Mediävistik - Materialien - Übersetzungen
Einleitung zur Rubrik "Übersetzungen"
Zu den Bestandteilen des Germanistikstudiums, die in den letzten dreißig Jahren drastisch reduziert worden sind, gehört auch der sprachgeschichtliche Anteil der Altgermanistik; Studierende haben also unter anderem immer weniger Übersetzungskompetenz. Die einen sehen darin eine Art Untergang des Abendlandes, die anderen eine unvermeidbare Folge der Tatsache, dass 'alter' Stoff gekürzt werden muss, wenn fortlaufend neuer Stoff hinzu kommt.
Eine negative Folge eingeschränkter Übersetzungskompetenz ist sicher die Tatsache, dass sich bei deutschen Texten des Mittelalters (und in anderen Philologien sieht es kaum anders aus) in der universitären Lehre ein spezieller Kanon herauszubilden scheint: Seminare werden häufig zu denjenigen Texten angeboten, die in zweisprachigen Ausgaben greifbar sind - ich habe das vor einigen Jahren einmal systematisch untersucht. Diese Ausgaben werden zur Zeit schwerpunktmäßig von zwei Verlagen angeboten: von Reclam und (sehr viel eingegrenzter und auf ausgesprochene 'Klassiker' beschränkt) vom Fischer Taschenbuch Verlag. Dass Verlage mit ihrem Angebot die Lehre bestimmen, darf natürlich nicht sein; umgekehrt ist allerdings kaum zu erwarten, dass Verlage willens oder in der Lage sind, ihre ökonomischen Überlegungen am Bedarf der Universitäten auszurichten.
Man ist also auf Selbsthilfe angewiesen. Als kleinen Beitrag dazu bietet unsere Essener Homepage die Rubrik "Übersetzungen" an; zur Mitarbeit sind alle Fachkolleg/inn/en herzlich eingeladen.
Der erste Text, der hier angeboten wird, ist die Übersetzung des späthöfischen Epos Gauriel von Muntabel Konrads von Stoffeln. Die Übersetzung beruht noch auf der alten Ausgabe von FERDINAND KHULL (Gauriel von Muntabel. Eine höfische Erzählung aus dem 13. Jahrhunderte. Zum ersten Male hrsg. von Ferdinand Khull. Neudruck der Ausg. 1885. Mit e. Nachw. und Literaturverzeichnis von Alexander Hildebrand. Osnabrück: Zeller 1969). Entstanden ist Sie vor sechs Jahren für ein Seminar; ich habe sie durchgesehen, aber nicht systematisch überarbeitet. Gegebenenfalls ist also immer die inzwischen erschienene, weitaus bessere Edition von WOLFGANG ACHNITZ zum Vergleich heranzuziehen (Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln 'Gauriel von Muntabel'. Neu hrsg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Achnitz. Tübingen: Niemeyer 1997 [Texte und Textgeschichte. 46]). In dieser findet man auch einen ausführlichen Stellenkommentar, der insbesondere lexikalische Informationen liefert. Achnitz' Text hat heute als der sog. 'maßgebliche' zu gelten, ist also bei wissenschaftlichen Untersuchungen (zu denen auch Seminararbeiten prinzipiell schon gehören!) zu zitieren. Da er andere editorische Prinzipien hat als die Edition Khulls, also vor allem die handschriftlichen Überlieferungsträger in anderer Weise einbezieht, laufen die beiden Editionen textlich zum Teil auseinander. Trotzdem dürfte eine Übersetzung nach Khull beim Verständnis eine Hilfe sein - und natürlich eignet sich die Übersetzung auch zur Vorbereitung auf ein Gauriel-Seminar, wenn man zunächst einmal daran interessiert ist, den Inhalt kennen zu lernen.
Der Gauriel gehört zu den von der Forschung lange vernachlässigten späthöfischen Epen, die man früher kaum zur Kenntnis genommen hat, weil sie ästhetisch gegenüber den Werken Gottfrieds von Straßburg, Wolframs von Eschenbach und Hartmanns von Aue als unbefriedigend empfunden wurde. Heute sieht man ästhetische Kategorien als historisch bedingt und daher dem historischen Wandel unterworfen an; außerdem kann man, wenn man an der kulturgeschichtlichen Analyse einer Epoche interessiert ist, an den Quellen nicht vorbeigehen. Aber die ehemalige Vernachlässigung wirkt noch immer nach - zum Beispiel eben in der Beziehung, dass es zwar sehr viele Tristan- und Parzival-Übersetzungen und auch zumindest immer noch eine greifbare Erec-Übersetzung gibt, aber eben keine des Gauriel, des Garel, der Krône, des Partonopier, des Meleranz, des Tandareis oder wie diese Epen alle heißen. Und es ist sicher unbefriedigend, sich als Studierende/r für die Verbreiterung des Wissensspektrums auf die kurzen Inhaltsangaben in Literaturgeschichten beschränken zu müssen.
Rüdiger Brandt