Konstantin Wecker
Der Wecker’sche Pazifismus
Eine Analyse zu Variationen über ein Gedicht von Erich Fried (Wecker 2015, 226-227)
Das als Anhang zu einem offenen Brief an den Münchener Oberbürgermeister hinzugefügte Gedicht Variationen über ein Gedicht von Erich Fried aus dem Jahr 2002 illustriert den Wecker’schen Pazifismus und seine Notwendigkeit. Das Gedicht besteht aus drei Strophen à 6, 7 und 8 Versen und weist kein Reimschema auf; es folgt damit dem Stil von Frieds Kriegsgedichten. Wecker stellt sich demnach nicht nur inhaltlich und thematisch in die Dichtungstradition Frieds, sondern auch auf formaler Ebene. Auffällig ist in der ersten Strophe („So friedliebend bin ich nun wieder nicht, / dass ich meinen Frieden mache mit den Kriegen“ Wecker 2015, 226) die zweifache Lesart von ‚Frieden machen‘, die sich einerseits allgemein auf die (Nicht-)Akzeptanz kriegerischer Handlung bezieht und anderseits auf die Legitimation von Krieg, um Frieden herzustellen und zu sichern. Bezeichnend ist außerdem, dass die Worte Krieg und Frieden immer wieder kontrastierend gegenübergestellt (Wecker 2015, 227) werden und somit die doppelte Lesart visualisieren. In der zweiten Strophe wird darauf Bezug genommen, dass Gewalt nicht mit Gegengewalt eingedämmt werden kann, indem das Lyrische Ich erklärt: „Aber Steine werfe ich keine“ (ebd.). Diese Ablehnung von Gewaltausübung verdeutlicht sich in dem verwendeten Konjunktiv „mich dauern die Steine, die man würfe“ (ebd.).
Inhaltlich gliedert sich das Gedicht entsprechend der Stropheneinteilung. Die erste Strophe funktioniert als Positionierung des lyrischen Ichs in Bezug auf Gewalt und Krieg im Allgemeinen. Das lyrische Ich lehnt Krieg klar ab und spricht sich ebenfalls gegen diejenigen aus, die Kriege führen. Die zweite Strophe drückt die Kritik an der Legitimation und Normalität von Krieg zum Zwecke der Friedensschaffung aus. Zu Beginn der dritten Strophe wird eine Art utopischer Sollzustand aufgezeigt, wenn es heißt, dass „die Überwindung des Kriegs / und des Kriegerischen in uns“ (Wecker 2015, 227) notwendig ist, um Frieden herzustellen. Dieser Zustand bildet das Bestreben des lyrischen Ichs nach einer friedlichen Welt ab.
Die prinzipielle Ablehnung von Gewalt, d.h. der Pazifismus sind dementsprechend zentrale Motive des Gedichts. Außerdem bildet sich der auch in anderen Werken Weckers präsente Utopiegedanke in der dritten Strophe ab. Die Relevanz der Utopie für Wecker wird auch in seinem Buch Meine rebellischen Freunde deutlich, wenn er „eine Kunst [fordert], die den Mut zur Utopie hat. Es ist die Kunst, die Wege zu neuen Ufern weisen kann“ (Wecker 2012, 15). Hier wird die Nähe zwischen dem Dichter Wecker und dem lyrischen Ich des vorliegenden Gedichts deutlich.
Weckers Utopiekonzept findet sich außerdem in seinem Bezug zur Philosophie und Dichtung der Frühromantik wieder. Er bezeichnet sich selbst als Romantiker (ebd., 13) und spricht sich für das „[S]chwärmen“ (ebd.) in Opposition zum „[M]arschieren“ (ebd.) aus. Das von Wecker angestrebte Schwärmen kann als Voraussetzung für eine utopische Denkweise betrachtet werden.
