Konstantin Wecker
Die ganze Welt poetisieren, statt Geld zu transferieren
Eine Analyse von Novalis (Wecker 2017, 260).
Das Lied Novalis wurde erstmals im Jahre 2015 in dem Album Ohne Warum veröffentlicht. Konstantin Wecker greift dabei das von Novalis 1800 geschriebene Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren auf und erweitert dieses Gedicht um eine weitere Strophe; beide Strophen umfassen jeweils zwölf Verse. Für die Tournee Ohne Warum hat Wecker auf dem noch eine dritte Strophe hinzugefügt.
Friedrich von Hardenberg wurde als einer der zentralen Autoren der Frühromantiker unter dem Pseudonym Novalis bekannt. Trotz seiner adeligen Herkunft ging er einem bürgerlichen Beruf nach (vgl. Stephan 2008, 206). In dem vorliegenden Gedicht stehen die Aufwertung der Innerlichkeit des Subjekts und die Kritik am Rationalismus der Aufklärung im Zentrum. Die Innerlichkeit des Subjekts zeichnet sich durch romantische Motive wie den Traum, die Phantasie, die Selbstentfaltung und die Liebe aus.
Das Gedicht ist durch Paarreime strukturiert. Außerdem ist die Wiederholung der folgenden Verse zu erwähnen: „wenn die so singen oder küssen, / mehr als die Tiefgelehrten wissen, /dann fliegt vor einem geheimen Wort / das ganze verkehrte Wesen fort“ (Wecker 2017, 260). Diese Novalis-Verse greift Konstantin Wecker wiederholend auf und verweist so auf die Kernaussage des Gedichts. Rein syntaktisch handelt es sich um eine konditionale Satzverbindung, die durch die Konjunktion wenn eingeleitet wird. Diese Konjunktion wird in jeder Strophe vier Mal aufgegriffen; es werden somit vier verschiedene Bedingungen genannt, die erfüllt sein müssen, damit das ganze verkehrte Wesen fortfliegt – so Novalis. Auch Wecker benennt in seiner Weiterdichtung dasselbe Ziel, nämlich das Verschwinden des verkehrten Wesens des Menschen. Dieses „verkehrte Wesen“ (Wecker 2017, 260) besteht in den aufklärerisch-rationalistischen und bei Wecker auch in den ökonomischen Normierungen der Gesellschaft, die mit den Mitteln der Poesie und der Phantasie aufgelöst werden können.
Demzufolge sind poetische und kreative Texte positiv zu werten, da sie laut des lyrischen Ichs immer das „verkehrte Wesen“ (ebd.) fortschicken. Die Bedingungen dafür sind, dass Menschen sich nicht dem einseitigen Rationalismus zuwenden, sondern ihre Phantasie und Einfühlung vertrauen sollen, was bei Novalis im dritten Vers dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Singenden, also die Künstler*innen, und die Küssenden, d.h. die Liebenden, über mehr Weltwissen verfügen als die Gelehrten. Dadurch wird die Poetisierung der Wissenschaft als Gegenpol zum modernen Wissenschaftsverständnis (vgl. Hegener 1975, 103) realisiert. Weiterhin heißt bei Novalis, dass sich „die Welt […] in die Welt […] zurückbegeben“ (Wecker 2017, 260) müsse. Damit kann auf die Theorie der Potenzierung Novalis verwiesen werden. Demnach hat jede Wissenschaft das Potenzial zu einer Philosophie zu werden, die in dieser Hinsicht die höchste Stufe darstellt. Einzelne Wissenschaften können so zu einer Gesamtwissenschaft verschmelzen (vgl. Hegener 1975, 71). Die Welt muss sich also aus ihrem aktuellen Zustand lösen und einen höheren Zustand erreichen, indem sie in die wahre Welt zurückkehrt. Die nächsten Verse stellen heraus, dass die „wahren Weltgeschichten“ (Wecker 2017, 260) durch Märchen und Gedichte erkannt werden. Märchen und Gedichte gelten an dieser Stelle als Mittel zur Erkenntnisgewinnung, denn „Imagination und Dichtung erschließen eine den Alltagssinnen unzugängliche höhere Welt” (Schmitz-Emans 2009, 30). Damit dies vollzogen werden kann, muss „das geheime Wort“ (Wecker 2017, 260) verstanden werden. Dieses geheime Wort geht von denjenigen aus, die singen und küssen. Damit sind Poeten und kreative und liebende Menschen gemeint, die den Willen und den Enthusiasmus besitzen, mit ihren Worten das verkehrte Wesen des Menschen zu zerstören.
Zu erwähnen ist außerdem, dass den Zahlen und Figuren in den ersten beiden Versen eine kritische Betrachtung zukommt. Auch das Symbol des Lichts wird aufgegriffen und uminterpretiert. Das Licht als typisches Symbol und Schlagwort der Aufklärung (vgl. Kaiser 1996, 15) wird hierbei durch den Schatten ergänzt. Das Wechselspiel von Licht und Schatten führt zur echten Klarheit. Daraus ist zu folgern, dass der einseitige Rationalismus nicht zur Klarheit führen kann. Die hier angesprochenen Schatten implizieren die Leidenschaften und Gefühle des Menschen, die bereits im Sturm und Drang und der Empfindsamkeit als Ergänzung zur Aufklärung begriffen wurden, da sie der Verbindung des Verstandes und des Gefühls dienten (vgl. Stephan 2008, 180).
