Konstantin Wecker
Steh jetzt auf!
Eine Analyse zu Bleib nicht liegen (EV: Eine ganze Menge Leben, Global 1978; Wecker 2018, S. 43-44)
Eines von Weckers explizit feministischen Liedern findet sich auf dem 1978 erschienenen Album Eine ganze Menge Leben. Das Lied Bleib nicht liegen thematisiert patriarchale Beziehungskonzepte und durch Sozialisation in patriarchalen Gesellschaften erlernte Verhaltensweisen von Frauen. Dabei formuliert das Lied in einer direkten Anrede an ein lyrisches Du, das hier stellvertretend für alle klassisch weiblich sozialisierten Menschen steht, einen scharfen Appell zur Emanzipation der Frau und zur Reflexion patriarchal geprägter Beziehungskonstruktionen und der darin angelegten Genderkonzeptionen.
Formal gliedert sich das Lied in sechs Strophen und einen Refrain, der nach jeweils zwei aufeinanderfolgenden Strophen einsetzt und der das Lied beschließt. In ihm wird der zentrale Appell des Liedes formuliert, der auch das Titelmotiv bildet: „bleib nicht liegen“. Ein fast durchgängiger Kreuzreim strukturiert das Lied.
Die erste Strophe beginnt thematisch mit dem Anfang einer Beziehung und beschreibt den beginnenden Prozess des Sich-Bindens an einen Mann. Die Formulierung „Schon wieder wühlt sich dein Gefühl / in irgendeine Weichheit ein“ (Wecker 2018, 43) verdeutlicht die Vertrautheit des Prozesses, in dem eine Frau sich an einen Mann bindet bzw. von ihm abhängig macht. Das Verb „wühlen“ kann dabei als Ausdruck des Charakters dieses Prozesses gedeutet werden, denn die Weichheit, in die sich das Gefühl einwühlt, steht für die Vorstellung einer vermeintlichen Sicherheit, von der sich das lyrische Du blenden lässt, die allerdings eher eine Vermeidung der Konfrontation mit sich selbst als autonomes Subjekt bedeutet. In dieser Weichheit ist das lyrische Du „zart umfangen“ (ebd.), also vereinnahmt von diesem Gefühl. Das Ende der ersten Strophe stellt mit der scheinbar sicheren Aussage: „das muss doch jetzt die Liebe sein“ (ebd.) provokativ die Frage, ob es sich bei diesem Gefühl wirklich um Liebe handelt oder eher um eine Flucht in eine mit der Liebe verwechselte Konvention, also einer erlernten Handlungsweise und Rollenerwartung.
In der zweiten Strophe erlebt das lyrische Du „plötzlich Mut“ (ebd.), was auf die Bindung an einen Mann zurückzuführen ist und das Fehlen dieses Mutes vor der Bindung impliziert. Damit greift Wecker die traditionelle weibliche Sozialisation auf, in der Frauen vermittelt wird, kein autonomes, selbstbestimmtes Subjekt zu sein und sich nur in der Verbindung mit einem Mann mutig und stark fühlen zu können. Die Formulierung: „Und alle Lust will Ewigkeit“ (ebd.) spielt auf die erlernte Verhaltensweise an, diese Bindung ewig machen zu wollen und kann somit einerseits als kritische Anspielung auf die bürgerliche Ehe gesehen werden. Interessant ist aber andererseits, dass diese Formulierung aus Friedrich Nietzsches phiosophischem Roman Also sprach Zarathustra entliehen ist, einem Werk, das Weckers Philosophie nachhaltig prägte. Während die Ewigkeit der Lust bei Nietzsche allerdings als Hingabe an einen unabdingbaren Hedonismus und damit als totale diesseitige Lebensbejahung eines autonom fühlenden Subjekts gemeint ist, und eben nicht (nur) in der Bindung an einen Menschen zu finden ist, erscheint die Transzendierung der Lust in die Ewigkeit hier nur in einer patriarchalen Beziehungskonstruktion als möglich. Dies wird durch die Gegenüberstellung des an sich positiv verstanden Gefühls, das sich in Momenten körperlicher Lust entfaltet und durch das dem Subjekt ein Moment geboten wird, die empfundene Lust in die Ewigkeit zu transzendieren, und der negativ verstandenen Interpretation der Ewigkeit, die in Konventionen gegossen wird und im „Liegenbleiben“ erstarrt, dargestellt. Das Thema der im traditionellen Weiblichkeitsnarrativ fehlenden Konfrontation mit der eigenen Individualität und der eigenen Wünsche und Bedürfnisse wird durch den Vers „Jetzt nur noch Frau sein und bereit“ (ebd.) weitergeführt. „Bereit“ steht im traditionellen Geschlechternarrativ für die Bereitschaft der Frau, der Lustbefriedigung des Mannes zu dienen, was ein weiteres Element weiblicher Sozialisation in patriarchalen Gesellschaften darstellt. Letztlich hinterfragt das Lied also die Definition dessen, was unter „Frau sein“ verstanden wird.
