Sandra Gugić
Werkcharakteristika
Protokolle der Gegenwart
Inhaltsangabe, Interpretationsansätze und thematische Aspekte zu Protokolle der Gegenwart [ ↑ ]
Der Lyrikband Protokolle der Gegenwart von Sandra Gugić ist in drei Teile gegliedert, in denen die Autorin die gegenwärtigen Diskurse herausarbeitet: I Anomiecluster, II Sollbruchstellen, III Clusterlogik. Gugić setzt sich in ihren Gedichten mit Fragestellungen über Krieg, Macht, Heimat, Identität, Flucht, Rollenbilder, Gender, Körperlichkeit und zum aktuellen Zeitgeschehen auseinander, analysiert und kritisiert und hinterfragt diese. Ihre Gedichte werden von schwarz-weiß Illustrationen des Künstlers Oliver Hummel graphisch begleitet, die die Leitmotive ihrer Gedichte veranschaulichen und weiterdenken.
Beim Blick auf den Titel der Anthologie und auf die in ihr enthaltenen Gedichte fällt zunächst eine Diskrepanz zwischen dem Wort Protokoll und der Machart der Texte auf. Ein Protokoll ist eine „wortgetreue oder auf die wesentlichen Punkte beschränkte Niederschrift über eine Sitzung, Verhandlung, ein Verhör o. Ä.“ (Duden) bzw. ein „genauer Bericht über Verlauf und Ergebnis eines Versuchs, Heilverfahrens, einer Operation o. Ä.“ (ebd.). Protokollführungen dienen zum einen dazu, Wichtiges nicht zu vergessen und zum anderen dazu, Entscheidungen und Beschlüsse schriftlich festzuhalten. Dabei folgt eine solche Protokollführung festen Regeln. Die Protokolle von Gugić halten sich nicht an solche Regeln, sie haben keine klar erkennbare Form, sondern bestehen aus einer assoziativen Aneinanderreihung von Textbausteinen. Zudem verzichtet Gugić auf orthographische Regelungen wie Satzzeichen oder Groß- und Kleinschreibung. Auch die Zeilenumbrüche markieren keine Satzenden und lesen sich auch nicht wie Gedankenstriche; die Texte sind von Enjambements durchzogen. Zudem können einzelne Wörter und Wortgruppen teilweise dem Voran- und Nachstehenden zugeordnet werden und lassen so verschiedene Deutungsweisen zu.
Ist in den Texten ein Sprecher ersichtlich, spricht meistens ein Wir. Ein Ich wie bspw. in „DEMISIA“ (S. 115) spricht selten. In den meisten Texten fehlt ein sprechendes Subjekt. Es werden keine eigenen Erfahrungen protokolliert und das Ich von den Gegenwartsthemen losgelöst: „privatpersönliches ausklammerungsprinzip: das Ich vom thema trennen.“ (S. 66)
Gugić bricht mit dem klassischen Aufbau des Gedichts, einige ihrer Gedichte haben keine Überschrift oder stehen in der Mitte des Gedichts, bei anderen beginnt der erste Vers direkt nach der durchgehend großgeschriebenen Überschrift. Die äußere Form lässt keine Einteilung in Strophen erkennen, auch die Länge der Verse variiert durchgehend. Ein klassisches Reimschema oder Metrum lässt sich ebenso wenig ausmachen wie ein einheitlicher Satzbau. Der Stil ihrer Gedichte spiegelt den Titel ihres Werkes Protokolle der Gegenwart wider, so bewegt sich die Autorin auf verschiedenen Ebenen, greift in die Struktur der Sprache ein und transformiert diese, wodurch ihre Gedichte wie Protokolle oder Wortketten wirken. Gugić erzeugt damit „dreidimensionale Wortnetze, in denen sie die Gegenwart einfängt und zu einem friendly wordfire transformiert.“ (Vgl. Klappentext)
Der erste Teil Anomiecluster behandelt primär die Fragen von Geschlecht, Körperlichkeit und Begehren. Auf Émile Durkheim zurückgehend, bezeichnet Anomie als soziologischer Fachbegriff einen Zustand fehlender, schwacher bzw. gebrochener sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Der Rückgang von Normen und Werten führt nach Durkheim unweigerlich zu Störungen und zur Verringerung sozialer Ordnung. Als Cluster werden Ansammlungen von Objekten bezeichnet, die ähnliche Eigenschaften aufweisen.
