Konstantin Wecker
Anarchistische Revolution?
Eine Analyse zu REVOLUTION (EV: Ohne Warum. Sturm & Klang 2015; Wecker 2018, S. 271-274.)
Der zentrale Begriff des Textes ist der Titelbegriff der Revolution. Sprachlich wird dies anhand mehrerer Faktoren deutlich: An der zweifachen Wiederholung des Begriffes und damit des Titels in Strophe drei und der fünffachen Wiederholung in der siebten, letzten Strophe, das Schreiben ausschließlich in Großbuchstaben, das Ausrufezeichen nach jeder Erwähnung von Revolution sowie der Status als einziges Wort in den betreffenden Versen. Den „REVOLUTION!“-Versen vorangestellt sind sowohl in Strophe drei als auch in Strophe sieben die vier Verse „Ach pfeifen wir auf alles, was man uns verspricht, / auf den Gehorsam, auf die sogenannte Pflicht, / was wir woll´n ist kein Reförmchen und kein höh´rer Lohn, / was wir woll´n ist eine“ (Wecker 2018, 272). Die dort gegebene Absage an Untertänigkeit und Besänftigung durch Reform, die verniedlicht und dadurch als besonders ungefährlich für die Herrschenden dargestellt wird, sind offenkundige Voraussetzungen zu revolutionärem Handeln. Als weitere sprachliche Auffälligkeiten sind folgende Punkte zu nennen: In den meisten der sieben Strophen sind Paarreime zu finden. Ausnahmen bilden die ersten vier Versen der fünften Strophe, die ein Kreuzreim-Schema aufweisen: „Manche nämlich müssen drunten sterben, / wo die schweren Ruder der Schiffe streifen. / Andre wohnen bei dem Steuer droben, / und sie woll´n es nicht begreifen“ (Wecker 2018, 273). Bei dem dort beschriebenen Schiff handelt es sich um eine Metapher für den Staat, in dessen Rahmen sich das gegebene gesellschaftliche Leben abspielt: Die Werktätigen schuften sich zu Tode, während die Besitzenden, Herrschenden sich für die Belange der Werktätigen nicht interessieren. Eine weitere Abweichung vom dominanten Paarreim lässt sich in Strophe sechs identifizieren: „Und drum habt den Mut – steht endlich auf, / wenn der Lauf uns nicht gefällt, / verändern wir den Lauf, verändern wir den Lauf!“ (ebd.). Hier reimen sich Verse eins und drei, auf Vers zwei gibt es jedoch keinen Reim und in Vers vier wird der dritte Vers wiederholt und damit seine Relevanz hervorgehoben. Es wird an die Rezipient*innen appelliert, sich zu wehren und den Lauf der Geschichte bewusst zu verändern, denn das Subjekt historischer Entwicklung ist nach wie vor das Kollektivsubjekt Mensch. Bei dem lyrischen Ich, das im Gedicht spricht, handelt es sich um Wecker selbst, wie man an der Ansprache in Strophe eins erkennen kann.