Konstantin Wecker greift die syntaktische Struktur aus Novalis’ Gedicht auf und stellt weitere auf die Gegenwart des 21. Jahrhunderts bezogene Bedingungen auf, die zur Auflösung des verkehrten Wesens führen. Es lassen sich vier Bedingungen erkennen: die erste Bedingung, die in den ersten zwei Versen der zweiten Strophe formuliert wird, ist, dass der Mensch durch Gedichte und Geschichten den rechten Weg zu sich finden soll: „Erst wenn Gedichte und Geschichten / das Herz wieder gerade richten“ (Wecker 2017, 260). Das Herz wird hier zur zentralen Instanz des Subjekts. Eine weitere Bedingung, die Wecker in den Versen drei und vier formuliert, besteht darin, dass der Mensch die Kraft der Musik wahrnehmen muss, indem er der eigenen Kreativität folgt, anstatt dieser auszuweichen: „wenn wir den eignen Melodien / nicht mehr so hilflos taub entfliehen“ (ebd.). Schließlich konkretisiert Wecker in den nächsten Versen die Bedingungen an den Menschen der Gegenwart, der sich aus den neoliberalen Denklogiken befreien muss: „wenn nicht das Streben nach Gewinn / des Lebens kläglich karger Sinn / und wir an Zins und Dividenden / keinen Gedanken mehr verschwenden“ (ebd.). Aus all diesen Betrachtungen wird deutlich, dass Konstantin Wecker die Verse aus dem von Novalis geschriebenen Gedicht aufgreift und damit die Aussage Novalis teilt, dass die dichterischen Worte der Erschließung der Geheimnisse der Welt dienen (vgl. Schmitz-Emans 2009, 30). Weckers Texte wenden sich gegen den Wertewandel der Gesellschaft, d.h. gegen die zunehmende Ökonomisierung (vgl. Schlicht 2014, 89). Diese Abwehr der Ökonomisierung Weckers wird in der zweiten Strophe durch die Abwertung des Strebens nach Gewinn, Zins und Dividenden unterstützt, was als Bedingung für das Verschwinden des verkehrten Wesens erscheint.
Auf seiner Tournee 2015 ergänzt Konstantin Wecker eine weitere Strophe, die die Struktur der bisher besprochenen Strophen aufgreift. Allerdings unterscheidet sich diese Strophe in inhaltlichen Aspekten. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass das lyrische Ich an den Leser appelliert, sich aktiv zu widersetzen und gegen „fatal[e] Weltgeschehen“ vorzugehen. Während sich in den ersten beiden Strophen der Appell zu Veränderungen auf den Bereich der inneren Haltung bezieht, sollen sich die Menschen in der dritten Strophe „zusammenfinden“ und aktiv werden, indem sie „vereint [...] widerstehen“ und getragen von „der Kraft der Utopien“ den „selbsternannten Realisten“ ihr anderes, phantasievolles, mitmenschliches Weltbild entgegensetzen. Nicht das Individuum allein soll hier agieren, sondern in Gemeinschaft mit anderen Individuen, wobei das Ziel ist, dass die Menschen „im Herzen sich vernetzen“ (alle Zitate s. Homepage Wecker), womit die Kraft des Poetischen, das schon bei Novalis angelegt war, bei Wecker eine soziale Dimension erhält. An dieser Stelle ist zu fragen, was Konstantin Wecker wohl dazu bewegt hat, diesen Appell auszusprechen. Dafür muss begriffen werden, was in dem Jahr 2015 als Auslöser fungiert haben könnte.
In diesem Zusammenhang sei auf die wirtschaftliche Krise Griechenlands und die europäische Flüchtlingspolitik verwiesen. Weiterhin spielt das politische Dilemma in der Ukraine, welches von vielen Konflikten, unter anderem mit den USA, geprägt wurde, eine wichtige Rolle. Diese Konflikte kosteten tausende von Menschenleben. Auch sind der Kampf Chinas gegen die Korruption, die Stürmung der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und die Verbreitung des IS Ereignisse, die die Gesellschaft im Jahr 2015 prägen.
All diese Ereignisse haben sicherlich dazu geführt, dass Konstantin Wecker eine dritte Strophe ergänzt hat. Der Appell des lyrischen Ichs, sich in Gemeinschaft zu widersetzen, ist daher einleuchtend. Aufgrund all dieser Ereignisse reichen die bloße Phantasie und die bloße Hinwendung ins Innere nicht aus, um sich den Vorgängen zu entziehen. Der Widerstand wird zu einem entscheidenden Punkt, in welchem sich der Mensch aus der Passivität herausbewegen und aktiv werden soll.
Literatur
Hegener, Johannes: Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis. Bonn 1975.
Kaiser, Gerhard: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang. 5. Auflage. Tübingen 1996.
Schlicht, Corinna: Du musst dir alles geben. Hedonistische Daseinsbejahung als Gegendiskurs in den Liedern Konstantin Weckers. In: Dies./Thomas Ernst (Hg.): Körperdiskurse. Gesellschaft, Geschlecht und Entgrenzungen in deutschsprachigen Liedtexten von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Duisburg 2014. S. 83-110.
Schmitz-Emans, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik. 3. Auflage. Darmstadt 2009.
Stephan, Inge: Aufklärung. In: Wolfgang Beutin (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7. Auflage. Stuttgart/Weimar 2008. S. 148-181.
Stephan, Inge: Kunstepoche. In: Wolfgang Beutin (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7. Auflage. Stuttgart/Weimar 2008. S. 182-238.
Wecker, Konstantin: Novalis. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. 6. Auflage. München 2017. S. 260
Wecker, Konstantin: Novalis, unter: https://wecker.de/de/musik/album/331-Ohne-Warum-live/item/358-Novalis.html (abgerufen am 15.01.2020).
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