Werkcharakteristika

Nail Doğan Gedichte (2020)

Die vierzehn Gedichte Nail Doğans, die in diesem Beitrag analysiert werden, sind im Rahmen des vom Haus für Poesie ausgerichteten 28. open-mikes im Allitera Verlag veröffentlicht worden (Doğan 2020: S.16-32). In diesem Rahmen hat der Autor mit ihnen sowohl den Lyrik Preis als auch den Taz-Publikumspreis gewonnen. Doğan, der 1988 in Augsburg geboren wurde, stellt sich in der knappen Personenbeschreibung im Zuge des open-mikes als „Sohn eines Gasttaxifahrers und einer Gastputzfrau“ (Haus für Poesie 2020: 173) vor. Die hier zum Tragen kommende Pointierung des Begriffs Gast wird auch in seinen Gedichten als zentrales Element erfahrbar. Als Kind der Nachwendezeit hat Doğan das aufblühende deutsche Einheitsverständnis der Bundesrepublik miterlebt, gleichzeitig jedoch auch ihr Versagen, indem die Wiedervereinigung der DDR und BRD zwar Initiator des deutschen Einheitsgefühls, gleichzeitig aber auch Auslöser für kulturelle Ausgrenzung war. Dadurch, dass der deutsche Volksgedanke die Rekonstruktion einer kulturellen und nationalen Identität vorantrieb, gilt die Wiedervereinigung ein erneutes Zündfeuer für einen bereits dagewesenen Nationalstolz, der einhergeht mit Ablehnung anderer Kulturen; die aufkommende Solidarität dieser neuen Einheit wurde nicht jedem gewährt. Es erfolgte eine Degradierung der Menschen auf ihre kulturelle Herkunft, wodurch nunmehr die gesellschaftliche Exklusion der Gastarbeiter*innen verstärkt wurde, die bereites Jahre zuvor angeheuert wurden, um die deutsche Wirtschaft zu unterstützen.

Mit dem Erstarken eines deutschen Mehrheitsgefühls wurde das Leben der nicht-deutschen Mitbürger*innen immer unsicherer und bleibt es bis heute, was durch die rassistisch, rechtsextremistisch oder antisemitisch motivierten Angriffe, beispielsweise in Hanau am 19. Februar 2020, auf die Synagoge im Paulusviertel in Halle am 9. Oktober 2019 oder auf den CDU-Politiker Walter Lübcke am 2. Juni 2019, der sich durch positives Engagement für Geflüchtete auszeichnete, auf erschreckende Weise deutlich wird. Das scheinbar jahrelange Bestreben nach einem friedlichen Zusammenleben ist immer noch verfehlt. Vom Ziel der gelingenden Integration und eines gleichberechtigten Zusammenlebens unabhängig von kultureller und religiöser Zugehörigkeit scheint Deutschland – bei genauerem Hinsehen – noch weit entfernt. Vor dem Hintergrund dieser Realität wird ansatzweise vorstellbar, welche Abwertungen und Barrieren Doğan, seinen Eltern und vielen weiteren migrierten Familien in Deutschland zeitlebens erfahren müssen, obwohl Deutschland bis heute ein Land ist, in dem die multikulturelle Gesellschaft die Realität darstellt. So ist es fast eine logische Konsequenz, dass Doğan sich dem Thema der Fremdheit speziell in Deutschland in seinen Gedichten inhaltlich annimmt und unverblümt harsche Kritik am Umgang der Deutschen mit Eingewanderten übt.

