Die Literatur als Synthese von Poesie und Politik

Eine Analyse zu Schreiben ist Schreien (EV: Ich will noch eine ganze Menge leben, Ehrenwirth-Verlag 1978; Wecker 2012, S. 40.)

Konstantin Weckers Anthologie Jeder Augenblick ist ewig versammelt Lieder und Gedichte, welche er von seinem sechzehnten Lebensjahr an bis hin zu seinen aktuellsten Werken schrieb. Schreiben ist schreien (Wecker 2012, 40) wurde von ihm in den 1970er Jahren verfasst und gehört zu jenen Gedichten, die nicht vertont wurden. Es handelt sich um eine poetologische Standortbestimmung des Autors. Das Gedicht besteht aus einer Strophe und umfasst insgesamt 22 Verse, die nicht mit Endreimen verbunden sind, jedoch ist das Gedicht durch einen zweisilbigen Trochäus rhythmisiert. Die Eingangsverse „Schreiben ist Schreien – / kein Flüstern mehr, Freunde. / Wer flüstert, ist schuldig, / bekennt“ (Wecker 2012, 40) dienen als Appell an das schreibende Ich wie auch an die Leser*innen; es geht darum vernehmlich die Stimme zu erheben. Der Verzicht auf ein Reimschema lässt den Text selbst zu einem Schrei werden, denn es erzeugt jenes Unbehagen, welches dem Schreien vorausgeht. Wecker findet also für die Titelphrase Schreiben ist schreien eine adäquate Form. Entsprechend versammelt das Gedicht Bilder des Unmuts und Ekels gegenüber einer schweigenden Position: „Dieser schleimige stimmlose Firlefanz” (ebd.). Hier wird deutlich, dass es sich bei leisen Höflichkeiten von Autor*innen nur um passive Anbiederungen handelt. Autor*innen sollen jedoch ihre Stimme erheben; dies ist durchaus politisch und gesellschaftskritisch gemeint, auch wenn das Gedicht hierzu nicht konkret wird. Die gesellschaftliche Dimension deutet sich in den Versen „dezentes Parlando war immer schon / Feigheit” (ebd.) und „Schweigen ist immer Ducken und Treten“ (ebd.) an. Im vorletzten Vers findet sich eine Variation auf den Gedichttitel: „Schreiben muss Schreien sein” (ebd.), was aus der Definition („ist“) eine Forderung („muss“) macht.

Mit diesem frühen Gedicht vermittelt sich Weckers Selbstverständnis als Autor. Gleichsam dient Schreiben ist Schreien  als Mahnruf gegenüber kritikloser Dichtung, welche gesellschaftspolitische Missstände, beispielsweise hervorgerufen durch eine fehlende oder verharmlosende (literarische) Verarbeitung der Rolle Deutschland im Zweiten Weltkriegs. Das in den 1970er Jahren entstandene Gedicht kann demnach als Appell an die zeitgenössischen Schriftstellerkolleg*innen verstanden werden, ihre Stimme gegen die gesellschaftlichen Entwicklungen wie beispielsweise die zunehmende neoliberale Ausbeutung durch Wirtschaftsunternehmen oder die Ausbreitung rechtsradikaler Ideologien zu erheben und somit ihrer Aufgabe als Autor*innen gerecht zu werden. Konstantin Wecker sieht die Literatur als Instrumentarium des Widerstands. Dabei orientiert er sich an verschiedenen literarischen Vorbildern wie unter anderem Ingeborg Bachmann, die anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden in ihrer Preisrede mit dem Titel Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar die Aufgabe des Schriftstellers darin sieht, dass er mit seiner Literatur die Wahrheit des Schmerzes aufzeigt. Nichts schön zu reden, sondern das Problematische, die Wunden und das Leid sichtbar zu machen, das ist für Bachmann das Wesen des Schreibens. Daran knüpft Wecker mit seinem Gedicht an.

