Judith Hermann
Charakteristika des Werks
Sommerhaus, später
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Sommerhaus, später [ ↑ ]
Sommerhaus, später ist Judith Hermanns erster Erzählband und zugleich ihre erste literarische Publikation. Der Band umfasst neun Erzählungen, die an verschiedenen Orten spielen, meist jedoch in Berlin und Umgebung. Die Inhalte der Erzählungen sind ebenso unterschiedlich, den Figuren ist aber ein ähnliches Lebensgefühl und wenig verbale Kommunikation zu ihren Mitmenschen gemein. Die Protagonisten gestalten ihr Leben selten aktiv selbst und sind stattdessen Zuschauer und Statisten ihrer eigenen Geschichte. So sind auch die Erzählungen geprägt von dem Warten auf und der gleichzeitigen Angst vor Veränderung.
Rote Korallen
Die Erzählung handelt von dem Verlust eines Armbandes und des Geliebten der Protagonistin durch ihren Besuch bei einem Therapeuten. Die Ich-Erzählerin berichtet von der Vergangenheit ihrer Urgroßmutter in Russland, die von einem ihrer russischen Verehrer ein rotes Korallenarmband geschenkt bekommt, das später die Ich-Erzählerin besitzt. Als ihr Urgroßvater davon erfährt, fordert er den Verehrer zu einem Duell heraus, bei dem er aber sein Leben verliert. Als die Enkel des loyalen russischen Begleiters ihrer Urgroßmutter sterben, lernt die Ich-Erzählerin ihren Geliebten kennen, den Sohn der Verstorbenen und Urenkel des besten Freundes ihrer Urgroßmutter. Sie verharrt tatenlos zahlreiche Tage und Wochen mit ihrem Geliebten, den sie mit einem Fisch vergleicht, in dessen Zimmer. Da die Erzählerin die Geschichten ihrer Urgroßmutter irgendjemandem erzählen möchte, ihr Geliebter davon aber nichts wissen will, geht sie gegen den Wunsch ihres Geliebten zu dessen Therapeuten. Nachdem dort das Korallenarmband, das mit ihrer Vergangenheit konnotiert ist, kaputt gegangen ist, sammelt die Erzählerin die Korallenstücke auf und wirft sie auf den Therapeuten. Als sie in das Zimmer ihres Geliebten zurückkehrt, liegt dieser leblos auf dem Bett: „Der trieb, ich wußte das, mit dem bleichen Bauch nach oben auf dem wassernassen Bett. […] ich sagte: ,War das die Geschichte, die ich erzählen wollte', aber mein Geliebter konnte mich nicht mehr hören“ (S. 29). Das Festhalten an der familiären Vorgeschichte und ihre Definition der eigenen Identität führen in dieser Geschichte für die Protagonistin zu dem Verlust sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart.
Hurrikan (something farewell)
Diese Erzählung handelt von dem gedanklichen Spiel eines anderen Lebens und von ausbleibenden Ereignissen. Die beiden deutschen Freundinnen Nora und Christine sind auf Jamaika, um Noras Exfreund Kaspar zu besuchen, der dorthin ausgewandert ist. Kaspars Drogen konsumierender Freund Cat wohnt ebenfalls einige Tage lang bei Kaspar und den Mädchen. Nora und Christine spielen dort ein Spiel, das heißt: „Sich-so-ein-Leben-vorstellen“ (S. 31). Es besteht darin, sich auszumalen, wie das Leben wäre, wenn sie auf Jamaika wohnen würden und dort einen Mann und Kinder hätten. Während die vier dort eher ruhige Tage verbringen, sind im Radio immer wieder Hurrikan-Warnungen zu hören. Obgleich Cat verheiratet ist und ein Kind hat, versucht er, sich Christine anzunähern, während Kaspar wieder mit Nora zusammen sein möchte. Die Tage sind geprägt von dem Warten auf den Hurrikan, den sich die beiden Mädchen herbeizusehnen scheinen. An dem Abend, bevor Christine nach Deutschland zurückkehrt, küsst sie Cat und stellt ihm ein gemeinsames Leben in Aussicht, obwohl sie keine Wiederkehr auf die Insel beabsichtigt. Wie Christine später in einem Brief von Nora erfährt, ist der Hurrikan an ihnen vorüber gezogen. Sowohl das Spiel der beiden Freundinnen als auch die Hurrikan-Warnungen ziehen keine Konsequenzen nach sich: Das Warten zieht sich durch die gesamte Erzählung, bewirkt aber keine Änderungen im Leben der Figuren. Auch das Vorüberziehen des Hurrikans veranschaulicht das Ausbleiben einer Neugestaltung im Leben der ProtagonistInnen.