Vermittlung multikultureller Realität durch Sprache und Stil
Die in Deutschland vorzufindende Multikulturalität zeichnet sich in den Gedichten bereits auf sprachlicher Ebene ab, indem Doğans Werke von einer Mischung deutscher, türkischer und englischer Sprachelemente geprägt sind, wie beispielsweise das Gedicht „elefantenköpfe.“ (ebd., S. 18): „nein brother vallah nein it / is nicht what it is“ (ebd.; Hervorh. im Orig.). Auf diese Weise repräsentieren sie die Realität, in der sich das lyrische Ich wiederfindet. Sowohl die sprachliche Gestaltung als auch die Zusammenstellung der Gedichte lassen vermuten, dass alle aus der Perspektive desselben männlichen Sprechers, welcher aus dem türkischen Kulturkreis stammt, geschrieben sind. Die türkischen Wurzeln lassen sich erkennen, wenn beispielsweise das lyrische Ich bereits im Eingangsgedicht seinen Bruder mit „Merhaba Abi“ (ebd., S. 16) begrüßt und in einem weiteren auf seinen türkischen Onkel verwiesen wird (vgl. ebd., S. 19). Durch zahlreiche Ellipsen und eine Art Schlagwortstruktur wirken die Gedichte zunächst wie eine stotternde Vertextung gebrochener deutscher Sprache, wie etwa in „laufen.“ (ebd., S. 21): „Geisteskranke Frauen. Eine Linke. / Rechter Haken. Salz. Essig. Arabeske / Gefühle filtern. Ist gekommen wie ist gekommen“ (ebd.). Der Sprachmix verdeutlicht  die Lokalisierung des Sprechers in der Gesellschaft: Er befindet sich auf einer vernetzen Ebene zwischen deutscher, türkischer und englischer Sprache. Das Stottern ermöglicht die Hervorhebung wesentlicher Aussagen, weil auf geringem Raum eine starke Begriffskonzentration vorgenommen wird. An anderen Stellen wird die deutsche Sprache ausformuliert, was die deutschsprachigen  Empfänger in besonderer Weise adressiert, worauf im Verlauf dieser Analyse an anderer Stelle genauer eingegangen wird. Damit einher geht der stilistische Einsatz von Enjambements, wodurch Wörter und Sätze scheinbar zufällig miteinander verbunden und zu einem Netz ineinanderfließender Gedanken verwoben werden. Dieses strukturgebende Element durchzieht die Gedichte, die ansonsten formal durch keinen einheitlichen Aufbau zusammengehalten werden.
Auch auf der inhaltlichen Ebene nehmen sich die Gedichte dem Themakomplex Sprache und sprachliche Fremdheit an, beispielsweise im Gedicht „göttinspeise.“ (ebd., S.19), in welchem das lyrische Ich von seinem „Onkel Mustafa“ (ebd.) berichtet, der das deutsche Signifikant Achselhöhle nicht kennt, jedoch das entsprechende Pendant „koltukaltı“ (ebd.; Hervorh. im Orig.) der türkischen Sprache. Das türkische Wort bedeutet wörtlich übersetzt „[u]nter dem Sofa“ (ebd.). Die Strophe setzt sich aus Assoziationen zusammen, die mit der Position ‚unter‘ spielen: „unter Mehrheiten / über Möwenflügel / am leisesten Punkt / eines vollgepackten / Lebens unter euch / unter mir“ (ebd.). Diese Bedeutungsseite wird der Assoziation des deutschen Wortes Achselhöhle gegenübergestellt, indem der Onkel das lyrische Ich bittet, ein Gedicht darüber zu schreiben, in welchem „Fledermäuse vorkommen / Brotkrümel, blaue Augen, kleine / Tischdecken, Safran, Senf, Deutschland“ (ebd.). Die Gegenüberstellung versinnbildlicht exemplarisch das Leben eines eingewanderten Türken in Deutschland, der sich als Teil einer Minderheit wiederfindet und trotz aller Hürden nicht verzweifelt. Jenes Gefühl wird vor allem auch durch die Gegenüberstellung der Möwenflügel, als Symbol der Weite und der Freiheit, und den Fledermäusen, die Dunkelheit und Verstecken symbolisieren, generiert. Das Gedicht beschreibt das Leben in der Enge der (Klein-)Bürgerlichkeit Deutschlands, als deren Teil der Onkel jedoch nicht gesehen wird, denn es gibt kein Wir-Gefühl, sondern die Mehrheit (der Deutschen) wird als „euch“ (ebd.) wahrgenommen.