Die Verantwortung des Dichters gegenüber der Gesellschaft wird von Wecker mithilfe der Gleichsetzung des Begriffspaares schreiben und schreien wiederholt aufgegriffen: „Schweigen ist immer Ducken und Treten, / be cool man, und deutsche Innerlichkeit, / alles derselbe Sud, / Schreiben muss Schreien sein: / Kampf und Neurose und Sturm” (ebd.). Die von Wecker benannte deutsche Innerlichkeit muss in diesem Kontext als durchaus negativ bewertet werden, da auf kultureller Ebene insbesondere der deutschen Lebensart ein fortschreitender Rückzug des Subjekts aus dem Weltgeschehen zugeschrieben worden ist. So hat Nobelpreisträger Thomas Mann die deutsche Innerlichkeit als den „Weg des deutschen Bürgertums […] von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit“ (Mann 1948, 463) bezeichnet.

Durch die englische Phrase „be cool man“ (ebd.) wird auf eine politische und gesellschaftliche Passivität angespielt, die sich mit einem bestimmten modischen, dem amerikanischen Lifestyle angepassten Lebensstil verbindet. An Stelle von Coolness und Innerlichkeit fordert Wecker jedoch ein revolutionäres Aufbegehren, dass sich primär in den Wörtern Kampf und Sturm abzeichnet. Die Neurose ist hier positiv gesetzt; dabei unterzieht Wecker dem Begriff eine semantische Umdeutung, wie er auch in anderen Liedern und Gedichten, das Narrentum und das Verrücktsein auslobt. Im bürgerlichen Alltagsdiskurs werden diejenigen, die sich kritisch gegen den coolen oder innerlichen Lifestyle wenden, als ‚verrückt‘ pathologisiert. Dies nimmt Wecker jedoch als Auszeichnung für eine Haltung auf, die sich vom bürgerlich-patriarchalen, neoliberalen Mainstream abwendet und deren Sprecher den ‚Normalen‘ mit ihrer Kritik und ihren gesellschaftlichen Gegenentwürfen als neurotisch gelten.

Schweigen, also die bewusste Stimmlosigkeit moderner Literaten gegenüber den gesellschaftspolitischen Entwicklungen ihres Landes, bedeutet im Wecker’schen Kunstverständnis Anpassung an den herrschenden Staats- bzw. Machtapparat. Demgegenüber kann das Schreien als poetologische Forderung nach einer handlungsorientierten Literatur angesehen werden, dessen Aufgabe darin besteht, die zeitgenössischen Staats- und Regierungsformen wie auch das angepasste Denken von Bürger*innen kritisch zu hinterfragen. Die Literatur wird in diesem Kontext zu einem Sinnbild des Widerstands. Die Aufforderung zu einem literarischen Widerstand wird in einem weiteren Kurzgedicht des Liedermachers noch drastischer ausgearbeitet: „Das Wort muss eine Faust sein, / kein Zeigefinger:/ Zuschlagen. / Treffen” (Wecker 2012, 37).

Die angeführten Beispiele lassen bereits erahnen, dass Schreiben und Wut, Poesie und Widerstand, bei Wecker eine Symbiose bilden. Mit seiner Auffassung einer gewaltfreien Opposition stellt sich Wecker in eine Reihe mit namhaften Widerständlern wie Stéphane HesselArundhati Roy oder Dietrich Bonhoeffer, die allesamt nach einer friedvollen Veränderung gesellschaftlicher Missstände streben bzw. gestrebt haben. Es zeigt sich, dass in den literarischen Werken Weckers das Poetische mit dem Politischen vereint wird. Immer kann seine Literatur als rebellische Reaktion auf gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen aufgefasst werden. Seine musikalischen Veröffentlichungen wie beispielsweise Wut und Zärtlichkeit (2011) veranschaulichen, dass der Künstler bis heute nach dem Credo eines poetischen Widerstands lebt. 

 

Literatur

Mann, Thomas: Adel des Geistes. Sechzehn Versuche zum Problem der Humanität. Stockholm 1948.

Wecker, Konstantin: Schreiben ist Schreien. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2012. S. 40.

 

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