauberberg und Wolfgang Koeppens Tauben im Gras).
Doris Pfaffinger fokussiert eher die psychologische Ebene des in Krachts Romanen dargestellten Konsumverhaltens und untersucht Gründe aber auch Folgen der Konsumkultur (vgl. Pfaffinger 2008). Die Medien-, Waren- und Konsumwelt degradiere den Protagonisten zu nicht mehr als einer Kopie. Er gebe sich dennoch als Original aus. Der Konsum fülle die fehlende Innerlichkeit der Subjekte aus, wobei nicht nur die Konsumkultur, sondern auch die Bereitschaft zur Abhängigkeit der Subjekte Schuld an diesen Umständen trage (vgl. Pfaffinger 2008, S. 90).
Frank Degler untersucht die Markenkultur aus einer medienkulturellen Perspektive (vgl. Degler 2008). Die tradierte Markenkultur könne als kollektives Wissen und Bezugssystem innerhalb der Literatur verstanden werden. Dieses System dient somit als „Archivierungs- und Rekanonisierungs-Maschine“ (Degler 2008, S. 40). Seit der Popliteratur löst die Medienkompetenz die Lesekompetenz ab, was bedeutet, dass ohne die Kenntnis über die durch Medien verbreiteten Markennamen auch der Text nicht verstanden werden kann (vgl. ebd.).
Eine Brücke zum Dandyismus als zentralem Aspekt der Popliteratur schlägt Isabelle Stauffer. Sie erkennt einen starken Zusammenhang zwischen Mode als konsumkulturellen Aspekt und der Popliteratur, vor allem in Tristesse Royale und Faserland. Sie diskutiert, ob Popliteraten (und zum Teil Protagonisten der popliterarischen Romane, wie z. B. in Faserland) als Dandys bezeichnet werden können und resümiert, dass das Austarieren von Typisierbarkeit und Individualität, die ständige Präsenz eines Publikums und die mangelnde Distanzierung von Konsum jeglicher Art dafür sprechen (vgl. Stauffer 2009, S. 55). Die Kennzeichnung der Protagonisten Krachts als Dandys ist relevant für das Verständnis der Figuren und ihrer Handlungen.
Der gelbe Bleistift
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der gelbe Bleistift [ ↑ ]
In Der gelbe Bleistift (2000) hat Christian Kracht Reisegeschichten seiner verschiedenen Asienreisen zusammengestellt, die er für die gleichnamige Rubrik in der Welt am Sonntag geschrieben hat.
Die 20 einzelnen Kolumnen, in denen Erlebnisse aus den Jahren 1992-1999 beschrieben sind, stellen atmosphärische und subjektive Schilderungen dar. Dabei sind neben seinem zwischenzeitlichen Wohnort Bangkok auch Baku, Peschawar, Burma, Laos, Goa, Hongkong, Phnom Penh, Ko Samui und Japan Orte des Geschehens. Kracht verzichtet auf detaillierte Beschreibungen der Landschaften; vielmehr dienen sie nur als Kulisse zur Beschreibung des Lebens der Bevölkerung der jeweiligen Länder. Auch beschreibt er, wie er und seine Begleitung mit Blick auf den Mekong passend zum Wein Unmengen von Erdbeeren essen und dass der Himmel blau gewesen sei. Das Schreckensregime der Roten Khmer hingegen erwähnt Kracht nicht. Die politischen Hintergründe seiner Reiseziele werden in seinen Kolumnen nicht oder nur in Ansätzen erwähnt. Kracht ist ein genauer Beobachter, konzentriert sich mit seinen Darstellungen aber mehr auf Eigenarten seiner Umgebung, als auf politische Facetten fremder Kulturen. Kracht zeigt in seinen Berichten einen ich-bezogenen ästhetischen Blick auf die Welt. Außerdem fällt auf, dass zu keinem Zeitpunkt ein Spannungsbogen aufgebaut wird. Die Leser*innen werden ohne dramatische Darstellungen zur Teilhabe an Krachts Beobachtungen einladen, mitunter sogar direkt angesprochen. Dadurch entsteht ein lebendiges Bild von Asien, das die Leser*innen zum Nach- und Mitdenken anregt. Auch die namenlose Begleiterin, die er in einigen seiner Geschichten erwähnt, vermittelt den Eindruck, die Leser*innen selbst würden mit Kracht durch die verschiedenen Städte flanieren.
Thematische Aspekte zu Der gelbe Bleistift [ ↑ ]
Einleitung
Mark Terkessidis schreibt in Die Zeit (05.10.2000), dass man in den Reiseberichten Krachts nachlesen kann, „was geschieht, wenn das klaustrophobische Subjekt auf Spritztour geht“. Karsten Hermann formuliert im Culturmag (21.02.2004), dass die Reisegeschichten aus Asien „kein einfühlendes Eintauchen in fremde Kulturen und exotische Reize, sondern den kühl konstatierenden und ich-zentrierten Blick des Dandys, der leicht unter den Verdacht des Zynischen und politisch Inkorrekten fällt“ bieten. In der Forschungsliteratur um Krachts Werke fällt der Begriff des Dandytums oft und auch die Charakterisierung seiner Hauptpersonen als snobistische Personen geschieht häufig. Auf die Seite der Vertreter der Lesart der Werke Krachts unter den Zuschreibungen Dandythum, Snobismus und einer oft damit einhergehenden Oberflächlichkeit reiht sich auch Christina Jung in ihrem Artikel auf literaturkritik.de (11.11.2000) ein, wenn sie davon schreibt, dass sich in den Werken Krachts „der Witz eines Individualisten, der sich behaglich eingerichtet hat und über den Dingen schwebt“ widerspiegelt. Über Der gelbe Bleistift schreibt sie, dass weder der Titel noch der darin präsentierte Inhalt das Werk als einen Reisebericht lesen lasse und es nicht den gängigen Konventionen dieses Genres entspreche. Diesen Standpunkten stellt sich Johannes Birgfeld mit einem Gegenentwurf gegenüber. Er schließt, dass die Lesart der Werke Krachts und seiner Protagonisten mit den genannten Begriffen nicht konsequent nachvollziehbar sei und bereits bei seinem Werk Faserland hätte auffallen müssen, dass die Definition des Dandys, wie ihn Baudelaire definierte, nicht gänzlich auf die Protagonisten Krachts zutreffe (vgl. Birgfeld 2007, S. 405). Er ist der Meinung, dass sich nicht alle Werke gleicher Art lesen ließen, wenngleich die Werke eine Gemeinsamkeit aufweisen würden: „Sie alle handeln vom Reisen.“ (Birgfeld 2007, S. 406) Er stellt die These auf, dass die Werke Krachts, ungeachtet ob fiktionale Romane oder real erlebte und niedergeschriebene Reisen, „sich als Modellfall einer spezifischen Reiseliteratur in Zeiten der Globalisierung und des Übergangs zu Transkulturen (Welsch) deuten“ (ebd.) lassen.
In die Lesart Birgfelds reiht sich auch die vorliegende Arbeit ein. Der Arbeit liegt die These zugrunde, dass Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien die Oberflächlichkeit des Berichteten nutzt, um tieferliegende Strukturen offenzulegen und dass das Werk Krachts letztlich eine Reiseberichterstattung im Zeitalter der Globalisierung und des Massentourismus darstellt. Auf diese These verweist bereits das im Paratext angeführte Zitat von David Hockney: „Surface is an illusion, but so is depth.“ In einem beinahe Geständnis verweist Kracht mit diesem Zitat auf den Umstand, dass er in den folgenden Geschichten eine Oberflächlichkeit darstellt, die aber im eigentlichen Sinne nicht oberflächlich ist. Über die Wiedergabe von vermeintlich sinnfreien Geschichten, die ihm auf seiner Reise durch verschiedene Länder und Städte Asiens (Bangkok als zeitweilige Heimatstadt, Baku, Laos, Burma, Hong Kong, Goa, Vietnam, Bali u.a.) wiederfahren, deckt Kracht den Wahrnehmungshorizont der/des Reisenden des 20./21. Jahrhunderts auf. Dieser These wird in der folgenden Auseinandersetzung nachgegangen.
Dazu wird zunächst der Reisebericht als Textform näher betrachtet. Dem geschichtlichen Abriss zur Geschichte des Reisens und des Genres des Reiseberichts folgt eine Aufarbeitung eines Merkmals dieser Textform. Auf der Grundlage herausgearbeiteter Strategien, die dem Reisebericht immanent sind, wird im Anschluss Der gelbe Bleistift unter diesen Aspekten analysiert. Schließlich folgt das Fazit, welches die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit noch einmal zusammenfasst und einen Rückbezug zur vorangestellten These zieht.
Der Reisebericht
Reiseberichte genießen aufgrund ihrer „Affinität zum unterhaltenden Erzählen bis in die Gegenwart ein gewisses Wohlwollen, sowohl beim Publikum wie auch bei der literaturwissenschaftlichen Forschung“. (Brenner 1989, S. 7) Mit diesen Worten leitet Peter J. Brenner 1989 seinen Sammelband Der Reisebericht ein, der erstmals den Versuch einer übersichtlichen Darstellung der Entwicklung des Genres des Reiseberichts in derartiger Breite darstellte. Wenngleich das Genre des Reiseberichts diese Wirkung auf die Leser*innen seit vielen Jahrhunderten hat, zieht Brenner 1989 das Zwischenfazit, dass die Geschichte des Genres bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Sammelbandes ungeschrieben geblieben sei. Die Auseinandersetzung mit diesem beschränke sich eher punktuell auf bestimmte zeitliche Perioden, vor allem auf die Zeit des 18. Jahrhunderts, da in dieser Periode die Reiseliteratur ihre Hochkonjunktur erlebt habe. Die bislang eher zurückhaltende Auseinandersetzung mit Reiseberichten sei unter anderem dem Umstand geschuldet, dass er nach einem multidisziplinären Zugriff verlange und lange Zeit nicht als eigenständiges Genre anerkannt wurde. Erst eine Erweiterung des Literaturbegriffs ab den 1970er Jahren habe es ermöglicht den Reisebericht auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten. (Vgl. Brenner 1989, S. 8) Was Brenner 1989 voranstellt, gilt auch im Jahr 2018 noch, wenn man nicht sogar aufgrund der steigenden Onlinepräsens von Reiseberichten in Form der vielfältigen Auswahl an Reiseblogs von einem gesteigerten Wohlwollen sprechen könnte. Sandra Vlasta zieht 2015 ähnliche Schlüsse, wenn sie in ihrem Beitrag zum Reisen und davon erzählen davon berichtet, dass zwar der Reisebericht eines der ältesten Genres der (Literatur-)Geschichtsschreibung sei, aber auch noch 2015 ein Forschungsdesiderat in den Literaturwissenschaften darstelle. (Vgl. Vlasta, http://literaturkritik.de/id/21077) Auch sie führt mögliche Gründe für das fehlende literaturwissenschaftliche Interesse an diesem Genre an, die sich unter anderem darin widerspiegeln, dass die Berichte lange Zeit mehr als historische Quellen und faktische Dokumente, denn als Werke mit literarischer und ästhetischer Qualität angesehen wurden. Letztere sei dem Reisebericht sogar lange Zeit abgesprochen worden, so Vlasta, und die Berichte eher „zur Illustration von AutorInnenbiographien herangezogen, anstatt sie als eigenständige Texte zu lesen“. Dass Reisberichte auch Teil des Oeuvres von Autor*innen sein können, sei erst seit jüngster Zeit in der Germanistik angekommen. (Ebd.)