Sonja
Die Erzählung handelt von einem Künstler, der sich zwischen zwei Frauen entscheiden muss, die für ihn jeweils Sicherheit oder Veränderung bedeuten. Der Ich-Erzähler, ein Künstler, begegnet einer Frau namens Sonja, die seiner Aussage nach „biegsam“ (S. 55) und „überhaupt nicht schön“ (S. 56) ist. Das „biegsam“ bezieht sich auf ihr Wesen. Der Erzähler hat eine Fernbeziehung zu einer Frau namens Verena, trifft sich aber dennoch oft mit Sonja, bis sie sich schließlich täglich in seiner Wohnung aufhält. Sie verhält sich ruhig, redet wenig und beobachtet den Erzähler bei seiner Arbeit. Als Verena den Erzähler besucht, gehen die beiden ins Freibad und begegnen dort Sonja, die den Erzähler daraufhin auffordert, zwischen sich und Verena zu wählen. Er sagt ihr, er wolle sie weiterhin sehen, sie verbringen den Sommer miteinander, verbleiben jedoch in einer rein platonischen Beziehung, die dennoch intensiv ist. Nachdem Sonja dem Erzähler gedroht hat sich umzubringen, willigt er ein, sie irgendwann zu heiraten. Als Sonja für einen Monat verreist, erkennt der Erzähler, dass er sie liebt und dennoch Angst vor ihrer Wiederkehr hat. Er fährt zu Verena und macht ihr einen Heiratsantrag, den diese annimmt. Als er Sonja davon erzählt, verweist diese ihn ihrer Wohnung. Auf folgende Anrufe seitens des Erzählers reagiert Sonja nicht, und nach einigen Wochen erfährt der Erzähler, dass Sonja umgezogen und damit endgültig aus seinem Leben verschwunden ist.
Ende von Etwas
In dieser Erzählung, die im Titel auf Ernest Hemingways short story The End of Something anspielt, erzählt die Geschichte einer Enkelin, die sich damit konfrontiert sieht, dass sich ihre Großmutter das Leben genommen hat. Die Geschichte von Sophie bildet die Binnenerzählung, die gerahmt ist von einer Cafésituation, in der der Ich-Erzähler/die Ich-Erzählerin zum Zuhörer der Geschichte wird. Während es draußen langsam dunkel wird, erzählt Sophie von den letzten Jahren ihrer Großmutter. Sie beschreibt, wie die alte, fast bettlägerige Frau von der Familie unter anderem mit Zigaretten und reichlich Schnaps versorgt wurde. Obgleich die Familie die Schnapsflaschen regelmäßig versteckt, findet die Großmutter sie jedes Mal. In dem letzten Jahr verdächtigt die Großmutter alle Menschen in ihrer Umgebung, sie zu bestehlen. Sophie erinnert sich an einige Geschichten und Anekdoten, die die Großmutter ihr erzählt hat. Besonders wichtig war der Großmutter in den letzten Tagen ein Teelicht, das auf ihrem Nachttisch brannte. Eines Tages wird Sophies Vater angerufen, er hört aber am Ende der Leitung nur ein Knacken und Prasseln. Als er die Wohnung der Großmutter erreicht, sieht er sie in der Mitte des Zimmers in Flammen stehen, während sie tanzt. Sie hat sich offensichtlich selbst angezündet und damit ihrem Leben ein Ende gesetzt. So wird sie als eine der wenigen Figuren in Hermanns Erzählband selbst aktiv und trifft ihre letzte, wenn auch äußerst destruktive Entscheidung selbst. Während Sophies Bericht spricht der Ich-Erzähler/die Ich-Erzählerin kein einziges Wort, sodass Sophies Erzählung ohne den Rahmen eines Dialogs für sich allein steht. Da auch das Geschlecht des Erzählers/der Erzählerin ungeklärt bleibt und auch sonst keinen Einfluss auf die Geschichte nimmt, wirkt er/sie wie ein undefiniertes Publikum von Sophies Erzählung.
