Anna Katharina Hahn
Charakteristika des Werks
A) Inhaltsangaben [ ↑ ]
Sommerloch (2000)
Im Jahr 2000 erschien Anna Katharina Hahns Debüt mit dem Titel Sommerloch. Hahn arbeitet in ihrem Erzählband, der zwölf Geschichten umfasst, sowohl mit binären und oppositionellen Motiven als auch mit wechselnden Protagonisten, eigenwilligen, oftmals auch skurrilen Charaktertypen und bettet diese in großstädtische Handlungsspielräume ein. Als Leser verfolgt man die Geschichten von mittellosen Kriminellen, die Hunde entführen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern; alleinstehenden Männern, die den Kater der Nachbarn vom alkoholisierten Tierarzt kastrieren lassen, um anschließend die Hoden des Tieres per Post an den Besitzer zu senden; man liest von Außenseiterfiguren, deren fragwürdiges Verhalten auf einem Pariser Friedhof fatale Folgen haben kann oder von einer Frau, die sich jeden Samstag in ein drachenartiges Wesen verwandelt. Zum Teil fliest in Sommerloch Hahns mediävistische Vorbildung mit ein, zudem ist die Darstellung der Figuren mit dem jeweiligen urbanen und gesellschaftlichen Umfeld verknüpft und der Erzählton ist der jeweiligen Thematik angepasst.
Saft und Kraft
Es handelt sich bei dieser Erzählung um die düstere Darstellung, wie der Einzug eines neuen Nachbarn das über Jahre eingespielte Verhältnis zwischen alteingesessenen Nachbarn aus den Fugen bringen kann. Die Erzählung beginnt mit einer Einführung des Ich-Erzählers in die unliebsamen Wohnverhältnisse in dem Mehrfamilienhaus. Die zu erduldenden Schikanen durch die Nachbarn (wie beispielsweise das Entleeren stinkiger Müllbeutel auf seiner Fußmatte) werden in allen olfaktorischen Details und Einzelheiten geschildert und stellen das nachbarschaftliche Verhältnis als äußerst fragwürdig dar. Sämtliche Frechheiten, die er in seinem Umfeld erlebt, schildert der Erzähler detailgenau und dokumentiert sie akribisch, jedoch scheint er machtlos zu sein gegen diese Art von unterschwelliger Aggression. Das Verhalten der Nachbarn ihm gegenüber gibt ihm jedoch keinen Grund zur Beunruhigung, stattdessen belächelt er einen aus Zeitungsschnipseln kreierten Drohbrief und lebt sein Leben unbeschwert weiter.
Hahn kritisiert das Spießbürgertum, indem sie die scheinbar geordneten Wohnverhältnisse anhand der Namenstürschilder aus Messing, dem starken Geruch von Zitrusreiniger sowie den abscheulichen Zierpflanzen im Hausflur schildert. Eine amouröse Bewunderung hegt der Ich-Erzähler für seine Nachbarin Sharon, eine Parfümerieverkäuferin, die oft verantwortlich ist für den doch recht penetranten künstlichen Duft, in dessen Wolke sie sich hüllt. Sie wird als besonders schick, eingepudert und begehrenswert beschrieben; besonderes Augenmerk liegt auf ihren üppigen Brüsten, die „in den Körbchen liegen, wie gezuckerte Berliner“ (S. 8). Vermeintlich todsichere Eroberungstaktiken des Ich-Erzählers in Bezug auf Sharon stammen aus dem Repertoire seines Freundes Pit. Seine tägliche Zuwendung widmet der Erzähler, wenn er nicht im Supermarkt schwarzarbeitet, seinen beiden reinrassigen Perserkatzen Minka und Milena, die er ebenfalls auf Anraten seines guten Freundes Pit als Zuchttiere angeschafft hat.
Als ein neuer Nachbar ins Haus einzieht, schlägt die Ignoranz und die feindselige Haltung, die der Erzähler sonst seinen Nachbarn gegenüber anbringt, mit sofortiger Wirkung auch auf den neuen Nachbarn über. Der neue Mieter heißt Malte, dieser ist ein freigeistiger, gebildeter, gut gekleideter Student und stolzer Besitzer des streunenden Katers Sal. Und nicht nur aus diesem Grund ist Malte sein wandelnder Albtraum, denn Sharon scheint Gefallen an dem neuen studierten Nachbarn gefunden zu haben. Einige Tage nach dem Einzug stürmt der Erzähler hinunter in Maltes Wohnung, dessen lautstarke Party in vollem Gange ist. Hier wird der Protagonist mit einer unangenehmen Situation konfrontiert, in der die schöne Sharon und der neue Nachbar Malte sich miteinander vergnügen und ihn nicht einmal bemerken. Doch dem nicht genug, amüsiert sich in der Zeit, in der er sich dieser traumatisierenden Situation aussetzen muss, in seiner Wohnung Maltes Kater mit seinen reinrassigen Zuchtkatzen. Der Konflikt spitzt sich weiter zu, da durch die Befruchtung seiner reinrassigen Katzen durch Sal ein finanzieller Schaden entsteht. Angetrieben von seiner entfachten Wut fackelt der verletzte Erzähler nicht lange und stopft den Kater in eine Box, in der er ihn schnurstracks zum Tierarzt transportiert. Diesen weist er an, dem Kater operativ die Hoden zu entfernen. Hierbei spielen die Gleichgültigkeit und die Aggressivität des Erzählers eine entscheidende Rolle, denn obwohl der Tierarzt alkoholisiert ist, lässt er ihn operieren. Sowohl Malte als auch sein kastrierter Kater ziehen recht schnell wieder zurück in ein Studentenwohnheim. Hahn stellt hier einen besonders derben und bitterbösen Ausgang der Geschichte in Aussicht, indem sie erwähnt, dass Malte in Bälde die Testikel seines Katers per Post zugesandt bekommen würde.
Jägermeister
In Jägermeister legt Hahn abermals besonderes Augenmerk auf die Kritik am oberflächlichen Spießbürgertum sowie auf die Frage, wie weit Menschen gehen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So beginnt Jägermeister mit dem täglichen Gang der Erzählerin in den Park in einer seriösen, scheinbar vertrauenerweckenden Aufmachung. Aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit ist sie gezwungen, sich eine neue Arbeit zu suchen, was in direktem Zusammenhang mit den Parkbesuchen steht. Es folgt zunächst eine ausführliche Darstellung der gepflegten Parkanlage, die nicht kontrastreicher sein könnte im Gegensatz zu dem angrenzenden, schmuddeligen Teil der Wohnsilos. Hier lässt sich eine gesellschaftliche Kritik an den unterschiedlichen Lebensräumen in der Stadt erkennen. Das Feindbild „der schönen Mütter“ (S. 11), die mit ihren Kindern den ganzen Tag sorglos im Park spielen können, verdeutlicht den Kontrast zu den Frauen aus dem schmutzigen Teil der Stadt. Im Hinblick auf die neue Einnahmequelle der Erzählerin setzt die Autorin hier die Anschaffung ihrer kostspieligen Kleidung, des hochwertigen Parfums und des teuren Haarschnitts in Bezug zu einem stetigen Verzicht auf Zigaretten und ausreichende Nahrung. Die Erzählerin wird so als Opfer dargestellt, das sich gezwungen sieht, mit diesen Einschränkungen leben zu müssen, um eine möglichst exakte und glaubwürdige Kopie der „schönen Mütter“ zu erzeugen.
Erst als sich der Tag dem Ende neigt, die schönen Mütter mit ihren Kindern das Feld räumen für abendliche Spaziergänger mit ihren Hunden, werden die Absichten der Erzählerin deutlicher. Die ‚Arbeit‘ der Erzählfigur basiert auf der Entführung einer reinrassigen Basenji-Hündin. Nachdem sie das Tier betäubt und in ein naheliegendes Gebüsch geschleppt hat, schließt sie sich heuchlerisch dem Suchtrupp im Park an, um nachts wieder zurück zu kehren und die Hündin nach Hause zu entführen. Mit einem Erpresserbrief, den sie aus alten Zeitungsschnipseln zusammensetzt und den sie absichtlich mit Rechtschreibfehlern spickt, fordert sie 4000€ Lösegeld für das Tier. Um ihrer Absicht noch mehr Nachdruck zu verleihen, knipst sie dem wehrlosen Tier ein Stückchen des Ohres ab und legt es zum Erpresserbrief. Nach Erhalt des Schreibens werden die Forderungen von der ahnungslosen Familie erfüllt, die gestohlene Hündin kehrt zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurück und das Überleben der Erzählerin ist vorerst abgesichert.
Sightseeing
Diese Erzählung behandelt den vorurteilbehafteten Umgang mit Sadomasochismus. Der Umgang mit dem Devotismus in Sightseeing stellt eine starke gesellschaftliche Kritik an üblichen genderspezifischen Rollen dar. Hahn legt hier besonderes Augenmerk auf das Ungleichgewicht des Machtgefüges zwischen den Geschlechtern und betrachtet außerdem, in welchem Zusammenhang diese zu sexueller Unterwürfigkeit bzw. Dominanz stehen.
Die Erzählung beginnt, als ein Paar sich nach einem anstrengenden Sightseeingtag in Paris in ihrem Hotel einfindet. Es ist unklar, ob es sich bei dem Erzähler um eine weibliche oder männliche Figur handelt. Fest steht jedoch, dass die erzählende Figur völlig fertig ist von den Strapazen des Tages und seine weibliche Begleitung, Patricia, Minute um Minute für ihren unbändigen Erkundungs-, Planungs- und Sightsseing-Drang verabscheut: „Ich schleudere meine Schuhe einzeln durch das Zimmer. Meine Füße sind rot-schwarz-weiß, eine preisverdächtige Mischung aus Blut, Wildlederfarbe und Schweiß, schön dekoriert auf Büroblässe. Patricia notiert eine Jahreszahl aus dem Baedeker. Ich knalle die Badezimmertür zu“ (S. 28). Es wird recht schnell klar, dass die Vorstellungen eines romantischen Urlaubs in der Stadt der Liebe nicht unterschiedlicher sein könnten. Die Erzählfigur macht sich im Bad frisch und verschönert mit Parfum und roten Lippenstift ihr Äußeres. Sie legt süßliches Frauenparfum auf und schmiert sich dick roten Lippenstift auf den Mund, was in der Regel für eine weibliche Erzählperson spricht, jedoch lassen sich ebenso männliche Charakterzüge und Verhaltensmuster im Verlaufe der Erzählung ausmachen. Auf recht dominante Weise kommt es zu sexuellen Handlungen, bei denen Patricia die devote Rolle einnimmt. Der sexuelle Akt als solcher wird nicht detailliert beschrieben, es wird lediglich erwähnt, dass es sehr schnell geht und Patricia dabei die meiste Zeit weint. Nach einem Kniefall von Patricia vergeht sich die Erzählfigur mit einem Lächeln auf den Lippen mit Tritten und Stößen an der am Boden knieenden Partnerin. Patricia muss sich Beleidigungen anhören, doch als auf die Frage hin: „Was willst du tun, um dich zu verbessern du kleine Nutte?“ keine Antwort zu erwarten ist, lässt die Erzählfigur von ihr ab und schläft erschöpft ein. Als diese wieder aufwacht, sitzt Patricia vergnügt an einem Tisch und plant den nächsten überfordernden Sightseeingtag durch Paris. Hahn spielt mit der Leseerwartung, indem sie offen lässt, ob es sich bei der schonungslosen sexuellen BDSM-Schilderung der Geschichte um eine realistische Erzählung oder einen Traum handelt.
Körperschmuck
Diese Erzählung spielt mit stereotypen Vorstellungen von männlicher Triebhaftigkeit und übt eine Kritik an gesellschaftlichen Geschlechterrollen, indem sexuelle Erfahrungen aus einem Swingerclub aus weiblicher Sicht recht drastisch erzählt werden. Dabei bestimmen besonders olfaktorische Beschreibungen die Geschichte – der Erzähler befindet sich im sonnenheißen, mit Menschen überfüllten Schwimmbad der Großstadt und bemitleidet sich für sein grässliches Umfeld, in dem man „eigentlich gar kein Wasser mehr erkennen kann, höchstens riechen: Chlor, Pisse, Bier und Sonnencreme und ganz fern ein Hauch von Salz und Sommer“ (S. 35). Angetrieben von sommerlichem Leichtsinn und immenser unerfüllter Lust ist der Blick des Erzählers auf der Suche nach „was zu ficken“ (S. 36). Es zeigt sich, dass sich viele ungeeignete Kandidatinnen im Schwimmbad aufhalten, bis sich ihm schließlich eine mit einem Drachentattoo verzierte Frau mit Namen Maria direkt vor die Nase setzt. Sie scheint ähnliche Absichten zu hegen wie der Erzähler und die LeserInnen finden sich schnell in einer Unterhaltung über eine besonders delikate sexuelle Erfahrung mit ihrem Exfreund Tom in einem Swingerclub wieder. Ungehemmt und sehr offen berichtet die junge Frau: „Wir haben die ganze Nacht gevögelt. Jeder mit jedem. Es gab einen Raum mit Matratzen, auch rot und schwarz, und Spiegeln an den Wänden und der Decke, und nebenan eine Sauna und Duschen. Eine Streckbank und einen echten Stuhl wie beim Frauenarzt. Tom hat mit zugesehen. Und ich habe Tom zugesehen. Ich glaube, ich bin noch nie so oft gekommen wie in dieser Nacht“ (S. 40).
Hahn stellt die Schilderungen weiblicher Sexualität in Kontrast zu dem männlichen Dominanzwunsch der erzählenden Figur, denn eine derart forsche und sexuell emanzipierte Frau schrecken ihn ab. Entgegen dem zuvor geäußerten Wunsch nach einer Sexpartnerin macht der Erzähler einen Rückzieher. Als es an der Zeit ist, das Schwimmbad zu verlassen und die Swingerclub-Kennerin vorschlägt, noch ein bisschen weiter zu quatschen, weist der Erzähler eingeschüchtert das Angebot ab. Enttäuscht von der unerwartet plumpen Abfuhr verlässt Maria wortlos das Schwimmbad und ihr Drachentattoo grinst den Erzähler hämisch zum Abschied an.
Ihr Tag
In der Kurzgeschichte Ihr Tag spielt Hahns mediävistischer Hintergrund eine enorme Rolle, denn die Geschichte ist voller spielerisch gesetzter intertextueller Bezüge zu mittelalterlichen Motiven und klassischer Literatur. So kann man diese Kurzgeschichte als eine neuzeitliche Aufarbeitung des Melusinenstoffes interpretieren.
In der ursprünglichen mittelalterlichen Sage heiratet Melusine einen Grafen, unter der Bedingung, dass er sie an einem bestimmten Tag nicht sehen darf. Ihm bleibt zunächst verborgen, dass sich an diesem Tag ihre wahre Gestalt zeigt, nämlich die einer Wasserfee mit Schlangenleib. Die wunderschöne Melusine beschert dem Grafen Reichtum und Ansehen, bis dieser gegen die Regel verstößt. In Hahns Version handelt es sich bei dem Grafen um einen Schuhverkäufer, der bisher mäßigen Erfolg bei Frauen vorweisen kann und eine Beziehung unter ähnlichen Bedingungen eingeht. Er kann sein Glück kaum fassen, als eine wunderschöne Frau sich in seinen Schuhladen verirrt. Diese umschlingt ihn lasziv mit ihren Beinen, während er vor ihr kniet, um ihr den Schuh anzuziehen, im Anschluss begleitet sie ihn mit nach Hause. Es beginnt eine rasante Liebesgeschichte, denn kurz darauf zieht sie bei ihm ein, und wie auch in der Melusinensage beschert sie ihm Glück und Ansehen. Das Zusammenleben gestaltet sich unkompliziert und sie liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Die Geliebte ist genügsam, liebevoll, unfassbar gutaussehend, eine sehr sexuell orientierte Person, sie duftet nach weißer Mousse au Chocolat, Pfirsich Melba und Avocado und ist oben drein auch noch unsäglich in den Erzähler verliebt. Kurzum – die perfekte Frau. Eine einzige Ausnahme ihrer Gemeinsamkeit liegt in dem Wunsch, dass sie ohne Angabe von Gründen, ihre Samstage gerne von ihm getrennt verbringen möchte.