Das nachfolgende Gedicht des ersten Teils spiegelt dieses Verfahren wider:
DIE FRAGE DER ZUORDENBARKEIT des begehrens was den unterschied macht
er sagt sie sagt es schweigt über die schlüpfrigkeit des geschlechts
die aussenhaut der dinge versus seine ihre unsere wahrheiten dass das an mir läge
logik lüge libido als teil einer fremden welt wenn ich ehrlich sein soll
die vagina als ursprung der welt zugleich leerstelle platzhalter wunde loch
blutiges schandmaul das zustopfenseinwird um das bild endlich zurechtzuficken
und alle bilder die danach kommen gelten nicht als zusammenhang
der geschehnisse als zentrales motiv dokumentieren einen rahmen ziehen
eine klinge durch die hautgrenze klaffendes versprechen rejuvenation
im kopf der erzählerin laufen alle widersprüche zusammen
wort satz sekunde zur richtigen zeit am falschen ort und vice versa
der vollständige gedanke
soll ich (S. 34)
Es wird deutlich, dass durch die hervorgehobene Überschrift die Lesart bestimmt wird; so geht es in diesem Gedicht um die Frage der Zuordenbarkeit des Geschlechts und des Begehrens in der stereotypischen Geschlechterrolle. Im zweiten Vers stellt Gugić die Genera gegenüber: „er sagt sie sagt es schweigt über die schlüpfrigkeit des geschlechts“, wodurch eine emotionale Verstärkung vorliegt: Das männliche und weibliche Geschlecht äußert sich, ist präsent, wogegen etwas zwischen dem, was als männlich oder weiblich gilt, stumm bleibt und folglich nicht gehört werden kann. Der Begriff „schlüpfrigkeit“ kann dabei als Symbol für die moralische Abwertung sexueller Orientierung verstanden werden. Im dritten Vers stellt die Autorin die „aussenhaut“, das äußerliche Erscheinen dem Inneren, der wahren Gesinnung der Person gegenüber, wodurch deutlich wird, dass die äußerlichen Zuschreibungen keinen Rückschluss auf das innere, wahre Begehren zulassen. Dieser Gedanke wird im nachfolgenden Vers durch das Enjambement fortgeführt und durch die Alliteration „logik lüge libido“ präzisiert, wobei die ‚logische‘ Zuschreibung geschlechtstypischer Begierden und Triebe als Lüge zu verstehen ist. Diese Zuschreibungen sind für das lyrische Ich Bestandteil einer fremden Welt. In den Strophen fünf und sechs schreibt Gugić über das weibliche Geschlechtsorgan: „die vagina als ursprung der welt“, aus der biologisch betrachtet das (menschliche) Leben entstammt und das zugleich als „leerstelle platzhalter wunde loch blutiges schandmaul zustopfenseinwird“ im Diskurs diffamiert wird. Diese Aufzählung wertender Bezeichnungen für das weibliche Geschlechtsorgan stehen im starken Kontrast zum anfänglichen Bild des Ursprung allen Lebens und verdeutlichen die diametralen Sichtweisen auf das weibliche Geschlecht. Dass die Autorin die Verben „zustopfenseinwird“ als Kompositum verbindet, untermauert die Gewalt, die mit der sprachlichen Zurichtung weiblicher Sexualität ausgeübt wird, denn mit der Abwertung weiblicher Sexualität jenseits des Gebärvorgangs, geht deren Tabuisierung einher. Gleiches gilt für das Wort „zurechtzuficken“, das einen Neologismus darstellt, durch den das sprachliche Bild sexueller Gewalt gegen Frauen hervorgehoben wird. In den nachfolgenden Versen lässt sich besonders gut der o.g. Aspekt der Wortketten bzw. -netze und der protokollarische Stil erkennen. So ist nicht klar auszumachen, ob Vers- und Sinnzusammenhänge über das Versende hinausgehen oder dort enden (z.B. Vers sieben bis neun). In der zehnten Strophe wird das lyrische Ich als Erzählerin (feminin) personifiziert, durch deren Kopf alle Widersprüche bestehend aus der Aussenhaut und den damit verbundenen Stereotypen und den inneren Wahrheiten des Begehrens und der Zuordenbarkeit zusammenkommen. Sie spricht davon, „die Klinge durch die Hautgrenze“ zu ziehen und sich dadurch zu verjüngen. Sie ist zur richtigen Zeit am falschen oder und vice versa zur falschen Zeit am richtigen Ort. Auch hierbei zeigt sich ein Gugić spezifisches Charakteristikum: Die Nutzung von Fremdsprachen (Latein und Englisch). Das Ende des Gedichts bleibt offen, denn der vollständige Gedanke der Sprecherin „soll ich“ lässt sich in mehrere Richtungen denken, es könnte sich um einen Hilferuf für einen Suizid als Flucht aus der Welt handeln oder die äußerliche Anpassung an ihr innerliches Begehren. Die Frage der Zuordenbarkeit, die die Autorin zu Beginn aufwirft, wird im Gedicht problematisiert, aber nicht final geklärt, sondern an die Rezipient*innen gespiegelt.
Der zweite Teil Sollbruchstellen verweist auf die Machart der Gedichte selbst, die Brüche im Textzusammenhang ausweisen und damit inhaltlich Sollbruchstellen der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar machen. Bei einer Sollbruchstelle handelt es sich um eine „Stelle in einem Bauteil o. Ä., die so ausgelegt ist, dass in einem Schadensfall nur hier ein Bruch erfolgt“ (Duden). In dem Kapitel dieses Gedichtbandes werden Sollbruchstellen der Gegenwartsgesellschaft offengelegt, die sich bspw. bei Themen wie Krieg und Arbeitsleben, aber auch in der Sprache finden. Es geht um „erosion“ (S. 47) und „bruchstellen“ (S. 51), die Gugićs Gedichte sichtbar machen. Das Thema Sollbruchstelle zieht sich jedoch durch den gesamten Lyrikband, vom Gedicht „SOLLBRUCHSTELLE“ (S. 15) im ersten Teil, über das gleichnamige zweite Kapitel, bis hin zum letzten Vers des Abschlussgedichts, in dem es heißt: „die gegenwart markiert die sollbruchstelle“ (S. 125).