Bali-Frau
Die Erzählung handelt von drei Freunden, die nach einer Feier in einer Wohnung redend die Nacht verbringen. Die Ich-Erzählerin konsumiert gemeinsam mit ihrer Freundin Christiane und einer weiteren Figur, Markus Werner, Drogen. Die drei wollen auf das Premierenfest eines verheirateten Regisseurs gehen, in den sich Christiane verliebt hat. Die Erzählerin schwankt zwischen den Möglichkeiten, mit zu dieser Feier zu gehen oder zu einer dem Leser unbekannten (mit „Du“ angesprochenen) Person, die ihr Exfreund zu sein scheint. Sie entscheidet sich für das Fest. Dort versucht Christiane tanzend, den Regisseur zu verführen, als sich eine andere Frau zu ihr gesellt und ebenfalls tanzt, die sich als die aus Bali stammende Frau des Regisseurs erweist. „Sie trug ein rotes Kleid, und wenn sie sich drehte, konnte man ihren nackten Hintern sehen und ihre Scham. Sie drehte sich unentwegt, und ihre kleinen Hände flatterten wie Vögel um sie herum, sie tanzte barfuß, und ihr Tanz war ganz anders als Christianes Tanz“ (S. 102f.). Auf Christianes Anweisung hin begeben sich die Erzählerin, Christiane und Markus Werner später mit der Frau des Regisseurs in ein Taxi und fahren zu der Wohnung der Frau. Dort verbringen die vier die restliche Nacht in der Küche, während der Regisseur in einem Nebenzimmer schläft. Die unerwartete Intimität in der Wohnung des Regisseurs und seiner Frau ist Christiane unangenehm. Als es Morgen wird, verlassen Christiane und die Ich-Erzählerin das Haus, während Markus Werner auf der Essbank eingeschlafen ist und von der Frau des Regisseurs zugedeckt wird.
Hunter-Tompson-Musik
Diese Erzählung handelt von Hunter Tompson, einem älteren Mann, dessen Alltag kurzzeitig durcheinander gerät. Mit dem Namen Hunter Tompson verweist Hermann keineswegs auf den amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson, der sich 2005 das Leben genommen hat. Hermanns Figur ist ein alter, einsamer Mann, der dauerhaft in einem Hotel wohnt und gerne klassische Musik hört. Nachdem der Bewohner des gegenüberliegenden Zimmers gestorben ist, zieht dort ein junges Mädchen ein, das Tompsons gewohnten Tagesablauf durcheinander bringt. Sie lädt ihn zum Essen ein und als Tompson erfährt, dass ihr Kassettenrekorder gestohlen wurde, kauft er ihr einen neuen. Tompson ist sehr aufgeregt; er bereitet sich lange auf das Treffen vor und zieht sogar einen Anzug an – das Mädchen erscheint allerdings nicht zum verabredeten Zeitpunkt. Als sie viel zu spät an seine Zimmertür klopft und um Verzeihung bittet, schiebt Tompson wortlos einen Schuhkarton in den Flur, der all seine Tonbandaufnahmen enthält, und schließt die Tür wieder. Das Mädchen fängt daraufhin an zu weinen. Tompson verweigert ihr ein Gespräch. Als sie ihn schließlich bittet, ihr eine einzige Frage zu beantworten, nämlich warum er in dem Hotel wohne, antwortet Tompson, dass er so fortgehen könne, wann immer er wolle. Die Frage des Mädchens, wohin er denn gehen wolle, beantwortet er allerdings nicht, da er diese für irrelevant hält. Diese Tatsache deutet gemeinsam mit dem Stress, den er mit dem Verlassen seines Zimmers empfindet, darauf hin, dass ein Weggehen und damit eine Änderung in seinem Leben für ihn nicht in Frage kommen. Er genießt die Ordnung seines Alltags und kann mit Abweichungen nur schwer umgehen.
