Wut und Zärtlichkeit

Eine Analyse zu Wut und Zärtlichkeit (EV: Wut und Zärtlichkeit, Sturm & Klang 2011; Wecker 2018 Seite 239-241)

Das Lied Wut und Zärtlichkeit wurde erstmals 2011 auf dem gleichnamigen Album auf Weckers Label Sturm & Klang veröffentlicht. Das Gedicht besteht aus sechszehn Strophen mit jeweils vier Versen, die bis einschließlich zur vierten Strophe gereimt, aber ohne durchgängiges Reimschema sind. Die fünfte und sechste Strophe wiederholen sich als eine Art Refrain in den Strophen dreizehn und vierzehn. Die darauffolgenden Strophen sind wieder ohne durchgängiges Reimschema.

Auffallend ist, dass Strophe acht und sechszehn den gleichen Aufbau aufweisen, der sich durch das erste Wort des jeweils ersten Verses sowie den letzten Vers inhaltlich jedoch unterscheidet. Den Paarreim nutzt Wecker, um die konträren Elemente des in dem Gedicht dargestellten Inhalts zu unterstreichen und somit das Spannungsfeld von Wut und Zärtlichkeit in den Vordergrund zu setzen. Die rhetorischen Fragen bilden eine Art Aufzählung der Problematiken des Lebens. Um den Refrain von dem Rest des Gedichts abzugrenzen, wählt Wecker in diesem ein anderes Reimschema, nämlich den Kreuzreim.

Wut und Zärtlichkeit ist wie oben angemerkt das Titellied von Weckers dreizehntem Album, zu dem in einem Zeitungsinterview folgendes erklärt: „Wut und Zärtlichkeit ist die Summe aller Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren im Zusammenspiel mit den verschiedensten europäischen Musikern sammeln konnte“ (OVB 2012). Dies greift das Gedicht durch die Elemente des Reisens (Wecker 2018, 239) und auch die unterschiedlichen Lebenswege auf, die das Lyrische Ich nennt. Zum einen geht dieses auf verschiedene Lebensweisen ein, zum anderen auf die Leiden, die das Leben mit sich bringen kann. Abschließend zieht das Lyrische Ich in den letzten beiden Strophen ein Resümee aus seinen geschilderten Aspekten, indem es darstellt, dass die Geschehnisse innerhalb des Lebenswegs eines Individuums auch negative Aspekte mit sich bringen: „Hoch gestiegen, tief gefallen“ (ebd.).

Durch die Zusammenarbeit von Konstantin Wecker mit den unterschiedlichsten Kulturen, die durch die Musiker vertreten sind, nahm er in den Jahren viel mit und lernte daraus, was seine Persönlichkeit schlussendlich immer weiter vervollständigte, wie er uns im Seminargespräch am 26. November 2019 erzählte.

Weckers Lied Wut und Zärtlichkeit kann auch als Allusion auf das Lied Ich habe ein zärtliches Gefühl von Herman van Veen gelesen werden. Beide Gedichte sind von einem gesellschaftskritischen Geist getragen, indem sie die Zärtlichkeit ins Zentrum der Textwelten setzen. In Zeiten von Coolness und im Kontext kapitalistisch-bürgerlicher Gesellschaften, sind ist Empathie und Mitgefühl verpönt. In diesem Sinne ist Zärtlichkeit geradezu rebellisch zu nennen.

Das Lied beginnt mit der Frage, ob sich rebellischer Enthusiasmus im Alter in Bequemlichkeit wandelt: „Mit dem Alter und der Plage / stellt sich irgendwann die Frage: / Ist es besser zu erkalten, / lässt man alles schön beim Alten?“ (Wecker 2018, 239). Die rhetorische Frage „oder lässt man alles schön beim Alten“ (ebd.) appelliert an die Leser*innen selbst nachzudenken und zu rekapitulieren, welches Verhalten in dieser bestimmten Situation angebracht wäre, eben anstelle vom Annehmen aus Bequemlichkeit. Noch dazu stellt diese Strophe eine Hinterfragung der Gesellschaft da. Das Verb „erkalten“ (ebd.) steht im Gegensatz zur Wärme, zum Leben. Es geht also um Lebensenergie, die ein Individuum aufbringen muss, wenn es mit allem abfinden will. Das Ziel dieser Tätigkeit ist „gibt dir alles! Werde ganz!“ (ebd.). Dies verweist u.a. auf eines der früheren Wecker-Lieder, Du muss dir alles geben aus dem Jahr 1982.

In der darauffolgenden Strophe wird diese Frage vertieft und weiterführend hinterfragt, Indem der Konflikt zwischen Akzeptanz und Rebellion zu verbildlicht wird. Die dritte Strophe des Gedichts bezieht sich auf die rhetorische Frage der ersten Strophe. Partizipiert man in der Gesellschaft, indem man ihren Regeln folgt, oder indem man dem revolutionären Gedanken weiterführt? Es geht also um die Frage, ob und inwieweit man die Gesellschaft und den eigenen Teil darin hinterfragt, indem man den Gegensatz aus „[…] immer weiter / wachsam sein und dennoch heiter“ (Wecker 2018, 239) sein annimmt. Anschließend steht in der vierten Strophe die Auseinandersetzung mit der wandelnden Gesellschaft im Zentrum. Das lyrische Ich betont, dass Kontroversen, wie laut und leise sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen, sondern die Synthese das Ziel sei: „Kann man wütend sein und weise, / laut sein und im Lauten leise“ (ebd.)