Zunächst hält er sich an diese Abmachung, doch dann beginnt der Schuhverkäufer sich um die Treue seiner Geliebten zu sorgen, durchwühlt gelegentlich ihre liegengebliebene Handtasche und begutachtet ihr Erscheinen bei ihrer sonntäglichen Heimkehr peinlichst genau. Analog zur Melusinengeschichte kann er eines Tages dem Wunsch zu wissen, was sie an ihren Samstagen anstellt, nicht mehr wiederstehen und folgt ihr heimlich in ein Hotel der Stadt. Die Spannung wird aufgebaut bis zum letzten Moment, als der Erzähler sich ins Hotelzimmer schleicht und seine Geliebte in der Wanne liegen sieht. Entgegen der Leseerwartung, dass „ihr ziemlich schweres Atmen, als sei sie gerade ein paar Treppen gestiegen“ (S. 52) etwas mit einem anderen Mann zu tun haben könnte, wird die Geschichte aufgelöst. Denn stattdessen trifft der Protagonist auf ein Monstrum mit einem bräunlichen Drachenkopf und schwarzem Maul. Ob es sich hierbei um die eigentlich wunderschöne Freundin des Erzählers handelt, lässt Hahn als ein Spiel von Traum und Wirklichkeit offen.
Madonna Lactans
In dieser Kurzgeschichte spielt die offene Schilderung von sexuellen Handlungen eine untergeordnete Rolle, doch lässt sich eine erotisch aufgeladene Atmosphäre ausmachen. Hahn legt ein besonderes Augenmerk auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der drei Hauptfiguren. Die Geschichte zeichnet sich durch eine sinnlich aufgeladene Atmosphäre aus; die sinnliche Lust mündet allerdings bedingt durch die christliche geprägten Konventionen und sexuellen Normvorstellungen der Figuren in Frustration.
Madonna Lactans handelt von drei AkademikerInnen in ihrer Dissertationsphase, die in der Nähe von Berlin studieren, an einem Ort mit dem Beinamen „Bibliotheksibisk“ (S. 57). Die Vorstellung der PromovendInnen erfolgt über einen Besuch im Schwimmbad, bei dem die Erzählerin Lucy über das Älterwerden und ihre akademische Laufbahn sinniert, während ihre beiden Freunde István und Madeleine, die im gleichen Bereich forschen, elegant ihre Bahnen ziehen. Im Laufe der Geschichte wird schnell klar, dass István beiden Frauen gelegentlich Komplimente macht und ihr Selbstbewusstsein mit Aussagen, wie „Du hast einen schönen Körper – und eine noch schönere Seele“ (S. 55) steigert. Neben Vergleiche wie „[i]hr seid so wunderschön wie zwei kluge Jungfrauen auf dem Weg zum Bräutigam“ (S. 64) gibt er ihnen das Gefühl gleichzeitig rein und begehrt zu sein.
Die erste Situation, in der eine gewisse erotische Dynamik zwischen den Figuren spürbar wird, ist das abendliche Zusammensein, bei dem István für die beiden Frauen ein besonderes Mahl zubereitet. Dieses wird ohne Benutzung von Besteck und nur mit den Fingern gegessen. Statt selbst zuzugreifen, werden die Frauen von dem höflichen Charmeur mit der Hand gefüttert und die Lust der Erzählerin ist deutlich spürbar: „[...] ich spüre sein kühles Fleisch unter der heißen, scharfen Soße und schließe die Augen. Madeleine stöhnt ein bißchen. Ich schwitze. Unsere Gläser verschmieren“ (S. 63). Die Spannung zwischen den Figuren bleibt erhalten und als die Frauen sich nach dem erotischen Essen nach Hause verabschieden, können sie den Abend nicht so recht einordnen. Am folgenden Tag nach einem verpatzten Date mit ihrem Freund ist Madeleine schlecht drauf und hofft schnell auf andere Gedanken zu kommen. Als István den Kummer bemerkt, schlägt er ihnen einen Ausflug ins nahegelegene Berlin vor. In Berlin angekommen ziehen sie durch die Stadt und kommen schließlich in einer Bar an, in der eine Freundin aus Istanbul von István am Tresen arbeitet. Es wird viel Alkohol getrunken, bis István von der Bardame drei Pillen besorgt, die er sowohl der Erzählerin Madeleine als auch sich selbst verabreicht. Anschließend küssen sie sich immer wieder im Wechsel. Der Abend endet in einem Hotel, in dem sie sich „like sisters“ mit István vergnügen sollen. Beide Frauen gehen offen mit ihrer Sexualität um; auch Madeleine, die mit jemand anderem liiert ist, ist schnell breit, sich auf den Dreier einzulassen. Doch bleibt István ein Spieler, der sich nicht auf die Frauen einlässt: „Das Einhorn [...] ist kühn und zornig. Kein Jäger vermag es zu fangen, obwohl sein Horn, gedrechselt wie feinstes Elfenbein, allgemein sehr begehrt ist. Nur eine wahrhaft reine Jungfrau, [...] kann ihm zum Verhängnis werden“ (S. 71). Dass es zu keinem Geschlechtsverkehr kommt, ist Teil von Istváns Spiel und seinen patriarchalen Vorstellungen von weiblicher Sexualität.
Der Angeber
In dieser Geschichte wird geschildert, wie die Protagonistin in einem leeren Linienbus mit einem Unbekannten Sex hat. Hierbei wird das Augenmerk besonders auf die Lust der erzählenden Figur gelegt.
Bei der Erzählerin handelt es sich um eine junge Frau, die mit ihrer Mutter, welche als Busfahrerin arbeitet, in einem leeren Bus sitzt. Da die Mutter sich in ihrer Pause noch einmal die Beine vertreten möchte und die Zeit mit einem Kollegen vertreibt, hat die junge Frau den Bus ganz für sich. Als ein junger Mann einsteigen möchte, den sie als besonders attraktiv wahrnimmt, setzt die Erzählerin ohne Zurückhaltung alles daran sich diesem Unbekannten körperlich zu nähern. Ohne Scheu verwickelt sie ihn in ein Gespräch, in dem sich herausstellt, dass das Objekt der Begierde bis vor kurzem unsichtbar gewesen sein soll. Doch die Erzählerin ist an den langweiligen Erlebnissen des ehemals Unsichtbaren nur mäßig interessiert, sondern drängt ihn zum Geschlechtsverkehr auf dem Boden des Linienbusses. Anschließend beschließt der junge Mann doch zu Fuß zu gehen. Nachdem er ausgestiegen ist, beginnt die Mutter der Erzählerin ihre Schicht und reicht sie ihrer Tochter kommentarlos eine Wasserflasche mit der Empfehlung, den eingetrockneten Spermafleck mit Mineralwasser auszuwaschen, denn „das Zeug geht am besten mit kaltem Wasser raus“ (S. 81). Der offene Umgang mit spontaner sexueller Lust steht hier ebenso im Fokus wie die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
Die Vorteile der Mütter
In dieser Erzählung wird die Problematik weiblicher sexueller Emanzipation reflektiert, indem die aussichtslose Situation von alleinerziehenden Müttern auf dem Singlemarkt thematisiert wird. Im Zentrum steht die Figur eines männlichen Erzählers, der in Beziehung zu der Alleinerziehenden Vivi steht, die gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Marvin lebt. Die Erzählung beginnt mit dem Tag, an dem der Erzähler mit Vivi und ihrem Sohn ein Picknick veranstalten will. Der Erzähler wird als vorurteilsbeladen und kaltherzig gezeigt, er sieht in Vivi eine ‚typische‘ ledige Mütter, die er grundsätzlich für sexuell willfährig hält; Mütter „tun alles, was du willst, sind erstaunt, daß einer noch mit ihnen herumschaukeln will, auf alle möglichen Arten, daß sie richtig pervers werden, wenn du das Licht anläßt“ (S. 87). Hahn führt anhand des Erzählers patriarchal geprägte Frauenfeindlichkeit vor.
Bei dem geschilderten Tagesausflug genießen sie zunächst gemeinsam die Sonne und ein ausgiebiges Mahl. Die beiden teilen sich einen Joint, wonach sie sich am Strand vergnügen, ohne sich darum zu kümmern, dass das Kind unbeaufsichtigt herumläuft. Während die Mutter halbnackt und bekifft am Strand einschläft, begibt sich der leicht beunruhigte Erzähler auf die Suche nach dem verlorengegangenen Sohn. Währenddessen stößt er auf einen schwarzen Drachen, der sich drohend vor ihm aufbaut. Kurz vor dieser Begegnung wird innerhalb der Kurzgeschichte erläutert, dass immer mehr Menschen ihre unliebsamen Reptilien, die zunächst als Haustiere gehalten werden, in Wäldern und Parks aussetzen. So lässt sich die Drachenbegegnung des Protagonisten schnell als Begegnung mit einem ausgesetzten Waran erklären. Vivi jedoch versteht in Bezug auf ihren Sprössling, den sie in Gefahr gesehen hat, keinen Spaß. Da sie den Protagonisten für diese Gefahr verantwortlich macht, spuckt sie ihm zum Abschied vor die Füße und lässt ihn im Anschluss mit dem Reptil zurück.
Weiberwirtschaft
In dieser Kurzgeschichte spielt Hahn mit vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen im Hinblick auf Prostitution und Ehebruch. Die Erzählerin Ebse, die mit ihrer Großmutter zusammenlebt, verdient sich Prostitution ihren Lebensunterhalt, hält dies jedoch geheim.
Die Erzählung beginnt mit einer Darstellung der großmütterlichen Waschgewohnheiten für die weiße Wäsche. Die Wäsche steht hier für die moralische Reinheit, der Waschvorgang dafür, wie man diese Reinheit beibehält. Die Erzählerin hat nach dem Abitur keinen Job bekommen und lungert seither arbeitslos im Haus ihrer Oma herum. Ohne das Wissen ihrer Familie stellen die sexuellen Gefälligkeiten einigen männlichen Nachbarn gegenüber ihren einzigen Verdienst dar.
Die Erzählung stellt kleinbürgerliche Doppelmoral bloß; die Nachbarn begehen Ehebruch mit einer Frau, die im Alter der eigenen Töchter ist. Hahn zeigt einen gewöhnlichen Arbeitsalltag der jungen Prostituierten. Die Erzählerin, die sich morgens den sexuellen Gelüsten des Winzers Eberhardt widmet, bekommt dies gut entlohnt. Abends hat Ebse den nächsten Prostitutionsjob bei dem Internisten Horsti, der es gerne mag, wenn sie grob mit ihm ist. Hahn schockiert in dieser Erzählung, indem sie schildert, wie die Protagonistin die gewaltsame Lust des Dorfarztes gegen Bezahlung befriedigt: „Er bekommt eine Injektion, Meaverin zur lokalen Betäubung […]. Es gibt einen langen sauberen Schnitt in den Unterbauch, nur bis zur letzten Hautschicht, auf keinen Fall will ich mit seinen dämlichen Eingeweiden in Berührung kommen. Sein Blut strömt mir so bereitwillig entgegen, als hätten wir uns ewig nicht gesehen. Das Skalpell geht durch das Fleisch wie durch ein Stück Papier. Ich schmiere ihm den eigenen Saft an die gewünschten Stellen. […] Er atmet jetzt stoßweise. Ich fasse ihn nicht mehr an, den Rest schafft er selber. Drei Minuten später greife ich zu Nadel und Faden, vernähe die ganze Herrlichkeit mit ein paar sauberen Stichen“ (S. 110f.). Auch die Erzählerin konsumiert das Medikament. Sie tritt später stark und dominant, bekleidet mit Mundschutz, Kittel und Operationsbesteck ihrem Freier Horsti entgegen, um dessen bizarre Wünsche zu erfüllen. Der Titel Weiberwirtschaft ist also durchaus zynisch zu lesen.
Vieräugiger Hering
In dieser Geschichte wird die Außenseiterfigur Benni in einem gemeinsamen Urlaub mit zwei Frauen und einem anderen Mann dargestellt. Handlungsraum der Geschichte ist Paris. Die vier StudentInnen – Jutta, Bettina, Jakob und der Erzähler Benni – wollen einige Tage in der Großstadt verbringen, wobei der Erzähler jedoch ungewollt ein Außenseiter bleibt, denn die Frauen sind gebannt von dem anderen Mann, Jakob, mit seinem Charme und seinem Wissen triumphiert er über Benni. Es handelt sich um ein Konkurrenzverhältnis, denn Jakob bemüht sich auf Kosten von Benni, den Frauen mit seinem kulturhistorischen Wissen zu imponieren, was ihm auch gelingt. Sie flirten miteinander und Juttas Zeigefinger steckt „zwischen Jakobs Lippen, Bettina drängelt dazwischen, er nuckelt an beiden“ (S. 116). Benni ist dabei in der Position des Außenstehenden, er sieht sich außer Stande zu begreifen, wie es dazu kommen konnte, dass er bei diesem Kurzurlaub seine einstmalige Position als Nummer eins verloren. So lamentiert er: „Ich war, wie schon so oft, abgehängt. Und schaffte es nicht, auch nur einen Hauch der lippenbefeuchtenden, haarewerfenden, augenblinkernden Aufmerksamkeit zu erhaschen, die Jakob zuteil wurde. Obwohl ich es versuchte“ (S. 114).
Den Höhepunkt erreicht die Geschichte, als die drei kurz vor ihrer Abreise einen in einen berühmten Friedhof einzubrechen und Benni gezwungen ist, sie zu begleiten. Das Setting gleicht nun einer Spukgeschichte, wobei atmosphärische Elemente an Edgar Allan Poe oder Robert Burns angelehnt sind. Kurz bevor die Touristen das gewünschte Ziel erreichen, erscheint die Polizei und es heißt wegzulaufen. Für Benni ist dies der Moment der Rache. Da die Frauen bereits bei den ersten Anzeichen der Polizei loslaufen, nutzt der Erzähler die Chance, Jakob in eine offenstehende Gruft zu drängen. Im Anschluss schließt er den Spalt so, dass für Jakob ohne fremde Hilfe kein Entkommen mehr möglich ist. Hier bricht die Handlung ab.
Benni, Bettina und Jutta befinden sich im Zug, der sie zurück nach Hamburg bringt, als der Erzähler lediglich einen kurzen Gedanken daran verschwendet, was wohl passiert, wenn die Gendarmerie Jakob nicht finden würde. Ohne Jakob mutiert er zum Beschützer von Bettina und Jutta, die unter seinen massierenden Händen rasch einschlafen.
Problemzonen
Diese Erzählung handelt von den beiden Freundinnen Olga und der Erzählerin, die sich einem Magerwahn unterwerfen und sich somit in eine lebensbedrohliche körperliche Verfassung bringen. In dieser Erzählung wird sehr kritisch der generelle Umgang mit übertriebenen Schönheitsidealen, in diesem Fall der sogenannten Thinspiration, thematisiert. Hahn charakterisiert die selbstbewusste Mitbewohnerin Olga, die ein unauffälliges, gesellschaftlich angepasstes Leben zu führen scheint, als sexuell offen, denn sie wechselt ihre Liebhaber monatlich und gibt der Erzählerin zu Beginn den Rat: „Sieh die Kerle doch einfach als Vibrator auf zwei Beinen, dann hast du nie ein Problem mit der ganzen Psychomasche und der lebenslangen Orgasmusgarantie“ (S. 132-133). Innerhalb einer verklemmten Gesellschaft hält sich Olga keinesfalls an gesellschaftliche Normen, sondern bricht diese auf und lebt ihre Sexualität voll aus. Einen Wandel in Olgas freigeistiger Haltung zu ihrer Sexualität und ihrem Köper lässt sich feststellen, als sich „mitten im vögeln“ der Liebhaber vom Monat Mai „ein Händchen voll Hüftfleisch [...] packte und grunzte: ‚Mann, das sind ja echte Liebesgriffe! Baby, wann haben deine Problemzonen das letzte Mal ein Fitneßcenter gesehen?“ (ebd.). Sie schmeißt den Typen zwar raus, doch beginnt sie gleich am nächsten Tag mit ihrer ersten Diät. Da die Erzählerin auf dem Gebiet der Gewichtsreduktion kein Neuling mehr ist und sich ihrer vermeintlichen Problemzonen anders als Olga bereits seit mehreren Jahren bewusst ist, weist sie diese gütig in die hohe Kunst der Diät ein.
Im Laufe der Erzählung treiben die beiden Frauen exzessiv Sport, teilen ihr Leid und motivieren sich gegenseitig in ihrem Tun. Doch die Freundinnen finden kein Maß in ihrer Mager-Obsession und so kündigt ihnen aus diesem Grund selbst ihre Sporttrainerin die Mitgliedschaft. Doch die beiden Frauen hören nicht mehr auf zu hungern. Die Geschichte endet damit, dass die beiden sich mittlerweile an Bildern aus Kochbüchern sattsehen, während sie selbst überhaupt nichts mehr essen und vermutlich zu Tode hungern.
Sommerloch
In der Titelerzählung geht es um den Umgang mit einer schwierigen Trennung, den anschließenden Auszug aus der gemeinsamen Wohnung sowie um Selbstbetrug. Zwischen den Figuren bleibt vieles unausgesprochen.