Auch der Pazifismus ist in vielen anderen Werken Weckers präsent. Als Beispiele aus seiner Gedichtsammlung Jeder Augenblick ist ewig sind Pazifistisches Credo, Der Krieg und Die Mordnacht von Kundus zu nennen. Der Wecker’sche Pazifismus hat seine Wurzeln in dessen Elternhaus. Seinen Vater beschreibt er als „entschiedenen Pazifist[en]“ (Wecker 2012, 9). Weiter erklärt er, dass seine Erziehung nicht unter einem belehrenden, sondern unter einem von gegenseitigem Respekt geprägten Charakter stand, und dass der gemeinsame Dialog über Kontroversen und Streitthemen im Mittelpunkt stand (vgl. Wecker 2012, 9).
Die bereits in der Einleitung beschriebene inhaltliche Struktur des Gedichts weist einen Widerspruch in der Positionierung des lyrischen Ichs auf. Aus dem Widerspruch „So friedliebend bin ich nun auch wieder nicht“ (Wecker 2015, 226) in Strophe I und „Und so friedliebend bin ich nun wieder doch“ in Strophe III lässt sich eine appellative Funktion des Gedichts ableiten. In Strophe I verspürt das lyrische Ich einen inneren Drang zum Unfrieden, da es keinen Frieden mit denen machen will, die Kriege führen. Die nicht-friedliche Einstellung gegenüber denen, die Kriege führen, stellt eine auf Wut fußende Reaktion auf das nicht gerechtfertigte, gewaltsame Handeln dar.
Gäbe das lyrische Ich dem jedoch nach, würde es dem Verhaltensmuster derer folgen, die es kritisiert; nämlich Krieg führen, um Frieden zu schaffen. Als Konsequenz macht das lyrische Ich in Strophe III mit dem Krieger in sich selbst seinen Frieden (Wecker 2015, 227). Daraus resultiert der Appell an jeden und vor allem an die, die Kriege führen, Frieden mit dem Krieger in sich selbst, also dem Drang zum Unfrieden, zu schließen. Der am Anfang von Strophe III beschriebene utopische Sollzustand könnte auf diese Weise erreicht werden, weil die Legitimation von Kriegsführung keine argumentative Kraft mehr hätte. Gewalt als Reaktion auf Gewalt als unlösbares Problem wäre nicht mehr existent.
Historischer Kontext
Zum historischen Kontext des vorliegenden Gedichts lässt sich aufgrund des Erscheinungsdatums ein Bezug zu der seit Herbst 2001 andauernde Phase im Afghanistankonflikt herstellen. Ein anderer Hinweis wäre die Aussage Weckers, er „würde oft des Anti-Amerikanismus bezichtigt, weil [er sich] gegen die grauenvolle Kriege der Vereinigten Staaten“ (Wecker 2012, S. 160) ausspräche. Die US-geführte Intervention zum Zwecke des Sturzes al Qaidas und der Regierung der Taliban galt nach dem „Recht auf Selbstverteidigung“, festgelegt in der UN-Charta als ein Akt der Selbstverteidigung als Reaktion auf den 11. September 2001. Damit wurde die militärische „Operation Enduring Freedom“ völkerrechtlich legitimiert. Die Legitimation von Krieg ist ein zentrales Thema im vorliegenden Gedicht und wird deutlich negativ dargestellt. „Kriege führen, um Frieden zu machen“ (Wecker 2015, 227) zeigt die vom lyrischen Ich kritisierte Argumentationsweise, die sich auf die Intervention im Afghanistankonflikt übertragen lässt.