Was unter einem Reisebericht zu verstehen ist, darüber besteht in der Forschung kein Konsens. Auf diesen Umstand verweisen bereits die verschiedenen Termini, die für dieses Genre in der wissenschaftlichen Literatur zu finden sind: Reisebericht; Reisebeschreibung; Reiseliteratur; Reiseroman. Dabei ist mit diesen Termini zunächst nichts darüber gesagt, ob der Text von einer wahrhaft erlebten oder einer fiktiven Reise berichtet. Auch Reiseführer, wissenschaftliche Reisebeschreibungen oder dichterisch verfasste Texte fallen unter diese Termini. Diese wissenschaftliche Arbeit folgt in der Definition des Genres Brenner, der die Texte, die über das Reisen berichten, unter den Terminus „Reisebericht“ fasst. Er definiert das Genre des Reiseberichts als „die sprachliche Darstellung authentischer Reisen“ (Brenner 1989, S. 9). Auf diese Weise grenzt er auch die Texte mit fiktivem Charakter, der beispielsweise bei Reiseromanen vorkommen kann, nicht aus. Der Spielraum in diesem Bereich sei offengehalten, weil auch die Texte zwischen Fakt und Fiktionalität individuell und epochenspezifisch stark variieren würden. Das Wort „Bericht“ verwendet er, weil er „mit der gebotenen Neutralität deren Sachverhalt kennzeichne“ (ebd.).
Obwohl die Forschung die Betrachtung dieses Genres nicht durchgängig einheitlich praktiziert hat und ebenso bei der Definition des Terminus kein Konsens herrscht, lässt sich dennoch, auch aufgrund der langen Tradition des Schreibens über das Reisen, eine Geschichte desselben nachvollziehen. Diese wird im Folgenden kurz dargestellt.
Geschichte des Reisens
„Reisemotivation, Tourismus und Reiseberichterstattung sind auf das Engste miteinander verbwoben“, schreibt Kleinsteuber in seiner Einführung zum Reisejournalismus. (Kleinsteuber 2008, S. 23) Weil die Geschichte des Reiseberichts in einer Abhängigkeit zur Geschichte des Reisens steht, werden in diesem Kapitel beide historischen Entwicklungen in Verbindungen dargestellt.
Zu reisen und davon zu berichten hat eine lange zurückreichende Tradition. Obgleich die Menschen der Antike kaum über das Material zum Verschriftlichen verfügten, gibt es dennoch Schriften, die von Reisenden der Antike Zeugnis ablegen und deren Reiseerfahrungen mitteilen. Eines der berühmtesten Schriften aus dieser Zeit ist die Odyssee von Homer, wenngleich sie eine fiktive Reise zum Inhalt hat. Kleinsteuber zeichnet Homer gar als „Vater“ (ebd., S. 35) der Reiseberichte aus. Andere Namen, die in diesem Zusammenhang genannt werden müssen, sind Herodot oder Gaius Plinius. Die Motivation sich auf eine Reise in der Antike zu begeben war häufig philosophischer Natur. Im Mittelalter verlagerte sich die Motivation des Reisens dann hauptsächlich auf das Reisen aus christlichen Gründen (Pilgerreise) oder aus Gründen des Handels. Der Reisebericht war zu dieser Zeit als sogenannte Eigenkunst dem Fach der navigatio (Seefahrt, Erkunde, Handel) zugeordnet und gleichsam dem Primat der Kirche unterstellt. Die Kirche bestimmte sogleich dessen Ordnung insofern, dass beispielsweise der Pilgerbericht zur Beglaubigung der Heilsgeschichte diente und sich daran ausrichten musste. (Vgl. ebd., S. 50) Mit der Entdeckung der Neuen Welt an den Anfängen der Frühen Neuzeit vollzog sich ein erneuter Motivationswandel des Reisens und der Reiseberichte. Hauptthemen der Reiseberichte aus dieser Zeit waren vor allem Kriegs- und Eroberungserlebnisse, die in der Folge der Kolonialisierungen erlebt wurden. Die Reisenden sahen sich als Berichterstatter oder Missionare, was sich auch in den Berichten widerspiegelte. Im Zeitalter der Aufklärung schob sich der reisende Naturforscher in den Mittelpunkt der Reiseliteratur. George Forster beeinflusste die Literatur auf diesem Feld mit seiner wissenschaftlich orientierten Reiseberichterstattung (vgl. ebd.) und auch Alexander von Humboldt zählte zu den bekannteren Forschern und Reiseberichterstattern.
Am Ende der Frühen Neuzeit kam die Bildungsreise in Mode. Vor allem der Adel und vornehme Reiche entdeckten im 18. Jahrhundert die Lust am Reisen. Den Ausgangspunkt dieser Reisebewegung fand sich bereits ab dem 17. – teilweise schon 16. – Jahrhundert in England, von der sie sich in andere Länder Europas ausweitete und es andere Adelige den Engländern nachempfanden. Kulturen entdecken, sich auf Reisen bilden und fortbilden, war das übergeordnete Motiv der Reisenden. Adelige Familien schickten ihre Kinder auf die sogenannte Grand Tour, auch unter dem Begriff der Kavalierstour bekannt. Sinn und Zweck dieses Unternehmens, das häufig Italien als Reiseziel hatte, war es, seine Kinder, die kurz vor dem Erwachsensein standen, auf eine letzte Bildungsreise zu schicken, die ihren Horizont erweitern und auf das bevorstehende Leben vorbereiten sollte. Im Zuge dieser Bewegung blühte die Reiseliteratur auf. Einer der bekannteren Reiseberichte, die eine Bildungsreise zum Inhalt hat, ist das Werk von Johann Wolfgang von Goethe Italienische Reise (zw. 1813-1817 entstanden), in dem er seine Eindrücke und Erlebnisse seiner Italienreise, die er von 1786-1788 beging, auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt.
Das Reisen oder aber auch Vagabundieren gewann im Zuge der Romantik den hohen Status einer „erstrebenswerten Lebensweise“ (Jost 1989, S. 491). Der gebildete Bürger reiste, was sich auch in dem zu dieser Zeit allgemein verbreiteten Sprichwort „Reisen bildet“ wiederfand. Dies beeinflusste die Zahl der Reisenden, sodass zunehmend auch die Bürgerlichen reisten. Dabei waren nicht nur ferne Ziele, sondern auch das Reisen im eigenen Land erstrebenswert. Man reiste überwiegend in die Natur, da dies der Zufluchtsort für Entspannung war. Die Alpen gewannen mehr an Bedeutung und es entwickelte sich ein Netz von alpinen Vereinen. Da das Reisen nicht für jedermann/jedefrau erschwinglich war, dienten die Reiseberichte den Daheimgebliebenen als Möglichkeit, über die Berichte ein Gefühl des Reisens zu erlangen. Es ging in den Reiseberichten der Frühen Neuzeit nicht weiter, wie es oft von den Berichten im Mittelalter verlangt wurde, um die Wahrheit des Reiseberichtes als Produkt der richtigen Wahrnehmung, sondern um die Bedeutung des Wiedergegebenen für das Leben, im Zeitgeist der Aufklärung im Sinne des selbstbestimmten Wesens. Diese Funktion äußerte sich vor allem im Dialog, den der Reisende mit dem Leser einging und im welchem er seine Erkenntnisse und seine Auswahl reflektierte und diskutierte. Der Schwerpunkt des Reiseberichtes verlagerte sich von der Wiedergabe des Erfahrenen, Gesehenen hin zum Erkenntnisprozess. Die einzelnen Erfahrungen traten dabei hinter eine übergeordnete Sinnerkenntnis, die einer Verallgemeinerung der Dinge nutzte. Zwar war nach wie vor die Wiedergabe einer genauen Beobachtung Inhalt des Reiseberichts, aber der Prozess der Selbstbehauptung und Selbstdefinition, das Reisende Ich und seine subjektiven Erfahrungen rückten in den Mittelpunkt. Die Natur als Kulisse dieses Prozesses war häufiger als zuvor in den Berichten wiederzufinden, was gleichsam dem Zeitgeist der Romantiker entsprach. Dennoch verlagerte sich die Berichterstattung nicht vollends auf innere Entwicklungen. Dass der Reisebericht nach wie vor seine Sachorientierung bewahrte und sich nicht rein auf innere Prozesse konzentrierte, war dem Umstand zu verdanken, dass sich die Lektüre der Berichte auf ein größeres Publikum ausweitete. Immer häufiger wurden die Texte nicht nur von einer allgemeinen Öffentlichkeit gelesen, sondern auch in der aufklärerischen Pädagogik eingesetzt und dienten sowohl der Vermittlung von Sachkenntnissen als auch der Vermittlung moralischer Werte. Neuber spricht davon, dass der Reisebericht zu dieser Zeit die „quantitative Blüte der Gattung“ erfuhr und dies im Zusammenhang seiner sozialen Funktion, nämlich des „öffentlichen Räsonieren[s]“, stand. (Neuber 1989, S. 60)
Zur Zeit des Vormärzes Stand das Reisen oft unter politischer Motivation. Das Reisen innerhalb der eigenen Landesgrenzen diente den Reisenden zum Beispiel der Aufdeckung von Missständen, wie Heines Reisebilder. Aber auch, wenn zur Zeit des Vormärzes in die Ferne gereist wurde, hätten die Berichte oftmals dazu gedient andernorts Kultur aufzuzeigen, Vergleiche zu ziehen und Möglichkeiten zu offenbaren, an denen sich die Heimatkultur orientieren könnte, so Jost. (Vgl. Jost, S. 491) Als 1835 das erste Reisehandbuch auf dem Markt kam – Karl Baedekers Rheinreise von Straßburg bis Rotterdam – änderte dies den Reisemarkt erneut und ein neuer Aufschwung in der Reiseindustrie kam auf. Zuvor war das Reisen für viele nicht nur nicht erschwinglich, sondern auch mit hohem Aufwand und Ängsten verbunden. Ein Reisehandbuch, das schrittweise durch das Reiseland führte, auf Sehenswürdigkeiten einging, über eventuelle Problematiken aufklärte und Tipps und Ratschläge mit an die Hand gab, erleichterte das Reisen. Zudem waren die Industrialisierung, die Erfindung der Eisenbahn und die Fahrten mit Dampfschiffen weitere Motoren, die den Reisetourismus voranbrachten. Jost verweist darauf, dass die Systematisierung des Reisens, die mit Reisehandbüchern und aufkommenden Reisebüros, Thomas Cook als der erste auf diesem Gebiet, gleichsam eine „Ent-Individualisierung des Erlebens“ (Ebd., S. 492) mit sich brachte. Reisen wurde zum Abarbeiten von Sehenswürdigkeiten und Programmpunkten, denn, wer ein Reiseland besuchte und nicht die bekannten Punkte gesehen hatte, war gewissermaßen nicht auf Reisen, so der Zeitgeist. Reisen diente der Flucht vor der immer weiter voranschreitenden Industrialisierung in den Städten, die die Menschen in die Natur als Ort der Entspannung zogen. Wer nicht reisen konnte, der konnte sich zumindest mit Hilfe der Bücher auf eine Reise begeben. Ein Beginn des Massentourismus zeigte sich bereits zu dieser Zeit.