Die Ich-Erzählerin hilft ihrer frisch getrennten Freundin Nelly bei deren Auszug aus der ehemals gemeinsamen Wohnung mit ihrem Partner Julian. Hilfe erhält sie von ihren zwei Verehrern Hanno und Kurt. Beide Männerfiguren sind als Typen angelegt, Hanno dealt mit Marihuana und Kurt, ein Exfreund Nellys, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Die frischgetrennte Nelly erweist sich im Verlauf der Geschichte als äußerst labil, sie kann ihre Gedanken kaum von der Trauer über die Trennung von Julian lösen. Zum Unmut ihrer fleißigen Helfer verfällt Nelly immer wieder ausführliche Ausführungen über ihre Situation und Befindlichkeit. Dadurch erweist sich der Umzug als besonders schwierig und alle drei Umzugshelfer verlieren nach und nach die Geduld. Ohne sich weiter um ihre fragile Freundin zu bemühen, beweist die Erzählerin einen ausgeprägten Mangel an Feingefühl und so fahren die drei Helfer in die neue Wohnung und laden völlig entnervt lediglich die Kartons aus, ohne sich weiter der Freundin zu widmen, die in der alten, nun leeren Wohnung zurückgeblieben ist.
Dies wird besonders hervorgehoben durch die Tatsache, dass die Helfer anschließend in einen Biergarten gehen und sich lediglich sehr kurz über die aussichtslose Situation Nellys austauschen. Sehr schnell kommen sie dann auf ihr eigenes Liebesleben zu sprechen; beide Männer machen der Erzählerin Avancen. Diese lehnt jedoch vehement ab und berichtet von ihrer derzeitigen, glücklichen Beziehung. Dies erweist sich jedoch als Lüge. Denn man erfährt am Ende der Geschichte, dass auch die Erzählerin frischgetrennt ist und alleine in einer halbleeren Wohnung lebt.
Kavaliersdelikt (2004)
Im Jahr 2004 erscheint mit Kavaliersdelikt Anna Katharina Hahns zweiter Erzählband. Dieser umfasst acht Erzählungen, die vor der Veröffentlichung von Kavaliersdelikt teilweise bereits in Zeitschriften und Anthologien erschienen sind. Der Erzählband umfasst folgende Erzählungen: Ermislauh, Affenadam, Kavaliersdelikt, Fleurs de peau, Alte Rosen, Hier ist es still, Zombiefilme und Kommune Kalk.
Hahn bringt in ihrem Erzählband Geschichten zusammen, die uneinheitlicher nicht sein könnten. Angefangen bei ihren ErzählerInnen, die aus unterschiedlichen Milieus stammen, mal männlich, mal weiblich sind und verschiedenen Altersklassen angehören. Hahn weiß jede ihrer Figuren mit Leben zu füllen, ohne dass eine der anderen gleicht. Als Leser/in trifft man so auf Studenten, die versuchen ihr Leben zu regeln; auf Berliner, die in Stuttgart stranden oder auf kinderlose Senioren, die mit den Auswirkungen der Rentenreform umzugehen versuchen. Zu Hahns Schauplätzen zählen in Kavaliersdelikt vor allem deutsche Großstädte wie Hamburg, Berlin oder Stuttgart. In ihren Erzählungen kommen aber auch kontrastiv kleine Dorfgemeinden vor, in denen an alten Denkweisen festgehalten wird. Betrachtet man den Erzählband im Ganzen, so lässt sich sagen, dass Anna Katharina Hahn in vielerlei Hinsicht Kritik an bestehenden Gesellschaftsnormen übt. Oftmals thematisiert sie dabei längst überholte Ansichten, wie beispielsweise die Verdrängung der NS-Vergangenheit (Ermislauh) oder das Festhalten an der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau (Fleurs de peau). Aber auch neuere und zeitaktuelle Probleme wie den Spagat zwischen Karriere und Familie (Kavaliersdelikt, Hier ist es still) oder eine immer weiter zunehmende Altersarmut (Kommune Kalk) werden angesprochen.
Ermislauh
Ermislauh ist eines der höchstgelegenen Dörfer der Schwäbischen Alb. Kurz vor Kriegsbeginn im Jahr 1938 wurde das Dorf enteignet, um den nahe gelegenen Truppenübungsplatz zur Verteidigungsübung zu vergrößern. Die Bewohner bekamen Geld oder ein neues Stück Land. Seitdem konnte das Dorf nie mehr neu besiedelt werden, dennoch kommen die ehemaligen Dorfbewohner einmal im Jahr zurück, weil „das Heimweh nach Ermislauh […] nie aufgehört“ (S. 19) hat. Neben der Verbundenheit zu ihrem früheren Dorf wird innerhalb der Kurzgeschichte auch das Festhalten an altem Gedankengut thematisiert. So pilgern die ehemaligen, vorwiegend älteren Dorfbewohner nicht nur an ihren alten Heimatort zurück, sondern verdrängen auch nach wie vor die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg. Anstatt mit denen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, mitzufühlen, sind die Bewohner des Dorfes nach wie vor der Meinung, diese Menschen seien ‚asozial‘ gewesen (vgl. S. 22).
Der Erzähler Rainer, dessen Familie nicht aus Ermislauh stammt, verbringt mit seiner Freundin Bärbel in diesem Dorf einen Sonntag auf dem Friedhof. Dort versuchen die beiden mitsamt den restlichen ehemaligen Dorfbewohnern den verwitterten Friedhof von Unkraut und Sträuchern zu befreien, um die Gräber der Verstorbenen freizulegen. Zu den ehemaligen Dorfbewohnern gehören auch Bärbels „Mutsch“ (S. 9) Karlena sowie ihre „Omma“ (ebd.). Rainer ist nur wenig begeistert von der Gestaltung seines Sonntags, zumal er dem Familiensinn von Bärbel nicht viel abgewinnen kann. Schon nach wenigen Wochen und seiner Meinung nach „ziemlich rasch“ (S. 7) hatte er mit Bärbels Mutter und Oma zusammengesessen, denn alle drei Frauen wohnen „im gleichen Hochhaus“ (S. 9). In Bärbels Bett findet man „eine Bastion von Diddl-Mäusen und anderen flauschigen Monstren“ (S. 10), was auch zeigt, dass sie sich noch in einer Tochter-Rolle befindet.
Nachdem die Gruppe verschiedene Gräber freigelegt hat, wird gemeinschaftlich betrachtet, welche Personen dabei zutage gekommen sind. In der Ecke, in der Rainer und Bärbel mühsam zwei Gräber freigeschaufelt haben, urteilen die älteren Damen: „Die jungen Leut, die haben in der Asozialen-Ecke geschafft. Jammerschad! Den Bethler-Emil und den roten Karle haben sie gefunden!“ (S. 22). Diese beiden Gräber erhalten keinen der mühsam geflochtenen Sträuße. Rainer und Bärbel bekommen von Karlena erklärt, dass es sich bei dem Bethler-Emil um einen Jungen handelte, der „nicht ganz richtig im Kopf“ (S. 23) war. Er „lachte immer rum, machte in die Hosen, rannte wie angestochen durch den Flecken“ (ebd.). Eindeutig handelte es sich also um eine behinderte Person – diese Behinderung erklärt Karlena jedoch mit dem Zustand der alleinerziehenden Mutter: „Eine ziemlich schmuddelige Person, die konnt nie ihr Sach zusammenhalten. Viele haben gesagt, der Bub ist so, weil die so dreckig ist“ (ebd.). Der rote Karle hingegen war ein Kommunist, der „immer nur zu meckern“ (S. 24) hatte. Laut Karlena war es ein „richtig böser Mensch“ (ebd.). Von beiden Personen berichtet Bärbels Mutter, sie seien „geholt“ (ebd.) worden. Emil sei in einem „Heim“ (ebd.) verstorben, was „bestimmt das beste für ihn“ (ebd.) war. Der rote Karle hingegen kam auf den „Heuberg“ (ebd.), wo er arbeiten musste. Rainer schlussfolgert, dass beide Personen „in Lager gekommen“ (S. 25) sind und verurteilt die ablehnende Haltung der Dorffrauen. Bärbel hingegen kann die Aussagen ihrer Mutter nachvollziehen und unterstützt sie sogar, indem sie überlegt, dass auch heute für viele behinderte Kinder der Tod möglicherweise die bessere Variante gewesen wäre, da sie nur „brüllen und leiden und sabbern“ (ebd.). Hier zeigt sich, dass nicht nur die ältere Generation wie Bärbels Mutter und Großmutter Vorurteilen, genauer faschistoidem Gedankengut anhängen, sondern dass dieses von der nächsten Generation unreflektiert übernommen wird.
Rainer bleibt daraufhin wütend alleine auf dem Friedhof zurück. Von zwei anderen Gräbern nimmt er sich Sträuße, um sie zum Bethler-Emil und zum roten Karle zu legen. Gleichzeitig überlegt er, wie er ohne Bärbel wieder zurück nach Hause kommen kann. Rainer, der weder die Ansichten von Bärbel noch die der Dorfbewohner teilt, hätte hier die Chance, sich gegen die bestehende Meinung aufzulehnen und zumindest Bärbel klarzumachen, wie falsch er ihre diskriminierende Haltung findet. Doch bleibt es bei Rainers Überlegungen, sich zu widersetzen. Sein Verhalten ist in diesem Fall als passiv und höchst resignativ einzustufen. Denn letztendlich fährt er doch mit den Frauen wieder aus dem Dorf heraus.
Affenadam
Affenadam zeigt das Problem, sich durch Lügen oder Übertreibungen interessanter machen zu müssen, um Aufmerksamkeit von anderen zu erhalten. Aufgezeigt wird diese Problematik an der Figur Tino, einem Mädchen, dass der Erzähler auf einer Feier kennenlernt. Der Erzähler von Affenadam ist Medizinstudent. Von einem Kommilitonen wird er überzeugt, auf eine Studentenparty zu gehen, auf der sonst hauptsächlich GeisteswissenschaftlerInnen sind. Im Gegensatz zu Medizinerpartys könne man auf diesen deutlich interessantere und hübschere Frauen treffen, die sich alle leicht auf einen One-Night-Stand einlassen würden. Widerwillig begleitet der Erzähler seinen Freund Udo und merkt schnell, dass dieser Recht hat. Während er an der Bar steht, sucht er sich ein „Blondchen im Lurexpulli“ (S. 30) aus, welches er ansprechen will. Es kommt ihm jedoch ein Mädchen zuvor – Tino – die ein Gespräch mit ihm beginnt. Obwohl Tino eigentlich nicht seinem Frauentyp entspricht, unterhält er sich mit ihr. Hauptsächlich, weil sie „große Titten“ (ebd.) hat und Udo ihn in seiner Wahl bestätigt. Tino studiert Germanistik, Judaistik und Kunstgeschichte und gibt an, jüdischer Herkunft zu sein. Später wird allerdings klar, dass es sich bei ihren Erzählungen mehr um Schein als Sein handelt. So spricht sie zwar die ganze Zeit davon, wie gerne sie bestimmte Gedichte selbst geschrieben hätte, auf Nachfrage muss sie jedoch zugeben, dass sie generell nicht schreibt. Auch ihre angeblich jüdische Familie, die sie in Bildern verewigt in ihrer Wohnung verteilt hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als unwahr. So handelt es sich bei den aufgestellten Bildern um Ausschnitte aus Zeitschriften oder Fotos aus Antiquitäten-Läden. Bevor der Erzähler an sein Ziel kommt, mit Tino schlafen zu können, schläft sie jedoch ein. Er hinterlässt seine Nummer mit einer poetischen Notiz, woraufhin sie sich bei ihm meldet. Bei einem erneuten Treffen kommt es zum Sex, welcher jedoch für beide Personen enttäuschend verläuft. Der Erzähler verlässt daraufhin die Wohnung und trottet nach Hause.
Kavaliersdelikt
In Kavaliersdelikt ist die namenlose Protagonistin Germanistik-Studentin, spezialisiert auf den Bereich der Mediävistik. Anhand der Hauptfigur wird der Konflikt zwischen Familie und Karriere ausgehandelt, der sich vielen Frauen stellt.
Die Erzählerin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Mediävistik-Dozentin PD Dr. Dorothea Diekbloom. Nachdem ihre Chefin, die regelmäßig Medikamente einnimmt, um durch den Tag zu kommen, das Büro verlassen hat, denkt die Erzählerin über ihre Zukunft als studierte Germanistin nach. Einerseits plagen sie Geldsorgen, da in einem Jahr ihr Vertrag als Hilfskraft ausläuft und sie „so gut versorgt [ist] wie eine Kanalratte bei Sturmflut“ (S. 50), andererseits will sie nicht ihre Ideale aufgeben und sich einen Mann suchen, der sie zwar versorgen kann, ihre germanistische Leidenschaft jedoch nicht teilt. Sie weiß, dass von ihr als Frau erwartet wird, in einem gewissen Alter nicht mehr männer- und kinderlos zu sein, sie weiß aber auch, dass Karriere und Familie schwer zu vereinbaren sind.
Sie flüchtet in die Arbeit und widmet sich der Erzählung „Moritz von Crâun“ (S. 50), um ihre Untersuchung der „Körperbilder in der hochhöfischen Epik“ (S. 42) fortzusetzen. In der Erzählung geht es um den Ritter Moritz, der ein Turnier ausrichtet, um seine „Herzdame“ (S. 50), die verheiratete Gräfin Beamunt, zu umwerben. Der Graf verlässt das Turnier frühzeitig „heulend“ (S. 51), weil er „versehentlich einen Kollegen auf[spießt]“ (ebd.). Ritter Moritz gewinnt das Turnier und geifert nach der Belohnung durch seine Dame. Im Text wird der Ritter als „Rüpel und Schlimmeres“ (S. 52) bezeichnet. Plötzlich wird der Protagonistin schwindelig und ihre Konzentration lässt nach. In einem metaleptischen Sprung wechselt die Figur in die mittelalterliche Textwelt. Als sie die Augen wieder öffnet, befindet sie sich nicht mehr an ihrem Schreibtisch, sondern in einer Burg.
Die Erzählerin wird für eine Zofe gehalten und mit einem Krug zu dem tief schlafenden Grafen geschickt. Als die Gräfin den Raum betritt, eine „schwere Frau“ (S. 55) mit „miesepetrigem Quarkgesicht“ (ebd.), versteckt sich die Protagonistin hinter einem Weidekorb innerhalb des Schlafgemachs. Die Gräfin legt sich zu ihrem Gatten ins Bett, doch Ritter Moritz betritt das Zimmer, um den Lohn für seinen Turniersieg zu erhalten. Der Graf erwacht und erschrickt, als der Ritter ihm erklärt, er sei der Geist desjenigen, der vom Grafen erstochen wurde. Der Graf will flüchten, stürzt jedoch über den Krug, den die Protagonistin abgestellt hat und schlägt ohnmächtig auf dem Boden auf. Ritter Moritz und die Gräfin haben Sex miteinander („Der Herr von Craûn hat sich auf sie geworfen wie ein Raubtier auf eine saftige Keule. Es geht alles sehr schnell“, S. 61). Nach dem Akt entdeckt der Prinz die versteckte Protagonistin, und zerrt sie zum Bett. Enttäuscht von der hässlichen Gräfin, stößt der Ritter diese vom Bett und fällt über die Germanistikstudentin her. Danach schläft die Erzählerin ein und erwacht wieder in ihrem Büro.
Das „adelige Sperma“ (S. 63) wäscht sie auf der Mitarbeitertoilette ab. Sie vermutet, dass Ritter Moritz sie geschwängert hat und hofft, dass „der kleine Moritz schönere Zähne haben wird als sein Vater“ (ebd.). Auch sonst hält die Protagonistin an der Realität ihres Tagtraums fest, indem sie erzählt, dass sie nach „Burg Beamunt“ (ebd.) riecht und dass ihr Kleid, das Ritter Moritz brutal öffnete, einen großen Riss hat. Als sie die Geschichte zu Ende liest, merkt sie, dass sie selbst „diskreterweise nicht vor[kommt]“ (ebd.). Sie markiert die Bettszene innerhalb des Buchs mit rotem Textmarker und fügt „Kurz, aber gut!“ (S. 64) als Kommentar hinzu. Im Anschluss stellt sie das Buch zurück und verlässt das Büro mit dem Entschluss, sich mit dem Mann zu treffen, der ihren Idealen eigentlich nicht entspricht.
Fleurs de peau
Die Erzählung Fleurs de peau handelt von einem Paar, Ingo und einer namenlos bleibenden weiblichen Hauptfigur. In dieser Erzählung zeigt sich der Konflikt zwischen einem Mann, der an einer veralteten Rollenverteilung festhält sowie einer Frau, die versucht, sich dennoch in der Beziehung zu emanzipieren.