Beim Gedicht UNMOEGLICH SICH AUSZUDRUECKEN (S. 72) stellt die hervorgehobene Überschrift zugleich Titel und Thema des Textes dar. Es wird die Schwierigkeit beschrieben, sich mittels Sprache so auszudrücken, wie man es möchte. Dabei tritt das schwierige Verhältnis von Dichtung und Sprache hervor. Das neologistische Kompositum „scheißsprache“ (S. 72) zieht sich wiederholend durch das gesamte Gedicht und findet sich in den fünfzehn Versen insgesamt zehnmal wieder. Es verdeutlicht die Hassliebe, die das Subjekt gegenüber der Sprache empfindet. Nur indem dieses Wort innerhalb des Gedichtes gewählt wird, kann dies jedoch auf die gewünschte Weise zum Ausdruck gebracht werden. Mittels Sprache will man allerdings nicht nur etwas „zum Ausdruck bringen“ (S. 72), sondern es geht auch um „grundsätzliches Verstehen“ (S. 72) von etwas. Es wird hierbei nicht nur auf die*den Schreibende*n, sondern auch auf die*den Leser*in Bezug genommen und somit nicht nur auf die Schwierigkeit der Textproduktion, sondern auch auf die Schwierigkeit der Textrezeption hingewiesen. Während die Sprache zwar als „scheißsprache“ (S. 72) bezeichnet wird, finden sich in diesem Text auch Wortspiele „verwortet gewordet ausbuchstabiert“ (S. 72). Diese verdeutlichen zum einen die Schwierigkeit das richtige bzw. passende Wort zu wählen, zeigen jedoch auch, wie polysem Sprache ist. In der Aufzählung „kein stift kein satzanfang kein wort“ (S. 72) spiegelt sich zum einen eine Schreibblockade wider, zum anderen fällt hierbei auch auf, dass Gugić in ihren Gedichten keine herkömmlichen Satzanfänge nutzt, da sie Textbausteine aneinanderreiht. „dieser scheißsprache [..] die sich an übergängen bricht“ (S. 72) referiert auf die Enjambements, die sich durch die Texte ziehen, und nimmt letztlich wieder auf die Bruchstellen, also das Thema des Kapitels Bezug.
Beim Gedicht TRANSGRESSION (S. 111) zitiert Gugić Ludwig Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (S. 111). Sprache, die „wir [..] aus eigener Kraft geschrieben geschrien“ (S. 72) haben, trifft also Wittgenstein folgend auf ihre Grenzen, wenn sie zur Erkenntnisbildung und auch zur Kommunikationen, also der Verständigungen mit anderen über die Welt, dienen soll. Abschließend wird dies aber wie folgt aufgelöst: „von dieser plattform aus springen wir / über das feindbild hinaus“ (S. 111). Sich über konventionelle Grenzen zu erheben, die Anomien aufzudecken, Sollbruchstellen kenntlich zu machen und letztlich die Clusterlogik zu durchbrechen, darauf zielen die Gedichte ab.
Als dritter Teil findet sich die Reflexion der Clusterlogik. Spätestens hier erweisen sich die Gedichte Sandra Gugićs auch als politische Lyrik. Generell lassen sich alle Gedichte als gegenwarts- sowie sozialkritisch erkennen. Ein Beispiel dafür findet sich etwa im Gedicht PROTOKOLLSATZSPRACHSPIEL (S. 82). Der Bezug zur Politik durch den Angriff der USA auf Osama bin Laden wird hier anzitiert: „bezüglich der datenfunde in Bin Ladens versteck in abbotabad im mai 11 / das elitekommando meldet den fund von 5 computern / 10 festplatten und 110 usb-sticks / 97000 fotos und audiofiles / 47000 dateien drunter / die drei musketiere / mr. bean / final fantasy VII / 30 tutorials zum thema häkeln (S. 82). Die Logik des Clusters wird in dem Gedicht zur Frage der Verhältnismäßigkeit, denn Häkelanleitungen lesen sich nicht als hinreichende Rechtfertigung für den tödlichen Angriff auf das Versteck.
Auch das Gedicht GREAT GAME (S. 88) funktioniert über Kontrastierungen. Indem das christliche Gebet Vaterunser alludiert wird, wird der seit dem Ende der europäischen mare nostrum-Initiative im Oktober 2014 auf Grenzabschottung abzielende europäische Umgang mit Geflüchteten mit dem häufig im Diskurs vorfindliche Rekurs auf das christliche Abendland kontrastiert. So heißt es: „ein gemeinsames / europäisches dach gib uns heute und vergib uns / unser unterfangen unseren status der innerlichkeit /wie auch wir vergeben eine schützende hand über / offene fragen und geheimnisse selbstgespräche und /gegenrede“ (S. 88). Die schützende Hand, von der hier die Rede ist, wird aber nicht den Schutzsuchenden gereicht, sondern über die in der EU nicht beantworteten politischen Fragen, wie denn umzugehen sei mit den Menschen, die auf der Flucht sind und in Europa Einlass begehren, ausgebreitet. Ebenso wie die Frage nach der europäischen Verantwortung für die Zustände in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, offen oder tabuisiert („geheimnisse“) bleiben. Desweitern fällt die Polysemie des Verbs ‚vergeben‘ auf, mit der Gugić spielt. Die christliche Vergebung des Vaterunser zielt auf Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Demut und die Vorstellung göttlicher Erlösung ab. Im Gegensatz dazu – so zeigt das Gegenwartsprotokoll – wird heute ein GREAT GAME gespielt, in dem nicht Vergebung, sondern die Vergabe, und zwar von Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnisse, Bleiberechten und Überlebenschancen, den Hauptpreis darstellt.
Zorn und Stille
Zorn und Stille (2020). Ein Beitrag von Alina Kladensky. [ ↑ ]
Inhaltsangabe und Interpretationsansätze zu „Zorn und Stille“
Der Familienroman Zorn und Stille erzählt die Geschichte einer Gastarbeiterfamilie, die Ende der 1970er Jahre aus Serbien nach Österreich immigriert auf der Suche nach einem besseren, selbstbestimmten und glücklicheren Leben. Es werden unterschiedliche, teilweise sich überschneidende Erinnerungen, Identitäts- und Generationskonflikte sowie historisch-politische Details, die aus den persönlichen Auswanderungserfahrungen der Romanfiguren resultieren, thematisiert (vgl. Agathangelidou, goethe.de).
