Die Mordnacht von Kundus

Eine Analyse zu Die Mordnacht von Kundus (EV: Ohne Warum. Sturm & Klang 2015; Wecker 2018, S. 263-265)

Das Gedicht Die Mordnacht von Kundus von Konstantin Wecker bezieht sich auf die Geschehnisse des 4. September 2009 nahe Kundus. Hierbei handelt es sich um einen Luftschlag der U.S. Luftwaffe auf zwei entführte Tanklastwagen, welcher unter der Leitung des Bundeswehroberst Klein angefordert wurde und 91 zivile Opfer forderte. Weckers Gedicht wurde ca. 6 Jahre nach den Ereignissen auf seinem Album Ohne Warum veröffentlich und reflektiert dabei auch die Vorgänge innerhalb der Bundeswehr. Der Pazifist Wecker, welcher dem Militär grundsätzlich abgeneigt ist, positioniert sich nicht nur gegen Krieg – zu dem er auch die Militäreinsätze der Bundeswehr in Afghanistan zählt –, sondern auch gegen den Umgang mit zivilen Opfern.

Dass Wecker in dem Text auf Aussagen und Reaktionen rekurriert, welche im Nachhinein den Einsatz rechtfertigen oder beschönigen sollten, wird schnell deutlich. So greift Wecker in seiner ersten Strophe Äußerungen des Generalleutnant Glatz auf, wenn er das Gedicht mit der wörtlichen Rede eines Generals eröffnet: „‚Was soll´s‘, sagt bräsig der General / und nestelt an seinen Orden, / ‚wir sind nun mal im Krieg und da wird / bekanntlich auch manchmal gestorben‘“ (Wecker 2018, 263). Glatz hatte den möglichen Tod von Zivilisten wie folgt kommentiert: „Dann hätte man schlimmstenfalls CIVCAS [Tod und Verwundung von Zivilisten] in Kauf genommen“ (Demmer, Ulrike. In: Spiegel 04.03.2010 [online]). Diese Äußerung nimmt Wecker in seiner ersten Strophe auf und stellt dabei die Gleichgültigkeit, die in dieser Äußerung mitschwingt, an den Anfang des Gedichts. Durch diese Perspektive tritt Weckers eigene Meinung nicht wie in anderen Werken als lyrisches Ich oder durch die Adressierung der Rezipient*innen (wie bspw. in Sage nein!) in den Vordergrund, stattdessen stellt er mit der Äußerung des Generals den Ausgangspunkt seiner Empörung über den Militäreinsatz ins Zentrum. Alleine durch die Bewertung des Generals als „bräsig“ wird die Ablehnung deutlich.

In den nächsten Strophen entwirft Wecker eine Szene, in der Bundeswehroffiziere*innen sich im Offizierscasino in Kundus amüsieren und lachen. Der Ton ist ironisch, sodass durch die Art der Inszenierung eine Antipathie gegen die Beschrieben geschaffen wird, welche die Ablehnung Weckers verdeutlicht. Durch seine Beschreibung, dass der „Spuk“ ausgesessen werde (vgl. Strophe 3 und 4) greift Wecker die Ereignisse innerhalb der Bundeswehr auf, welche sich im Nachgang ereigneten. Hier spielt der zeitliche Abstand zwischen der Veröffentlichung und dem Handlungszeitpunkt eine wichtige Rolle, da Wecker weiß, dass sich die Voraussage des Textes erfüllt hat. Teil von Weckers Kritik ist der Umgang mit dem für die Luftschläge verantwortlichen Oberst Klein. Dieser wurde nur kurzzeitig von seinen Aufgaben entbunden, erhielt später jedoch seine Regelbeförderung und wurde in allen Verfahren freigesprochen. Vor diesem Hintergrund richtet sich die Kritik also auch gegen die Bevölkerung, da Wecker – welcher aus der Sicht der Bundeswehr schreibt – sich sicher ist, dass der Vorfall schnell vergessen sein wird: „Die Mordnacht von Kundus erregt kein Gemüt, /

allenfalls Diskussionen“ (Wecker 2018, 263). Wenn man diesen Gedanken konsequent zu Ende führt, ist dies nur möglich, weil die Bevölkerung verfrüht das Interesse verliert, den Krieg ausblendet und somit der eigenen Verantwortung ausweicht. Dabei geht Wecker davon aus, dass die meisten Bürger*innen dafür plädieren, im Zweifelsfall das Leben der eigenen Soldaten zu schonen: „Und eines ist klar, im Zweifelsfall / sind eig´ne Soldaten zu schonen“ (ebd.). Weckers zynisches Fazit ist also, dass in dem bundesrepublikanischen Umgang mit dem Einsatz einem Menschenleben je nach Herkunft unterschiedliche Wertigkeit zukommt. Wecker, welcher konsequent gegen die Ausdrifferenzierung von Menschenleben zu Gruppen und der damit verbundenen Bewertung ist und sich auch in anderen Werken gegen Zugehörigkeiten zu (Vater-)ländern (vgl. Vaterland 2001) stellt, setzt dies als Auftakt seiner Kritik. Diese wird in den Strophen VI und VII verstärkt, wenn es heißt: „Die toten Kinder der Feinde […] // Die standen zur falschen Zeit herum. / Man hört sie auch hier nicht schrein’n“ (Wecker 2018, 264). Afghanistan ist räumlich so weit weg, dass die Perspektive der deutschen Bevölkerung abstrakt ist, wenn die sachliche Information von 20 Toten aufgenommen und nicht weiter hinterfragt wird. Dies lässt sich zudem auf die Medien übertragen, welche in ihrer Berichterstattung stets sachlich und nüchtern berichten. In dieser Perspektive existiert nur die Information über die Getöteten, die Umstände, Konsequenzen und das Leid werden in die Abstraktion verbannt. Dagegen richtet sich das Gedicht, das zugleich anschaulich macht, was diese Nacht konkret für die Menschen bedeutet hat.