Zu Beginn der Erzählung holt die Erzählerin ihren Freund Ingo von einem Tattoostudio ab, wo er sich grade sein neustes Werk hat stechen lassen. Anfangs wird bereits klar, dass Ingo sich seiner Freundin gegenüber deutlich übergeordnet fühlt. So kritisiert er ihren Fahrstil und erklärt ihr, sein neu gestochenes „Tribal“ (S. 66) sei ein „Männerzeichen“ (S. 67), das Kraft und Reichtum bedeutet und nur vom männlichen Geschlecht getragen werden dürfe. Im Gegenzug gebe es auch „Frauenzeichen“ (ebd.), die „viel kleiner“ (ebd.) sind und „sicher kaum weh[tun]“ (ebd.). Obwohl die Protagonistin den Prozess des Tätowierens deutlich abwertend beurteilt, sich vor der frisch gestochenen Stelle sogar ekelt, bietet Ingo ihr an, ihr ein eigenes Tattoo zu bezahlen, dabei sei es „egal“ (ebd.), was sie sich aussuche.
Bei Ingos Tätowierer sucht sich die Erzählerin ein Tattoo aus, obwohl sie eigentlich „keine anderen Farben“ (S. 70) auf ihrem Körper möchte. Nachdem sich die Protagonistin für eine Stelle und ein Motiv entschieden hat, urteilt Leslie, der Tätowierer, es sei ein „bisschen krass, aber ziemlich originell“ (S. 71). Zwei Wochen lang muss die gestochene Stelle mit einem Verband geschützt werden, sodass Ingo nicht erfährt, was sich seine Freundin hat stechen lassen, bis der Verband gelöst wird. Dennoch ist er sich sicher, dass es ihm gefallen wird; er habe da schon „so eine Ahnung“ (S. 72). Als der Verband schließlich abkommt, ist Ingo jedoch entsetzt.
Seine Freundin emanzipiert sich mit ihrer Motivwahl, denn bei dem Tattoo handelt es sich um eine Vogelspinne, die sich von den Oberschenkeln bis hin zum Unterbauch zieht. Ingo hingegen hatte fest mit einem Schmetterling gerechnet. Geschockt von der freien Entscheidung seiner Freundin, „knipst [er] das Licht aus“ (S. 73), um die männliche Vogelspinne nicht weiter sehen zu müssen.
Alte Rosen
Die Kurzgeschichte Alte Rosen ist aus der Sicht von Trudi erzählt, eine Frau mittleren Alters, und handelt hauptsächlich von der Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen. Trudis Mutter, Emmy, wurde vor kurzem mit einem Gerinnsel im Gehirn ins Krankenhaus eingeliefert. Emmys neuer Lebenspartner ist nach Spanien geflogen, um „nach einem Altersruhesitz“ (S. 76) zu suchen – angeblich will er seine Frau nachholen. Trudi bezweifelt dies jedoch, da er schon immer ein „notorischer Fremdgänger“ (ebd.) war und sich sicher schon eine neue Frau gesucht hat.
Die Krankenhausschilderungen vermitteln den Verfall der alten Dame, die früher immer sehr eitel war. Sie kann nicht mehr selbstständig trinken, ihre Haare sind wirr, sie muss gefüttert werden und hat stark abgenommen. Die Schwestern auf der Station kümmern sich nur oberflächlich um Emmy, sodass die meiste Arbeit an Trudi hängen bleibt. Außerdem kümmert sich Trudi um den Garten der Mutter, der eine ganze Reihe von Rosen beherbergt. Während Trudi die Blumen umpflanzt, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter sich damals gegen sie und für ihren neuen Freund entschieden hat. Damals hatte Emmy beschlossen, mit ihrem Freund für ein Jahr nach Bagdad zu ziehen, obwohl ihre Tochter erst fünfzehn Jahre alt war. Der neue Mann, der Emmy nun in der Krankheit im Stich lässt, äußerte damals: „Du bist doch schon eine junge Frau, du brauchst keine Mutter mehr. Jetzt ist Emmy mal dran“ (S. 80).
Der Handlungszeitraum erstreckt sich über Jahre, in dem Trudi eine Beziehung mit Reinhard beginnt, den sie später heiratet und mit dem sie zwei Söhne hat. Trudis Söhne sind begeistert von Emmys Geschichten über Bagdad, Trudi selbst sieht das Gerede ihrer Mutter als „nichtssagende Geschichten“ (S. 81) und „Geleier“ (ebd.). Emmy hingegen hängt der vergangenen Zeit hinterher. Sie spricht nur noch Englisch und als Trudi ihr eine Rose aus dem Garten mitbringt, erinnert sie sich an Bagdad und ihren Partner: „Sweetie, he said to me. Sweetie, you are my red red rose“ (S. 82). Trudi überlegt daraufhin, dass auch die schönsten Rosen ohne Feuchtigkeit und Sonne langsam vor sich hingammeln.
Anhand Trudis Lebensgeschichte zeigt Anna Katharina Hahn auf, wie zwischenmenschliche Beziehungen auf vielen Ebenen scheitern können, weil die jeweiligen Bedürfnisse enttäuscht werden. Einerseits wird eine erotische Beziehung gezeigt, in der ein Mann seine Frau im Stich lässt, sobald diese krank wird. Damit trifft sie wie ein Bumerang ihr eigenes Verhalten, denn die nun verlassenen Frau, hatte in der Vergangenheit ihren eigenen Bedürfnissen folgend ihre Tochter vernachlässigt, die sie nun pflegt. Die Lösung für Trudi liegt in einer eigenen Familie, nicht bei ihrer Mutter.
Hier ist es still
Die namenlose Protagonistin der Erzählung Hier ist es still ist vor kurzem von Berlin in die „Schwabenmetropole“ (S. 83) Stuttgart gezogen. Hier findet sie sich nur bedingt zurecht und fühlt sich nicht wirklich wohl. Doch ein Job bei „Brainstormers – Media Solutions“ (S. 85) hat den Umzug nötig gemacht. Der einzige wirkliche Freund in der neuen Heimat ist ihr Kollege Marcel, der selbst vor kurzem aus dem Saarland nach Stuttgart gezogen ist. Er kann ihr Heimweh nachvollziehen und zeigt der Erzählerin die schönen Seiten der neuen Stadt. Marcel ist homosexuell und auf der Suche nach einem Partner; die Protagonistin hat einen Freund, der jedoch in Berlin geblieben ist und sich mit einem Umzug nicht anfreunden will. Marcel hat ein Auge auf einen jungen Tänzer der Stuttgarter Oper geworfen, den er nach einer Vorstellung mit nach Hause nimmt. Nach einer gemeinsamen Nacht eröffnet ihm der Tänzer jedoch, dass er „gebunden“ (S. 87) und Marcel nur ein „netter Ausrutscher“ (ebd.) sei. Dieser ist daraufhin enttäuscht, da es „immer dasselbe“ (ebd.) bei ihm und den Männern ist. Auch die Protagonistin ist in ihrer Beziehung unglücklich, da ihr Freund Tobias nicht wie sie aus rein finanziellen Erwägungen umziehen möchte. Er und die Protagonistin entfernen sich immer weiter voneinander, bei ihrem letzten Gespräch, in dem es darum geht, wann er sie besuchen kommt, stockt das Gespräch nach kurzer Zeit. Irgendwann legt Tobias auf und die Protagonistin bleibt allein in Stuttgart zurück.
Hahn zeigt in dieser Erzählung einerseits verstärkt ihre Protagonisten als Einzelgänger, wobei sich hier zwei von ihnen zusammentun, um ihre Einsamkeit und Anonymität in der neuen Stadt zu überdecken. Dass dies nur oberflächlich erfolgreich ist, zeigt schon der Titel der Geschichte. Die vorherrschende Stille steht für die Einsamkeit der Figuren. Andererseits findet sich die Problematisierung des neuen Frauenbildes innerhalb der Erzählung. Vergleichbar mit Fleurs de peau kann sich der Freund der Protagonistin auch in dieser Erzählung nicht mit deren eigenständigen Lebensentscheidung anfreunden. Gleichzeitig wird auch die Wahl zwischen Karriere oder Familie problematisiert, wobei sich die Protagonistin hier gegen ihre Beziehung und für ihre Karriere entscheidet.
Zombiefilm
In der Geschichte Zombiefilm thematisiert Anna Katharina Hahn zwischenmenschliche Beziehungen, bei denen die Partner wie Untote mehr nebeneinander herlaufen, als dass sie aufeinander eingehen. Hahn stellt hier im Grunde anonyme Figuren in ein Geflecht, bei dem sich alle nur oberflächlich füreinander interessieren. Der Protagonist von Zombiefilm ist Gregor, der momentan seine Dissertation zum Thema „Die Zersetzung des Subjekts: Studien zu Thomas Bernhards ‚Der Untergeher‘“ (S. 94) schreibt, allerdings mit seiner Arbeit nicht vorankommt. Stattdessen arbeitet er nun hauptsächlich bei einer Immobilienmaklerin, da er hier eher Karrierechancen sieht als mit seinem Studienabschluss. Gregors zehn Jahre jüngere Freundin Melanie ist fasziniert von Zombiefilmen der früheren Filmjahre und schreibt zu diesem Thema ebenfalls eine Arbeit bei ihrem Dozenten PD Dr. Thilo Platthardt, zu dem sie ein enges und vertrautes Verhältnis hat. Gregor, mit dem sie seit einem halben Jahr zusammen ist, ist wenig begeistert von Melanies Besessenheit von alten Zombiefilmen, dennoch schaut er sich regelmäßig abends mit ihr an; vor allem deshalb, weil Melanie danach häufig Lust hat, mit ihm zu schlafen. Schon innerhalb dieser Beziehungskonstellation verdeutlicht Hahn das fehlende Interesse an der eigentlichen Person. Gregor kann sich mit dem, wofür Melanie eine Begeisterung hegt, nicht anfreunden, im Gegenzug kann Melanie nicht akzeptieren, dass Gregor seine Zukunft eher im Bereich der Immobilien sieht.
Gregor wohnt in einer WG mit Burghardt, welcher Burgi genannt wird. Dieser ist im Grunde ein strebsamer Student, der fast den Doktortitel erlangt und bereits Aussichten auf einen guten Job hat. Seit „unüberschaubar vielen Jahren“ (S. 101) ist Burghardt mit in einer Fernbeziehung mit Ruth zusammen, die er nur am Wochenende sieht. Gregors Freundin Melanie kommt weder mit Ruth noch mit Burghardt gut klar, vor allem in letzter Zeit nicht, da sich Burghardt sehr verändert hat. Gregor erinnert sich während der Zombiefilme daran, dass er vor knapp sechs Wochen mit Burghardt und dessen Vater segeln war. Burghardt und sein Vater haben ein sehr gutes und enges Verhältnis zueinander und unternehmen viel gemeinsam. Kurze Zeit nach diesem Segelausflug stirbt Burghardts Vater an einem Herzinfarkt, was Gregors Mitbewohner völlig aus der Bahn wirft. Er schreibt seine Arbeit nicht weiter, verlässt seine Freundin, zieht seinen Beerdigungsanzug nicht mehr aus, pflegt sich und die Wohnung nicht mehr und hört nur noch laute Musik. Der gemeinsame Bereich der Wohnung verkommt nach und nach, so findet Melanie beispielsweise zwei „von Maden bevölkerte Mülltüten hinter dem Vorratsregal“ (S. 106). Auch hier zeigt sich die Distanz zwischen den Figuren. Gregor, der sich eigentlich als Burghardts Freund betrachtet, zeigt keinerlei Interesse an dessen Schicksal.
Nach einiger Zeit kommt Melanie hauptsächlich nur noch zu Gregor, weil sie keinen Videorekorder im Wohnheim hat, er hingegen schon. Als sie eines Tages in Gregors WG duschen will und Burghardt einfach den Raum betritt, ist sie mit der Gesamtsituation überfordert. Sie rennt in Gregors Zimmer und schreit diesen an, woraufhin er wütend ins Badezimmer stürmt, um dort festzustellen, dass Burghardt sich mit einem Käsebeil in die Schläfe geschnitten hat. Burghardt erklärt, dass sein Kopf der „Schädellehre“ (S. 116) nach eine Auswölbung aufweist, die als „Mordorgan“ (ebd.) gilt. Gregor ruft daraufhin den Notarzt, der Burghardt mitnimmt. Melanie, die sich in der Zwischenzeit angezogen hat, meint, sie müsse nun Theo, ihrem Dozenten, das Videoband zurückbringen. Auf Gregors Frage, ob es dafür nicht zu spät sei, antwortet sie, dass die Uhrzeit keine Rolle spiele. Mit „Leb wohl“ (S. 119) und ohne Gregor in die Augen schauen zu können, verlässt sie seine Wohnung. Hier zeigt sich wiederum die teilnahmslose Beiläufigkeit der geführten Beziehungen. Melanie beendet diese mit dem Verlassen der Wohnung, Gregor nimmt dies zur Kenntnis und keiner von beiden hat das Bedürfnis, das Zerbrechen der Beziehung zu thematisieren.
Kommune Kalk
Bei der Kommune Kalk handelt es sich um eine WG bestehend aus sechs Senioren. Diese sind: Mykose-Muriel, Parkinson-Paula, Beutel-Benni, Betablocker-Boris, Zahn-Harry sowie Jutta, die keinen Beinamen hat.
Beutel-Benni ist der Erzähler der Kurzgeschichte, die ein Zukunftsszenario über die Auswirkungen der Rentenreform skizziert. Obwohl die Autorin eine Gesellschaft aufzeigt, die für jeden Leser auf den ersten Blick lächerlich undenkbar ist, bewegt sie sich – in Anbetracht von Rentnern, die Pfandflaschen sammeln müssen, da ihre Rente nicht mehr zum Leben ausreicht – erschreckenderweise durchaus im Rahmen der Möglichkeiten. Bereits 2004 warnt Hahn davor, sich innerhalb einer Gesellschaft ausschließlich auf die jungen Mitglieder zu konzentrieren und so die Älteren durch die Lücken des Systems fallen zu lassen. Besonders diejenigen, die keine Kinder haben, müssen in Hahns Kurzgeschichte mit einer extremen Altersarmut leben. Viele von ihnen werden in dem Haus mit dem zynischen Namen Sonnenschein untergebracht, ein „Heim für kriminelle und verhaltensauffällige Senioren und Hochbetagte“ (S. 123). Dort kommen dreißig Senioren auf einen Pfleger – Pfleger, die auch schnell mal zuschlagen. Die Senioren werden dort festgebunden, über den Schlauch ernährt und in Windeln gelegt; egal, wie ihr geistiger und körperlicher Zustand ist. Als Konsequenz aus diesem Heim haben sich einige WGs gebildet, die – wie der Titel auch bereits verrät – an die Kommunen der 68er-Bewegung angelehnt sind. Dort wird gemeinsam gelebt, gegessen, gekocht und „im Rahmen der Möglichkeiten“ (S. 128) Spaß gehabt.
Um überleben zu können, überfallen die Senioren Lebensmittelgeschäfte und Apotheken. Durch eine Radionachricht wird so innerhalb der Erzählung berichtet, dass mittlerweile 50% aller „Hochbetagten“ (S. 136) in kriminelle Handlungen verwickelt sind. Dabei seien vor allem wehrlose Opfer, „besonders Mütter mit Kleinkindern und Heranwachsenden“ (ebd.), ein willkommenes Ziel für die gewaltbereiten Senioren, die „in der Regel nur in größeren Gruppen“ (ebd.) auftreten. Stolz stellen die WG-Mitbewohner fest, dass sie der Statistik entsprechen und Teil dieser 50% sind. Innerhalb der widergegebenen Radionachricht, die nahezu den Schluss der Erzählung bildet, erfährt man außerdem, dass das Problem der Seniorenkriminalität durch die Gesellschaft nicht reflektiert wird. Das Hauptaugenmerk gelte der „lange vernachlässigten jüngeren Generation“ (ebd.), die geschützt werden müsse. „Auffällige Individuen“ (ebd.) sollen daher beim „geringsten Zeichen von kriminellen Neigungen der Zwangsverwahrung übergeben“ (ebd.) werden. Hahn zeigt hier eine Gesellschaft, die einzig an die Kinder und Familien denkt, jedoch nicht an die Senioren, die keine Kinder haben, die sie pflegen könnten und die so vom gesellschaftlichen System unbeachtet bleiben.