Zum Anfang des 20. Jhd. reisten diejenigen, die Reisen nach wie vor als Entdeckung von Unbekanntem wahrnehmen wollten und nicht nur als Erholung, in die Ferne. Denn die nahegelegenen Orte wurden zunehmend von der Masse bereist. Vor allem Ägypten und die indische und chinesische Kultur zogen die schreibenden Reisenden zu dieser Zeit an. Hermann Hesse schrieb beispielsweise über seine Indienreise in Aus Indien (1913). Hesses Dichtung Siddharta (1922), die ebenfalls im Rahmen einer Indienreiste entstand, wurde sehr bekannte.
Der Erste Weltkrieg brachte einen Einschnitt in den voranschreitenden Massentourismus. Erschwerte Zollbestimmungen, eine schlechte wirtschaftliche Lage, die sich vor allem in den unteren Schichten zeigte, und allgemein schwierige Bedingungen erschwerten das Reisen. Der Adel reiste jedoch, sofern möglich, nach wie vor. In dieser Zeit entwickelte sich vor allem im medialen Sektor eine neue Form der Reiseberichterstattung: Der Film. Es folgten das Auto und Flugzeug als Fortbewegungsmittel, die wiederrum einen Wandel im Reiseerleben mit sich brachten. „Die Welt wird kleiner“ (ebd., S. 497), formuliert Jost in diesem Zusammenhang. Unter nationalsozialistischer Führung bildete sich der Organisation Kraft durch Freude (KdF), die Reisen für die arbeitende Gesellschaft im Sinne der Ideologie des NS-Regimes organisierte. Reisen wurde günstiger, unterstützt und organisiert. Diese Organisation brachte gleichsam einen erneuten Einbruch in der literarischen Riege der Reiseliteratur mit sich, da sich diese nun zunehmend, unter anderem aus Gründen der Kontrolle, auf Postkarten beschränkte. (Vgl. ebd., S. 498) In der Nachkriegszeit den Umständen geschuldet bliebt der Reiseverkehr und somit auch die Reiseliteratur fast gänzlich aus. Das änderte sich ab den 50er Jahren. Das Reiseprospekt entwickelte sich als neue dominierende Reiseliteratur, die sich jedoch vorrangig an die Reisenden, die sich das Reisen zur Erholung gönnten, wandte. Individualreisende bedienten sich dieser Gattung kaum, so Jost. (Vgl. ebd., S. 499) Auch im neu aufkommenden Medium des Fernsehers bediente man die Sparte der Reisenden. Der ARD oder das ZDF bauten Auslandskorrespondenzen in der ganzen Welt auf, um somit dem erhöhten Bedürfnis der ständigen Informationsnachfrage nachzukommen. Nicht weniger, weil man um die manipulative Kraft der NSDAP wusste, war der Zweck des ständigen Informationsaustausches über Geschehnisse im In- und Ausland eine logische Schlussfolgerung. (Vgl. ebd., S. 500). Auch Formate wie Urlaub nach Maß befriedigten die Reiseneugierde der Gesellschaft. Auslandskorrespondenten, die stellvertretend für das Publikum reisten, erfuhren zusätzlich durch neue Aufnahmetechniken Aufschwung. Jost schreibt zur medialen Entwicklung: „Die Welt schrumpft weiter, wird kleiner und kleiner, ist mittlerweile so winzig, daß sie sich auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von 12 Zentimetern abbilden läßt.“ (Ebd., S. 501)
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird Reisen für jedermann und jedefrau fortlaufend bezahlbarer und zunehmend zum gesellschaftlichen Normalfall. Doch je mehr das Reisen als normal angesehen wurde, umso mehr änderten sich in der Folge auch die Gründe des Reisens und damit einhergehend auch die Reiseziele. Jost schlussfolgert, dass das Reisen zur Prestigefrage wurde und vergleicht es mit anderen Symbolen der Gruppenzugehörigkeit wie bestimmten Automarken, Zigaretten oder Modelabeln. Dabei würde es immer weniger in der Hauptsache um Erholung als um eine Bestätigung zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gehen und um die Selbstbestätigung in dieser. (Vgl. ebd., S. 502) Der bzw. diejenige, der oder die auf Reisen ging, suchte sich das Ziel nicht selbst aus und ebenso wenig wurden die Erfahrungen vor Ort selbstentdeckt, sondern vielmehr durch andere, die bereits vor Ort waren, geprägt und vom Reisenden eingefordert. Die 68er zum Beispiel reisten ins Ferne Südasien auf dem sogenannten Hippie Trail, um sich von der Konsumgesellschaft abzuheben und sich als andere Reisende zu behaupten. Vor Ort trafen sich Gleichgesinnte. Wer zu dieser Gruppe zählen wollte, hätte nicht zum Wandern in die Alpen fahren dürfen. Diese „(schein-)individuellen Handlungen“ sind mehr „Stücke jenes Panzers aus Äußerlichkeiten“ (ebd., S. 502), so Jost. „Das Phänomen der Abgrenzung und Demonstration von Zugehörigkeit wird ausschlaggebend, die touristische Reise damit zur ent-individualisierten Selbst-Bestätigungs-Unternehmung, deren Inhalte von massenmedial geprägten und verbreiteten Konventionen bestimmt werden.“ (Ebd., S. 504) Dies wirkte sich ebenso auf die Reiseberichterstattung aus. Interessant wurden fortlaufend Berichte, die dem Vorhaben der eigenen Reise dienlich waren und die Reiseberichte, die nicht von reiner objektiver Berichterstattung geleitet waren, rückten in den Hintergrund des Interesses der Leserschaft. Zugeschnitten auf Abenteurer, SportlerInnen, Familien und anderen Gruppen, zergliederte sich die Literatur der Reiseberichterstattung bis zum heutigen Tag in immer mehr spezialisierte Fachbereiche und entfernte sich immer weiter von ihrer Blüte, die sie im 18./19. Jhd. hatte.
Merkmal des Genres
Obgleich der Reisebericht über die Jahrhunderte hinweg einem ständigen Wandel unterlag, der schon immer, wie aufgezeigt wurde, mit der Geschichte des Reisens in starker Verbindung stand, ist dem Reisebericht dennoch über die Jahrhunderte hinweg ein Merkmal zuzuordnen. Dieses soll im Folgenden Kapitel dargelegt werden.
Neuber zieht das Fazit, dass die Beglaubigung des Inhaltes zu allen Zeiten das übergeordnete Merkmal des Genres sei. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach dem Grad der Faktizität und Fiktionalität des Berichtes einzuordnen, die auch lange Zeit Gegenstand des Diskurses war und nach wie vor ist. Oftmals würde, so Neuber, dem Reisebericht aufgrund seiner Zweckgebundenheit eine hohe Faktizität zugeschrieben und umgekehrt seien literarische Texte, die weniger Zweckbindung aufweisen würden, durch hohe Fiktionalität ausgezeichnet. Diese Zuschreibungen ließen sich jedoch nicht halten, so Neuber weiter, da Fiktionalität kein Prinzip der Reiseberichte sei, dass ihnen von vorherein abgesprochen werden dürfe. Die Annahmen würde beispielsweise beim Entdeckungsbericht der Frühen Neuzeit nicht greifen, da er sich zwar vordergründig zunächst als Sachinformation lesen ließe, dieser bei näherer Betrachtung jedoch auch „zur Erbauung oder gar als Fiktion; zum anderen auch fiktive Reiseliteratur als Tatsachenbericht verstanden werden“ kann. (Neuber 1989, S. 51) „Die Kriterien ‚fiktiv’ vs. ‚realitätskonform’ werden damit als literaturwissenschaftliche analytische Kategorien der Poetik des Reiseberichts obsolet.“ (Ebd.) Vielmehr trete an die Stelle dieser Kriterien der „Maßstab der argumentativen Beglaubigung des Berichteten“, (Ebd.) Daran macht sich der Reisebericht fest. Um eine hohe Glaubhaftigkeit zu erreichen, wählt der Erzähler verschiedene Strategien, die sich über die Jahrhunderte hinweg in den Reiseberichten wiederfinden lassen. Je nach Anspruch an den Bericht, änderten sie sich in ihren Bezugsformen, jedoch blieben sie in ihrer Grundtendenz gleich.
Laut Neuber lassen sich vor allem drei Verfahren der Topik herausstellen lassen: Bezug zu bereits vorhandenen ähnlichen Berichten; erklärte Affektlosigkeit (ordo naturalis); Bezug zur zugrundeliegenden Autorität. (Vgl. ebd., S. 58). Als Beispiel der veränderten Bezugsform lässt sich folgendes anführen: Im Mittelalter war der Bezug zu ähnlichen Berichten oftmals die Bibel und zur zugrundeliegenden Autorität häufig der Bezug zur Kirche oder zu Gott. Die Entdeckerberichte der Frühen Neuzeit hingegen bezogen sich häufig auf andere Berichte oder naturwissenschaftliche Untersuchungen und stützten sich in der Autorität auf ihre Geldgeber. Als weitere Strategien seien die Offenlegung des Erkenntnisprozesses und die Beteuerung des Wahrheitsgehaltes hinzuzufügen, so Neuber. (Vgl. ebd., S. 52) Die von Neuber herausgestellten Merkmale des Genres greift auch Vlasta teilweise in ihrem Artikel auf und fügt noch weitere hinzu. Beispielsweise greift sie den Punkt der Intertextualität auf und fügt die meta-textuellen Ebene hinzu, die sich in der Selbstreferentialität des Textes widerspiegele. (Vgl. Vlasta, http://literaturkritik.de/id/21077)
Aus den aufgeführten Strategien des Genres, die sich aus dem übergeordneten Merkmal der Beglaubigung des Inhaltes ergeben, lassen sich zusammenfassend folgende Punkte festhalten:
- Bezug zur zugrundeliegenden Autorität
- Intertextualität
- Selbstreferentialität
- Beteuerung des Wahrheitsgehaltes
- Offenlegung des Erkenntnisprozesses
Der gelbe Bleistift – Reisebericht oder unglaubhafter Inhalt?
Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien verfasst von Christian Kracht erstmals 2000 im Kiepenhauer & Witsch Verlag erschienen, ist eine Sammlung von Reisegeschichten, die Kracht in gleichnamiger Kolumne in der Welt am Sonntag veröffentlich hat. Die 20 Kolumnenbeiträge berichten von Erlebnissen, die Kracht auf seinen Reisen durch Asien in den Jahren 1992-1999 gemacht hat. Wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, sind dem Reisebericht spezifische Strategien immanent, die sich konstant halten. Obwohl Kracht in seinen Geschichten Begebenheiten schildert, die auf den ersten Blick als unglaubhaft, unwichtig oder oberflächlich gelten könnten, wird im Folgenden das Werk Krachts hinsichtlich der herausgearbeiteten Strategien näher betrachtet, um darzulegen, dass sich dieser erste Eindruck bei einer tiefergehenden Betrachtung auflöst, der ausgewählte Inhalt bewusst gewählt ist und die Reisegeschichten aus Asien als Reisebericht gelesen werden können. Dies soll an ausgewählten Textbeispielen aufgezeigt werden.
Bezug zur zugrundeliegenden Autorität
Der Bezug zur zugrundeliegenden Autorität ist bei Krachts Text eines der offensichtlichsten Strategien. Erschienen in der Welt am Sonntag als Kolumne bezieht sich der Erzähler in seinen Geschichten fortlaufend auf die Erfüllung seines Auftrages der Berichterstattung, dem er als Reporter der Welt am Sonntag unterliegt. Beispielsweise verweist der Erzähler in der Geschichte Im Land des schwarzen Goldes (Baku, 1998), die in ihrer Hauptsache von der Ölindustrie in Baku berichtet, auf seine Tätigkeit als Journalist: „Und es würde prima Stoff für eine Reportage abgeben, weswegen ich ja schließlich in Baku war“ (GB, S. 20) oder „Ich zog meinen [...] Presseausweis hervor“ (GB S. 22). Dem Reporter ist die Wiedergabe von Glaubhaften, so der allgemeine Gedanke, von vornherein immanent. Über die Aussagen schafft es der Erzähler die Notwendigkeit der Beschreibung zu untermauern, sodass die Leserschaft diese nicht hinterfragt und nicht weiterhin Beschreibungen der Landschaft Bakus einfordert, sondern die Notwendigkeit des Öls und davon zu berichten anerkennt. Auch in der Geschichte Hello Kitty Goethe (Bangkok, 1999) erwähnt der Erzähler die zugrundeliegende Autorität implizit, indem er sich auf die Welt am Sonntag als „jene geschätzte Zeitung, die es mir ermöglich, unregelmäßig über Südostasien zu berichten“ (GB, S. 69) beruft, als er in Bangkok versucht zusammen mit Benjamin von Stuckrad-Barre eine Lesung für Thailänder zu organisieren. Die/Der Leser*in wird sogleich ins Bewusstsein gerufen, dass diese Autorität der Berichterstattung zugrunde liegt. Diese Strategie ist dem Werk Krachts zu allen Zeiten unterschwellig präsent und wird vom Erzähler bei Zeiten ins Bewusstseins der Rezipienten geholt. Gleichzeitig ist im eben genannten Beispiel ein weiterer Bezug zu Autoritäten genannt. Der Erzähler erwähnt in seinen Geschichten häufig bekannte Personen wie Schriftsteller oder Politiker. Dieses Mittel unterstützt die Glaubhaftigkeit des Textes ebenfalls.
Intertextualität
Die Strategie der Intertextualität nutzt der Erzähler in seinen Geschichten auf unterschiedliche Weisen. Sie wird genutzt, um vom Leser/von der Leserin an die Geschichte gestellte Erwartung zu thematisieren und vor Augen zu führen, dass diese Erwartungen nicht der Realität entsprechen. So wird diese Strategie in den Geschichten gleichsam ins Gegenteil gewandelt. In der Geschichte zu früh, zu früh (Vietnam, 1992) berichtet der Erzähler von einem Dialog mit einem Franzosen: „,Ja’, sagte er. [der Franzose; C.P.] Sie haben recht, Vietnam existiert eigentlich nur im Kopf’“ (GB, S. 109). Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es um die Vorstellung, die die Gesellschaft von Vietnam hat, die jedoch ausschließlich aus dem Betrachten von Filmen entstanden ist. Der Erzähler selbst kennt nur wenige Filme wie Apocalypse Now, Platoon oder Der Liebhaber (GB, S. 109f.) und wird aufgefordert, dass er sich das wirkliche Vietnam ansehen soll, „und das tat ich [Christian Kracht; Erzähler] dann auch“ (GB, S. 111). Es folgt eine Beschreibung seiner Eindrücke, die er während seiner Reise durch Vietnam macht. Der/Die Leser*in erfährt von einem Gespräch mit einem Taxifahrer, der sich einen Wolga leisten kann, von einem Besuch in einer Bierfabrik, einem Besuch einer Bar, in der der Erzähler das überaus große Geschlechtsteil eines Chinesen gezeigt bekommt, von einer offensiven Einladung zur Heirat von einer Vietnamesin und letztlich muss sich der/die Leser*in doch damit konfrontiert sehen, dass man in Vietnam auf Klischees und Modernität trifft, wie sie in den Filmen dargestellt werden. „Auf der anderen Straßenseite [...] stand eine Lehmhütte. [...] Drinnen brannte eine Kerze, und ich sah, wie ein alter Mann sich sehr intensiv auf etwas zwischen seinen Fingern konzentrierte [...] und ich dachte, daß er vielleicht betet und wollte nicht länger stören, als ich plötzlich erkannte, was der alte Mann da in der Lehmhütte macht. Er spielte mit einem Nintendo-Game-Boy“ (GB, S. 114). Die Strategie der Intertextualität wird an dieser Stelle genutzt, um Erwartungen zunächst offenzulegen, zu hinterfragen und schließlich zu bestätigen. Das genannte Beispiel lässt sich in verschiedener Weiser in den Geschichten Krachts wiederfinden und legt gleichsam deren Aufbau offen. Die vom Publikum an den Text herangetragene Hinterfragung des Berichteten wird thematisiert und diskutiert.
Selbstreferentialität
Die Strategie der Selbstrefentialität findet sich in Krachts Geschichten an vielen Stellen wieder (GB, S. 45, 69, 78, 97, 100, 105, 133, u.a.). Da sich an diese Strategie oft direkt die Beteuerung des Wahrheitsgehaltes, die vom Erzähler auf meta-textueller Ebene behandelt wird, anschließt, werden beide Strategien zusammen analysiert.
Bereits der Titel und der Untertitel des Werkes sind selbstreferentiell. Der gelbe Bleistift, gelesen als ironischer Verweis auf die gelbe Hautfarbe der Asiaten und der Bleistift als meta-textueller Verweis auf das Produkt des Textes als solches, welches durch den Prozess des Schreibens entstanden ist. Der/Die Leser*in stellt sich bereits vor dem Lesen einen Kolumnisten vor, der durch Asien mit einem Stift und Zettel reist und alles, was ihm begegnet notiert und dem/der Leser*in zugänglich macht. Was den/die Leser*in erwartet, bleibt jedoch noch im Vagen. Im Untertitel heißt es weiter: Reisegeschichten aus Asien. Der/Die Leser*in erwartet, dem Titel zufolge, Geschichten aus Asien, die vielleicht über die Kultur, die Landschaft und das unbekannte Essen berichten. Doch lautet der Untertitel nicht etwa Reiseberichte aus Asien und mit dieser Verschiebung von Bericht – Geschichte erklärt Kracht eingangs gleichsam, dass der kommende Inhalt in erster Erscheinung kein traditioneller Reisebericht ist, wohlgleich setzt er sein Werk in die Traditionslinie dessen. Dass den/die Leser*in Anderes als Erwartetes begegnet, wird direkt in der ersten Geschichte Im Land des schwarzen Goldes (Baku, 1998) deutlich. Diese Strategie verwendet Christian Kracht sogleich noch vor dem Eintauchen in seine Texte, um bereits im Titel angelegte Erwartungen zu schüren und zeitgleich zu enttäuschen.
In den Geschichten nimmt der Erzähler auf meta-textueller Ebene Kontakt zum/zur Leser*in auf und verweist über dieses Mittel sogleich auf den Umstand, dass das Berichtete in der Form eines Textes an das Publikum herangetragen wird. Gleichzeitig versucht er den Anforderungen der Leserschaft Folge zu leisten. In der Geschichte Auf der deutschen Botschaft (Bangkok, 1999) beginnt der Erzähler mit einer direkten Ansprache:
„Ich weiß, was Sie denken, lieber Leser, oh ja. Der Herr Kracht erfindet alles in seinen Asien-Geschichten. Er schmückt zuviel aus. Er versucht, die Welt angenehmer zu beschreiben, als sie ist. Das Leben in Bangkok kann doch nicht nur ein endloses Teetrinken auf der Terrasse des Oriental Hotel sein. [...] Wo bleibt denn da das Weltliche, der Schmutz, der Alltag, die Normalität? [...] Deshalb, liebe Leser, möchte ich Ihnen heute einmal von einer sonderbaren Schattenseite der Stadt berichten.“ (GB, S. 97)
Es folgt die Schilderung einer Situation, die der Erzähler in der deutschen Botschaft erlebte. Zwar berichtet Kracht, der Erzähler, auch von den vielen Deutschen, die dort mit ihren Thai-Frauen auf die Erlaubnis zur Heirat warteten, jedoch ist das zu berichtende Erlebnis ein anderes. Ein deutsches Ehepaar wandte sich an die Botschaft, weil ihnen keine Geldmittel mehr zur Verfügung standen. Letztlich stellte sich heraus, dass dieses Ehepaar in Deutschland sehr bekannt und finanziell gut abgesichert war. Es zeigt sich, dass, obwohl der Erzähler zum Anfang der Geschichte beteuert, dass er versuche andere Geschichten zu erzählen, letztlich diese Geschichte der Berichterstattung würdig ist und nicht, wie vielleicht von der Leserschaft angenommen, die Heirat eines Deutschen mit einer Thai-Frau. Christian Kracht zeigt an dieser Stelle auf, dass die angeblichen Schattenseiten, die der Reisende in einer Stadt wohlmöglich sehen möchte, letztlich keine sind und alles zu banalen Geschichten heruntergebrochen werden kann. Auch in der Geschichte Mit meiner Mutter im Eastern & Oriental Express, (Bangkok – Singapur, 1999) kommt dies zu Tage. Der Erzähler berichtet von seiner Reise im genannten Zug, die er zusammen mit seiner Mutter beging. Dabei werden dem Leser banale Situationen beschrieben, die angenehme Art des Reisens dargelegt und zwischendurch in kurzen Abschnitten die vorüberziehende Landschaft skizziert. Der Erzähler fällt im Laufe der Reise folgendes Urteil: „Das Land und seine Bewohner schienen mir erdrückt und geduckt und schrecklich unattraktiv.“ (GB, S. 77) Der Erzähler legt im Anschluss daran am Ende der Geschichte offen, dass ihm bewusst sei, dass es fragwürdig ist, wie man „ein ganzes Land wie Malaysia in einem flüchtig skizzierten Absatz zwängen kann“ (GB, S. 78). Er stellt die Frage in den Raum: „Wie kann man sich erlauben, aus einem Zugfenster zu blicken, in einem arschteuren Zug noch dazu, und dann so ein Urteil fällen?“ (GB ebd.) Diese Hinterfragung des Berichteten, die das Lesepublikum wie vom Erzähler unterstellt an diese Geschichte stellen könnte, wird sogleich vom Erzähler selbst beantwortet und somit eine weitere Hinterfragung vorweggenommen:
„Sie haben recht, gerne hätte ich mit meiner Mutter draußen in einem Dschungeldorf an ein paar Türen geklopft, dann die Schuhe ausgezogen und uns bei Kerzenschein mit malayischen Familien über dies und jenes unterhalten. Aber wir fuhren nun einmal mit dem Eastern & Oriental Express, der mit der Realität nun überhaupt nichts mehr zu tun hat. Wir fuhren mit diesem Unding durch die Nacht, der uns scheibchenweise Asien vorführte, fein portioniert in zugfenstergroße Ausschnitte. Und wenn man nicht hinaussehen wollte, dann sah man eben wieder in die Vogue. Meine Mutter und ich hatten für ein merkwürdiges Stück – Sie entschuldigen bitte das ekelhafte Wort – Lifestyle bezahlt, und das hatten wir auch bekommen. Mit Asien hatte das nicht das geringste zu tun.“ (Ebd.)