Die siebte Strophe enthält eine direkte Frage an Oberst Georg Klein, der das Kommando für den Bombenangriff der beiden US-Kampfjets gegeben hat: „Ich frage Sie, Herr General: / Wenn sie die Augen schließen, / sind Ihnen die Mütter dann egal, / oder sehen Sie die Tränen fließen?“ (Wecker 2018, 264). Die Frage ist eine Anklage, sie richtet sich gegen die Gleichgültigkeit eines kalten Herzens und gegen die Kriegslust, die wieder in den Augen der Bundeswehr zu schimmern beginnt, unberührt von dem Blut, das vergossen wurde. In einem Appell an Kleins Menschlichkeit fragt Wecker, wie weit „Gehorsam und Drill“ (ebd.) ihm das Gefühl von Anteilnahme genommen haben. Dass der Verlust an Empathie das Ergebnis einer militärischen Ausbildung ist, steckt in der rhetorischen Frage, ob das Herz „aus dem Leib exerziert“ (ebd.) worden sei. Wecker macht so die Gewissenlosigkeit der Institution zum Gegenstand. Die Ablehnung dieses militaristischen Wertesystems schwört ein Gefühl von Pazifismus herauf, welches in den weiteren Versen deutlich wird, zum einen mit der Kritik bezüglich der Geschehnisse im Kundus, zum anderen mit einer ganz klaren Anklage an die Bundeswehr mit dem Ausdruck „schäbiger Mord“ (ebd.). Hinzu kommt noch der Versuch der andauernden Beschwichtigung und Rechtfertigung des Krieges durch die Akteure selbst: „Man nennt es Krieg / es müsse so sein / so war das doch immer gewesen. / Ich nenne es Mord, und ich bleibe dabei: / Die Kinder zahlen die Spesen“ (ebd.). Die Wiederholung des Wortes Mord wird hier erstmals in Verbindung mit dem Tod von Kindern als in Kauf genommene Opfer gebracht. Es macht damit den Verlust der Unschuld der Beteiligten deutlich, weil es zeigt, dass Deutschland wieder einen Schritt näher daran ist, die Schulden unserer Väter zu wiederholen, anstatt aus ihnen zu lernen.

Es wird schließlich die Gefahr aufgezeigt, dass die Geschichte sich wiederholen und dass dieser Anschlag der Beginn davon sein könnte: „Und wenn wir heute wieder marschier’n, / dann war sie der Beginn“ (ebd.). Das Personalpronomen ‚sie‘ ist hierbei der klare Bezug auf den Titel des Gedichts, auf Die Mordnacht von Kundus. Die letzte Strophe ist als eine Warnung zu verstehen, dass die Schrecken des Krieges wieder in Vergessenheit geraten sind und dass Deutschland den angeblichen Schutz der Freiheit als Rechtfertigung für das militärische Morden anführen wird.

Wecker greift mit seiner pazifistischen Argumentation eine Position auf, wie sie zum Beispiel Hermann Hesse bereits 1939 während des Zweiten Weltkrieges in seinem Gedicht Der alte Mann thematisiert hat, die nie endende Kriegslust: „Müßt ihr denn schon wieder kriegen?“ (Hesse 2013, 668). Wie Hesse beklagt auch Wecker die Ignoranz der Gegenwart gegenüber zurückliegenden Kriegen, die nur Unheil und Tod gebracht haben. Dies ist etwas, das Wecker in seinen Versen immer wieder anspricht und kritisiert. So wie Hesse, der ebenfalls Pazifist war, es einst warnte: „Nun so ist der Sinn des Lebens / Wieder einmal Wahn geworden. / Gehet schießen, gehet morden! / Unser Mühen war vergebens“ (Hesse 2013, 668), so warnt auch Wecker als Kerngedanke des Gedichts vor dem Rückfall in die Vergangenheit, vor den Sünden und Gräueltaten, die ein jeder Krieg über das Land, die Welt und die Menschen bringen würde.

 

Literatur

o. A.: 4. September 2009 – Tanklaster-Bombardement in Kundus. In: WDR online, 04.09.2019. [zu 91 zivile Opfer und Kommando für den Bombenangriff der beiden US-Kampfjets]

o. A.: Bundeswehr-Oberst Klein zum Brigadegeneral befördert. In: Spiegel online, 03.04.2013. [zu Regelbeförderung]

Demmer, Ulrike: Offiziere änderten Meldungen über zivile Opfer. In: Spiegel online, 04.03.2010. [zu Demmer, Ulrike. In: Spiegel 04.03.2010 [online]]

Hesse, Hermann: Die Gedichte. 6. Auflage. Frankfurt am Main/Leipzig 2013.

Wecker, Konstantin: Die Mordnacht von Kundus. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. 7. Auflage. München 2018.

 

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