Kürzere Tage (2009)
Anna Katharina Hahns erster Roman Kürzere Tage erschien im Jahr 2009. Dieser kann als Gesellschaftsroman gesehen werden, der die Risse und Brüche in der vermeintlichen Wohlstandsidylle derjenigen thematisiert, die es ‚geschafft‘ haben. Dabei porträtiert Hahn ein im Schein des Perfektionismus gefangenes, schwäbisches Bürgermilieu, das von Stress, Neurosen, latenter Gewalt und der Angst vor Verfall und Tod geprägt ist. Bis zur Mitte des Romans alterniert die Autorin kapitelweise zwischen den Erlebnissen zweier junger Mütter, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Im späteren Verlauf treffen die LeserInnen auf ein Ensemble gleichberechtigter Hauptfiguren sowie eine Anzahl von Nebenfiguren.
Die geographische Achse des Romans ist die fiktive Constantinstraße im Stuttgarter Lehenviertel, eine gute und beschauliche Wohngegend, in der die Altbauten unter Denkmalschutz stehen. Hier erzählt die Autorin von den Zufallsbegegnungen ihrer grundverschiedenen Protagonisten. Da wäre zum einen die anthroposophisch orientierte Jutta, die sich seit jeher Judith nennt. Seit geraumer Zeit spielt sie die Rolle der gutbürgerlichen Vorzeigemutter, die voller Hingabe den Jahreszeitentisch für ihre zwei kleinen Söhne pflegt. In ihrem Innern jedoch nagen panische Versagensängste, die sie nur mit der Einnahme von Tavor-Tabletten bewältigen kann. Sie studierte Kunstgeschichte, stellte ihre Magisterarbeit über Otto Dix jedoch nie fertig. Aus ihrer demütigenden Daueraffäre mit dem Tübinger Medizinstudenten Sören Rönne, der neben ihr noch andere Geliebte hatte, konnte sie sich nicht lösen. Bis sie sich schließlich in die Ehe mit dem zwar langweiligen, aber zuverlässigen Klaus Rapp flüchtete. Ihre Medikamenten- und Nikotinsucht konnte sie während ihrer Schwangerschaften vor ihrem inzwischen promovierten Ehemann verheimlichen. Klaus ahnt nicht, dass seine Ehefrau ihre Versagensängste, Panikattacken und Schlafstörungen nur mit Medikamenten bewältigen kann. Als Judith Sören nach all den Jahren wieder begegnet, kommt sie zu der ernüchternden Erkenntnis, dass sie das Leben an sich hat vorüberziehen lassen und in Sehnsüchten gefangen ist, die sie zu verwirklichen nie in der Lage war.
Der Roman stellt Judith die berufstätige, etwas jüngere Leonie gegenüber. Sie ist die Tochter eines Wirtschaftsprüfers und arbeitet in der Kommunikationsabteilung einer Privatbank. Leonie hat zwei kleine Töchter mit Simon Munk, den sie insgeheim verachtet, da er aus einfachen Verhältnissen stammt. Geduldig brachte sie ihm die Etikette des gehobenen Bürgertums bei, so dass man ihm seine Herkunft kaum noch anmerkt. Im Streit wirft sie ihm jedoch weiterhin vor, „Prolet“ zu sein („Du wirst immer der kleine Prolet aus Heslach bleiben!“, S.187). Einige Jahre nach dem Tod seiner Mutter kauften Simon und Leonie ein Reihenhaus in Stuttgart-Heumaden, und nun leben sie in einer Wohnung, deren Miete Leonies komplettes Gehalt verschlingt. Inzwischen ist Simon beruflich so erfolgreich, dass er trotz guten Willens wenig Zeit für Töchter und Frau hat, die ihrerseits an ihrer Doppelrolle als Karrierefrau und Mutter zu verzweifeln droht. Neidvoll betrachtet sie Judiths scheinbare Bilderbuch-Familie.
Ihren schnöden und spießigen Alltag teilen die beiden Frauen mit dem kinderlosen Rentnerehepaar Posselt, das im Nebenhaus wohnt. Während die Rentnerin Luise Posselt eines Morgens Kaffee kocht, erinnert sie sich an früher. Sie stammt aus Uhlbach, wo sie mit vierzehn Hilfskontoristin in einer Stuttgarter Schokoladenfabrik wurde. Nachdem ihr Verlobter, ein SS-Soldat, in Stalingrad gefallen war, lernte sie im August 1945 Wenzel Posselt kennen, einen Flüchtling aus dem Sudetenland. Ein Jahr darauf heirateten sie. Obwohl die ungewollte Kinderlosigkeit noch immer schmerzt, bekommt das Rentnerehepaar wenigstens regelmäßig Besuch von der Nichte Brunhilde. Als Luise schließlich ins Schlafzimmer schlurft, um Wenzel zu wecken, findet sie ihren geliebten Mann tot im Bett vor („Sie tritt ans Bett und schlägt behutsam die Decke zurück. Wenzel liegt auf der Seite [...] Luise setzt sich auf die Matratze und greift nach seiner Hand. Die Hand ist kalt“, S. 152). Statt ihre Nichte oder einen Arzt anzurufen, richtet sie ihn hingebungsvoll her. Diese tiefe Liebe, die sich durch die intensiv erlebten Erinnerungen von Luise präsentiert, entlarvt die vermeintlich intakten Ehen von Judith und Leonie als herzlos und oberflächlich.
Einige Stunden nachdem Luise Posselt ihren verstorbenen Ehemann hergerichtet hat, packt Marco Knopp seine Sachen, um von zu Hause auszureißen. Der Dreizehnjährige wohnt mit seiner Mutter Anita, die bei seiner Geburt erst sechzehn war, und deren Lebensgefährten Achim in einem Hochhaus an der Hauptstraße. Seinen Vater hat Marco zwar nie gesehen, er kann sich aber an Anitas Lebensgefährten, den Esten Eino Rännumees, erinnern, der Marco ein Vater hätte sein können. Dieser jedoch hielt es in Stuttgart nicht mehr aus und kehrte schließlich in seine Heimat zurück. Anitas neuer Lebensgefährte verprügelte Marco gleich bei der ersten Begegnung mit einem Staubsaugerrohr („Dann kam Pornostar wieder [...] Erst dann war bei Mini-Marco was eingerastet, als er checkte, dass Pornostar nicht den ganzen Staubsauer mitgebracht hatte, sondern nur das Rohr mit dem Saugding [...] daran“, S. 115ff). Aus Verzweiflung entschließt sich der Teenager, nach Estland zu fliehen. Um sich das erforderliche Geld für die Reise zu beschaffen, überfallt Marco das Geschäft des türkischen Lebensmittelhändlers Nâzim mit einem Feuerzeug, das wie eine Pistole aussieht, und setzt es in Brand. Am Ende des Romans befindet sich Marco am Hauptbahnhof. Kein Zug fährt nach Estland und von den angegebenen Zielorten weiß er nicht, wo sie liegen. Er entscheidet sich schließlich für Berlin und löst am Automat eine ICE-Fahrkarte.
Anna Katharina Hahn zeigt in ihrem Roman die unterschiedlichsten Lebenswege auf, die alle von der Frage bestimmt sind, wie man ‚richtig’ leben soll. Dabei hat die Autorin stets die Vielschichtigkeit der neuen, schwäbischen Lebensrealität im Blick: Ihr Roman erzählt von den Befindlichkeiten einer saturierten, sich weltgewandt glaubenden Mittelschicht, einer verwitweten Rentnerin, einem heruntergekommenen Teenager, der dem brutalen Freund seiner Mutter ausgeliefert ist, einem Vorzeigeehepaar mit Kindern, das mit einer Lüge lebt, und einer Frau, die sich von ihrer Sehnsucht nach der großen Liebe und ihrer Drogensucht nicht befreien kann. Hahn rechnet mit einer trügerischen Wohlstandsidylle ab, in der alle Werte fragwürdig geworden sind.
Am Schwarzen Berg (2012)
Die benachbarten Familien Rau und Bub wohnen in der abgeschiedenen und ländlichen Gegend eines Stuttgarter Vororts. Während Emil Bub als Deutschlehrer kurz vor der Pensionierung steht und seine Frau Veronika als Bibliothekarin tätig ist, hat Dr. Hajo Rau seine eigene Arztpraxis eröffnet, in der seine Frau Veronika als Sprechstundenhilfe arbeitet. Die eigentlich unähnlichen und inkompatiblen Familien finden durch Peter, den Sohn der Raus, ihr verbindendes Element („Seine Erinnerung war voll von Peterbilder“, S. 25). So wächst der sensible Peter in zwei Familien auf, zwischen denen sich ein zunehmend ideologisches Spannungsverhältnis entwickelt. Die leibliche Familie drängt Peter zu besseren Schulnoten und einer sachlich bis nüchternen Lebenshaltung, wohingegen ihn die Bubs in eine Welt der Poesie und der fantastischen Träumerei entführen. Vor allem die gemeinsamen Ausflüge mit Emil, insbesondere die fieberhafte Suche nach verschollenen Dokumenten des Schriftstellers Eduard Mörike, werden für den jungen Peter zu einem Sinnbild von Freiheit. Fernab von Leistungsdruck, Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen blüht Peter in Emils Gegenwart auf und entwickelt sich dabei zu einer selbstsicheren und lebensfrohen Persönlichkeit. Der Kontakt der Bubs zu ihrem Nachbarssohn bricht jedoch mit voranschreitendem Alter nach und nach ab, bis Peter schließlich selbst eine Familie gründet. Peter mietet eine eigene Wohnung, heiratet die introvertierte Mia und bekommt mit ihr zwei Kinder.
Die tatsächliche Handlung des Romans setzt ein, als Peter eines Tages in apathischem, abgemagertem und äußerst ungepflegtem Zustand in das Haus seiner Eltern am schwarzen Berg zurückzieht; und das ohne eine Spur von Mia und den beiden (mittlerweile im Schulalter befindlichen) Söhnen. Mia ist, wie sich erst wesentlich später herausstellt, mit ihrer Affäre Georg nach Italien ausgewandert. Sie hat Peter weder ausreichend informiert noch über ihren derzeitigen Verbleib aufgeklärt. Durch das plötzliche Auseinanderfallen seiner jungen Familie und die Ungewissheit darüber, wo seine Kinder sich derzeit befinden und ob er sie jemals wiedersehen wird, hat Peter einen psychischen Zusammenbruch erlitten. Peter kapselt sich zunehmend von seinen Mitmenschen ab und isoliert sich phasenweise völlig von der Außenwelt. Seine depressive Stimmung („Ich kann nicht, ich will nicht, das hat doch keinen Sinn“, S. 142) gipfelt schließlich in einen Akt der Selbstverstümmlung. Erst durch eine von Hajo verschriebene Medikamentenkur und eine kurze Reise mit Emil in die Stuttgarter Innenstadt scheint der resignative Peter wieder allmählich zu sich selbst zurückzufinden. Gegen Ende der Handlung erhält die Familie Rau einen Brief von Mia, in dem sie ihre Bewegründe für die Trennung und ihre übereilte Abreise zu schildern versucht. Die grundsätzliche Motivation ihrer Entscheidung ist in den antikapitalistischen und anarchistischen Tendenzen Peters zu finden, der eine finanziell begünstigte Beförderung seines Arbeitsplatzes ausgeschlagen hat und sich immer stärker in Stuttgarter Protestaktionen vertieft („Ich muß mich nicht damit abfinden, nur im kleinsten Kreis gegen den Strom zu schwimmen. Du weißt schon, man ist Vegetarier, Waldläufer, Konsum- und Schulverweigerer, aber im Grunde ein armes Würstchen. Ein alternativer Kasper ohne Einfluß, der Rad fährt und Ökowaschpulver benutzt“, S. 83). Er beschäftigt sich mit zunehmender Intensität damit, die natürlichen Biotope im Raume Stuttgarts zu schützen und infrastrukturellen Großprojekten wie etwa Stuttgart 21 entgegen zu wirken. Dieser Impetus des Widerstands spiegelt Peters innere Haltung als naturverbundenen und moralisch engagierten Menschen wider. Er wehrt sich somit gegen kapitalistische und industrielle Hierarchiestrukturen, die die ökologische Schönheit der Natur zugunsten einer effektiveren Mobilität der Massen zerstören. Als die Familien Bub und Rau am Ende des Romans eine kleine Gartenparty feiern und Peters Gemütslage nun deutlich entspannter, fröhlicher und ausgelassener zu sein scheint, finden sie diesen noch am gleichen Abend an einem Gürtel erhängt in seinem Zimmer. Peters Selbstmord ist ein irritierender Schockeffekt, welcher die narrative Entwicklung mit einem Schlag in ihr Gegenteil verkehrt („Peter hatte Carlas alten Gürtel um die oberste Sprosse geschlungen. Seine Füße hingen eine Handbreit über dem Boden“, S. 237). Die Tendenz eines positiven Umschwungs mündet plötzlich in einer nicht wieder gut zu machenden Katastrophe.
Die detaillierten Schilderungen des schwäbisch-kleinbürgerlichen Alltags werden durch Momente von Triebhaftigkeit und Rausch kontrastiert, vor allem Alkohol wird gierig „in hastigen Schlucken getrunken“ (S. 153). So bilden der übermäßige Alkoholkonsum der Familie Bub und ein Wechselspiel von (fast nur beiläufig erwähnten) Seitensprüngen, jene Gegenpole, die die vermeintliche Harmonie des Alltags als höchst trügerisch und doppelbödig entlarven. Die in jeder Hinsicht bürgerlich normierte Welt kann den existenziellen Problemen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zu keinem Zeitpunkt gerecht werden. Die Sicherheit, die Dosierung und die Kontrolle über ein überschaubares, geordnetes Leben sind kein universeller Garant für Glück oder Selbstverwirklichung. Stattdessen scheinen die ProtagonistInnen an den ihnen aufgezwungenen Werten zu zerbrechen. Das Abweichen von der gesellschaftlich akzeptierten Norm ist somit als Hilfeschrei ungelebter Triebneigungen zu verstehen.
B) Thematische Aspekte [ ↑ ]
Kritik am Spießbürgertum
Hahns ProtagonistInnen sind zum größten Teil der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen. Sie führen ein vermeintlich geordnetes und unauffälliges Leben, das sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen scheint. Als Studenten, Immobilienmakler, Bibliothekare und Ärzte versuchen sie stets ihren Platz innerhalb des Gemeinwesens zu finden und dort ihre Stellung zu etablieren. Sie mähen vorbildlich ihren Rasen (Am Schwarzen Berg, S. 42: „Emil mähte die untere Wiese“), arbeiten an ihren universitären Forschungsprojekten und unternehmen Tages- oder Wochenendausflüge (Sommerloch, S. 91: „Wir. Sind. Unterwegs. Ins. Grüne.“). Hahns Figuren präsentieren sich nach außen hin häufig als eigenwillige, emanzipierte und zivilisierte Persönlichkeiten, die im urbanem bis suburbanem Raum ihren alltäglichen Pflichten und Interessen nachgehen.
Nach einem zweiten, tiefer gehenden Blick offenbart sich jedoch das wahre Bild einer Gesellschaft, die eingeengt von Konventionen am Leben zu scheitern droht. Hinter der trügerischen Normalität verbirgt sich eine fast animalische Triebhaftigkeit, welche immer wieder eruptiv zum Ausdruck kommt. Geheime und ehebrecherische Affären, spontan-sexuelle Abenteuer (Der Angeber in Sommerloch, S. 81: „Wir knutschen in Schräglage […] Ich knöpfe die Jeans auf und ziehe sie bis in die Kniekehlen“), kriminelle Übergriffe (Kommune Kalk in Kavaliersdelikt, S. 123: „Heim für kriminelle und verhaltensauffällige Senioren und Hochbetragte“) und Rauschzustände werden zu eskapistischen Mechanismen, um dem alltäglichen Leerlauf zu entfliehen. Im zunehmenden Handlungsverlauf von Hahns Romanen und Kurzgeschichten entwickelt sich das kleinbürgerliche Milieu stets zu einer utopischen Scheinwelt, in der Glück und Selbstverwirklichung keineswegs möglich sind. Die gesellschaftlichen Zwänge und Erwartungshaltungen sind schließlich nichts weiter, als ein verzweifeltes Verlangen das grassierende Sinndefizit innerhalb der Gesellschaft zu verdecken oder gar zu kompensieren. Vor allem der übermäßige, unkontrollierte und überstürzte Konsum von Alkohol (Am Schwarzen Berg, S. 171: „Der Kellner brachte leise summend ein neues Glas Wein. Emil leerte es hastig“) und Tabletten spiegelt diesen Punkt überdeutlich wider. Angesichts der eigenen verfehlten Existenz oder aufgrund melancholischer bis resignativer Stimmungslagen greifen einige Figuren vermehrt zu berauschenden Mitteln, um den enttäuschenden und geradezu erdrückenden Alltag überhaupt erst erträglich zu machen oder sie bringen sich um. Neben der Fragwürdigkeit gesellschaftlicher Konventionen werden auch übertriebene Schönheitsideale thematisiert, die besonders in Hahns Kurzgeschichte Problemzonen zum Tragen kommen. Die Tatsache, dass sich dort zwei junge Mädchen beinahe zu Tode hungern (Problemzonen in Sommerloch, S. 136: „Ich wollte nichts mehr essen“), greift eben jenen verwerflichen Schönheitswahn wieder auf, der in Zeiten von Germanys Next Topmodel innerhalb unserer Gesellschaft grassiert und zunehmend an Einfluss gewinnt.