Der folgende Refrain formuliert den zentralen Appell des Liedes: „Doch bleib nicht liegen“ (ebd.) und erscheint als direkter, konfrontativer Aufruf sich nicht in die scheinbare Sicherheit einer Beziehung bzw. Verbindung mit einem Mann zu flüchten. Stattdessen gilt es, sich mit sich selbst als weiblich sozialisiertem Menschen und den damit verbundenen Rollenbildern, Handlungsmechanismen und Handlungserwartungen zu konfrontieren, diese kritisch zu hinterfragen und sich schlussendlich als autonomes und unabhängiges Subjekt mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen wahrzunehmen. Wecker formuliert hier also einen deutlichen Aufruf zur Emanzipation der Frau. Die Konsequenz, wenn die Konfrontation und Reflexion ausbleibt, ist das Liegenbleiben, so dass „[sich] etwas [festgräbt] in deinem Hirn“ (ebd.), also die emotionale und formale Versklavung an traditionelle Rollenerwartungen. Die im Lied deutlich negativ markierten Folgen wären die stille Resignation, das Erlöschen der eigenen Träume und die Negierung der eigenen Autonomie von Frauen. Dies zeigt sich sehr plastisch durch die Formulierung: „was dir irgendwann den Mut zum Atmen nimmt“ (ebd.). Das Atmen als zentrale Bedingung des Lebens und als Lebenskraft bleibt durch die Versklavung an einen Mann irgendwann aus, die Frau erstickt also in dieser Beziehungskonstruktion. Das Versklavungsmotiv wird im nächsten Vers weitergeführt: „Und auf einmal prägt dir einer dieses Zeichen auf die Stirn“ (ebd.). Diese Anspielung auf das Brandmarken von Sklav*innen (wie es in vielen Kulturen vorkam) verdeutlicht die männliche Besitzmarkierung sowie die Festsetzung der Hierarchie und der patriarchal bedingten Machtasymmetrie innerhalb der Beziehungskonstruktion. Als Folge dieser Brandmarkung werden „die Wege, die du gehen willst, bestimmt“ (Wecker 2018, 44), das weibliche Du würde so also abhängig und unterworfen, weil der Lebensweg vorbestimmt und Möglichkeiten der autonomen Lebensführung unterbunden wären.
Die dritte Strophe setzt den Gegensatz von Spüren und Denken (vgl. ebd.), wobei das lyrische Du dem Spüren zugeordnet ist und spielt somit mit dem Stereotyp der Frau als emotionsgesteuertem Wesen im Gegensatz zum Mann als vernunftgeleitetem Wesen. Die „Hand, die schmiegt und führt“ (ebd.) steht als Metapher für den bestimmenden, in der Machtbeziehung oben stehenden Mann, der die Frau führt und leitet, und greift damit provokativ den Stereotyp der unselbstständigen Frau auf, die Führung durch einen starken Mann braucht.
In der vierten Strophe wird mit der indirekten Frage: „Wozu noch weiter“ (ebd.) provokant die Versuchung ausgedrückt, sich in einer solchen traditionellen Beziehung einzurichten und vollständig abhängig zu machen, anstatt die eigenen Wünsche und Ziele zu reflektieren und weiterzuziehen. Die Strophe beschreibt also ein Zufriedengeben mit den vermeintlichen Vorteilen einer patriarchalen Beziehungskonstruktion bei gleichzeitigem Aufgeben der eigenen (vielleicht divergierenden) Interessen: „Kuss und Sand und etwas Wärme sind genug.“ (ebd.).
Die fünfte Strophe konstruiert den Kontrast der sich sanft wölbenden Erde und des harten Bettes auf dem Asphalt, auf dem das lyrische Du allerdings „unverkrampft und ausnahmsweise gut bestallt“ (ebd.) liegt. Das Bett auf dem Asphalt steht hier für ein Leben in Freiheit, also jenseits des patriarchalen Hauses. Im Haus ist es vielleicht weich und die Straße ist hart, dafür aber frei von falschen Kompromissen. Diese Strophe beschreibt also das zu sich kommende und autonomer werdende Leben des weiblichen Individuums.