Mit dem weiteren Entfalten des Begriffes der Revolution lassen sich nun weitere wesentliche Begriffe und Gedankengänge im Text identifizieren. Dazu können helfend folgende Fragen aufgestellt werden: Wer sollen die Akteure der Revolution sein? Gegen wen soll sich die Revolution richten? Warum soll Revolution gemacht werden? Was soll revolutioniert werden? Wie soll Revolution gemacht werden? Die Revolution starten sollen die von ihm angesprochenen LeserInnen und HörerInnen, zu denen alle Unterdrückten, Geknechteten, Entrechteten zählen, wobei das lyrische Ich sich dieser Gruppen zurechnet. Deutlich wird dies unter anderem an der Schiffs-Metapher, an dem Sprechen von „wir“ oder „uns“, als auch an dem Ansprechen zu Beginn mit „Freunde“. Diese Klasse der Geknechteten soll sich gegen die herrschende Klasse wehren, die Wecker im Besitzbürgertum sieht: „Kann es denn sein, dass nur noch Banken und Konzerne / das Sagen haben, und wir hören gerne / ihre Versprechungen und Lügen an“ (Wecker 2018, 271). Ebenso sind für ihn Rationalisten jeglicher Couleur Feinde der Revolution: „kein System ist festgeschrieben in Gestirnen, / alles nur erdacht in unvollkomm´nen Hirnen.“ (Wecker 2018, 273). Deutlich wird das in diesem Vers an den an die Astronomie erinnernde Terminologie „Gestirne“, wenngleich Wecker den Begriff hier zur Negation eines häufig propagierten Determinismus verwendet, und der pejorativen Besetzung des Gehirnes. Die Notwendigkeit der Revolution ergibt sich für ihn aus dem seelischen und materiellen Elend, in das die Menschheit gestürzt wird. Freilich bedeutet materielles Elend hier kein Elend für die Menschheit als Ganzes, sondern für die Majorität, während die Minorität der Herrschenden sich scheinbar unbegrenztem Reichtum ergötzt: „So mancher lebt im Überfluss und sperrt sich ein / […] Ich würd´ ihnen den Reichtum gerne lassen, / die schicken Autos und ihr lautes Prassen,
nur leider kaufen sie sich unsre Erde / und unser Land mit protziger Gebärde / und machen sich an schönsten Flecken breit / und rauben denen, die seit langer Zeit / das Land mit andern teilen / das Recht, dort weiter zu verweilen, / nur weil die ärmer sind, auch oft verlieren“ (Wecker 2018, 272). Die dritte Strophe in toto stellt die bestehenden Verhältnisse an den Pranger. Die anaphorische Wiederholung der Konjunktion „und“ in Strophe drei unterstreicht die Hilflosigkeit, mit der die Machtlosen den Herrschenden gegenüberstehen. Ganz konkret: 2015 besaßen 62 Personen ein so großes Vermögen wie die 50% der ärmeren Weltbevölkerung (vgl. Kalinski u.a. 2016). Und diese sozioökonomische Ungleichheit wirkt sich sowohl auf die Gesundheit als auch auf die Entwicklung des Klimas aus. So leben in Deutschland die untersten Einkommensgruppen im Schnitt drei bis fünf Jahre kürzer als die die oberen Einkommensgruppen (Anonym 2019) und nur hundert Konzerne sind für mehr als 50% der CO2-Emissionen verantwortlich (Griffin 2017). Das seelische Elend hingegen betrifft alle Mitglieder der Gesellschaft: „Sie haben aufgehört zu fühlen und zu sehen. / Die Gier nach Macht hat ihnen alles das geraubt, / an was ein Mensch sich klammert, was er glaubt, / was er voll Sehnsucht tief im Herzen trägt“ (Wecker 2018, 272). Auch wenn es gerade für seelisches Leid allerlei vulgärpsychologische Tricks gibt, diese zu verschleiern und mit dem Unbewussten und Halbbewussten der Opfer herumzuspielen, so deuten doch die Zahlen der an Depressionen und Burnout erkrankten auf diese Entwicklung hin: So zeigt jede zweite Deutsche Person Symptome von Burnout (Anonym 2018) und Depressionen gelten inzwischen als Volkskrankheit (Anonym 2017).
Revolutioniert werden soll in Weckers Lied die gesellschaftliche Totalität. Es soll die „Ungerechtigkeit“ und ein „abgewrackt korruptes System, / das kein Problem löst, denn es ist selbst das Problem“ (Wecker 2018, 273) bekämpft werden. Diese Verse stehen im Einklang mit der Forderung nach Revolution und nicht nach Reformen, da Reformen die gesellschaftliche Grundstruktur unangetastet lassen. Letzten Endes ist die gesellschaftliche Entwicklung nicht determiniert: „kein System ist festgeschrieben in Gestirnen“ (ebd.) und abhängig vom menschlichen Handeln „verändern wir den Lauf!“ (ebd.). Diese Revolution würde durchgesetzt, indem „das Pack“ (Wecker 2018, 272), sprich: die Herrschenden, enteignet werden und die Unterdrückten sich nonkonformistisch verhalten: „nämlich mit all jenen mitzufühlen, / die ungehorsam sind und zwischen allen Stühlen / aufrecht gehen und nicht nach unten treten“ (Wecker 2018, 273).