Korrelierend zu der antithetischen Gegenüberstellung von einer harmonisch-spießbürgerlichen Oberfläche und den menschlich-anarchistischen Abgründen darunter, ist an dieser Stelle auch das Missverhältnis von inneren und äußeren Handlungsstrukturen zu erwähnen. Während aktive Handlungen und spektakuläre Ereignisse nur spärlich vorhanden sind und oft in den Hintergrund geraten, entfaltet sich in Hahns Prosa ein weitläufiges Netz aus Erinnerungen, Tagträumereien und geistigen Reflexionen. Die Perfektion eines augenscheinlich makellosen Bürgertums bildet nur die Spitze des Eisbergs. Der weitaus größere Teil dieses bürgerlichen Lebens wird jedoch von Depressionen, Minderwertigkeitskomplexen und unerfüllten Wünschen bestimmt. Die Handlung spielt sich also in einer längst vergangenen oder unerreichbaren imaginären Welt ab, die lediglich in dem Bewusstsein der Figuren zum Ausdruck kommt, in der Realität jedoch keine Anwendung findet. Dabei schreckt Hahn nicht davor zurück, derartige Existenzkrisen mit einer subtilen Form von schwarzem Humor zu kombinieren und dem Erzählten somit eine ironische, teilweise sogar zynische Note zu verleihen.
Vor allem in ihren Kurzgeschichten hält Hahn dem/der Leser/in selbst den Spiegel vor. Narrative Unzuverlässigkeit und bewusst gesetzte Leerstellen werfen automatisch Fragen nach der textuellen Kohärenz auf. Wer spricht? An welchem Ort befinden wir uns? Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau? Was ist die Vorgeschichte der skizzierten Situation? Hahn ertappt den Leser dabei, wie er alles genau wissen will und sich auf einer zwanghaften Suche nach eigentlich nebensächlichen Details befindet. Hahns provokante Kritik reicht dabei über den textuellen Gehalt ihrer Werke hinaus und tritt unmittelbar an den/die Leser/in heran.
Einzelgänger und Anonymität
Anna Katharina Hans Protagonisten sind häufig Einzelgänger, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehen oder stehen wollen. Diese Außenseiterfiguren werden in Hahns Erzählungen und Romanen teilweise als romantische Idealisten porträtiert. In dem Roman Am Schwarzen Berg orientieren sich Peter und sein Ziehvater Emil beispielsweise an Eduard Mörike; dem Aussteiger, der versuchte, dem bürgerlichen Leben zu entkommen und in die Kunst zu fliehen. Dabei sind beide Figuren keine Künstler, sondern allenfalls Menschen, die mit zeitgenössischen Lebensmustern (arbeiten, konsumieren, fernsehen, schlafen gehen) brechen wollen. Hahns Außenseiter streben nach etwas Höherem. Doch immer wieder scheitern sie. Damit zeigt die Autorin vor Allem auf, wie schwierig es ist, alternative und metaphysisch bereichernde Existenzmodelle aufzubauen. Hahn entwirft Kippfiguren, die voller Sehnsüchte sind und es nicht schaffen, sich in ihrem Leben zurechtzufinden. Somit wird in ihren Texten viel getrunken und geraucht („Judith macht einen inbrünstigen Lungenzug und stellt sich vor, wie sich die bläulichen Schwaden mit ihrem Blut vermischen und zum Herzen ziehen, es einhüllen und es ruhiger schlagen lassen“, aus Kürzere Tage, S. 7), Medikamente werden regelmäßig eingenommen.
Des Weiteren rebellieren (zumindest leise) ihre Figuren gegen die Verlogenheit und Heimtücke, die unter der Oberfläche schwäbischer Gemütlichkeit brodelt. In der Erzählung Ermislauh beispielsweise verurteilt der Erzähler Rainer während eines Friedhofbesuchs die ablehnende Haltung einer Gruppe Albdorffrauen gegenüber zwei Verstorbener, einer behinderten Person und einem Kommunisten, die beide während der Nazizeit „in Lager gekommen“ (Kavaliersdelikt, S.25) sind.
Die Handlungsorte von Anna Katharina Hahns Texten sind häufig Stuttgart, Berlin und Hamburg. Hierbei handelt es sich um Großstädte, in denen die Protagonisten in Anonymität nebeneinanderher leben. Hahn erzählt von Zufallsbegegnungen, die oft nicht über oberflächliche Interaktionen hinausgehen. In Kürzere Tage dient die fiktive Constantinstraße als Mikrokosmos dieses anonymen Stadtlebens. Die beiden Mütter Judith und Leonie sind zwar Nachbarn, doch sie begegnen sich nur („An einem Spätnachmittag im September sah Leonie Judith, ihren Mann und die Kinder hinter dem Haus verschwinden […], S. 78) und sind zurückhaltend („[Leonie] wäre gerne hinterhergegangen, entschied sich dann aber für die zurückhaltende Variante […] Sich aufdrängen kam nicht in Frage“, S. 78). Ab und an treffen sie sich bei dem türkischen Lebensmittelhändler. Niemand weiß etwas von den Leiden und Sehnsüchten der anderen. Hahns Konzeption der Großstadt als anonymer Kosmos straft ihre Figuren letztendlich mit der Einsamkeit. Ihre Konflikte müssen die Figuren nicht nur intern, sondern auch alleine verhandeln.
Spiel mit Lesererwartungen
Die traditionellen Lesererwartungen werden in Hahns Texten selten befriedigt. Viele ihrer Figuren werden beispielsweise nicht erklärt und nur durch die Augen der anderen Figuren gespiegelt. Besonders Peter Rau in Am Schwarzen Berg ist eine Figur, die den Leserinnen und Lesern ein Geheimnis bleibt („Von dem Kind Peter hatte er vieles gewußt. Der Erwachsene war nicht mehr so offen.“, S. 20). Alles, was man über ihn erfährt, wird durch andere kommuniziert. Ebenso enigmatisch sind die jeweiligen Geschlechter der Erzähler in einigen von Hahns Texten. Da die Autorin in diesen Fällen aufschlussreiche Informationen oder Hinweise zum Geschlecht der Erzählfigur den Leserinnen und Lesern bewusst vorenthält, sieht man sich gezwungen, sein Schubladendenken bezüglich geschlechtsspezifischer Handlungsweisen zu sprengen. Hahn vermittelt den Eindruck, dass das Geschlecht der Erzählperson irrelevant ist. Somit entlarvt sie die eingefahrene Lesermentalität des Spießbürgertums, das sie gleichzeitig zu ihrem Erzählgegenstand macht. Im Gegensatz zu einem Denken in Schubladen, das Stabilität in einer von Unsicherheit geprägten Existenz bietet, fordert Hahn einen offenen, unvoreingenommenen Bezug zu ihrer Erzählwelt ein.
Anna Katharina Hahns Spiel mit den Erwartungen der Leserinnen und Leser sorgt ebenfalls für amüsante Überraschungseffekte. In der Erzählung Fleurs de peau in etwa lässt sich die Freundin des Tattoo-Enthusiasten Ingo nach anfänglicher Ablehnung selbst ein Motiv stechen. Da Hahn im Verlauf dieser Erzählung eine klare (von Ingo befürwortete) Unterscheidung zwischen „Männerzeichen“ und ‚kleineren’ „Frauenzeichen“ (Kavaliersdelikt, S. 67), die es im Repertoire der Tattoo-Motive geben soll, etabliert, staunt man als Leserin oder Leser später nicht wenig über ihr krasses, „aber ziemlich [originelles]“ (ebd., S. 71) Vogelspinnentattoo, das sich von den Oberschenkeln bis hin zum Unterbauch zieht. Auch in der Zukunftsvision Kommune Kalk werden kriminelle und verhaltensauffällige Senioren dargestellt, die, um überleben zu können, Lebensmittelgeschäfte und Apotheken überfallen. Hierbei invertiert Hahn die Situation der Seniorenfiguren und macht die gewöhnlichen Opfer von Raub und Kriminalität zu den Tätern. Somit trägt Anna Katharina Hahns Spiel mit den Lesererwartungen einen großen Teil zu den amüsant grotesken und unterhaltenden Qualitäten ihrer Erzählungen und Romane bei.
Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen
Hahn befasst sich in all ihren Erzählungen sowie ihren Romanen auf vielschichtige Weise mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Häufig handelt es sich um Liebesbeziehungen, die thematisiert werden, aber auch Eltern-Kind-Beziehungen sowie Freundschaften werden dargestellt. Auffällig ist, dass im Grunde keine funktionierende Beziehung aufgezeigt wird. Auch hier nimmt Hahn eine Kritik am Spießbürgertum vor, indem sie entlarvt, dass auch die ‚Spießbürger‘ keine Beziehung nach Norm oder Vorzeigeehen führen. So sind die Hauptfiguren des Romans Am Schwarzen Berg alkoholabhängig, der Mann betrügt seine Frau mit der befreundeten Nachbarin, seine Frau betrügt ihn ihrerseits mit einem Bekannten. Auch in Kürzere Tage werden Ehen, die von außen glücklich und beneidenswert wirken, von innen betrachtet als unglücklich dargestellt.
In Hahns Kurzgeschichten begründen sich Beziehungen oft auf rein sexuelle Begegnungen (beispielsweise Ihr Tag) oder aber es werden Beziehungen gezeigt, in denen die Hauptfigur unglücklich verbleibt, ohne etwas an dem Zustand zu ändern (zum Beispiel Ermislauh). Doch nicht nur Liebesbeziehungen scheitern ins Hahns Texten, auch Familien haben mit Problemen zu kämpfen. In Am Schwarzen Berg wird Sohn Peter von seinen Eltern oft vernachlässigt, da diese viel arbeiten müssen. So äußert Peters Vater: „Da liegt das eigene Kind wochenlang im Dreck, halb verdurstet und verhungert. Und ich Rindvieh habe vor lauter Arbeit nichts gemerkt!“ (S.124).
Auch in Hahns Kurzgeschichten wird Familie eher negativ thematisiert. So werden beispielsweise in Kommune Kalk diejenigen, die eine Familie gegründet haben als „arme Idioten […], die sich damals für Nachwuchs entschieden“ (S.131) hatten, bezeichnet. Kinder werden hier einzig als Altersvorsorge gesehen („Ich wohne bei ihm und seiner Frau. Zwei Enkel, und schon sechs Urenkel. Habe rechtzeitig für alles gesorgt“, S.132).
In Weiberwirtschaft bemerken weder die Mutter, noch die Großmutter, dass die dargestellte Hauptfigur, ein Mädchen, das gerade die Schule abgeschlossen hat, sich prostituiert, um sich keinen Job suchen zu müssen. Auch in Alte Rosen wird von einer Mutter erzählt, die sich, als ihre Tochter gerade fünfzehn war, gegen sie und für ihren neuen Freund entschieden hat. Während die Mutter für ein Jahr nach Baghdad ging, blieb das junge Mädchen allein zurück.
Die Beziehungen, die Hahn darstellt, scheitern so meist auf jeder Ebene. Seien es sich betrügende Ehepaare oder Eltern, die für ihre Kinder nicht die nötige Verantwortung übernehmen können/wollen.
Triebhaftigkeit und Sexualität
In Anna Katharina Hahns Romanen und Erzählungen spielt immer auch die Sexualität eine große Rolle. So kommt es immer wieder zu Schilderungen von sexuellen Handlungen, oft handelt es sich dabei um sehr harte Sexualpraktiken, die sich teilweise schon in den Bereich des Sadomasochismus einordnen lassen. Hahn erläutert diese Praktiken schonungslos und detailliert. Vor allem Hahns Kurzgeschichten handeln oft von spontanen sexuellen Bekanntschaften, die einzig und allein auf den sexuellen Austausch beschränkt bleiben. So wird in Der Angeber geschildert, wie die Protagonistin in einem leeren Linienbus mit einem Unbekannten Sex hat, danach wäscht sie sich mit Wasser den eingetrockneten Spermafleck aus ihrer Hose. In Körperschmuck berichtet die Bekanntschaft des Protagonisten über ihre Erfahrungen im Swingerclub: „Wir haben die ganze Nacht gevögelt. Jeder mit jedem. Es gab einen Raum mit Matratzen, auch rot und schwarz, und Spiegeln an den Wänden und der Decke, und nebenan eine Sauna und Duschen. Eine Streckbank und einen echten Stuhl wie beim Frauenarzt. Tom hat mit zugesehen. Und ich habe Tom zugesehen. Ich glaube, ich bin noch nie so oft gekommen wie in dieser Nacht.“ (S. 40) und in Weiberwirtschaft wird geschildert, wie die Protagonistin die perverse Lust eines Dorfarztes gegen Bezahlung befriedigt: „Er bekommt eine Injektion, Meaverin zur lokalen Betäubung […]. Es gibt einen langen sauberen Schnitt in den Unterbauch, nur bis zur letzten Hautschicht, auf keinen Fall will ich mit seinen dämlichen Eingeweiden in Berührung kommen. Seit Blut strömt mir so bereitwillig entgegen, als hätten wir uns ewig nicht gesehen. Das Skalpell geht durch das Fleisch wie durch ein Stück Papier. Ich schmiere ihm den eigenen Saft an die gewünschten Stellen. […] Er atmet jetzt stoßweise. Ich fasse ihn nicht mehr an, den Rest schafft er selber. Drei Minuten später greife ich zu Nadel und Faden, vernähe die ganze Herrlichkeit mit ein paar sauberen Stichen.“ (S.110f.)
In Hahns Romanen hingegen geht es vielmehr um vordergründig geordnete familiäre Situationen. Daher spielen hier zwar auch Ehebruch und Suchtverhalten eine große Rolle, allerdings deutlich gesitteter als in Hahns Kurzgeschichten. In Am Schwarzen Berg stößt man als Leser so auf die Schilderung von eher schlechten, ‚vorstädtischen‘ Liebhabern: „[…] Doch während des Vögelns klagte sie über Schmerzen im ‚unteren Rücken‘ und bat Emil nach einer Weile, er möge aufhören, sie könne nicht mehr. Außerdem holze er wie in einem schlechten Porno, das hätte sie nicht erwartet.“ (S.118).
Spiel mit Traum und Wirklichkeit
Sowohl in ihren Kurzgeschichten als auch in ihren Romanen springt Anna Katharina Hahn immer wieder in Raum und Zeit. Dabei handelt es sich einerseits um Sprünge in die Vergangenheit, also in die Erinnerung der Protagonisten, andererseits beschreibt Hahn häufig Fantasien oder Tagträume.
Die Erinnerung spielt vor allem in Am Schwarzen Berg eine sehr große Rolle. Alle der Hauptfiguren werden durch Kleinigkeiten, seien es Gerüche, bestimmte Straßen oder Orte, an denen sie schon mal waren, an Vergangenes erinnert. Diese Erinnerungen, die von Hahn übergangslos zur Gegenwart geschildert werden, stellen häufig die Erklärung von Beziehungen und guten Zeiten dar, während der gelebten Gegenwart eher etwas Negatives anhaftet. So zeigt Hahn auf, welche Tragweite das Vergangene für ihre Figuren hat und inwiefern es zu der heutigen Situation beitrug.
Vor allem Hahns Erzählungen spielen mit Träumen oder Fantasien, die oft nicht als diese gekennzeichnet werden und so nahtlos in das Reale einfließen. Als LeserIn muss man häufig mutmaßen, ob das Geschilderte der erzählten Realität oder einer Fantasie entspringt.
Auch hier spielt Hahn mit Lesererwartungen und Leseransprüchen, da die Leserschaft oft eine Aufklärung erwartet (vgl. Uneindeutigkeit der Geschlechter) und oft in gewisser Weise in dieser Erwartung enttäuscht wird. Stattdessen wird er ratlos zurück gelassen.
Vor allem in Kavaliersdelikt treibt Hahn den Gedanken des Tagtraums auf die Spitze. Obwohl die Protagonistin für den Leser ganz klar eine Fantasie beschreibt (sie tritt während ihrer Mediävistik-Studien in sexuellen Kontakt mit einem Ritter des Mittelalters), behandelt sie selbst diesen Tagtraum auch nachdem sie wieder in der Realität ‚angekommen ist‘ als eine tatsächlich geschehene Handlung. So beschreibt sie, sie habe das „adelige Sperma mit kaltem Wasser auf der Mitarbeitertoilette abgewaschen“ (Kavaliersdelikt, S.63) und nimmt außerdem an, dass sie in Kürze ein Kind des Ritters erwarten wird. Sie liest die Geschichte, in die sie sich reinfantasiert hat, zu Ende und bemerkt, dass sie selbst „diskreterweise nicht vor[kommt]“ (ebd.).