Sprecherpositionen: Das lyrische Ich als Bindeglied zwischen den Kulturen
Das lyrische Ich, welches als Bindeglied zwischen der türkischen und der deutschen Kultur gesehen werden kann, zeichnet sich durch seine beobachtende Position aus, welche sich in vier Ebenen differenziert: Zunächst beobachtet das lyrische Ich seine Umwelt und die Natur, zusätzlich beobachtet es aber auch seine gesellschaftliche Umgebung, speziell das Leben der Türken und das der Deutschen. Darüber hinaus nimmt das lyrische Ich eine selbstreflexive Haltung ein, gleichzeitig reflektiert es aber auch seine Fremdwahrnehmungen durch andere Personen. Die Gegenüberstellung der Eigen- und Fremdwahrnehmungen innerhalb der Gedichte vermitteln den Eindruck, die Deutschen urteilten über eine Welt, von der sie nie mehr gesehen haben als einen Blick durchs Schlüsselloch, was zwangsläufig in stereotypen Zuschreibungen mündet. Die situationellen Beobachtungen wie beispielsweise die Alltagsbeobachtung der Herbstidylle, die das lyrische Ich seinem Bruder in einem Brief im Eingangsgedicht schildert: „Gegenüber sitzt graue/ Katze auf rotem Backstein/ verfolgt fallende Blätter/ verfolg ich sie nicht aus/ poetischen Gründen, nichts/ gerade nur so schön/ muss Herbst sein“ (ebd., 16), münden oft in grundsätzlichen Überlegungen „[…] Frauen darf man kein wehtun/ bleibt man weg lieber“ (ebd.). Die mehrdimensionalen Beobachtungen erreichen aber auch eine Vernetzung verschiedenen Wahrnehmungsebenen und führen dazu, dass Trauer, Wut, Ärger und Verständnislosigkeit aufeinandertreffen, dabei aber lakonisch vermittelt werden.
Das Gedicht „rom.“ (ebd., S.29) stellt eines der selbstreferentiellsten Gedichte der Sammlung dar (und lässt autobiographische Züge vermuten). Der Titel rom, welcher als Akronym der Wörter read only memory verstanden werden kann, macht das Gedicht zu einer Art Datenabrufung gespeicherten Wissens von schmerzhaften Erinnerung an die Kindheit von N(a)il. Auffällig ist, dass das Gedicht keine Sprecherposition offenbart und lediglich über eine Art ‚lyrisches-Du‘ verfügt, welches angesprochen wird: „Nil wurde schlimm getreten und du hast/ schlimm getreten Nil“ (ebd.). Die Mehrfache Verwendung des Namen Nil durchzieht das gesamte Gedicht und mündet schlussendlich in dem durch ein Leerzeichen getrennten Namen des Autors „N ail“ (ebd.), was für die Selbstreferentialität des Gedichts spricht. Die Trennung des Namens durch ein Leerzeichen bedingt eine Betonung der zweiten Silbe und scheint so auf die richtige Aussprache des Namens hinweisen zu wollen. Das Gedicht wirkt durch das lyrische Du wie eine Ansprache des Autors an sein früheres Ich, welches schon in der Kindheit ein Gefühl von Ausgrenzung erfahren hat. Die scheinbar falsche Aussprache seines Namens zeugt von einer Geringschätzung durch andere. Das beschriebene Verhalten verdeutlicht die Wehrhaftigkeit des Kindes, welches Beleidigungen ertragen musste: „Höllenzeiten wünsch ich dir Nil/ ooh Nil mit dem Pferdegesicht als Werbetafel/ am Straßenrand für meine Freunde ein Geist“ (ebd.).
Dass sich das lyrische Nil-Ich kulturell diffus verortet, wird im Gedicht „edelstahl im fluss.“ (ebd., S.17) deutlich. In diesem Gedicht wird u.a. auf die islamisch religiöse Praxis des Ramadan angespielt. Ramadan gilt als Fastenzeit, die die Bindung zu Gott stärkt. In dieser Zeit soll in spiritueller und materieller Hinsicht eine Reinigung von den Sünden geschehen und Segen, Vergebung und Erlösung erlangt werden. Das tägliche Fasten wird explizit im Gedicht erwähnt: „ganz klar erst nach 22 Uhr Nahrung zu dich nehmen“ (ebd.). Da auch in diesem Gedicht der Name Nil in verschiedenen Formen wiederholt wird, entsteht auch hier die Zweideutigkeit, die einerseits auf den Fluss und andererseits auf die (deutsche) Aussprache des Namen Nails anspielt. Im Rahmen eines strengen Verständnisses des Islams, wirkt der erste Vers „Natürlich ist da Alkohol mit im Spiel“ (ebd.) irritierend. In Verbindung mit den Versen „Niederungen / Empfehlung / natürlich fehlt ein/ Muster hier Nil ich fleh dich an Nil fließ heute/ nicht durch Uganda nicht durch Kairo fließ heute kurz durch die/ Waschanlage uns sauber“ (ebd.) profanisiert mit der Waschanlage die Religionspraxis. Die eingangs erwähnten Drogen wie Alkohol und Haschisch, die beide konsumiert werden, lassen den Gedanken an das Essverbot bis zum Sonnenuntergang (22 Uhr) als Habitus erkennen, der jeden spirituellen Bezug verloren hat.