Die Selbstrefentialität und gleichzeitige Behandlung der Beteuerung des Wahrheitsgehaltes, dass das, was berichtet wird, den Umständen entsprechend der Wahrheit entspräche, sind an diesen Stellen als Strategien zu lesen.
Offenlegung des Erkenntnisprozesses
Die Strategie der Offenlegung des Erkenntnisprozesses findet sich in den Geschichten Krachts nicht explizit wieder. Sie ist als implizit formulierte Strategie zu identifizieren. Das, was der/die Leser*in aus den Geschichten Christian Krachts mitnehmen soll, ist die Erkenntnis, dass das Reisen im 20./21. Jahrhundert neuen Motiven unterliegt und die Berichterstattung gleichsam neuen Regeln folgen muss. Eine Berichterstattung wie zur Zeit der Bildungsreise ist in heutiger Gesellschaft nicht mehr möglich. Diese Erkenntnis und den Prozess zu dieser ist in den Reisegeschichten aus Asien implementiert. Die Offenlegung des Erkenntnisprozesses ist sogleich eine Lesart der Geschichten: Die Reisegeschichten aus Asien sind Offenbarungsgeschichten, die dem/der LeserIn einen Spiegel vorhalten. Über die Strategien, die Kracht in seinen Geschichten anwendet, um deren Beglaubigung des Inhaltes zu untermauern, verweist er gleichzeitig auf den Umstand, dass die/der LeserIn oberflächlich denken könnte, dass die Geschichten keine Reiseberichterstattung seien, beweist letztlich aber, dass sie es sind. Die angebliche oberflächliche Behandlung der Themen, die über die Strategien ebenfalls zum Inhalt der Geschichten werden und als Diskussionsfeld in die Ebene des Textes getragen werden, wird zwar bestätigt, aber in ihr zeigt sich sogleich deren Tiefe. Das, was – wie – worüber berichtet wird, ist in der Reisemotivation der Gruppe, derer man sich zugehörig gefühlt, daselbst angelegt und obgleich die/der LeserIn dies hinterfragt und seine Anforderungen andere sein mögen, ist die Berichterstattung dieser Inhalte die einzig mögliche.
Fazit
Zu Reisen und davon zu erzählen ist einer langen Tradition zuzuschreiben. Wie aufgezeigt wurde, wandelten sich die Motive auf Reisen zu gehen über die Jahrhunderte. Ebenso, gleichsam als Folge der sich wandelnden Motivation, veränderten sich die Berichte, die von den Reisen erzählen. Die Anforderungen, die die LeserInnen an den Reisebericht stellten, standen immer im Abhängigkeit zur Motivation des Reisens. Nicht nur von welchem Ort berichtet wurde, sondern auch, was und wie berichtet wurde, änderte sich im Laufe der Zeit. Obgleich Reiseberichte nicht immer in der Wissenschaft gleich behandelt wurden und ihnen lange Zeit literarische oder ästhetische Qualität abgesprochen wurde, lässt sich dennoch ein Merkmal herausstellen, welches dem Reisebericht über die Jahrhunderte hinweg konstant erhalten blieb: Die Beglaubigung des Inhaltes. Dass das, was und wie berichtet wird, dem Leser glaubhaft vermittelt wird. Um diesem Merkmal des Genres gerecht zu werden, wenden die Autoren der Reiseberichte unterschiedliche Strategien an. Diese Strategien, die ebenfalls in abhängig von der Zeit, in der der Bericht entsteht, stehen, finden sich in allen Reiseberichten wieder. Als Ergebnis der Auseinandersetzung mit Krachts Werk Der gelbe Bleistift lässt sich schlussfolgern, dass sich auch Christian Kracht dieser Strategien bedient und das Werk als Reisebericht gelten kann. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass er die Strategien nutzt, um den Inhalt, der zunächst unglaubhaft erscheint, glaubwürdig zu machen, jedoch die Strategien für seine Intentionen nutzbar macht und umwandelt. Die Anforderungen, die die Leserschaft an das Werk stellt, werden auf den ersten Blick nicht erfüllt und ebenso, so scheint es, die Reisemotive ad absurdum geführt. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass nur das, was in den Geschichten berichtet wird, der Realität der/des Reisenden entsprechen kann und andere Reiseberichte, die anderes behaupten, nicht die Wahrheit sprechen können. Um dieses Umdenken bei der Leserschaft zu vollziehen, nutzt Kracht die Strategien. Letztlich kann Der gelbe Bleistift als Offenbarung der Reisemanier der heutigen Gesellschaft gelesen werden, die den Wahrnehmungshorizont der globalisierten, an Massentourismus gewöhnten Gesellschaft offenlegt und ihr einen Spiegel vorhält. Denn ein Fremdheitsgefühl kommt nicht mehr auf, das, was der Erzähler in Krachts Asienberichten mitteilt, ist es, was die/der Reisende aufnimmt und was sie/er für interessant hält. Nicht die Kultur des Ziellandes, kein Gefühl von Fremde, dass sich ausbreitet, sondern Geschichten aus Flugzeughallen, noblen Hotels, teuren Restaurants und zwischendurch ereignisreichere Begegnungen, wie die mit einem Waffen-Händler oder einem Chinesen mit einem großen Geschlechtsteil. Dann, wenn der Erzähler der Geschichten versucht an die vermeintlich wahre Kultur und Landschaft des Reiselandes heranzukommen, um diese dem/der Leser*in näher zu bringen, wird letztlich aufgezeigt, dass selbst an den entlegensten Orten und in Situationen, in denen man es am wenigstens erwarten würde, die Modernisierung und somit auch Globalisierung Eingang gefunden hat. Dass nur die Oberflächlichkeit das ist, was die/der Reisende wahrnimmt und schließlich in dieser Oberfläche bereits die ganze Tiefe angelegt ist und darüber hinaus nichts zu finden ist, legt Kracht in seinen Geschichten mithilfe der Strategien offen. Auf diese Weise hat Christian Kracht in seinen Reisegeschichten aus Asien zwar nur die Oberfläche Asiens dargestellt, aber gleichsam tiefere Ebenen zum Vorschein gebracht. Sowohl in der Welt der Reiseländer, als auch in der des/der Lesers*in.
„Surface is an illusion, but so is depth.“ David Hockney
Dekadenz / Milieu
In Der gelbe Bleistift schreibt Kracht über sich und seine Erfahrungen. Er zeigt sich als reicher Mann, der ein privilegiertes Leben führt. Der Blick auf das Leben der Reichen mit all seinen Aspekten anstelle einer Beschreibung der politischen Lage und Vergangenheit der Orte ähnelt der Haltung des Ich-Erzählers in 1979.
Deutsche Identität
Auch in Der gelbe Bleistift ist die deutsche Identität von Bedeutung, denn Kracht sucht in allen fremden Ländern gezielt das Deutsche. Er sucht ihm Bekanntes, um seine Umgebung besser einordnen zu können.
Formale Aspekte zu Der gelbe Bleistift [ ↑ ]
Popliterarische Elemente und Intertextualität
Auch in Der gelbe Bleistift sind die popkulturellen Elemente wesentliche Strukturmerkmale der Textwelt. Hier geht es ebenfalls oft um Mode, darunter bestimmte Marken, und Lifestyle-Fragen. In 1979 sind Songzitate allgegenwärtig. Teilweise sind diese intertextuellen Anspielungen auf Songzitate explizit, teils nur versteckt in den Text eingebaut.