Die Handlung vollzieht sich innerhalb von vier Erzählung- und Handlungssträngen, die sich sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der Erzählfiguren unterscheiden. Außerdem findet sich ein einführender Prolog. Der erste und der vierte Handlungsteil des Romans haben eine Ich-Erzählerin, Billy, die in vielen einzelnen Abschnitten ihre Erlebnisse und Erinnerungen formuliert. Der zweite und dritte Teil der Erzählung sind dagegen durch einen personalen Erzähler gekennzeichnet und beschreiben in Teil zwei das Leben und die Gedanken von Billys Mutter Azra sowie in Teil drei die ihres Vater Sima.
Der Roman spielt im Jahr 2018, beginnt aber mit einer Analepse der Protagonistin Billy (Biljana) Banadinović in den September 2016. Biljana ist eine erfolgreiche moderne Fotografin, nennt sich Billy Bana, wurde in Serbien geboren und lebt im heutigen Wien in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit ihrer Freundin Ira Goldstein. Sie ist die Tochter von sogenannten Gastarbeitern, mit denen sie im Alter von 17 Jahren aufgrund unterschiedlicher politischer Ansichten und der Vorstellung vom Leben brach. Als sie ihre Familie verließ, ließ sie ebenso ihren Bruder Jonas Neven, zu dem sie immer ein gutes Verhältnis hatte, zurück und begann ein neues Leben abseits ihrer Wurzeln. Billy will sich seitdem nicht mit ihrer Herkunft und ihrer Familie auseinandersetzen und lehnt ihre durch die Familie gegebene Identität ab, was auch daran deutlich wird, dass sie ihren Bruder auf seine Nachfrage nicht auf eine Reise nach Serbien begleiten will, von der dieser nicht mehr zurückkehrt. Im ersten Teil erfährt Billy durch ein Telefonat mit ihrer Mutter vom Tod ihres Vaters. Daraufhin macht sie sich auf den Weg nach Belgrad – in die Hauptstadt ihrer ehemaligen Heimat – zum Begräbnis ihres Vaters.
Im zweiten Handlungsteil, der mit „Azra, Juli 2018“ überschrieben ist, wird die Geschichte von Billys Mutter Azra erzählt. Hier steht in erster Linie der vermeintliche Tod ihres Sohnes im Vordergrund, es werden aber auch Erinnerungen an ihre Kindheit und das Verhältnis zu ihrer Familie thematisiert. Azra verließ ebenso wie ihre Tochter Billy ihre Familie aus einem kleinen serbischen Dorf, zu dem sie im Gegensatz zu Billy dennoch patriotische Gefühle hegt. Als ihr Sohn Jonas Neven von seiner Reise nach Serbien nicht zurückkehrt, fängt sie an, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen und Interviews zu seinem Verschwinden zu geben. Der Umstand, ihren Sohn verloren zu haben, treibt sie um, sie will weder vergessen noch den Gedanken an ihren Sohn und ihn selbst loslassen. Ebenso versucht sie, das angespannte Verhältnis zu ihrer Tochter immer wieder zu kitten und möchte auch sie nicht aufgeben.
Der dritte Teil des Romans trägt die Überschrift „Sima, Mai 1999“ und befasst sich mit der Geschichte von Billys Vater Sima und dem zerrissenen Verhältnis zu seiner Tochter. Dies zeigt sich vor allem an der Geste, mit der er Fotos von seiner Tochter wegstellt, sich aber immer wieder auch an gemeinsame Erlebnisse mit seinen beiden Kindern erinnert. So kommen die gleichzeitig empfundene Wut sowie die Sehnsucht nach seinen Kindern, explizit die nach seiner Tochter, zum Ausdruck. Seinen Erzählungsteil durchzieht leitmotivisch die Frage „Wovon träumst du?“, die sich wie ein roter Faden durch seine verschriftlichen Gedanken zieht. Sima prägt vor allem ein innerlicher Konflikt zwischen seinem neuen selbst gewählten Wohnort und der Verbundenheit mit seiner Heimat Serbien. Seine serbische Herkunft ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil seiner Identität, die er in Verbindung mit seiner alten Heimat unter keinen Umständen vergessen und deshalb schützen will.
Der letzte abschließende Teil des Romans Zorn und Stille findet seinen Weg zurück in das Jahr 2018 und damit in die Gegenwart. Billy erzählt hier erneut, wie der Koffer ihres verschwundenen Bruders Jonas Neven aus der serbischen Kleinstadt Arandjelovac zu ihr nach Hause geschickt wurde und sie diesen nun öffnet. Sie findet eine Reihe von alten Aufzeichnungen und Fotos sowie einen an sie gerichteten Brief. Der Inhalt dieses Briefes fasst schlussendlich alle Gedanken und Emotionen Billys bezüglich ihres Identitäts- und Heimatkonflikts zusammen und rückt diese dennoch in ein anderes Licht, da sie durch Jonas Nevens Worte anfängt, ihre Einstellungen zu überdenken. Folgender Satz aus seinem Brief übertitelt den letzten Handlungsteil Billys und beschreibt ihre Sichtweise zu ihrer Herkunft und der damit verbundenen Vergangenheit: „The past is a foreign country, they do things differently there“ (Zorn und Stille, S. 230). Die Geschichte endet dort, wo sie begonnen hat, in der serbischen Hauptstadt Belgrad, in der Billy länger bleibt als geplant, mehr Antworten findet, als sie dachte und ihrer Familie (wieder) näher kommt, als sie erwartetet hatte: „Alles ist wie früher, aber anders. Ich reise weiter, wie ich immer gereist bin, mit leichtem Gepäck, ohne Erwartungen, ohne Eile. Jonas Neven reist mit mir. Zwischen den Farben und dem Lärm des Draußen habe ich die Vergangenheit vorsichtig begraben“ (Zorn und Stille, S. 238). Zorn und Stille erzählt eine Geschichte über Herkunft und Heimat, über Identität und Selbstbestimmung, über Liebe, Familie und Verlust, nimmt historische und politische Aspekte mit auf und gibt all diese Themen durch die Perspektive drei verschiedener Familienmitglieder zu vier unterschiedlichen Zeiten wieder.