Interkulturelle Beobachtungen und Alltagsrassismen
Sprache gilt als Träger kulturellen Wissens und ist demnach konstituierender Bestandteil einer Kultur. Infolgedessen ist sie jedoch auch Instrument sowohl zur Integration als auch zur Ausgrenzung. Die Kritik am Umgang mit und die Geringschätzung von anderen Kulturen durch die Deutschen wird im Gedicht „maschinenköpfe lachen unsere wörter aus.(ebd., S. 23) am Beispiel der Sprache verdeutlicht. Der Titel des Gedichts konstruiert bereits zwei diametral gegenüberstehende Seiten: die der „maschinenköpfe“ (ebd.) und die Seite, deren Sprache verspottet werden. Diese Form der Gegenüberstellung zeichnet das gesamte Gedicht aus und verhindert somit eine Vorstellung von Integration und unterstützt vielmehr die Vorstellung der Exklusion. Die Bezeichnung „maschinenköpfe“ (ebd.) vermittelt blinde Folgsamkeit und Gefühlskälte, wodurch – im Zusammenspiel mit dem Inhalt des Gedichts – erneut das Verhalten der Deutschen gegenüber fremden Kulturen verurteilt wird. Zugleich setzt die Sprecherposition die eigene von Warmherzigkeit durchzogene Sprache den „hier“ (ebd.) üblichen (deutschen) emotionsleeren Anredegepflogenheiten selbstbewusst als Wert entgegen: „Weil hier nennt man sich nicht einfach mal so beim/ überqueren einer mittelmäßig befahrenen Straße/ mein Herz, Freund, mein Olivenbaum, Sevdiğim [was mit mein Lieb(st)er übersetzt werden kann]. Tut man nicht“ (ebd.). Diese Gegenüberstellung zweier Seiten wirkt wie ein Versuch den Deutschen die Angst vor dem Fremden zu nehmen: „Ich sage euch/ die haben Liebe zu geben/ keine Angst davor“ (ebd.).
Ebendieses Gedicht konzentriert die Wut, die sich in den vorhergehenden Gedichten angestaut hat, indem es den kulturellen Unterschied zwischen türkischen und deutschen zwischenmenschlichen Handlungen kontrastiert und mündet schließlich im längsten Gedicht „nur noch nichts mehr zu bieten.“ (ebd., S. 24-27). Dieses Gedicht referiert auf die Problematiken der vorhergegangenen und folgenden Gedichte, in denen das lyrische Ich von seinen alltäglichen Beobachtungen berichtet. Das Gedicht „nur noch nichts mehr zu bieten.“ (ebd.) wirkt wie eine umfassende Abrechnung, die aus der Anstauung von Wut und Betroffenheit resultiert. Der Missmut und die Kritik am Verhalten gegenüber als Ausländer*innen wahrgenommenen Menschen wird unter anderem provokativ durch ironische Brechungen hervorgehoben: „Diese Welt ist doch brutal witzig./ Willst du einen hören? Ich bin mindestens ganzen Kopf/ größer als du und trotzdem passe ich/ viel bequemer ins Bild.“ (ebd., S.24). Doğan spielt hier mit Erwartungsbrüchen. Das „Ins-Bild-Passen“ bedeutet ja eigentlich, dass sich die Vorstellungen von einer Sache oder Person mit dem decken, was sich dann tatsächlich zeigt. Die Körpergröße des lyrischen-Ichs widerspricht jedoch dem Bild, doch die Vorurteile fügen ihn für die Betrachtenden „bequem“ ein. Auf diese Weise zeigt Doğan die Absurdität gesellschaftlichen Stereotype auf. Stereotypisierungen werden in verschiedenen Abschnitten des Gedichts immer wieder aufgegriffen. Alltäglich wirkende Gesprächsverläufe führt das Gedicht ad absurdum, indem das lyrische Ich anderen Angehörigen seines Kulturkreises gegenübergestellt wird: „Du. Du machst es einfach intelligenter. Runde süße Brille. Gute/ Aussprache. An deiner Seite: Blonde Freundin, deutsche Freun-/din […]. Gekrempelte Hosenbeine./ Nette Frisur. Der Bart schön entspannt ohne Konturen“ (ebd., S. 26). Das Gedicht deckt die Problematik von Alltagsrassismus auf, wenn die Assimilierung (Habitus, Kleidung Frisur, Partnerin) als Intelligenz bezeichnet wird. Die Konstruktion zweier gegenübergestellter