Pressespiegel zu Der gelbe Bleistift [ ↑ ]
Christian Krachts Reiseberichtsammlung Der gelbe Bleistift wird in der Presse weniger intensiv behandelt als seine Romane. Das mag daran liegen, dass die Reiseberichte zuvor bereits in derWelt am Sonntag veröffentlicht wurden. Henrike Thomsen merkt imSpiegel (17.04.2000) an, dass die gesammelten Kolumnen zwar aus eher beiläufigen Beobachtungen mit einem selbstverliebten Unterton bestünden, aber dabei sehr unterhaltsam seien. Es fällt auf, dass die sparsame Beschreibung der bereisten Städte und Länder Gegenstand der meisten Rezensionen ist. Thomsen beispielsweise stellt Kracht als einen „Meister der Andeutung“ dar, der um keinen Preis seine Coolness ablegen möchte. Auch die Zuordnung zu den Popliteraten wird in dieser Rezension thematisiert; Thomsen greift hier die Vorurteile der „pseudo-aristokratischen Abscheu“ auf, die auch in Krachts Kolumnen hin und wieder zu finden sei. Ein zentraler Punkt, der nicht nur von Thomsen, sondern auch in anderen Rezensionen aufgegriffen wird, ist die Tatsache, dass Kracht stets das ihm Bekannte in den fremden Ländern sucht, denn „im Zweifelsfall erinnert ihn nämlich alles in den fernen, exotischen Ländern an die heimatliche Schweiz“ (ebd.). Mark Terkessidis erwähnt inDie Zeit (05.10.2000), dass Krachts Augenmerk bei seinen Reisen auf den Hotels und Mahlzeiten liege und die bereisten Länder lediglich als Kulisse dienten. Informationen zu Land und Leuten seien spärlich zu finden. In Krachts Reisebeschreibungen kann man laut Terkessidis nachlesen, was passiert, wenn „das klaustrophobische Subjekt auf Spritztour geht“. So werde die eigene, gewohnte Medienwelt in fremde Länder transportiert. Christina Jung (Literaturkritik, 11.11.2000) charakterisiert Kracht in seinen Reiseberichten als einen Individualisten, „der sich behaglich eingerichtet hat und über den Dingen schwebt“. Jung zieht das Fazit, dass auch Kracht zu eben jener jungen Autorengeneration gehört, die zurecht als „schnöselhaft“ und „unverbindlich“ gelten. „Diese Positionslosigkeit […] ist es dann auch schon, was sich hinter dem Etikett der Modernität verbirgt“, führt sie weiter aus. Auch Karsten Herrmann (Culturmag, 21.02.2004) erwähnt in seiner Rezension, dass Kracht den Leser*innen kein „einfühlendes Eintauchen in fremde Kulturen und exotische Reize“ biete, sondern den distanzierten und ich-zentrierten Blick des reisenden Dandys, „der leicht unter den Verdacht des Zynischen und politisch Inkorrekten fällt“.
1979
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu 1979 [ ↑ ]
Wie es der Titel verrät, spielt der Roman im Jahr 1979. Der Ich-Erzähler, ein deutscher Innenarchitekt und sein intelligenter, gesundheitlich angeschlagener Partner Christopher reisen durch den Iran in die Hauptstadt Teheran. Es ist der Vortag der Islamischen Revolution. Die Anhänger Ajatollah Khomeinis‘ lehnen sich gegen den Schah und dessen westlichen politischen Kurs auf. Der Ich-Erzähler benennt die Geschehnisse, wirkt dabei aber unbeteiligt und kühl. Er wendet sich scheinbar trivialeren Themen wie Musik, Inneneinrichtung und Kunst zu, die im Gegensatz zu den politischen Ereignissen nicht reflektiert werden müssen.
Das zerstrittene, homosexuelle Paar besucht eine dekadente Drogenparty in einer Villa in Teheran. Den Grund des Partybesuchs erfahren die Leser*innen nicht. Christopher konsumiert Unmengen an Drogen und Alkohol, fällt in eine Glastür und stirbt wenig später in einem schäbigen Krankenhaus, da es private Krankenhäuser für westliche Besucher nicht mehr gibt. Der Erzähler ist nur kurzzeitig von dem Tod seines Ex-Partners bewegt, denn später heißt es: “er war so wenig schick” (S. 78). Der Erzähler kommt zu dem Schluss, dass sich irgendetwas ändern muss. Dies ist die einzige Stelle des Romans, an der eine Entwicklung sichtbar wird.
Die Revolution bricht aus. Der Ich-Erzähler irrt durch die Stadt, isst in einem Restaurant und wird vom Restaurantbesitzer durch unterirdische Gänge geleitet, bis er bei dem mysteriösen Rumänen Mavrocordato landet, den er schon auf der Party getroffen hat. Dieser gibt ihm ein Bündel Geld und schickt ihn mit der unheilvollen Vorhersage, dass er halbiert werden würde, nach Tibet, um dort den heiligen Berg Kailash zu umrunden.
Der Erzähler umwandert, wie ihm geraten wurde, den heiligen tibetischen Berg, um sich zu läutern und zu reinigen. Er erkennt jedoch, dass die “Reinwaschung [...] einfach nicht passiert” (S. 141) ist. Er befindet sich auf chinesischem Gebiet und wird am Fuße des Berges von Soldaten aufgegriffen. Diese bezichtigen ihn, ein russischer Spion zu sein. Er kommt zunächst in ein Umerziehungs-, dann in ein Arbeitslager. Die Zustände dort sind unmenschlich – er wird durch Hunger in der Tat halbiert und wiegt am Ende nur noch 38 Kilogramm. Um wenigstens etwas Eiweiß zu sich zu nehmen, züchtet er Maden in den eigenen Exkrementen. Willig unterwirft sich der Ich-Erzähler seinem Schicksal. Er ist in seiner Rolle als „guter Gefangener” (S. 183) zufrieden und befolgt alle herrschenden Regeln. Es scheint so, dass er in der Gefangenschaft paradoxerweise eine Art Befreiung von seinem dekadenten Leben erfährt und durch völlige Unterwerfung und Erniedrigung im chinesischen Gefangenenlager eine Art von Erfüllung findet.
Thematische Aspekte zu 1979 [ ↑ ]
Flucht
In 1979 wiederum erfährt der Protagonist nach dem Tod seines Partners von einem heiligen Berg in Tibet, den man umrunden soll, um seine Seele zu reinigen. Er nutzt die Reise und die mehrfache Wanderung um den Berg gewissermaßen zur Trauerbewältigung, bis er festgenommen wird. Jedoch empfindet der Ich-Erzähler erst in seiner Einkerkerung Zufriedenheit und die Befreiung aus seinem dekadenten Lebensstil, der im ersten Teil des Romans beschrieben wird; die gesellschaftlichen Konventionen der westlichen Konsumwelt erscheinen damit als stärkere Fessel als die physische Gefangenschaft.
Politische Ereignisse im historischen Kontext
In 1979 dient die Islamische Revolution im Iran als Hintergrund, um die Geschichte des Protagonisten und seines Partners zu kontextualisieren. Zudem wird auf die Situation des von China besetzten Tibet verwiesen sowie auf die unmenschlichen Verhältnisse in chinesischen Arbeitslagern. Die politischen Umstände tauchen in den Beschreibungen des Ich-Erzählers kaum auf, zu sehr ist er auf seine angesichts der äußeren Umstände als Luxusprobleme erscheinenden Dinge fixiert, wie etwa die Inneneinrichtung seiner Wohnung. Solche Kontraste provozieren, weil sie das tatsächliche Nebeneinander von (meist westlichem) Luxus und weltweiten Krisensituationen anhand von Menschen konkret machen.
Dekadenz / Milieu
In 1979 gibt es ähnliche Strukturen. Das im Zentrum der Handlung stehende homosexuelle Paar wird als gutverdienend beschrieben und ist auf den Partys der Reichen zugegen. Der Blick des Ich-Erzählers gilt den Kunstwerken und dem Interieur der Wohnungen, nicht den Menschen. Dass er sich in einer politisch hochbrisanten Zeit in Teheran aufhält, wird nicht reflektiert.
Grenzerfahrungen
In Faserland und 1979 führt diese Art der Grenzerfahrung in den Tod, wobei der Drogenkonsum in den geschilderten Partywelten allgegenwärtig ist.
Eine weitere Grenzerfahrung stellt in 1979 die Umwanderung des heiligen Bergs dar, die den Protagonisten süchtig danach werden lässt und ihm als adäquate Lebensaufgabe erscheint. Eine letzte Grenzerfahrung erfährt der Protagonist im chinesischen Arbeitslager, in dem er schlussendlich Maden in seinen Exkrementen züchtet, um überhaupt Eiweiß zu sich nehmen zu können.
Einsamkeit
In 1979 hat sich der Protagonist von seinem Freund immer weiter entfernt. Sie verhalten sich einander gegenüber lieblos und als Christopher stirbt, kann der Ich-Erzähler keine Trauer zeigen.
Pressespiegel zu 1979 [ ↑ ]
Christian Krachts zweiter Roman 1979 wird in der Presse überwiegend einheitlich bewertet. Der Protagonist wird als markenverliebter Held beschrieben, der „völlig ohne Erinnerung“ und nur mit einer dürftigen moralischen Ausrüstung auf seine Reise geht, wie Elmar Krekeler (Die Welt, 06.10.2001) resümiert. Die fehlende kritische Haltung wird auch in den nachfolgenden Rezensionen negativ angemerkt. So scheinen die Ereignisse und Begebenheiten, die auf dieser Reise geschehen, den „postmodernen Parsifal“ nicht zu berühren; sei es die Viruserkrankung Christophers oder die Zucht von Maden auf Menschenkot. Das hinterlässt einen verstörenden Eindruck dieses konsequenten und brillanten Buches, bemerkt Krekeler. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gewinnt der auch als „unheimlich“ (ebd.) charakterisierte Roman unerwartet an Aktualität. Ein „lakonischer Roman über den Mangel an Sinn, an weltumspannenden Ideen“, wie Elke Heidenreich (Spiegel, 08.10.2001) es formuliert. Die beschriebene Dekadenz der westlichen Konsumwelt ist Gegenstand der meisten Rezensionen und zeichnet ein nahezu einheitliches, eher negatives Meinungsbild bezüglich dieser Thematik.Die Zuordnung des Romans zur Popliteratur hingegen ist nicht immer ganz eindeutig. So hinterfragt Wolfgang Lange (Neue Züricher Zeitung, 23.10.2001), ob eine Geschichte, die von einer Orientreise im Jahr 1979 handelt, also weitab von den neuen Medien spielt, noch Züge der typischen Popliteratur enthält. Er findet sowohl Argumente für als auch gegen diese These. Der Roman, laut Lange eine Mischung aus Reisebericht und Bildungsroman, sei auf „den Geschmack des breiten Publikums“ ausgelegt, „jung und cool“ geschrieben und erfülle damit zumindest einige Vorstellungen, die „mit Pop assoziiert sind“. Gerrit Bartels (die tageszeitung, 10.10.2001) legt den Fokus auf die Elemente, die gegen eine Zuordnung zur Popliteratur sprechen. So beschreibt sie den Roman als „Auslöschungsgeschichte“ und damit eindeutig als „Antipop“. Hubert Spiegel (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2001) merkt an, dass sich in diesem Roman der veränderte Blick auf den Westen und dessen „Selbsthass als Lebensgefühl“ zeige. Spiegel charakterisiert im Hinblick auf das dekadente Verhalten des Dandys nicht nur Kracht, sondern allgemein die Vertreter der jungen Autoren, die der Popliteratur zuzuordnen sind. Ursula März (Die Zeit, 25.10.2001) führt zusätzlich an, dass der Roman auf starken Kontrasten fuße; der junge von Luxus geprägte Mann unternimmt eine Reise in den Iran und China, die ihm eine völlige Gegenwelt zu seinem gewohnten Dasein zeige.