Eugen Drewermann
Die Verse „Frieden ist nicht einfach ein Zustand zwischen zwei Kriegen / Sondern die Überwindung des Kriegs“ (Wecker 2015, 227) verdeutlichen u.a. den Einfluss Eugen Drewermanns auf Wecker. In Weckers Werk Meine rebellischen Freunde wird Drewermann mit Zum Frieden erziehen zitiert. Hier beschreibt der Psychoanalytiker und Theologe Drewermann die Kriegsbereitschaft als „blinde[n] Gehorsamsvollzug“ (Wecker 2012, 154) und erläutert die Idee einer Pädagogik, die zur Mündigkeit erzieht. Drewermann plädiert auf eine Erziehung zur Empathie und der Bewusstmachung der eigenen Emotionen (Wecker 2012, 155), um einer Entsubjektivierung der Menschen vorzubeugen. Das Spüren von Emotionen und die Möglichkeit von Menschen, Empathie für ihre Mitmenschen zu empfinden stellt Drewermann an die Spitze seiner Erziehung zum Frieden. Wecker führt diesen Gedanken fort, wenn er sagt, dass „der Ursprung der Konflikte auf dieser Welt in unseren Herzen zu finden [sind]“ (Wecker 2012, 84). Gewalt ziehe Gewalt an, so Wecker (vgl. Wecker 2012, 85). Sich pazifistisch zu bekennen und zu versuchen das eigene Leben gewaltfrei zu gestalten, ist der Versuch des Anfangs einer gewaltfreien Gesellschaft. Wenn Wecker von der „Überwindung […] des Kriegerischen in uns“ (Wecker 2015, 227) spricht, nimmt er damit auf die Vorstellung Bezug, dass, um die Utopie einer gewaltlosen Gesellschaft aufzubauen, Menschen sich ihrer eigenen Gefühle und vor allem auch ihrer eigenen negativen Gefühle bewusst werden müssen. Ziel müsse es dann sein, die eigene Diskussionsfähigkeit zu schulen und eine Bereitschaft zu entwickeln, mit anderen Menschen in den Dialog zu treten, anstatt gewaltvolle Auseinandersetzungen für sich sprechen zu lassen. Auch verweist Drewermann auf die Wichtigkeit der Erziehung zum Widerstand. Widerständig sein ist eines der zentralen Motive bei Wecker. Gewaltloser Widerstand, ziviler Ungehorsam und Zivilcourage sind die Mittel, derer man sich bedienen sollte, um in vorherrschenden Systemen Veränderung zu ermöglichen. Drewermann verweist weiter darauf, dass diejenigen, die Macht innehaben, versuchen diese durch ihre bereits vorhandene Macht zu legitimieren. Macht stellt hierbei jedoch keine gute Grundlage für richtiges Handeln dar.
Brief an den Oberbürgermeister Münchens
Über Drewermann und das Motiv des Dialogs lässt sich ein Bezug zu dem öffentlichen Brief an den Münchener Oberbürgermeister herstellen, in dem das vorliegende Gedicht enthalten ist. Anlass des Briefes war die Empörung Weckers über das Verbot einer Demonstration von Kriegs- und Globalisierungsgegner*innen. Drewermann wird hier ebenfalls zitiert und Wecker greift die Relevanz des Dialogs auf, indem er das Beschützen der Meinungsvielfalt als Pflicht des Bürgermeisters betitelt. Der Sinn einer Demonstration nach Wecker ist es, „den Konsens zu fördern“. Konsens kann nur im Dialog gefunden werden, dementsprechend ist hier die Orientierung an der von Drewermann beschriebenen Pädagogik in Weckers Gedanken präsent. Wecker kritisiert in seinem Brief die „Kriminalisierung der Demonstranten“ und stellt die Frage „Wer bitte ist ein Gewalttäter, wenn nicht die Militärstrategen und Minister eines kriegsführenden Landes?“. Wecker fordert den Bürgermeister also auf, sich zu positionieren und zu erkennen, dass die in seinem Gedicht beschriebenen Personen die wahren Gewalttäter darstellen. Außerdem stellt Wecker das Verbot der Demonstration, also den Zwang zum Schweigen und die fehlende Möglichkeit, widerständig zu sein, mit Krieg gegen die Menschen im eigenen Land gleich. Hier ist Weckers positive Einstellung zur Rebellion und zur freien Meinungsäußerung, wie es beispielsweise in Das macht mir Mut (Wecker 2015, 71) zum Ausdruck kommt, ablesbar. deutlich.