Thematische Aspekte zu Zorn und Stille
1. Heimat und Identität
Das Thema Heimat durchzieht leitmotivisch den Roman. Die Frage nach der Heimat ist der Ausgangspunkt für verschiedene Konflikte zwischen den einzelnen Figuren, aber auch für den inneren Identitätskonflikt der Figuren mit sich selbst. Der Begriff der Heimat hat verschiedene Dimensionen, die auch im Roman eine wesentliche Rolle spielen. Die Figuren definieren ihre Herkunft bzw. das Wort Heimat – wenn auch auf unterschiedliche Weise – anhand von äußeren und inneren Dimensionen. In erster Linie ist „Heimat […] der Ort ‚in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellung und schließlich auch Weltauffassung prägen‘“ (Bastian 1995, S. 43). In Zorn und Stille wird auf zentrale Kategorien des Heimatbegriffs Bezug genommen. Im Laufe der Handlung zeigen sich sowohl Aspekte der geografischen bzw. räumlichen Kategorie von Heimat, die sich sowohl auf einen bestimmten Ort, im Fall von Sima und Azra auf ihr Herkunftsland Serbien, beziehen als auch heimatbezogene Emotionen und sozial bestimmte Kategorien von Heimat (Bastian 1995, S. 44). In den Rückblenden des Erzählteils des Vaters werden die Gefühle, die er mit seiner Heimat verbindet, besonders deutlich. Er ist mit den als typisch erscheinenden serbischen Verhaltensweisen und kulturellen Traditionen nicht einverstanden und will diese auch nicht leben: „Eine arrangierte Hochzeit, wie sie im Dorf üblich war, wartete auf ihn, stattdessen eröffnete er seinem Vater, dass er den Hof nicht übernehmen würde. Die Mutter hätte er mit sich genommen, um sie vor den Ausbrüchen des Alten zu schützen“ (Zorn und Stille, S. 189).Dennoch hält er an seiner serbischen Identität fest. Sein Herkunftsland Serbien ist für ihn identitätsgebend, auch wenn er das Land aufgrund seiner Träume von besseren beruflichen Chancen in Österreichverlassen hat: „Alle Bilder würden verschwinden, ein ganzes Land würde verschwinden, alle Gerüche, Geschmäcker, Erinnerungen, Weltanschauungen, die damit verknüpft waren, die Utopie eines Jugoslawien, das es nie gegeben hatte, Sima war sich sicher, alles würde in Vergessenheit geraten, auch die Gewalt, der Hass, die Propaganda, und dann würde es einen neuen Krieg brauchen, einen ganz neuen Krieg“ (Zorn und Stille, S. 220). Dieses Gefühl von Verbundenheit oder anders gesagt, dieses spezifische vermeintliche Heimatgefühl hat Sima in all den Jahren nie zu seinem neuen Lebensraum Wien oder Österreich aufbauen können. Von anonymen Anrufen mit höhnischen Fragen und Bemerkungen zur Herkunft der Familie bis hin zu Verspottungen auf seiner Arbeit hat er alles mitmachen müssen und sich nie willkommen gefühlt, obwohl er und auch seine Frau für das, was sie sich leisteten und erspart hatten, ehrliche und harte Arbeit verrichteten (vgl. von Bitter, 13.12.2020). Die gesellschaftliche und soziale Stellung, die Sima sich durch die Auswanderung nach Wien und den wirtschaftlichen Aufstieg durch seine Tätigkeit als Gastarbeiter erhofft hatte, sind nicht eingetreten. Seine Träume und Wünsche für seine Familie und die Zukunft brachen in sich zusammen, wie auch seine Familie auseinandergebrochen ist (vgl. Buettner, 16.09.21).
Obwohl sich in Simas Geschichte, wie er seine serbische Familie verließ, um zu reisen, sich seine Träume zu erfüllen, frei zu sein und sich ein besseres Leben zu erarbeiten, viele Parallelen zu seiner Tochter Billy finden lassen, wird der Begriff Heimat von den beiden Figuren auf unterschiedliche Weise interpretiert. Im Gegensatz zu ihrem Vater kann und vor allem will Billy solche Heimatgefühle zu ihrem Geburtsland Serbien nicht empfinden. Sie hat den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in einer modernen Großstadt in Österreich verbracht, hat keinen Bezug mehr zur serbischen Sprache, zu den Bräuchen und Traditionen. Während ihre Eltern in ihrem sozialen Umfeld und der österreichischen Gesellschaft Wiens nach wie vor ein Außenseiterleben führen, hat sie sich vollständig integriert und findet sich selbst und ihre Identität nicht in ihren serbischen Wurzeln wieder, vielmehr versucht sie, sich diesen komplett zu entziehen (vgl. von Bitter, 13.12.2020). Sie prägt auf der Suche nach sich selbst durch das viele Herumreisen als Fotografin mit ihrem neuen Namen Billy Bana und der Beziehung zu ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerin einen eigenen Heimatbegriff, der von der ursprünglichen Definition des Begriffs weit abweicht (vgl. Bastian, 1995, S. 44). Billy Bana bezieht Heimat nicht auf einen Ort, schlägt nirgendwo lange Wurzeln, reist herum, getrieben von dem Wunsch, ihrer familiären Herkunft zu entfliehen, auf der Suche nach Glück und nach sich selbst: „Ein neuer Gedanke nahm immer mehr Raum ein: Seine Familie selbst zu wählen war möglich. Niemand sollte festschreiben dürfen, wohin ich gehörte, zu welchem Land, zu welcher Ideologie“ (Zorn und Stille, S. 57). Billy will sich nicht in eine Schublade stecken lassen, möchte selbst entscheiden, wo oder zu wem sie gehört, für sie gibt es nicht die eine Heimat und wenn, wäre diese nach ihrer Auffassung sicher nicht Serbien: „Wie konnte das Wort Heimat meinem Vater so viel bedeuten und mir so wenig?“ (Zorn und Stille, S. 44). So zeigt sich in Zorn und Stille, wie der Traum von einer besseren und glücklicheren Zukunft durch die Einwanderung in ein neues Land zu einem Generationskonflikt hinsichtlich des Heimatbegriffs, den unterschiedlichen sozialen Identitätszuordnungen sowie dem Integrationsprozess in eine neue, fremde Umgebung heranwächst, der eine Familie entzweien kann. Allein das Wort Heimat führt innerhalb der Familie zu Diskussionen und Streitereien; es wird gar zum „Reizwort“ erklärt:
„Heimat war das Reizwort am Familientisch der Banadinovićs, die Diskussionen wurden Tag für Tag erbitterter ausgefochten. Sima war überzeugt, dass Billy von den antiserbischen Nachrichtenmeldungen verblendet war, er sprach seiner Tochter ab, verstehen zu können, was vor sich ging, ein vorlautes altkluges Kind, das sich anmaßte, alles besser zu wissen als seine Eltern. Gleichzeitig fragte er sich, ob es ihre Schuld war, dass seine Tochter sich nicht als Serbin verstehen wollte“ (Zorn und Stille, S. 200).