Seiten wird begleitet von der Unterstellung, dass jeder, der nicht dem idealtypisch Deutschen entspräche, kein Recht auf Akzeptanz hätte. Die Krux an dieser Ansicht wird deutlich, wenn sich das lyrische Ich – scheinbar verletzt durch die Fremdenfeindlichkeit dieser Aussage – dem Gespräch entziehen will und die andere Person jene Aussage als Spaß betitelt: „Nette Frisur. Dein Bart schön entspannt ohne Konturen was zwi-/ schen   into the wild und gegen die wand falan. […] Ah, Papperlapapp. Ich mach nur Spaß. Bleib sitzen. Lass uns trin-/ ken. Lass uns trinken.“ (ebd.). Diese Art von willkürlicher Akzeptanz und Alltagsrassismus wird auch in den Versen „Letztens fragt mich Tülüfülü, ob ich die dünne Linie zwischen/ Kaya Yanar und Dönerfleisch kenne?“ (ebd., S.24) deutlich. Kaya Yanar als Comedian und Sohn von Gastarbeitern sowie Döner Kebab verweisen beide auf die Türkei und symbolisieren die Willkür in Akzeptanz und Ablehnung anderer Kulturen. Des Weiteren gilt es in diesem Vergleich jedoch auch zu betrachten, dass Kaya Yanar seinen Bekanntheitsgrad in Deutschland überhaupt erst durch das Ausspielen kultureller Unterschiede, vor allem zwischen Deutschen und Türken, in seiner der Sendung „Was guckst du?!“ erlangt hat. Aber nicht nur klischeehaft als Deutsche oder Türken kategorisierte Personen werden im Zuge dieser Sendung parodiert, auch Inder und Griechen werden adaptiert, stereotypisiert und auf diese Weise karikiert. Durch den Verweis im Gedicht wird vor allem die Frage angeregt, inwieweit ein solches Format der Separation entgegenwirkt oder diese wohlmöglich sogar noch weiter verfestigt.
Gleich an diese Verse anschließend wird auf Alltagsrassismus im Zusammenhang mit Polizeigewalt aufmerksam gemacht: „Grautöne von Gemüsehändler zu Drogendealer?/ Kennst du eine Polizeikontrolle und eine Polizeikontrolle?“ (ebd.). Dieser Verweis könnte im Hinblick auf die gegenwärtig laut werdenden Rassismusvorwürfe gegen Polizist*innen aktueller und treffender nicht sein. Die Formulierungen gegenwärtiger Diskurse zeigen das Über-den-Kamm-scheren einer dem Betrachtenden fremden Kultur, welches das lyrische Ich auch durch Formulierungen wie: „Ich bin eine lebendige Karikatur/ Mein Penis ist beschnitten./ Istanbul ein kleines Dorf./ Alle Frauen tragen Kopftuch bei uns“ (ebd., S.25) pointiert.
Auch diese Strophe endet mit Kritik, diesmal aber deutlich aggressiver als in den vorhergegangenen Gedichten: „Gastarbeiter geholt Gesindel bekommen“ (ebd.). Dieses abgewandelte Zitat des AfD Politikers Nicolaus Fest, welches er in Bezug auf arabische, afrikanische und türkische Jugendliche im März 2017 in seinem Blog postete, stellt die Klimax dieser Aussage dar. Ursprünglich stammt dieses von Fest deutlich veränderte und zur rassistischen Hetze missbrauchte Zitat jedoch von Max Frisch und ist aus dem Jahr 1965. In jenem Jahr unterzeichnete Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei, zur Stärkung der Deutschen Wirtschaft, im Zuge dessen eine Vielzahl an Menschen mit ihren Familien nach Deutschland zogen, um hier als Gastarbeiter*innen zu arbeiten. In diesem Zusammenhang stellte Frisch fest: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ und veranschaulicht damit sehr deutlich, dass die Komplexität der menschlichen Existenzgründung im Rahmen der Arbeitsmigration jahrelang unterschätzt wurde. Das Wirtschaftswunder als Initiator der Arbeitsmigration, die Nachwendezeit als Verstärker des Volkspatriotismus und der noch immer anhaltende massiv wehende Gegenwind symbolisieren deutlich das Versagen der Integrationspolitik: „Geht ein Fremder um die Ecke/ ist nach hundert Jahren noch/ immer fremd“ (ebd., S.27).