Völliger Aufklärung entbehrt sich auch Ihr Tag. Hier wird die unrealistische Szenerie, die das Ende der Erzählung bildet, in keiner Weise erklärt. Vor allem weil Hahns Kurzgeschichten an sich alle sehr real aufgebaut sind und sie nur selten derart fantastisch enden, bleibt man als Leser irritiert zurück und weiß den Ausgang der Erzählung nicht einzuschätzen. Hahn überrascht durch solche eingebauten Wendungen, mit denen man als Leser nicht rechnet, und spielt so mit allem zwischen Wirklichkeit, Traum und Irrealität.
C) Formale Aspekte [ ↑ ]
Symbolik
Ein nicht zu unterschätzender Aspekt in Hahns Prosa ist ihre wiederkehrende Symbolik, die textübergreifend zum Tragen kommt. Neben Geruchs- und Geschmacksassoziationen (die Synästhesien gleichkommen), einer semantisch aufgeladenen Hitze bzw. Schwüle und dem stetigen Aufgreifen körperlicher Verfallserscheinungen (Sommerloch, S. 111: „Krampfadern“) ist vor allem die auffällige Reptilien- und Drachensymbolik zu bemerken. Immer wieder tauchen in Hahns Prosa Verweise auf derartige Geschöpfe auf; ob in der erzählten Realität oder in der Imagination der Figuren. Aber welche Funktion besitzt nun diese außergewöhnliche, symbolische Ebene, der aufgrund ihrer quantitativen Vielzahl doch ein relevanter Stellenwert zugesprochen werden muss?
Das Symbol des Drachen ist in verschiedenen Kontexten innerhalb Hahns Prosa anzutreffen; sei es in Form von Tätowierungen (Ihr Tag, in Sommerloch S. 46: „kleinen grimmigen Drachenkopf“; Fleurs de peau, in Kavliersdelikt S. 67: „japanisch inspirierten Drachenkopf“; Sommerloch, in Sommerloch S. 51: „Die Drachen auf seinen Armen“) oder in bizarren Visionen (Ihr Tag, in Sommerloch S. 52: „durch den Dampf erkenne ich einen bräunlichen Drachenkopf“). Trotz der unterschiedlichsten Zusammenhänge ist der Drache überwiegend als „Symbol des Destruktiven“ (Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 69) und als Fixpunkt des „Chaos“ (ebd.) zu interpretieren. Das Symbol verweist auf das Fassadenhafte der kleinbürgerlichen Realität und spiegelt deren inneren Unruhe- sowie Aggressionspotentiale wider. Der Drache wird nicht als konventionelles „Glückssymbol“ (ebd., S. 68) verwendet, sondern zum Inbegriff eines kulturellen Unbehagens, das tief mit den gesellschaftlichen Werten bzw. Normen verwurzelt ist. Die Drachensymbolik zeugt somit von dem archaischen und individualistischen Verlangen, die Schranken des einengenden Bürgertums zu überwinden und ein Leben ohne Vorschriften und Triebunterdrückungen zu genießen.
Die eng mit dem Drachen verbundene Eidechsen- und Reptiliensymbolik knüpft ebenfalls an das Motiv des „Dämonischen“ (ebd., S. 76) und „des Bösen“ (ebd.) an. Darüber hinaus ist diese Art der Symbolik (Die Vorteile der Mütter, in Sommerloch S. 95: „Der Waran habe schon wieder Scherben bringen Glück gespielt“; Fleurs de peau, in Kavaliersdelikte S. 69: „grünblaues Reptiliengeschlängel“) als Anspielung auf eine verborgene „Sehnsucht“ (Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 76) zu verstehen. Es ist die Sehnsucht den Alltag und die rationalisierte und dadurch belanglos gewordene Existenz hinter sich zu lassen, um ungehemmt seinen Wünschen oder Neigungen nachzugehen. Die Reptilien sind somit auch immer mit sexueller Sehnsucht konnotiert. Wiederum verweisen sie auf ein inneres Verlangen, das in der Öffentlichkeit nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten zum Ausdruck kommen kann.
Bildhaftigkeit
Anna Katharina Hahns Sprache kann als schonungslos beschrieben werden. Die Leserinnen und Leser erfahren, wie die Figuren schwitzen, husten und feuchte Hände haben. Die Autorin erzeugt eine Textwelt, die es einem ermöglicht, die Welt durch die Augen der Figuren zu sehen. Die Leserinnen und Leser sind nicht nur bei den psychischen, sondern auch bei den physischen Prozessen ganz nah dran. Dieser Effekt wird durch eine Vielzahl an Stilmitteln erreicht. Durch den Einsatz von Vergleichen und einer bildhaften Sprache gelingt es Hahn, den emotionalen Kern ihrer Figuren in bündigen, sprachlichen Gesten herauszuschälen („Emil war ein sehniger Mann mit schlechter Haltung, großnasig, großäugig, im eigenen Körper zu Hause wie in einem ehemals eleganten Anzug“, aus Am Schwarzen Berg, S. 8). Ebenfalls verleiht Hahn somit den scheinbar banalen Beobachtungen ihrer Figuren eine ungewöhnliche, teils befremdende Qualität. So bemerkt die Erzählinstanz in Am Schwarzen Berg zu Anfang des Romans, dass das „Kaffeepulver im [hellbraunen] Papier moorig aufwallte“ (S. 8), als der Protagonist Emil Bub „das kochende Wasser in den Porzellanfilter“ (ebd.) goss.
Sinnliche Sprache
Den außergewöhnlichen Blick auf den Lebensalltag steigert die Autorin mit Beschreibungen von Sinneseindrücken und vornehmlich von olfaktorischen Aspekten. Diese rufen oft intensiv erlebte Erfahrungen in den Figuren wach. Dabei setzt Hahn mitunter Synästhesien („der leuchtendgelbe Kaugummigeruch“, aus Am Schwarzen Berg, S. 8) ein, um den Leserinnen und Lesern geschilderte Erlebnisse in all ihrer sinnlichen Eindringlichkeit erfahrbar zu machen.
Hahns Sprache ist geprägt durch kurze und präzise Sätze, die auf den ersten Blick den Eindruck von Distanziertheit und Gefühlskälte entstehen lassen. Betrachtet man jedoch ihre knappen und informationsdichten Formulierungen näher, so wird deutlich, dass sich hinter der lakonischen Sprache der Autorin eine empathische Einsicht in die geschilderte Erzählwelt abzeichnet („Judith raucht hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt“, aus Kürzere Tage, S. 7ff). Somit überträgt Hahn die in ihren Erzählungen und Romanen wiederkehrende Thematik, nämlich die tiefen emotionalen Abgründe unter der trügerisch wohlgeordneten und ‚kalten’ Oberfläche des gutbürgerlichen Lebens, auf die sprachliche Gestaltung ihrer Texte.
Beispielhaft hierfür ist eine Textstelle aus Kürzere Tage:
„[Judith] läßt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag. Am Morgen waren die Kinder zu ihr ins Bett geschlüpft, bevor sie sich hinausschleichen konnte, um auf dem Küchenbalkon zu rauchen. Viel zu lange mußte sie auf eine günstige Gelegenheit warten. Das steinerne Gesicht, mit dem sie Tee gekocht, Müsli in Schalen gefüllt, Obst geschnitten und selbst nur an ihrer Tasse genippt hatte, kennt die Familie schon. ‚Die Mama ist manchmal ein Morgenmuffel‘, bemerkte der fünfjährige Uli. Judith macht einen inbrünstigen Lungenzug und stellt sich vor, wie sich die bläulichen Schwaden mit ihrem Blut vermischen und zum Herzen ziehen, es einhüllen und ruhiger schlagen lassen. Die Gier ebbt langsam ab, sie hat wieder Augen und Ohren für ihre Umgebung und beginnt sich zu schämen“ (S. 7).
Die Sprache Hahns trägt in besonderem Maße dazu bei, dass die Leserinnen und Leser mehr über die Figuren wissen wollen sowie darüber, welchen Weg ihre Leben nehmen werden.
Des Weiteren leitet Anna Katharina Hahn ihre Erzählungen stets in media res ein. Ihre Geschichten gewähren den Leserinnen und Lesern einen flüchtigen aber eindringlichen Einblick mitten in das Leben von Menschen, die an einem kritischen Punkt in ihrer Existenz stehen. Dabei schildert die Autorin Interventionen, die die Figuren über ihre Situationen reflektieren lässt und gegebenenfalls zur Eigeninitiative oder zur Stagnation führen. Während der Teenager Marco Knopp in Kürzere Tage zum Beispiel aus seinem abusiven Elternhaus ausbricht und nach einem kriminellen Akt nach Berlin flüchtet, entschließt sich die verzweifelte Karrierefrau und Mutter Leonie Munk am Ende des selbigen Romans in ihrer glücklosen Ehe zu verweilen.
Sprachrepertoire orientiert sich am Protagonisten
"Es sind keine Rebellen, es sind die Leute, die die Arschkarte gezogen haben. Auch wenn sie es erst nicht merken", so skizziert Anna Katharina Hahn im Gespräch mit Literaturwelt.de ihre Helden. Es sind die Verlierer und Antihelden, die die sich in Frage stellen, sich prostituieren und für den Jägermeistervorrat Hunde entführen. „Ihre Mühseligen und Beladenen schleppen sich an Billigsupermärkten und Sonnenstudios vorbei, sie bemühen auch schon mal nach dem Mittagessen das Fernsehprogramm: Arbeitslose, alleinerziehende Mütter, Männer in Cordsamthosen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie trinken Bier aus Dosen und wenn es mal eine Party gibt, dann nicht, weil man nicht weiß, wohin mit seiner guten Laune.“
Der Sprachstil der Erzählungen richtet sich nach Personencharakteristika. Es handelt sich ausschließlich um Ich-ErzählerInnen in Hahns Kurzgeschichten, denen ganz bewusst die jeweilige Schicht- oder regionalspezifische Sprache in den Mund gelegt wird. Dabei wechselt es zwischen weiblichen und männlichen Erzähltypen hin und her. Besonders die männlichen Erzähler zeichnet Hahn auf sprachlicher Ebene besonders sorgfältig nach, so gelingt es ihr den Leser von einem Charakter schon auf stilistischer Seite zu überzeugen. Intime Details werden sowohl elliptisch als auch deskriptiv mit dem Leser geteilt und nach anfänglichem Zögern und möglicher Scheu gewöhnt sich das Rezeptionsverhalten schnell an den leicht derben Stil der Autorin.
Uneindeutigkeit der Geschlechter
Vor allem Hahns Kurzgeschichten zeichnen sich durch eine Geschlechterindifferenz sowie durch das Spiel mit Geschlechterbildern aus. Bedingt durch die Anonymität, die die Hauptfiguren der Kurzgeschichten oft begleitet, wird auch das Geschlecht der Figuren häufig erst im Laufe der Erzählung klar. In wenigen Kurzgeschichten – beispielsweise Sightseeing – bleibt es sogar komplett offen. Auch hier lässt sich feststellen, dass Hahn mit der Erwartung der Leserschaft spielt. Als LeserIn schließt man zu Beginn der Erzählung durch bestimmte Äußerungen oder charakterliche Beschreibungen oft schnell auf ein bestimmtes Geschlecht, um im Laufe der Geschichte festzustellen, dass man sich geirrt hat. Hahn nutzt das Schubladendenken, das eigentlich jedem innewohnt, und zeigt dem Leser so seine eigene Vorkategorisierung von ‚typisch männlich/typisch weiblich‘ auf.
Anders ist es teilweise in Hahns Romanen. In diesen herrscht eine relativ typische Rollenverteilung von Mann und Frau. Betrachtet man beispielsweise Familie Rau aus Am Schwarzen Berg so stellt man fest, dass der Mann als Arzt seine eigene Praxis führt und seine Frau für den Haushalt zuständig ist, außerdem unterstützt sie ihren Mann in seiner Praxis. Durch das Scheitern der Familienkonstellation – vor allem bedingt durch die Lebenskrise sowie den Selbstmord des Sohnes, aber auch durch die Affäre der Ehefrau – kritisiert Hahn diese spießbürgerliche Rollenverteilung.
Intertextualität
In den Texten von Anna Katharina Hahn stößt man immer wieder auf intertextuelle Verweise. Dabei handelt es sich beispielsweise um aktuelle Schlagzeilen aus Zeitungen, Themen aus Film und Fernsehen oder aber um mittelalterliche Motive und klassische Literatur. So kann man die Kurzgeschichte Ihr Tag als eine neuzeitliche Aufarbeitung des Melusinenstoffes interpretieren. In der ursprünglichen mittelalterlichen Sage heiratet die Melusine einen Ritter, unter der Bedingung, dass er sie an einem bestimmten Tag nicht sehen darf. An diesem Tag zeigt sich ihre wahre Gestalt: eine Wasserfee mit Schlangenleib. Die Melusine beschert dem Ritter Reichtum und Ansehen, bis der Ritter gegen ihre Regel verstößt. Hahn macht in ihrer Kurzgeschichte aus dem Ritter einen Schuhverkäufer, der eine Beziehung unter ähnlichen Bedingungen führt. Auch in der Kurzerzählung Kavaliersdelikt spielt Hahns mediävistischer Hintergrund eine zentrale Rolle. Hier wird die Erzählerin kurzerhand ins Mittelalter zurückversetzt, wodurch das mittelalterliche Leben sowie die Situation am Hof thematisiert wird.
Auch auf Charles Perraults Märchen Blaubart bezieht sich Anna Katharina Hahn in der Kurzgeschichte Kavaliersdelikt direkt. So überlegt die Erzählerin: „mit Blaubart, dem alten Franzosenknacker hätte ich es wunderbar in einer langen Ehe aushalten können und wäre irgendwann eines natürlichen Todes gestorben. Goldene Schlüssel zu verbotenen Gemächern mit blutschwimmenden Fußböden – das hat nicht den mindesten Reiz für mich“ (S. 43). Hier nutzt Hahn den Bezug auf Blaubart um die mangelnde Neugierde der Protagonistin zu verdeutlichen. Blaubarts Ehefrauen hingegen hatten diese Wissbegierde mit dem Tod bezahlen müssen.
Hahns generelles Interesse an Literatur zeigt sich auch in Paratexten, die sie gelegentlich ihren Kurzgeschichten voranstellt. So nutzt sie für Saft und Kraft ein Zitat aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht: „Die Sinnlichkeit hat ihn so weit gebracht. Beneidenswert, wer frei davon.“ – auch Affenadam beginnt mit einem Zitat: „Und mag den kühlen Tag nicht, Der hat ein Glasauge.“ Dieses stammt von Else Lasker-Schüler, einer bedeutenden deutsch-jüdischen Dichterin. Vor allem der jüdische Hintergrund wird später in der Kurzgeschichte thematisiert. Die Dichterin selbst wird auch innerhalb der Erzählung aufgegriffen, da sich die Studentin, die der Protagonist kennenlernt, in ihrem Studium ausführlich mit Lasker-Schüler auseinandersetzt.
Auch in Am Schwarzen Berg kommt einem deutschen Dichter eine tragende Bedeutung zu. So entwickelt sich die gemeinsame Suche von Peter und Emil nach verschollenen Dokumenten und Schriften Eduard Mörikes im Verlauf des Romans zu einer wahren Manie. Schnell wird klar, dass es sich bei dieser intensiven Recherche um wesentlich mehr als nur um einen bloßen Zeitvertreib handelt. Sie wird zum Gegenentwurf einer kapitalistischen und auf Nützlichkeit getrimmten Gesellschaft und entführt den sensiblen Peter in eine träumerische Welt der Poesie fernab von gesellschaftlichem Leistungsdruck. In Peters Gesamtentwicklung nehmen diese Forschungsreisen einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein. Durch sie erhält er seine antiautoritäre, leicht anarchistische Gesinnung, welche ihm später in seiner Ehe mit Mia zum Verhängnis wird. Hahn verknüpft hier die antizipierte Zartheit der zeitlosen Verskunst Mörikes mit der fiktiven Lebenseinstellung ihrer Protagonisten.
Durch die Intertextualität, die sich durch all ihre Werke zieht, zeigt sich Hahns germanistischer Hintergrund sehr deutlich.