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Roman das Problem von Herkunft und Identität im Kontext eines Generationenkonflikts zwischen Eltern und Tochter behandelt, deren Geschichten Parallelen aufweisen und im gemeinsamen Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung zusammenlaufen: „Wahrscheinlich sind wir alle ebenso verbunden, wie wir voneinander getrennt sind, ob wir es nun anerkennen oder nicht“ (Zorn und Stille, S. 10) (vgl. literaturblatt.ch, 04.02.2021).
2. Zorn und Stille – die Titelmotive
Die Motive Zorn und Stille sind zwei Zustände, die innerhalb des Romans durch die vier Familienmitglieder verkörpert werden und in der Handlung der Geschichte mal miteinander agieren und mal entgegengesetzt wirken. „Zorn und Stille sind eine Art Ying und Yang der Banadinovićs, entgegengesetzte Kräfte“ (Wiener Zeitung, 25.09.20). Stille wird hier vor allem durch Schweigen, Gesprächsverweigerungen und Sprachlosigkeit in Folge von Unverständnis und Inakzeptanz verdeutlicht (vgl. Schlench, 25.10.2020). Der Roman springt sowohl zwischen Vergangenheit und Gegenwart als auch zwischen Perspektiven und Rückblenden der Familienmitglieder. Auch wenn Billy als Ich-Erzählerin fungiert, kommt vor allem Azra immer wieder in Billys Erzähltext zu Wort und trägt einen wesentlichen Teil zur Handlung bei. Die angespannte Beziehung zwischen Mutter und Tochter wird immer wieder thematisiert und spiegelt auch Billys Haltung zu ihrer Familie und Herkunft wider. Die beiden Frauen verkörpern das Leitmotiv der Wut bzw. unter Bezugnahme des Romantitels das des Zorns. Auf eine moderne Art und Weise, der Gegenwartsliteratur gerecht, konzentriert sich der Roman im Kontext der Familiengeschichte auf die Entstehung und die Ursache der empfundenen Wut „und damit auf den unauslotbaren und individuellen Abgrund zwischen Ursache und Wirkung“ (Lehmann 2012, S. 38). Mutter und Tochter sind sich dabei relativ ähnlich, obwohl Billy diese Tatsache wohl nicht gefällt und Azra die Parallelen in ihren Leben vermutlich nicht sehen oder wahrhaben will. Azra stammt aus einem kleinen Dorf in Serbien aus einer sehr traditionellen serbischen Familie. Doch obwohl sie ihren Vater als Familienoberhaupt liebt und ihm zu gehorchen hat, widersetzt sie sich stets seinen Verboten, geht auf Feste und versucht, sich von der traditionellen serbischen Kleidung zu befreien. „Sie wollte eine andere sein, begehrt werden“ (Zorn und Stille, S. 131). Gugić zeichnet so ein starkes Frauenbild durch die emanzipierte Protagonistin Billy und ihre – wenn auch auf andere Weise – emanzipierte Mutter Azra (vgl. Riedel, 26.11.2020). Beide leben ihren Zorn aus, geben ihren Gefühlen eine Stimme und sprechen auch Dinge aus, die man vielleicht mit kühlem Kopf nicht zu seiner Familie sagen würde. Sie spiegeln das Motiv der erlebten, ausgesprochenen Wut wider: „Sie war unnachgiebig, sah die Welt schwarz oder weiß, nichts dazwischen. Simas Aufgabe war, ihren Zorn auszuhalten, zurückzustecken“ (Zorn und Stille, S. 176).
Der titelgebende Begriff Zorn bestimmt neben der Gefühlswelt von Mutter und Tochter ebenso das Familienverhältnis der Banadinovićs. Unzählige Streitgespräche und Meinungsverschiedenheit sowie Unverständnis der Kinder gegenüber den Eltern und genauso umgekehrt dokumentieren die Familiengeschichte über Zeitsprünge hinweg (vgl. Schlench, 25.10.2020). So wird das Gefühl der Wut zu einem alltäglichen Begleiter, als Konsequenz aus Frustration und Unverständnis. „Denkt man den Zorn (bzw. die Wut) vom Leben und der Lebensenergie (und nicht mehr von Ehre und Recht) her, dann rückt die Lebenshemmung ins Zentrum. Die Wut wird dadurch zugleich mikroskopisch, alltäglich, sie wird zum Ärger im täglichen Kampf mit den Dingen“ (Lehmann, 2012, S. 40).