In der sechsten Strophe werden die bisher behandelten Motive zur Klimax geführt und die Alternative eines freien, lustvollen und selbstbestimmten Lebens entworfen. Die Frau „fäng[t] [sich] einen Körper ein“ (ebd.) und kostet nun das Leben lustvoll aus. Der herrliche Tod (ebd.) wird hier also wirklich als schöner Tod nach einem lustvoll gelebten Leben verstanden, während der Eintritt in eine traditionelle patriarchale Lebensweise ein totes Leben bedeuten würde.
Wecker formuliert mit Bleib nicht liegen einen konfrontativen, scharfen und sprachmächtigen Appell an weiblich traditionell sozialisierte Menschen, diese Sozialisation kritisch zu reflektieren und sich von patriarchalen Beziehungsnarrativen zu emanzipieren. Nicht Beziehungen an sich oder das lustvolle Verbinden mit einem anderen Menschen in Liebe werden kritisiert, sondern die konkreten machtasymmetrischen Beziehungskonstruktionen in patriarchalen Gesellschaften, allen voran die bürgerliche Ehe. Dieses hier artikulierte feministische Anliegen kann als kongruent zum restlichen Werk Weckers angesehen werden und passt zu seinem Verständnis von Geschlecht und Sexualität. Auch wenn es an einigen Stellen Reibungspunkte und auch offene Konfrontationen zwischen Feminist*innen verschiedener Strömungen und Wecker gab und „er vor allem in frühen Texten in chauvinistischer Weise männliche Sexualität glorifiziert […] zeigen die Texte nach 1975 nur selten Äußerungen männlichen Chauvinismus“ (Pinkert-Saeltzer 1990, 216). In seinem Werk „bemüht sich Wecker um ein kritisches Hinterfragen seiner Verhaltensweisen als Mann und um die Aufarbeitung sexistischer Vorurteile“ (ebd., 217). Die Thesen dieses Liedes in Bezug auf erlernte weibliche Verhaltensweisen passen zum klassischen Feminismus (vor allem der zweiten Welle) und lassen sich mit einem prägenden Zitat dieser Strömung zusammenfassen: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (de Beauvoir 1951, 265). Erwähnenswert scheint allerdings noch, dass eine dichotome Vorstellung von Gender in Weckers Werk herauszulesen ist und es sich somit innerhalb einer binären Matrix bewegt. Eine Zuordnung Weckers zum klassischen Feminismus scheint dementsprechend sinnvoller als eine Zuordnung zu queer-feministischen Ansätzen. Nicht die Überwindung von Geschlechterrollen, sondern die individuelle Neubestimmung dieser kann als Zielsetzung betrachtet werden, die nach Wecker „als Konsequenz aus der (sexuellen) Selbstbestimmung des Individuums, das Lebensfreude und Genuß zum Maßstab eigener Verhaltensweisen erhebt“ (Pinkert-Saeltzer 1990, 219), erfolgt.
Bleib nicht liegen fordert Frauen auf, ihre Bilder von Beziehungen und ihre tatsächlich existenten Beziehungen kritisch zu reflektieren, sich mit der Tatsache zu konfrontieren, dass auch sie autonome Subjekte sind, sich zu emanzipieren und ihr Leben unabhängig zu gestalten. Es ist nicht als Plädoyer gegen Beziehungen oder gar gegen die Liebe zu lesen, sondern als eines für die Umgestaltung patriarchaler Konstruktionen. Denn: „Im lustvollen Körper – so Weckers hedonistische Botschaft –, der befreiend sich liebend entfalten kann, liegt letztlich der eigentliche Sinn des Lebens“ (Schlicht 2014, 108). Also kann als Appell an weiblich sozialisierte Menschen nur gelten: bleib nicht liegen. Oder um es positiv zu formulieren: steh jetzt auf!
Literatur
de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1951.
Pinkert-Saeltzer, Inke: „Immer noch werden Hexen verbrannt…“. Gesellschaftskritik in den Texten Konstantin Weckers. Bern 1990.
Schlicht, Corinna: „Du musst dir alles geben“. Hedonistische Daseinsbejahung als Gegendiskurs in den Liedern Konstantin Weckers. In: Dies./Ernst, Thomas (Hg.): Körperdiskurse. Gesellschaft, Geschlecht und Entgrenzungen in deutschsprachigen Liedtexten von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Duisburg 2014. S. 83-110.
Wecker, Konstantin: Blieb nicht liegen. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2018. S. 43-44.
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