Des Öfteren wird in den verschiedenen Rezensionen die Schwerpunktsetzung des Romans diskutiert. Sebastian Hammelehle schreibt in derWelt am Sonntag (09.03.2003), dass sich statt des radikalen Islams lieber „Hosen, Schuhe, Homosexualität, Popkultur“ bei Kracht thematisiert finden, dessen Sprache als klar, direkt und schmucklos beschrieben wird.
Forschungsspiegel zu 1979 [ ↑ ]
Popliteratur
Björn Weyand beschäftigt sich ausgehend von der These, dass Kracht ein Popliterat und darüber hinaus auch für ein Ende der Popliteratur verantwortlich sei, mit dem Roman 1979. Bei Weyand implizieren Markennamen mehr als nur einen sozialen Bezug. Die Schuhe der Marke Berluti etwa seien ein Objekt des modernen Dandytums. Der Träger der Schuhe kleide sich mit ihnen nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern grenze sich mit ihnen auch auf sozialer Ebene von der Mittelschicht ab. Durch die Schuhe sei eine Entwicklung vom sinnbildlichen Objekt bis zum Zerfall gezeigt, ähnlich wie es sich in Thomas Manns Roman Zauberberg mit dem Gebrauch der Zigarren verhalte. Weyand bezeichnet den Markencharakter bei Kracht als „poetologisches Reflexionsobjekt“ (Weyand 2001, S. 295).
Mehrfort erinnert daran, dass die Autoren der neuen deutschen Popliteratur ausnahmslos sehr jung waren, als sie ihre Texte verfassten (vgl. Mehrfort, 2009). In dem ersten Teil von 1979 stehen die Themen Konsumkultur, Markennennung und Dandyismus als Aspekte der Popliteratur. Diese können jedoch losgelöst von der Einordnung in die literarische Strömung der Popliteratur betrachtet werden.
Identität und Subjekt
Insgesamt liest die Forschung Krachts Romane als Krisentexte des Subjekts, das sich im Sinne einer postmodernen Gegenwartsdiagnose in Auflösung befindet. In diesem Sinne wird Krachts Protagonisten auch eine individuelle, stabile Ich-Identität abgesprochen. Für 1979 gilt hierbei für Pfaffinger (2008), dass sich der Roman als Gegenentwurf einer Spaßgesellschaft liest. 1979 ist demnach vor dem Hintergrund der Anschläge des 11. September 2001 in New York als "Symbol für den Beginn einer neuen Ernsthaftigkeit zu verstehen" (ebd., S. 37).
Konsumkultur und Markennennung
Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einordnung von Krachts Texten in die Popliteratur steht u. a. die Konsumkultur, die auf verschiedenen Ebenen zu verstehen ist. In ihr werden sowohl der Konsum von Drogen aller Art als auch der Konsum von Luxusgegenständen sowie überhaupt das ungebremste Geldausgeben im Alltag vereint. Im Fokus der Forschung stehen dabei die Romane Faserland und 1979, aber auch in den anderen Romanen werden diese Aspekte erkannt.
Björn Weyand stellt in seiner Monographie Faserland und 1979 in eine Reihe konsumkultureller Romane des 20. Jahrhunderts (u. a. neben Thomas Manns Der Zauberberg und Wolfgang Koeppens Tauben im Gras). So dienen z. B. die Schuhe der Marke Berluti in 1979 als „poetologische Reflexionsobjekte“ (Weyand 2013, S. 295). Im zweiten Teil des Romans werden sie durch Filzschuhe ersetzt, worin Weyand die symbolische Abkehr von der Konsumkultur sowie der Popliteratur allgemein im Gesamtwerk Kracht erkennt.
Doris Pfaffinger fokussiert eher die psychologische Ebene des in Krachts Romanen dargestellten Konsumverhaltens und untersucht Gründe aber auch Folgen der Konsumkultur (vgl. Pfaffinger 2008). Die Medien-, Waren- und Konsumwelt degradiere den Protagonisten zu nicht mehr als einer Kopie. Er gebe sich dennoch als Original aus. Der Konsum fülle die fehlende Innerlichkeit der Subjekte aus, wobei nicht nur die Konsumkultur, sondern auch die Bereitschaft zur Abhängigkeit der Subjekte Schuld an diesen Umständen trage (vgl. Pfaffinger 2008, S. 90).
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten [ ↑ ]
Krachts dritter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) gehört zum Genre der Alternativweltgeschichten. In der Textwelt hat die Russische Revolution nie stattgefunden. Lenin ist im Schweizer Exil, weil Russland zuvor einer kontinentalen Explosion zum Opfer gefallen ist. Er hat dort ein kommunistisches Regime errichtet. Seitdem bekämpft die Schweiz die faschistischen Staaten Deutschland und England in einem seit fast einhundert Jahre andauernden Krieg.
Die Schweiz hat Kolonien in Südafrika zur Nachwuchsgewinnung errichtet. Aus einer dieser Kolonien stammt der Ich-Erzähler, der den Rang eines Politkommissars innehat. Vom Revolutionskomitee erhält er den Auftrag, den Oberst Brazhinsky festzunehmen. Auf seiner Suche erfährt er, dass Brazhinsky durch Meditation den buddhistischen Zustand Satori erreicht habe. Außerdem bekommt er die Information, dass Brazhinsky zum Réduit, einer ausgebauten Schweizer Felsfestung, geritten sei.
Der Erzähler reitet ebenfalls in Richtung Réduit. Die Reise bis dorthin erinnert stark an Joseph Conrads Heart of Darkness. Auf seinem Weg liegt eine Hütte. Unweit davon findet der Ich-Erzähler drei getötete Rotgardisten, die Brahzinsky ebenfalls verhaften sollen. Der christlich-religiöse Bewohner der Hütte, Uriel, beteuert seine Unschuld an den Morden. Dennoch misstraut der Erzähler ihm. Durch verfremdete Elemente, wie die Reise auf dem Pferd, die dem Western-Genre entlehnt ist, vermischt Kracht seine postmoderne Welt mit Elementen der vergangenen Zeit.
Der Ich-Erzähler reitet weiter zu einem Dorf, in dem er deutsche Soldaten sieht. Er merkt aber zu spät, dass er auf einer Mine steht. Die Deutschen, die ihn dort finden, wollen ihn seinem Schicksal überlassen, bis Uriel auftaucht und den Platz auf der Mine mit dem Erzähler tauscht. Er lässt die Mine zur Explosion bringen, als der Erzähler weit genug entfernt ist. Die Teilnahmslosigkeit des Erzählers nach dieser Tat unterstreicht seine emotionale Kälte: “Es war sinnlos. Mein Körper war mein Körper. Entweder ich stellte mich wieder auf die Mine, oder ich lief jetzt zurück zu meinem Pferd.” (S. 91). Der Erzähler erreicht schließlich das Réduit. Er findet Brazhinsky, möchte ihn verhaften, doch dieser nutzt eine geheimnisvolle Sprache, um ihm seine Waffe zu entwenden.
Schnell wird klar, dass das Réduit nicht vom Revolutionskomitee gesteuert wird, sondern völlig autonom agiert. Auch die vermeintliche Waffenentwicklung in der Bergfestung entpuppt sich als reine Propaganda. Brazhinsky gibt dem Erzähler eine Waffe, wohl damit sie sich gegenseitig töten. Er sticht ihm in die Brust, doch trifft er nicht das Herz, da es bei ihm auf der rechten Seite liegt. Daraufhin sticht er sich selbst beide Augen aus und der Erzähler flieht wegen eines beginnenden Bombardements aus der Festung. Man erfährt, dass er Brazhinskys Sprache gelernt hat, doch er benutzt sie nicht, während er seinen Weg über Italien nach Afrika fortsetzt. Er macht sich damit frei von allem, was ihn an sein altes Leben erinnert: “Ich warf meinen schweren Soldatenmantel und Brazhinskys kranke Lektionen weg, und ich benutzte die Rauchsprache nicht mehr, nicht einmal, als mir eines Morgens ein Rudel wilder Wolfshunde zähnefletschend den Weg versperrte” (S. 138). Am Ende des Romans herrscht eine idyllische Stimmung. Es wird eine friedliche Welt beschrieben und auf dem Rückweg nach Afrika begleitet ein Delphinschwarm sein Schiff.
Thematische Aspekte zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten [ ↑ ]
Flucht
Ähnlich wie in Faserland verhält sich das Fluchtmotiv in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Der Protagonist hat zwar zunächst einen Auftrag, der ihn durch die Schweiz zum Réduit führt. Am Ende wirkt die Flucht vor dem Bombardement dennoch so, als würde er sein Ziel noch suchen. Er reist in seine Heimat, nach Afrika, und hofft, dort zur Ruhe kommen zu können. Allerdings ist die Flucht hier äußerlich begründet, da er vor etwas Greifbarem, nämlich dem Bombardement, flieht und nicht aus einem rein inneren Antrieb.
Politische Ereignisse im historischen Kontext
Die späteren Romane sind dann expliziter historisch-politisch. So erschafft Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten eine Alternativweltgeschichte, in der Lenin die kommunistische Revolution in der Schweiz startete und seitdem ein fast einhundert Jahre währender Krieg in Europa tobt. Das faschistische Deutschland steht dabei auf derselben Seite wie England. Bei einer solchen Umschreibung der Geschichte bezieht sich Kracht vermutlich auf die tatsächlich sehr nationalistische Einstellung der Engländer vor den Weltkriegen.
Dekadenz / Milieu
Dekadenz spielt auch in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten eine Rolle, hier als eine vom Kommunismus verbotene Haltung. Jede Form von Dekadenz wird geahndet oder sogar mit dem Tod bestraft.
Einsamkeit
In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fehlt jegliche ihm nahestehende Person im Leben des Protagonisten. Er ist dem System gegenüber loyal und wirkt stets kalt und abgeklärt. Diese hintergründige Einsamkeit wird unterbrochen als er eine intime Beziehung mit Favre eingeht, die jedoch weniger später stirbt.
Deutsche Identität
Anders als in Faserland ist der Ich-Erzähler in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ein Schweizer mit afrikanischer Herkunft. Die Zugehörigkeit zu seinem Land und sein Leben als Dunkelhäutiger unter Weißen wird als Problem thematisiert. Deutschland hingegen findet nur am Rande, nämlich als faschistischer Kriegsgegner, Erwähnung. Die Unausweichlichkeit der deutschen Geschichte, die sich trotz veränderten Voraussetzungen zu einem faschistischen Staat entwickelt hat, wird dabei angedeutet.