Das Motiv der Stille wird durch die beiden Figuren des Vaters und des Bruders verkörpert. Während Sima in seinem eigenen Handlungsteil noch selbst seine Sichtweise und Geschichte erzählt, kommt Jonas Neven selbst nur schriftlich, in seinem Brief an seine Schwester, zu Wort. Doch auch wenn Sima Erinnerungen, Gefühle und Gedanken preisgibt, äußert sich seine Wut in erster Linie durch Stillschweigen. Auch Billy verbindet ihren Vater im Laufe des Romans immer wieder mit dem Wort Schweigen: „Das Schweigen meines Vaters verband uns. Das Schweigen der Väter hatte unsere Generation geprägt“ (Zorn und Stille, S. 84). Mit diesen Worten drückt sie zusätzlich ihr Unverständnis für sein Verhalten in seiner neuen selbst gewählten Heimat aus. Ihr Vater war als Gastarbeiter mit einer anderen Kultur, anderen Werten und Traditionen nach Wien gekommen, wollte sich immer nur darüber identifizieren und definieren. Zugleich tat er aber alles, um auf keinen Fall in irgendeiner Art und Weise aufzufallen: „Mein Vater war sein Leben lang bemüht, sein Gesicht nicht zu verlieren, hatte sich in Zurückhaltung geübt, sein Lachen war meist verhalten, auch sein Zorn war still, nach innen gerichtet“ (Zorn und Stille, S. 16) (vgl. Fasthuber, 04.09.2020). Anders als seine serbischen Vorbilder (Vater und Großvater), die er auch wegen körperlicher Gewalterfahrungen verließ, äußert er seine empfundene Wut durch Stille: „Und da war Simas Vater […] seine Wutausbrüche, die Mutter, die sich vor ihm wegduckte, die er schlechter behandelte als eine Dienstmagd“ (Zorn und Stille, S. 186).
Auch der Aspekt des Todes bzw. des Sterbens ist in dem Roman ein literarischer Indikator für das prägende Motiv der Stille. Als Billys Mutter ihr am Telefon mit den Worten: „Dein Vater ist tot“ (Zorn und Stille, S. 22) mitteilt, dass ihr Vater gestorben ist, findet man im Roman einen größeren Absatz, in dem Billy ihre Reaktion beschreibt. Sie erzählt, dass sie eine Zeit lang nicht über den Tod ihres Vaters sprechen konnte. Die Stille führte dazu, dass sie diese Tatsache nicht realisieren konnte. „Mein Vater ist tot. Der Satz als Echo in meinem Kopf. Zum ersten Mal aussprechen konnte ich ihn Ira gegenüber. Dann erst wurde er wahr“ (Zorn und Stille, S. 22).
Auch das Verschwinden von Jonas Neven ist ein Teil der Stille. Zwar taucht er in Billys Rückblenden immer wieder auf und ist für sie der Teil der Familie, mit dem sie sich noch am ehesten verbunden fühlt. Seine Sicht erfährt der/die Leser/in erst zum Schluss durch seinen Brief an Billy. Während sie sich von ihrer Herkunft abwendet, ist Jonas Neven auf der Suche nach seinen Wurzeln und sich selbst nach Serbien gereist. Dort findet er ein wenig Verständnis für seine Eltern und ihre Heimat (vgl. Wirthensohn, 25.09.2020). Er sucht wie seine Schwester nach seiner Definition von Heimat und begreift dabei, dass schlussendlich nur der Wunsch nach Glück verantwortlich dafür ist, wie man sich entscheidet und was daraus folgt: „Alles was wir machen, absolut alles, machen wir nur, um glücklicher zu werden. Auch wer sich umbringt, macht es, weil er glaubt, im Tod glücklicher zu sein“ (Zorn und Stille, S. 231). Nachdem Billy seine Worte gelesen hat, verändert sich ihr distanzierter Ton etwas, sie versucht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verständnis zu entwickeln und Frieden mit sich und mit dem, was von ihrer Familie übrig ist, zu schließen. Auch wenn viele Fragen offen und unbeantwortet bleiben, ist dies vielleicht der Wendepunkt der Geschichte. Der Roman spannt einen Bogen zwischen Zorn und Stille, der für viel Verständnis und Mitgefühl sorgt.
3. Erinnerung
Zorn und Stille ist so gesehen ein exemplarisches Beispiel dafür, wie aus Erinnerungen und prägenden Erlebnissen in Kindheit und Jugend Folgen für menschliche Gefühle und daraus resultierende Handlungen entstehen. Alle Handlungsteile der Familienmitglieder sind eine Art Aneinanderreihung von Erinnerungen. Kennzeichnend für die verschiedenen Erinnerungen aus unterschiedlichen Zeiten und Handlungsorten im fortlaufenden Erzähltext ist die Vielzahl von Absätzen. Gugić nutzt diese Absätze, um die Geschichte für den Leser zu strukturieren und Unterbrechungen deutlich zu machen. Viele erlebte Situationen werden mehrfach und in Form von Rückblicken erzählt. So passiert es beispielsweise, dass sich Billy an Auseinandersetzungen und Situationen mit ihrem Vater erinnert und aus ihrer Perspektive ihre Wahrnehmung dessen, was sie für wahr hält, schildert. Der Leser/in erfährt allerdings erst viel später aus Simas Erzählungen, wie er den Konflikt wahrgenommen und was Billy aus seiner Sicht vermeintlich falsch gemacht hat. So erschließen sich viele Geschehnisse erst nach einiger Zeit des Lesens, Erinnerungen ergänzen sich und setzen mosaikartig ein Gesamtbild zusammen. Während die Geschichte des Romans vor allem von Unverständnis für das Handeln und die Sichtweise des anderen lebt, entwickelt der Leser/in so Verständnis und Sympathien für beide Seiten und Sichtweisen. Anhand der Einsicht in diese verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven zeigt sich, dass es mehr als nur eine Wahrheit gibt, und wie gestörte Kommunikation und daraus resultierende Missverständnisse die Familienverhältnisse und die Beziehung zwischen Tochter und Vater, Vater und Mutter, Mutter und Tochter und auch zwischen den Geschwistern Billy und Jonas Neven nachhaltig negativ beeinflussen (vgl. Galdart, 18.04.2020).