‚Neuer Naturalismus‘
Eine wesentliche Komponente von Anna Katharina Hahns Schreibstil ist in ihrer peniblen Detailgenauigkeit zu erkennen. Durch den starken Gebrauch von Adjektiven evoziert sie eine atmosphärische Dichte, welche die geschilderten Gedankengänge oder Handlungswendungen bis in die letzte Faser erfassen und durchdringen. Selbst scheinbar nebensächliche Informationen werden in einer ungewohnten Ausführlichkeit zelebriert. Dieser protokollarische Stil ist jedoch keineswegs als eine bloße Abbildung der Wirklichkeit oder als eine uninspirierte Auflistung von Kleinigkeiten zu verstehen. Vielmehr beweist Hahn durch ihren naturalistischen Stil einen psychologischen Scharfsinn, der die beschriebene Situation in ihrer Gänze erfahrbar macht. Irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass scheinbar Banales und Belangloses durch umfangreiche Betrachtungen ausgeleuchtet werden und vermeintlich wichtige Informationen (Name, Geschlecht, situativer Kontext) über weite Strecken in einem ungelösten Schwebezustand verbleiben. Hahn fixiert Wirklichkeit so, dass sich die Aufmerksamkeit auf die versteckten Nischen unseres alltäglichen Erfahrungsraums verlagert. Es ist die Präsentation einer alternativen Wahrheit, die sich mit der konventionellen Rezeptionshaltung beißt. Die Präzision macht auch zu keinem Zeitpunkt vor Momenten des Verfalls und des Ekels (Erbrochenes, Wunden, Ejakulat, Fäkalien) halt. Hahns schonungslose Detailbeschreibungen dienen häufig dazu moralische Indolenz und soziale Missstände innerhalb der Gesellschaft aufzudecken.
Der vermehrte Gebrauch von Parataxen und elliptisch verkürzten Satzfragmenten (besonders in ihren Kurzgeschichten) erzeugt hingegen einen interessanten Wechsel von Statik und Dynamik, bei der sich die Behäbigkeit innerer Monologe mit einer rasant vorantreibenden Syntax kombiniert.
Pressespiegel
Anna Katharina Hahns Veröffentlichungen haben in der Presse unterschiedliche Resonanz erhalten. Während ihre beiden Romane Kürzere Tage und Am Schwarzen Berg sehr häufig besprochen wurden, erhielten ihre Erzählbände Sommerloch und Kavaliersdelikt kaum Beachtung.
Sommerloch
Anna Katharina Hahns Debüt mit dem Titel Sommerloch wurde von der Presse spärlich, doch durchaus positiv rezipiert. Die Rezensentin Agnes Hüfner findet Lob für das Erstlingswerk der Autorin (Süddeutsche Zeitung, 18.10.2000). Besonders gefallen ihr die Erzählungen, die „mit Tempo und Witz, Stakkato, Jargon und schrägen Bildern“ daherkommen. Außerdem merkt sie deutlich positiv an, dass Hahn mit ihrem Stil „ihre Geschichten in überraschende, manchmal hanebüchene Schlusspointen“ treibe. Es sei bezeichnend, dass die Autorin hierbei ihren eigenen Ton finde und nicht „einfach große literarische Vorbilder“ kopiere. Auch Ulrich Noller (taz, 18.11.2000) findet lobende Worte für ihre Erzählungen. Ihre „eigenwilligen Erzählungen“ seien „exakt und lakonisch im Tonfall, stilsicher in den Bildern, spöttisch und mitunter durchaus böswillig im Gestus“. Auch versetze sich Hahn in „widerborstige Charaktere“, welche sie aus der Ich-Perspektive „durchaus überzeugend und glaubhaft“ darstellt. Ihr „subjektiver Blick“ erlaube es ihr „relativ unverfälscht und radikal wiederzugeben, was sie erlebt, gehört, beobachtet hat“. Auf eine „unauffällig-verschmitzte Weise“ greife sie literarisch weit über die „schwerangesagte Gebrauchsprosa“ hinaus. Und doch erzähle Hahn „auffallend oft von etwas seltsamen, im Grunde aber stinknormalen sexuellen Fantasien“. Besonders sei dabei die „ausgeklügelte fiktionale Substanz“ ihrer Texte. Aus Nollers Sicht dürfe Hahn nicht als Popliteratin missverstanden werden und so vergleicht er ihren Stil mit den „schnörkellosen Storys von Karen Duve“. Noller schließt mit der Prognose, dass man von der Debütantin „im Laufe der nächsten Zeit sicher noch einiges mehr zu erwarten“ habe.
Kavaliersdelikt
Der Erzählband Kavaliersdelikt blieb von der Presse weitestgehend unbeachtet. In einer von Florian Felix Weyh (Deutschlandfunk, 25.11.2004) verfassten Kritik wird angeführt, dass Anna Katharina Hahn zwar „durchaus etwas“ kann. Es sei für „Leser, Kritik und den Buchmarkt“ allerdings schwer, sie literarisch einzuordnen, da sie in ihren Erzählbänden eine große Vielfalt an Topoi behandelt. Sie begibt sich an „verschiedenste Orte und fördert dort groteske Abgründe zutage“. Alle acht Erzählungen seien daher „ein bisschen unheimlich und schauerlich“. Weyh meint, dass der Großteil ihrer Erzählungen zwar „technisches Können“ zeige, allerdings kein „persönliches Talent“. Eine Ausnahme bilden seiner Meinung nach die Kurzgeschichten, die im Schwäbischen (beispielsweise Ermislauh) spielen, wo Hahn lebt und arbeitet. In diesen Erzählungen würde sich eine „spezifische Stärke der Autorin“ zeigen. Während die ‚Metropolen‘-Erzählungen eher „zum Klischee“ neigen, zeigen die Provinzgeschichten „feine Nuancierungen“. Die dargestellte „Kehrseite des süddeutschen Erfolgsmodells“ sei laut Weyh dabei viel interessanter als die „geläufige Schilderung von Dauerstudenten und Szenekneipenabhängern in der Hauptstadt“.
Kürzere Tage
Anna Katharina Hahns Debütroman Kürzere Tage wurde von der Presse größtenteils positiv rezipiert. Lediglich Jürgen Bergers (Die Tageszeitung, 25.07.2009) kritisiert Hahns Roman. So klingt seine Rezension zwar interessiert, aber nicht wirklich überzeugt. Sehr stilsicher findet er die Milieus in Szene gesetzt. Allerdings kritisiert er die Passagen, in denen Hahn zu sehr in „detailgetreuen Atmosphären verweilt“.
Neben dieser kritischen Stimme stößt der Roman in anderen Rezensionen jedoch auf großen Zuspruch. Dabei wird besonders die Erzählsprache der Autorin hervorgehoben sowie ihre eindringliche Beobachtungsgabe. So empfiehlt Gisa Funck (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.2009) die fesselnde und in seiner Alltäglichkeit äußerst erschreckende Lektüre. Meike Feßmann (Süddeutsche Zeitung, 17.03.2009) staunt darüber, dass die von Hahn gezeigte Einsicht in die Innenwelten der Figuren nie aufgesetzt oder schematisch wirkt. Die Autorin, so Feßmann, erzählt rasant und liebevoll, formuliert treffend und sarkastisch und weitet dabei ein „Familienkammerspiel“ zu „Welttheater auf engstem Raum“ aus. Den Lobgesang auf den Roman führt der Rezensent Paul Jandl (Neue Zürcher Zeitung, 15.04.2009) weiter. Positiv fällt Jandl Hahns Fähigkeit auf, ihre Protagonisten akribisch zu analysieren und „Milieus bis in die kleinsten Gesten“ hinein zu beschreiben. Ebenso imponiert ihm die trockene und präzise Sprache der Autorin. In Anbetracht von Hahns raffinierter Beobachtungsgabe ist der Rezensent dann aber auch etwas enttäuscht von dem Ende, das für seinen Geschmack „vergleichsweise plakativ und pointenhaft“ daherkommt. Lobende Worte gibt es auch von Ina Hartwig (Frankfurter Rundschau, 17.04.2009), die Hahns realitätsnahen Stil als „verteufelt liebevoll“ bezeichnet. Das Gegenwartsporträt aus dem Stuttgarter Mittelstandsmilieu, das ebenfalls die Migrationsproblematik mit einbezieht, trifft für die Rezensentin ins Schwarze. Sie bewundert im Besonderen Hahns Einfühlsamkeit, Beobachtungsgabe und kunstvolle Erzählweise. Dementsprechend zeigt sie sich von der dargestellten Gewalteskalation ergriffen. Anstelle von Sentimentalitäten werden die LeserInnen mit psychoanalytischer Härte und „stachelige[n] Wahrheiten“ – wie beispielsweise Selbstbetrug – konfrontiert. Ursula März (Die Zeit, 07.08.2009) schließlich lobt den Roman für seine Genauigkeit, Plausibilität und „beißende Ironie“. Ebenso erwähnt sie die „unerhörte“ Menschen- und Sozialkenntnis der Autorin positiv, die in dem Gesellschaftsroman zum Ausdruck kommt. Selten werde das neue Bürgertum, das seine „Kulturverluste mit einem Katalog minimalistischer Verhaltens- und Konsumkonzepte“ kompensiere, so genau beschrieben und verhandelt. Abgesehen von den wirklichkeitsnahen Porträts schätzt die Rezensentin an diesem Roman auch die knappe Erzählökonomie, in der sie die Hektik unserer Zeit sich spiegeln sieht.
Am Schwarzen Berg
Anna Katharina Hahns 2012 erschienener Roman Am Schwarzen Berg wird von der Presse überwiegend positiv aufgenommen. So rühmt Patrick Bahners (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.2012) Hahns jüngstes Werk als einen faszinierenden „Roman der Verwahrlosung“, bei dem durch die Verwendung stilistischer „Rückblende(n)“ und das Aufgreifen „zeitkritischer Topoi“ ein kritischer Panoramablick auf die „bürgerliche(n) Probleme des ungelebten Lebens“ ermöglicht wird. Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 10.03.2012) bezeichnet den Roman als einen „treffsicheren Einblick in das Stuttgarter Klima“, wobei die Autorin Hahn als „Seismograf für soziale Veränderungen“ fungiert. Martin Zing (Neue Zürcher Zeitung, 10.03.2012) versteht die akribische Anhäufung nebensächlicher Details in Kombination mit dem „kühl stellenden Erzählton“ als ein „Wechselbad der Gefühle“ im positiven Sinne.
Einen Verriss erfährt Am Schwarzen Berg jedoch durch die kompromisslose Kritik von Ulrich Greiner (Die Zeit, 12.03.2012.). Greiners vernichtendes Resümee tituliert den Roman als ein „ausgesprochen tristes Werk“, bei dem die sprachliche Gestaltung äußerst „stumpf“ erscheint und die „protokollarischen Abbildung(en) des Alltags“ belanglos, langweilig und ermüdend seien.
Ina Hartwig (Süddeutsche Zeitung, 13.03.2012.) lobt hingegen das Wechselspiel von „Empathie und Sarkasmus“, welches sich in einer melancholischen und nahezu romantischen Atmosphäre entlädt. Ihre Rezension stimmt mit der Bewertung Greiners keineswegs überein. Während auch Julia Schröder (Stuttgarter Zeitung, 19.03.2012) die „ungemein detailfreudig“ und „atmosphärisch dicht“ erzählte Handlung als durchweg gelungen auffasst, klingen aber auch andere Rezensenten in Greiners kritischen Tenor mit ein. So betont Bahners in seiner ansonsten positiv gestimmten Kritik, dass sich die naturalistische Detailgenauigkeit Hahns „fast unerträglich präzise“ entfaltet. Auch Wickmann (Literaturkritik.de, 06.06.2012) verortet die stilistischen Reihungen von Adjektiven an der „Grenze des Erträglichen“ und wirft Hahn obendrein eine „Verzettelung“ in narrative „Belanglosigkeiten“ vor.
Andererseits bewundert Wickmann jedoch auch die zahlreichen sowie stimmig komponierten „Rückblenden“ innerhalb der Romannarratologie und lobt deren „psychologischen(m) Scharfsinn“. Vor allem in der „Ausarbeitung ihrer Hauptcharaktere“ liegt für Wickmann die größte Stärke von Hahns neuestem Roman. Diese Rezension hält sich somit in Bezug auf negative und positive Kritikpunkte die Waage. Trotz einiger harschen und negativen Kritiken an Hahns neonaturalistischer Schreibweise, fallen die Gesamtintentionen der Rezensionen (mit Ausnahme der Ulrich Greiners) durchaus positiv aus. Die Rezensenten sind besonders von dem gesellschaftskritischen Potential Hahns fasziniert und heben dabei immer wieder ihr feines Gespür für soziale sowie kleinbürgerliche Missstände hervor.
Forschungsspiegel
Nach dem postmodernen Erzählen
Von der Forschung blieb Anna Katharina Hahn bislang nahezu unbeachtet. Einzig Alexandra Tischel widmet sich Hahns Roman Am Schwarzen Berg unter dem Titel Erzählen nach der Postmoderne – Intertextualität im zeitgenössischen Roman. Dabei betrachtet sie einerseits den Roman von Hahn, andererseits untersucht sie Christian Krachts Roman Imperium.
Tischel fragt, ob Hahns Roman noch als ‚postmodern‘ zu lesen sei oder ob sich in der Gegenwartsliteratur nicht ein Erzählen jenseits postmoderner Erzählverfahren herausbilde. Um ihre Überlegungen zu fundieren, rekapituliert Tischel zunächst die Merkmale, die die Literatur der Postmoderne kennzeichnet. Zu diesen gehören die „Einebnung der Grenze von Hoch- und Populärkultur“ (Tischel, S. 162), die sich inhaltlich als „Rückgriff auf populäre Genres wie den Kriminal- und den historischen Roman“ (ebd.) und formal als „Rückkehr zu realistischen, linearen und auktorialen Erzählverfahren“ (ebd.) auszeichnet. Hinzu kommt eine „hohe Intertextualitätsdichte“, die sich durch die Begriffe „Parodie, Plagiat und Ironie“ (ebd., S. 166) charakterisieren lässt. Außerdem führt Tischel an, dass postmoderne Texte verstärkt eine „Selbstreferenz“ (ebd.), „Fiktionsbetonung“ (ebd.) und „Illusionsdurchbrechung“ (ebd.) aufweisen.
Im Anschluss an diese Ausführungen formuliert Tischel ihre These, dass „die postmodernen Erzählverfahren in die Gegenwartsliteratur diffundiert und gleichsam in die literarische Zirkulation aufgenommen worden sind“ (ebd., S. 167). Anhand der Romane Am Schwarzen Berg sowie Imperium versucht sie nun aufzuzeigen, dass Merkmale des postmodernen Schreibens auch in der Gegenwart Verwendung finden.
Am Schwarzen Berg ist seiner Struktur nach gekennzeichnet durch ein multiperspektives Erzählen, zahlreiche Analepsen sowie durchgehende intertextuelle Verweise auf Eduard Mörike (vgl. ebd., S. 168). Sowohl die Fokalisierung als auch die Multiperspektivität haben dabei einen eher „modernen, als postmodernen Index“, da das „lineare Erzählen vielfach auf[gebrochen]“ (ebd., S .169) wird und Hahn nicht mit der für die Postmoderne typischen Nullfokalisierung arbeite. Auch das realistische Erzählen, das einer „Umweltreferenz“ (ebd.) zuzuordnen ist, widerspricht dem „selbstreferenziellen Verfahren der Postmoderne“ (ebd.).
Zuletzt widmet sich Tischel die Intertextualität in Hahns Roman, die sich einerseits durch die Zitation verschiedener Gedichte Mörikes finden lässt, andererseits in der Handlung durch die „fiktive Mörike-Biographie“ (ebd., S. 170) gegeben ist. Laut Tischel handelt es sich bei dieser Intertextualität jedoch um eine „markierte, intendierte und begrenzte“ (ebd., S. 172), was der Postmoderne, für die eine ‚globale‘ Intertextualität kennzeichnend ist, nicht entspricht. So werden lyrische Prätexte explizit zitiert und lassen sich sinnvoll auf den Roman beziehen; es findet also kein postmodernes Spiel mit Bedeutungsvielfalt statt, sondern Hahn vereindeutigt die Lesart des Romans durch die literarischen Verweise.
Zusammenfassend könne man daher sagen, dass man bei Hahn „Rückgriffe auf typisch moderne Erzählverfahren erkennen“ (ebd., S. 173) kann, wobei besonders das „multiperspektivische Erzählen und die Tendenz zu Rückwendungen zu nennen“ (ebd.) sind. Aber auch die „Intertextualität wird modern, zumindest aber unironisch gebraucht“ (ebd.). Hahn schlage somit einen „Bogen über die Postmoderne hinweg zurück in die literarische Moderne“ (ebd.).