In die Reihe der außertextuellen Referenzen reiht sich der aggressive und verachtende Verweis auf die erstmals von Carl Hagenbeck ausgerichteten Völkerschauen ein: „du Hurensohn Hagenbeck“ (ebd., S.26). Hagenbeck gilt im Gedicht als Exempel für Kulturen ausbeutende Ereignisse in Deutschland, aus denen das Land vermeintlich nichts gelernt hat. Eingebettet ist diese Aussage in eine Strophe, die von einem Gedanken des lyrischen Ichs eingeleitet wird, in welchem der Blick von Passat*innen durch die Scheibe eines Cafés mit der Völkerschau deutscher Tierparks um 1880 verglichen wird. In mindestens einem Punkt sind die Anheuerung von Gastarbeiter*innen und die Ausrichtung von Völkerschauen vergleichbar: Profitabel waren sie nur für die Deutschen, indem durch Ausbeutung fremder Kulturen wirtschaftlicher Profit geschlagen wurde.

Die Problematik der Integration
Das Gedicht „laufen.“ (ebd., S.21.) setzt sich inhaltlich mit der Problematik der Integration auseinander. Durch den Titel des Gedichts wird bereits eine Erwartungshaltung bezüglich der Thematik geweckt, die intuitiv Aktivität und Voranschreiten vermuten lässt. Das Ziel bleibt jedoch ebenso wie das Tempo der Bewegung zunächst undefiniert. Die Symbolik der Bewegung und die Gegenüberstellung von Aktivität und Passivität wird das gesamte Gedicht über aufrechtgehalten und bereits in den ersten zwei Versen werden beide Pole einander entgegengesetzt: „Hat sich eben ganz/ von selbst so gemacht […]. Ist gekommen/ wie ist gekommen“ (ebd.). Es wird von dem Versuch berichtet, sich krampfhaft anzupassen und behaupten zu wollen. Vier als Fragen formulierte Verse verdeutlichen die selbstreflexive Haltung des lyrische Ichs: „Erst mit Büchern sich prügeln müssen,/ um geliebt worden zu sein?/ Hundert Gesichter verlieren,/ bis nur noch Fruchtfleisch übrig?“ (ebd.). Die Darstellung des verzweifelten Versuchs der Integration wird unterstützt von dem Bild, sich selbst und die eigene Herkunft zu verraten. Auf diese Weise wird die Verzwicktheit der Situation deutlich: Es handelt sich um ein Zusammenspiel schicksalhafter Fügung und aktiver Integration, die sich jedoch nicht durch zu viel Passivität auszeichnen sollte. Fast wie ein religiöses Dogma wirken dahingehend die Verse: „Wer in/ Bewegung, dem möge/ ehrlicher Schweiß/ sanfte Briese werden“ (ebd.).
Die lyrische Aushandlung der Frage um Integrationsprozesse betreibt auch das anschließende Gedicht „but mama raised no fool.“ (ebd., S.22), in welchem erörtert wird, wer eigentlich die Regeln zur Integration bestimmt. Die Aneinanderreihung von äußerlichen Merkmalen und Besitztümern, die der Mensch angeblich brauche („braucht der Mensch doch/ Schuhgröße Nagellänge Ge-/ burtsurkunde so lala“ (ebd.)) – wozu bleibt offen – ironisiert die Willkür hinter dem Integrationsmechanismus. Die beschriebene Situation wirkt wie ein Zusammentreffen im Meldeamt: „ich hier er hier steht man hier […] Kennzeichen Namensschild/ hinter Plexiglas so lala lasst ihn mitspielen“ (ebd.). Es bleibt ungesagt, wer die Spielregeln bestimmt. Auf diese Weise wird erneut die Passivität deutlich, die sich hier bis zur Hilflosigkeit ausweitet. Die Person, die eigentlich unterstützt und angeleitet werden sollte, „weil der weiß ja nicht wohin“ (ebd.), wird allein gelassen und ihrem Flehen wird keine Hilfe entgegengebracht.