Erinnerungen haben für die Geschichte des Romans neben dem Aspekt des Einflusses auf die Familienverhältnisse aber auch eine politisch-historische Bedeutung (vgl. Galdart, 18.04.2021). Im Zuge der Arbeitsmigration nach Österreich gekommen, ist die Erinnerung an Serbien und den Jugoslawienkrieg Teil der Migrationserfahrung. Die Multiperspektivität des Romans geht dabei auch auf „Heterogenitätserfahrungen von Angehörigen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration“ (Hermann u. Horstkotte 2016, S. 125) in Form von Billy und Jonas Neven ein. Der Zerfall des Herkunftslandes von Sima und Azra wird in einzelnen Sequenzen immer wieder aufgegriffen und steht parallel zum Zerfall der Banadinovićs (vgl. Fasthuber, 04.09.2020).
„Wenn Sima den Anfang suchte, die Sollbruchstelle, begann alles 1898. […] Der Kommunismus verließ ein Europa, das zusammenzuwachsen schien, dabei wurde Jugoslawien, das immer mehr zu zerfallen drohte, zu einem europäischen Problem, für das sich weder Lösungen noch Strategien fanden“ (Zorn und Stille, S. 200).
Diese politischen Geschehnisse sind häufig auch der Grund für die zahlreichen Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Billy und ihrem Vater, während Jugoslawien zerfällt, zerfällt auch die Beziehung zwischen Tochter und Vater (vgl. Riedel, 26.11.2020). Auch Billy ist sich der Tragweite der unterschiedlichen politischen Ansichten und der Auswirkungen der Erinnerungen auf die Familie bewusst:
„Die Mechanismen, die in die Zukunft und Gegenwart hineinreichten, fehlgeleitete Traditionen, die Struktur und Eigendynamik der Gewalten, die Jugoslawien zerrissen hatten. All das war Teil unserer Familie. […]. Wo hatte es angefangen, wann hatten wir angefangen, uns mitreißen zu lassen, wann und wie war der große politische Konflikt in unseren Mikrokosmos gesickert?“ (Zorn und Stille, S. 77).
Gugić lässt anhand eingefügter kurzer historischer Abschnitte aus Kriegszeiten diese Verbindung zwischen Krieg- und Familienzerfall immer wieder durchblicken. Aber auch das wiederholte Auftauchen von Bildern, Geräuschen oder Gerüchen lösen bei den Figuren stetig vielschichtige Erinnerungen aus (vgl. Fasthuber, 04.09.2020). Beispielsweise wird zu Beginn der Geschichte auf den Paratext, das auf dem Titelblatt des Romans abgebildete Kaninchen, Bezug genommen und in engem Zusammenhang mit dem Tod des Vaters gestellt (vgl. Schlench, 25.10.2020). So heißt es: „Das Kaninchen hatte eine Erinnerung in ihr wachgerufen“ (Zorn und Stille, S. 22); es fungiert also als Katalysator für Erinnerungen an ihre Kindheit und ihr Herkunftsland aus. Insgesamt dienen alle Einschübe und Sequenzen von Kriegsberichten, Bildern und Beschreibungen von Geräuschen in Zorn und Stille als Ausgangspunkt für den Erinnerungsprozess, mit dem das Erzählen einsetzt.
Literatur
Primärliteratur
Gugić, Sandra: Zorn und Stille. Hamburg: Hoffmann und Campe 2020.
Forschungsliteratur
Bastian, Andreas: Der Heimat-Begriff. Eine begriffliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995.
Hermann, Leonhard/Horstkotte, Silke: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016.
Lehmann, Johannes F.: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Rombach: Freiburg 2012.
Rezensionen
Agathangelidou, Marina: Zorn und Stille. In: Goethe Institut. [zu Zorn und Stille] Zugegriffen: 22.05.21.
Anonym: Sandra Gugić „Zorn und Stille“, Hoffmann und Campe. In: literaturblatt.ch. rezensionsforum, 04.02.2021. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 22.05.21.
Bitter, Rudolf von: Den Eltern voraus. In: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2020. [zu Zorn und Stille] Zugegriffen: 16.05.21.
Buettner, Marina: Sandra Gugić: Zorn und Stille Hoffmann und Campe Verlag. In literaturleuchtet.wordpress.com. literarischer buchblog, 16.09.2020. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 15.05.21.
Fasthuber, Sebastian: Billy lebt hier nicht mehr, In: Falter 36/ 2020, 04.09.2020. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 22.05.21.
Galdart, Isabella: Sandra Gugić – Zorn und Stille. In: novellieren.com. rezensionsforum, 18.04.2021. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 22.05.21.
Schlench, Tino: Sandra Gugić: Zorn und Stille. In: Literaturpalast, 25.10. 2020. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen 16.05.21.
Riedel, Frank: In Bildern schreiben und mit Worten sehen. In: literaturkritik.de rezensionsforum, November 2020. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 22.05.21.
Wirthensohn, Andreas: Sandra Gugić und das Schmerzgedächtnis der Fragen. In: Wiener Zeitung. 25.09.2020. [zu Zorn und Stille]. Zugegriffen: 15.05.21.