Die nächsten beiden Strophen stellen, wie zu Beginn kurz angesprochen, den Refrain des Gedichtes dar und werden in den Strophen dreizehn und vierzehn erneut aufgegriffen. Zu Beginn wird darauf eingegangen, dass nicht nur Individuen, sondern auch die Kontroversen der Gesellschaft nicht als alleiniges Element bestehen können, sondern zusammen als Gefüge funktionieren. Mit dem Bild der Flüsse, die selbst wenn sie getrennt verlaufen, im Meer enden, wird wiederrum die Synthese als Ziel des wütend zärtlichen Daseins ausgedrückt. Dieses Phänomen bezieht sich auch auf das Ganze einer Gesellschaft. Es scheint alles für sich allein zu funktionieren, jedoch ist man in der Gesellschaft stets in ein Gefüge eingebunden; der Mensch muss sich also in seiner Lebensteilhabe erfahren, um ganz zu werden.

Die nächste Strophe beschreibt die Ablehnung von Normen und Konventionen: „Hab mich niemals an Gesetze, / Dogmen oder Glaubenssätze, / Führer, höhere Gewalten / ohne Widerspruch gehalten“ (Wecker 2018, 240). Es geht hier vor allem um die adverbiale Ergänzung „ohne Widerspruch“, d.h. die Ablehnung von Regeln bezieht sich auf die Ablehnung blinden Gehorsams.  Diese Erläuterung wird in Strophe 8 durch ein Enjambement weitergeführt, was die beiden Strophen miteinander verbindet. Inhaltlich gesehen geht das Lyrische Ich auf die Möglichkeiten des Lebens ein und somit auch auf die Individualität der Individuen, indem er die „vielen Gleise“ (ebd.) anspricht. Eine Art Resümee folgt in den beiden nächsten Strophen, indem den Titel anzitierend emphatisch formuliert wird: „Zwischen Zärtlichkeit und Wut / tut das Leben richtig gut“ (ebd.). Nicht das eine oder das andere, sondern die Gefühlsscala von Zärtlichkeit bis Wut ist für ein erfüllendes Lebensgefühl notwendig. Diese Strophe wiederholt sich mit einer leichten Veränderung am Anfang sowie dem letzten Vers in Strophe sechszehn, welche die letzte Strophe des Gedichts darstellt.

Ein Individuum – so führt das Lied in der neunten Strophe vor – muss sich stets wandeln, um genau das eben genannte Wohl zu erreichen, wobei eine Änderung der Äußerlichkeiten nicht genügt, sondern es muss eine Veränderung im Inneren geschehen. In den Strophen zehn bis zwölf werden unterschiedliche Lebensformen und -weisen dargestellt, die das Lyrische Ich aus der beobachtenden Perspektive eines anderen Individuums durch „Mancher sagt:“ (ebd.) verdeutlicht. In Strophe zehn geht es dabei um eine ökologisch-spirituelle Lebensweise. In Strophe elf wird werden (auto)aggressive Lebenshaltungen angesprochen. In der nächsten Strophe geht es dann um einen militaristischen Lebensentwurf. Alle diese Entwürfe werden abgelehnt. Stattdessen wird mit dem einsetzenden Refrain die ganzheitliche Lebenseinstellung als die Kernidee des Liedes wiederholt: „Eines fügt sich doch zum andern, / nichts besteht für sich allein. / Flüsse, die getrennt mäandern, / leiben sich dem Meere ein. // Gut poliert erscheint das Schlechte / oft in einem Strahlenkranz. / Sei ein Heiliger, ein Sünder, / gib dir alles! Werde ganz!“ (Wecker 2018, 240/241).

Abschließend folgen Strophen fünfzehn und sechszehn, in der zuerst genannten geht es erneut um die Höhen und Tiefen des Lebens. Der „Weg zum Lieben“ (ebd.) wird als das Ziel dieser „Reise“ (Wecker 2018, 241) ausgemacht. Indem die Schlussverse die Titelphrase variierend aufnehmen, wird aus dem Guttun von Wut und Zärtlichkeit der Lebensmut, der sich aus der emotionalen Bandbreite ergibt: „Zwischen Zärtlichkeit und Wut / fasse ich zum Leben Mut“ (ebd.). Damit schließt sich der Kreis, denn die Anfangsfrage wird mit der Kraft zum Leben, die sich aus dem tatsächlich gelebten Leben ergibt, beantwortet.

 

 

Literatur:

o. A.: Konstantin Wecker stellt im Rosenheimer Kultur- und Kongresszentrum die Lieder seiner neuen CD vor. In: OVB online vom 12.12.2012.

Van Veen, Herman: Ich hab’ ein zärtliches Gefühl. EV: Ich hab ein zärtliches Gefühl. Polydor 1973.

Wecker, Konstantin: Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.

Wecker, Konstantin: Wut und Zärtlichkeit. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2018. S. 239-241.

 

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