Pressespiegel zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten [ ↑ ]
Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ wird von der Presse größtenteils gelobt. Wolfgang Büscher (Die Zeit, 06.08.2008) merkt positiv an, dass es sich bei diesem Roman nicht um Popliteratur handele, wie es von einigen „in staunenswerter Sturheit” immer noch genannt werde, sondern dass es ein ,,ernstes Spiel” sei. Darüber hinaus erwähnt Büscher die ,,emotionale Spur”, die Kracht hier verfolge; „Freiheit, Dekadenz, Terror”. Gustav Seibt (Süddeutsche Zeitung, 20.09.2008) hebt den Stil Krachts hervor, der von Beginn des Romans an „eine magische Wirkung ausübt, die man in der vielgefeierten jungen deutschen Literatur sonst nicht erfährt. Hier muss man sich nicht einlesen, durch mühselig-langwierige Beschreibungen quälen oder trivialen Dialogketten irgendwelche Basisinformationen abnotieren“. Dietmar Dath (Frankfurter Allgemeine, 15.10.2008) hebt lobend Krachts „neue Sprache“ hervor, „die Menschen umklammert und halten [...] kann“. Wiebke Porombka (die tageszeitung, 20.09.2008) beschreibt Krachts Sprache hingegen als „referenz- und zusammenhangslos“. Die Dialoge kreisen um kein zentrales Thema und verlaufen sich anschließend im bedeutungslosen Nirgendwo. Elmar Krekeler hingegen lobt Kracht in Die Welt (22.09.2008) und empfindet Christian Krachts Sprache „phasenweise kurz vor ihrem eigenen Kältetod. Dass man keine Frostbeulen bekommt beim Lesen, liegt am merkwürdigen poetischen Glühen zwischen den eisigen Satzkuben, und daran, dass der geläuterte, erlöste Parteikommissär die Eiszeit der Dekadenz über Europa am Ende verlässt und mit einer blonden Frau unter gleißend blauen Himmel davon fährt“. Till Huber (Literaturkritik.de, 13.10.2008) hingegen beschreibt das vielfältige Zitieren und die zahlreichen Anspielungen in Krachts Roman als Beitrag zu „gesteigerten Mystifizierungen” und ist der Meinung, dass diese „die Literaturwissenschaft auf Trab halten, gerade auch bei der Interpretation”. Kracht zitiere außerdem aus seinen vorherigen Romanen Faserland und 1979, schreibt Huber.
Imperium
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Imperium [ ↑ ]
Imperium (2012) ist ein Abenteuerroman, der die Geschichte des jungen Aussteigers August Engelhardt erzählt, der sich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Kauf einer Kokosnussplantage in der deutschen Kolonie Neupommern im Pazifik selbst verwirklichen wollte. Kracht widmet sich also einer historischen Figur, deren Abenteuerleben er aber nicht einfach nur nacherzählt, sondern satirisch überformt und damit u.a. nach den boomenden Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts fragt, zu denen neben Nudismus und Vegetarismus auch der Faschismus gehören. Immer wieder zieht der Roman Parallelen zwischen seiner Hauptfigur und Adolf Hitler.
Engelhardt ist Nudist und Frutarier, genauer ernährt er sich ausschließlich von Kokosnüssen. Im Wilhelminischen Deutschland erfährt er aufgrund seiner Lebensphilosophie meist Ablehnung. Deshalb entschließt er sich, seine Heimat zu verlassen und nach Deutsch-Guinea auszuwandern, um sich in der deutschen Kolonie seinen Lebenstraum zu verwirklichen: Den Betrieb einer Kokosnussplantage und Gründung des Sonnenordens, einer Art Kommune, die der Kokosnuss als heiliger Frucht huldigt. Schon bei der Hinreise wird Engelhardt um den Großteil seines Vermögens betrogen, sodass er für den Erwerb seiner Plantage auf der Insel Kabakon seinen zukünftigen Ertrag beleihen muss. Die Romanwelt karikiert anhand der deutschen Koloniebewohner die dekadent-rassistische Gesellschaft, die sich den Einheimischen überlegen fühlt. Es entsteht so eine satirische Darstellung des damaligen westlichen Vormachtsgedankens und der so genannten preußischen Tugenden. Krachts Roman zeigt den Leser*innen die Absurdität des Imperialismus auf.
Im Laufe der Jahre bereisen wenige Gleichgesinnte den Sonnenorden, nur der junge einheimische Makeli ist ein treuer Begleiter Engelhardts. Die jahrelange Abgeschiedenheit, Einsamkeit und einseitige Ernährung fordern ihren Tribut: Der mittlerweile stark ausgezehrte Aussteiger verliert nicht nur seinen Verstand, sondern auch vereinzelt Finger, weil er an einer hochinfektiösen Form der Lepra erkrankt. Als Engelhardt in Folge des Ersten Weltkrieges enteignet wird, flüchtet er in den Urwald. Nach über zwei Jahrzehnten wird er von alliierten Truppen der Amerikaner in einem Erdloch vergraben aufgefunden und in die USA gebracht.
Thematische Aspekte zu Imperium [ ↑ ]
Flucht
Auch in Krachts jüngstem Roman Imperium spielt Flucht eine Rolle. Der Protagonist reist nach Deutsch-Guinea mit dem Wunsch, den Fesseln des deutschen Staates zu entkommen. Er möchte als Kokovore (Kokosnuss-Esser) eine Bewegung ins Leben rufen und sich damit selbst verwirklichen.
Politische Ereignisse im historischen Kontext
Explizit historisch wird Kracht in Imperium. Er beschreibt ein Deutschland zur Zeit des Kolonialismus. Sehr ausführlich und kritisch wird die Situation in Deutsch-Guinea beschrieben, in der der Protagonist sich befindet.
Dekadenz / Milieu
In Imperium möchte sich August Engelhardt von der deutschen Gesellschaft distanzieren, die in den Kolonien dekadent lebt kann, weil sie die einheimische Bevölkerung ausbeutet.
Grenzerfahrungen
In Imperium verliert der Protagonist durch seine asketische Lebensweise letztlich den Verstand.
Einsamkeit
August Engelhardt in Imperium ist auf seiner Insel auch sehr allein. Ein einheimischer Junge ist der treue Freund, den er hat. Mit allen anderen Besuchern kommt es früher oder später zu Konflikten. Doch am Ende des Romans verlässt ihn auch der Junge.
Deutsche Identität
Imperium behandelt ebenfalls einen Teil deutsche Kulturgeschichte. Engelhardt möchte sich von seinem Leben in Deutschland distanzieren. Er fühlt sich eingeengt und sucht als ‚Führer‘ einer Bewegung eine eigene Identität, was ihn – der Roman expliziert dies – in die Nähe zu Adolf Hitlers Machtphantasien rücken und somit als ein Teil nicht unwichtiger Teil deutscher Geschichte erscheinen lässt.
Formale Aspekte zu Imperium [ ↑ ]
Popliterarische Elemente und Intertextualität
In Imperium spielen Markennamen ebenfalls eine Rolle. Kracht geht gewissermaßen mit einem zwinkernden Auge und zur Einbettung bekannter Elemente auf die Entwicklung verschiedener, noch heute existenter Marken wie Kellogg’s, Vegemite und Coca-Cola ein.
Sprache und Stil
Der Ton in Imperium ist ganz anders. Die Sätze sind länger und verschachtelter. Die Sprache ist nahezu manieriert und damit dem literarischen Duktus seiner Handlungszeit sowie dem Genre des Abenteuerromans angepasst.
Autodiegetische Erzähler
Krachts Texte erzählen fast ausschließlich aus der Ich-Perspektive, sodass die Figuren aus einer subjektiven Sicht heraus auf sich und die Welt schauen und diese beschreiben. Lediglich in Imperium gibt es einen auktorialen Erzähler, der an mehreren Stellen als “Ich” oder im Kontext eines “uns” auftritt.
Pressespiegel zu Imperium [ ↑ ]
Christian Krachts Roman Imperium ist vielfach in der Presse diskutiert und löste letztendlich eine Debatte unter den Literaturkritikern*innen aus.
Den Anlass zur Debatte gibt Georg Dietz (Der Spiegel, 7/2012). Er wirft dem Roman vor, „durchdrungen von einer rassistischen Weltsicht“ zu sein. An Krachts Beispiel „könne man sehen, wie antimodernes, demokratiefeindliches, totalitäres Denken seinen Weg [...] in den Mainstream“ findet. Der Faschismus-Vorwurf wird damit zum zentralen Punkt in den Rezensionen, wobei die meisten Interpret*innen Dietz‘ Lesart ablehnen. Felicitas von Lovenberg (Frankfurter Allgemeine, 23.06.2012) widerspricht Dietz, indem sie ausführt: „Der jüngste Versuch, eine literarische Neuerscheinung durch eine ganz und gar unliterarische Lesart zu vernichten, wird im aktuellen ‚Spiegel‘ unternommen“. Neben dem Vorwurf gegen Dietz, dass er außerliterarische Referenzen bemühe, um Imperium als faschistischen Tendenzroman zu denunzieren, werden ihm weitere handwerkliche Fehler in seiner Fehllektüre vorgeworfen. So sieht Jan Küveler (Die Welt, 13.02.2012) in Dietzes Ansatz eher die „Humorlosigkeit des Kritikers“ bestätigt: „Nun muss man in Diez indes einen Wegbereiter der Ironiefreiheit erkennen. Denn die meisten Zitate, die Diez für sein denunziatorisches Pamphlet böswillig aus dem Zusammenhang reißt, sind allenfalls Beweis für Krachts Humor“. Deutlicher formuliert es Lothar Schröder für die Rheinische Post (16.02.2012): „Dieser Vorwurf ist intellektuell beschämend. Er ist irrwitzig und obendrein ungerecht einem Buch gegenüber, das seit Kehlmanns Vermessung der Welt zu den besten, geistreichsten und eloquentesten deutschen Romanen zählt“. Auch Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 16.02.2012) widerspricht Dietz: „Dabei dreht er das Argument um: dass aus den inkriminierten Passagen nichts Eindeutiges hervorgehe, wird dem Autor als bewusste Verdunkelung ausgelegt. So etwas aber ist nicht Journalismus, sondern Rufmord“. Indes bewertet Schmidt Imperium als „vierten und besten“ Roman Krachts. Derselben Meinung ist auch Adam Soboczynski (Die Zeit, 14.02.2012) und lobt vor allem Krachts Stil und dass er „mit heiterer Souveränität Rückblenden einbaut oder einem zukünftigen Ereignis vorgreift, das Geschehen ab und an kommentiert und den Leser*innen mit größter Selbstgefälligkeit am Interieur der Räume wie am Naturschauspiel der Ferne in verschachtelten Endlossätzen teilhaben lässt. Es sticht selbst eine Stechmücke hier […] kunstvoll in die Kolonialherren“.
Claudia Schülke (Frankfurter Allgemeine, 28.03.2012) vergleicht Krachts Stil der „elaborierten Hypotaxe und seinen manierierten Bildern“ lobend mit dem Thomas Manns. Auch Erhard Schütz lobt (der Freitag, 16.02.2012), dass Kracht seinen Roman „im Thomas-Mann-Ton“ angeht.