Die Negation des zuletzt zitierten Verses wäre der autoritäre Charakter schlechthin, wie er in den Studien zum autoritären Charakter (Adorno 2016, S. 45) entfaltet wird: Nach oben buckeln und nach unten treten. In der letzten Strophe entfaltet Wecker schließlich seine Utopie: Die Revolution müsse liebevoll, friedlich, „doch gewaltig an Ideen“ (Wecker 2018, 273), absolut egalitär und antiautoritär sein. Seine Gesellschaftsvision ist die einer Gesellschaft „ohne Gier und ohne Herrschaft, ohne Zwang“(Wecker 2018, 274), weiter heißt es: „werden wir zusammen EIN Gesang“ (ebd.). Dieses „EIN“ ist das einzige Wort neben Revolution, welches in Großbuchstaben geschrieben wurde. Damit wird die Gemeinschaftlichkeit dieser zukünftigen Gesellschaft unterstrichen und „Gesang“ bietet nicht nur eine Referenz zu Weckers einleitenden Worten und seinem Standpunkt als Künstler, sondern ist ebenfalls ein sanfter, zarter Begriff, womit die Friedlichkeit und Liebe untermalt wird.
Als wesentliche Begriffe (auch wenn Wecker jegliche Begriffe mit dem Suffix –ismus ablehnt) lassen sich also die folgenden festhalten: Revolution, Anarchismus, Antiautoritarismus, Spiritualismus, Pazifismus und Moralismus. Kurzum: Weckers Text ist auch geprägt von Metaphysik. In Anbetracht der Tatsache, dass Wecker von Gandhi beeinflusst wurde, überrascht diese idealistische Prägung nur wenig. So schrieb Gandhi einst: „Gewaltfreiheit bedeutet […] Einsetzen der ganzen Seelenkraft gegen den Willen des Tyrannen.“ (Wecker 2012) In dieser einen Zeile lässt sich der Antiautoritarismus, Spiritualismus, Pazifismus und Moralismus finden. Darüber hinaus hat sich Gandhi selbst als eine Art Anarchisten gesehen, unverkennbar jedoch nicht als Anarchisten, welcher der Arbeiter- und Bauernbewegung nahestand (Anonym 1984). Als anderen, wahrlich revolutionären Einfluss, nennt Wecker weiterhin die Kommunistin Rosa Luxemburg (Wecker 2012). Er liest ihre privaten, empathischen Briefe als politische Statements und interpretiert ihr politisches Wirken, wenn er zu dem Schluss kommt: „Aus Rosa Luxemburgs Ideen lässt sich keine Ideologie zimmern“ (Wecker 2012).
Literatur
Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main 2016.
Anonym: Gandhi – Mythos, Realität und seine Rezeption in der Friedensbewegung. In: Initiative Sozialistisches Forum, Frieden – je näher man hinschaut desto fremder schaut es zurück. Zur Kritik einer deutschen Friedensbewegung. Freiburg 1984. S. 73-120.
Anonym: Kluft zwischen Arm und Reich in der Lebenserwartung wächst. In: Max-Planck-Gesellschaft. 11.04.2019
Anonym: Jeder Zweite fühlt sich von Burnout bedroht. In: aerzteblatt.de. 09.04.2018.
Anonym: WHO: Millionen leiden an Depressionen. In: aerzteblatt.de. 23.02.2017.
Griffin, Paul: The Carbon Majors Database. 2017. [CDP]
Kalinski, Jörn; Küßner, Steffen; Nowak, Jörg: Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Berlin, 2016. [oxfam]
Wecker, Konstantin: Revolution. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. München 2018. S. 271-274.
Wecker, Konstantin: Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.
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