Liebe und Freundlichkeit als Lösung
Die Liebe erscheint in den Gedichten als ein kulturell übergreifendes Sujet und transkulturelles Gefühl. Als Lösung für die gesamte Problematik der Fremdenfeindlichkeit schlägt das lyrische Ich Freundlichkeit vor: „Soll ich dir was sagen. Der Mensch muss Gastfreundschaft vor-/ leben./ Man darf die Leute nicht mit leeren Händen zurück-/ lassen. Das darf man einfach nicht machen“ (ebd., S.26). Dieses eigentlich einfache Gebot liest sich als plausibel Zuspitzung oder in den Gedichten dargestellten Problematik. Beispielhaft verstärkt wird dieser Lösungsvorschlag im Gedicht „rendevouz.“ (ebd., S.28). Das Unverständnis der „bulgarisch-türkischen/ Kellnerin aus dem türkisch-/ kurdischen Café“ (ebd.) gegenüber dem lyrischen Ich stellt beispielhaft ein Leben ohne Bezug zu religiösen, kulturellen oder regionalen Befangenheiten dar. Die Kellnerin, die als unabhängig von diesen nationalistisch motivieren Gesichtspunkten beschrieben wird, betitelt das lyrische Ich als „Meine Heldin“ (ebd.) und gilt für dieses als Ideal.
Eine ähnliche Darstellung ist auch im letzten Gedicht „wachsen nicht auf bäumen.“ (ebd., S.32) gegeben, indem das Verhalten des lyrischen Ichs skizziert wird, welches, ungeachtet der nationalen Herkunft, andere Menschen bei ihren Aufgaben unterstützt. Die zweite und letzte Strophe scheint die Kernaussagen aller vorangegangenen Gedichte umfassend und zugespitzt zu vermitteln. Trotz der gegebenen Ellipsen ist die Strophe unmissverständlich formuliert: „Fühlt sich nicht nach Parallelgesellschaft/ tief aus einem Leben einer Wirklichkeit eure/ ängstliche Vorstellungskraft gedemütigt/ eher ein riesengroßer Spielplatz auf/ Augenhöhe mit Katzen Honig Sahne/ eher mehr“ (ebd.). Die multikulturelle Gesellschaft stellt in Deutschland die Wirklichkeit dar. Es wird deutlich, wie erstaunlich konstruiert die gesellschaftliche Vorstellung eines Volkes und die Gegenüberstellung derer Einwohner und der Fremden ist. Es handelt sich eben nicht um Parallelgesellschaften, sondern um die Realität. Der irrationalen Angst vor dem Fremden wird im Gedicht die  Welt als ein „riesengroßer Spielplatz“ (ebd.) bezeichnet, auf welchem allen eine Teilhabe ermöglich werden sollte und nicht, wie im Gedicht „but mama raised no fool.“ (ebd., S.23) nur denen, die dazu ausgewählt wurden.
Auch im bereits erwähnen Gedicht „nur noch nichts mehr zu bieten.“ (ebd., S. 24) finden sich Ansätze des Lösungsweges, die Ausgrenzung mit Warmherzigkeit zu besiegen. Die mit den Worten „Yani. Anlıcağın“ (ebd.; Hervorh. im Orig.) eingeleitete Strophe deutet durch ebendiese Wörter auf die Wichtigkeit dieser Aussage hin, denn sie bedeuten so viel wie: das musst du verstehen. Weiter heißt es „Der Mensch kann sich mit seinem/ Auftreten Respekt verschaffen oder er/ kann Olivenbäume pflanzen“ (ebd.). Der Olivenbaum oder Ölbaum, der sowohl im Christentum als auch im Islam als Baum der Weisheit und Symbol für Frieden steht, wird hier dem „Respekt verschaffen“ (ebd.) gegenübergestellt, womit ein Vergleich zwischen autoritärem Auftreten und friedlichem Ruhen gezogen wird. Trotz dieser scheinbar einfachen Lösung schließt das Ende des Gedichts eine zu Beginn geöffnete Klammer, indem die Anapher „Ein Löffel Hühnersuppe/ Ein Löffel Haschisch“ (ebd., S.27) wiederholt wird. Die wie ein Kochrezept wirkende Strophe scheint all das, zwischen der Klammer liegende, ungeschehen zu machen. Der in der Anleitung untergehende Versuch „Liebe“ (ebd.) unterzumischen bleibt dabei fast unbemerkt.

Literatur

Doğan, Nail: Gedichte. In: Haus für Poesie (Hg.): 28. Open mike. Wettbewerb für junge Literatur 2020. Die 19 Finaltexte. Berlin: Allitera 2020. S. 16-27.

 

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