Sommersemester 2002
Mike Nicol Writing South Africa
Mit dem Südafrikaner Mike Nicol war im Sommersemester 2002 zum ersten Mal ein englischsprachiger Autor als Poet in residence an die Universität Essen berufen. Bislang war die 1975 aus der angelsächsischen Universitätstradition übernommene Einrichtung der Gastprofessur Autoren aus dem deutschsprachigen Raum vorbehalten. Nicol, der als freier Schriftsteller und Journalist in Kapstadt lebt, eröffnete seine Veranstaltungsreihe in der Uni Essen mit dem Vortrag: "Cape Town: a city in trauma".
Neben einem Gedichtband und journalistischen Arbeiten hat Nicol in den vergangenen zehn Jahren vier Romane geschaffen. Er ist damit international bekannt geworden. Im weitesten Sinne kann man seine fiktionalen Texte als historische Romane bezeichnen, die sich mit mehr oder weniger bekannten gesellschaftlich-politischen Aspekten Südafrikas befassen: der Allgewalt der Polizei im Apartheidsstaat des 1985 verhängten "state of emergency" ("The Powers That Be", 1989, deutsch: "Die Feuer der Macht", Hamburg 1992) den chiliastischen Erweckungsbewegungen der von schwarzen Visionären gegründeten Free Churches und ihrer brutalen Vernichtung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ("This Day and Age, 1992, deutsch: "Seit Jahr und Tag", Hamburg 1993), der ausufernden Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit, die der gold rush der achtziger Jahres des 19. Jahrhunderts im Witwatersrand, der Gegend um Johannesburg, auslöste ("Horseman", 1994, deutsch: "Der Reiter", Hamburg 1993) und schließlich den in jüngster Zeit im Gefolge der Aufarbeitung von Regierungsverbrechen ans Licht gekommenen dirty tricks und Waffenschiebereien des südafrikanischen Geheimdienstes ("The Ibis Tapestry", 1998, auf deutsch bisher nicht erschienen).
Mit dieser historisch-politischen Thematik steht Nicol nicht in einer Reihe mit vielen anderen südafrikanischen Romanciers, die - ob aus weißer oder schwarzer Sicht - engagiert-realistische Texte zu bekannten Problemen verfasst haben und gerade aufgrund dieser Einengung ihres Appells eher selten über ihr Ursprungsland hinaus bekannt geworden sind. Der internationale Erfolg des Gastpoeten an der Universität Essen - seine Texte sind alle bei renommierten britischen und amerikanischen Verlegern erschienen sowie in viele Sprachen übersetzt worden - beruht demgegenüber darauf, dass er seiner Schreibweise, die Parallelen zum lateinamerikanischen magischen Realismus aufweist, solche Begrenztheiten überwindet, indem er - ähnlich wie sein berühmter, von ihm selbst sehr geschätzter Schriftstellerkollege J. M. Coetzee -die spezifisch südafrikanischen Geschichtserfahrungen zu Allegorien über die Verführung der Macht, der rassischen Intoleranz, der Universalität des Bösen sowie dessen Mediokrität stilisiert, verfremdet und ausweitet. Der mit der historischen Problematik vertraute südafrikanische Leser sieht den faktischen Hintergrund durchscheinen, während der internationale Leser von einem gewalttätig-düsteren Erzähluniversum gefangengenommen wird, dessen Raum-Zeit-Koordinaten und ihre Situierung in Südafrika ihm eher in indirekter Brechung bewusst werden. Ein Studierender der Anglistik hat Nicols Romane - durchaus treffend - als "geschriebene Italo-Western" bezeichnet.