Bertha von Suttner
Ein Artikel in Weckers Anthologie ist Bertha von Suttner gewidmet. Wecker spricht hier von der Überzeugung für eine „Friedenskultur“ (Wecker 2012, 94) von Suttners, die er teilt, wie auch im vorliegenden Gedicht deutlich wird. In diesem Artikel werden die Gegenpositionen der Tötungsbereiter und der Friedliebenden formuliert, hier nimmt Wecker eine klare Positionierung zu den Friedliebenden vor, mit denen gleichzeitig Pazifisten und Naive gemeint sind, denn „Pazifisten werden ja gerne als naive Spinner abgetan“ (ebd.). Wecker bekennt sich somit klar zu einer positiv verstandenen Naivität, die ihn zum utopischen Denken wie in der dritten Strophe von Variationen über ein Gedicht von Erich Fried befähigt. Naivität stellt außerdem die Grundlage für das romantische Schwärmen dar.
Erich Fried
Der österreichische Lyriker bietet durch seine zahlreichen Antikriegsgedichte die Grundlage für Weckers Variationen über ein Gedicht von Erich Fried. In Frieds Gedicht Friedensbereitschaft findet sich der Gedanke wieder, dass Gewalt nur zu Gegengewalt führt und nicht die Lösung für Konflikte darstellen kann, für die sie viele halten. Fried schreibt, dass wenn „die Friedensliebe der einen mit voller Wucht auf die Friedensliebe des anderen stößt“ (Fried 1985, 52), es zum Krieg kommt. Vorwand, Krieg zu führen, um Frieden zu erhalten, wird hier verdeutlicht. So können bspw. zwei Nationen von ihrer Bereitschaft zum Frieden überzeugt sein, allerdings auch nur so lange, wie sie sich nicht durch die „Friedensliebe“ einer anderen Nation bedrängt fühlen. Demnach handelt es sich auch nicht um Friedensliebe, sondern viel eher um einen Vorwand, die eigene Überlegenheit zu postulieren. Dieser Wunsch nach Überlegenheit kann einen Katalysator für Gewalt darstellen. Fried entfaltet in Kritik einer apokalyptischen Hoffnung, wie sinnlos die Anwendung von Gewalt ist, auch wenn sie in vermeintlich guter Absicht geschieht. In der ersten Strophe seines Gedichtes nennt er Diktatoren des 20. Jahrhunderts wie Adolf Hitler und Josef Stalin, aber auch Staatsoberhäupter wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Würde man diese „im Blut und Erbrochenen ihrer Opfer [ertränken]“, so „wäre endlich das Reich der Menschen da“ (Fried 1985, 67). In der zweiten Strophe wird anschließend negiert, dass dieses „Reich der Menschen“ ein besseres wäre, als die Regime, die zuvor Bestand hatten. Denn das Stürzen von gewaltvollen, ungerechten Regimen sollte nach Fried (und auch nach Wecker) nicht mit Gegengewalt passieren. Wenn Staaten ihre Legitimation durch Gewalt erhalten haben, entstehen aus ihnen nur neue ungerechte und gewaltvolle Regime. Beide Gedichte von Fried können als Aufruf zum Pazifismus gelesen werden, beide zeigen außerdem die Konsequenzen von Gewaltgebrauch und Missbrauch auf.
Literatur
Fried, Erich: Beunruhigung. Gedichte. In: Quarthefte (1985), 129.
Wecker, Konstantin: Öffentlicher Brief an den Münchner Oberbürgermeister Christian Ude vom 05.02.2002.
Wecker, Konstantin: Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.
Wecker, Konstantin: Variationen über ein Gedicht von Erich Fried. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. 5. Auflage. München 2015. S. 226-227.
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