Sommerhaus, später
Diese Erzählung handelt von dem Taxifahrer Stein, der eine frühere Freundin einlädt, ihr Leben mit ihm zu verbringen. Stein ruft die Ich-Erzählerin an und erzählt ihr von einem Sommerhaus, das er sich gekauft hat. Er holt sie ab, um es ihr zu zeigen. Während der Fahrt erinnert sich die Erzählerin zurück an die Zeit, in der Stein zu ihrer Clique stieß, die Drogen konsumierte und sich in erster Linie amüsierte. Stein hatte abwechselnd bei einem von ihnen gewohnt und mit jedem geschlafen. Obwohl oder vielleicht gerade weil er sich mehr als alle anderen bemühte, ein Teil von ihnen zu sein, gehörte er dennoch nie wirklich dazu. Auf den zahlreichen gemeinsamen Taxifahrten hatten Stein und die Erzählerin stets Musik gehört: „Stein hatte für jede Strecke eine andere Musik, Ween für die Landstraßen, Bowie für die Innenstadt, Bach für die Alleen, Trans-AM nur für die Autobahn“ (S. 142). Vor dem Anruf hatten Stein und die Erzählerin schon über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Kontakt mehr gehabt. Das gekaufte Sommerhaus erweist sich als renovierungsbedürftig. Stein möchte dort gemeinsam mit der Erzählerin sein zukünftiges Leben verbringen und gibt ihr daher die Schlüssel. Sie lässt seine Bitte unbeantwortet. Nachdem die Erzählerin wieder in ihrer Wohnung ist, informiert Stein sie beinahe täglich mit Postkarten über den jeweils aktuellen Stand der Renovierung. Er schreibt auch von einer gemeinsamen Zukunft, ohne sie jedoch explizit aufzufordern, dort einzuziehen. Die Erzählerin beschließt, auf diese Aufforderung zu warten, und antwortet auf seine Postkarten nicht. Eines Tages erhält sie einen Brief von ihm mit einem Zeitungsartikel darin, der besagt, dass das Sommerhaus abgebrannt sei. Sie legt ihn mit dem Gedanken „später“ zu den übrigen Karten. Der Wunsch von Stein, „dazuzugehören“ und ein traditionelles Leben mit seiner Freundin in einem Haus zu verbringen, wird von der Protagonistin zwar wahrgenommen, aber nicht geteilt. Auch in dieser Erzählung spielt das Warten eine große Rolle, da die Erzählerin auf eine explizite Aufforderung Steins wartet, zu ihm zu ziehen. Selbst als Stein ihre Passivität begreift und seinen Traum schließlich aufgibt, handelt sie nicht, sondern lässt die neue Entwicklung erneut an sich vorüber gehen.
Camera Obscura
Die Geschichte erzählt von der jungen Frau Marie, die letztlich nicht weiß, was sie will, und die vor allem nicht in ihrem Körper beheimatet ist und sich daher in eine für sie unangenehme Richtung treiben lässt. Marie nähert sich an einen Künstler an, den sie nicht attraktiv findet und der wesentlich kleiner ist als sie selbst. Sie weiß selbst nicht mit Sicherheit, was sie von ihm will. Nach mehreren Treffen sagt ihr der Künstler, dass er sie liebe, Marie antwortet jedoch nur mit „Ja“ (S. 160). Der Künstler scheint nicht authentisch zu sein, er kann nicht lächeln und erinnert Marie an ein „unheimliches Äffchen“ (S. 161). Nachdem der Künstler sie abgewiesen hat, fährt Marie in seine Wohnung und er zeigt ihr die Webcam seines Computers, die als „schwarzglänzendes Auge“ (S. 163) beschrieben wird. Das Bild ihrer selbst auf dem Computer empfindet Marie als sehr unangenehm. Als der Künstler anfängt, sie zu küssen und auszuziehen, beobachtet sich Marie – „[a]nstatt sich selbst, wie sonst immer, von oben aus einer Vogelperspektive zu sehen“ (S. 165) – teilnahmslos und passiv beim Sexualakt auf dem Bildschirm, weiter kann man von seinem eigenen Körperempfinden nicht entfernt sein.
Diesseits der Oder
Die Erzählung handelt von Koberling, dessen geordnetes Leben ins Wanken gerät, als er unerwarteten Besuch bekommt. Koberling wohnt mit seiner Frau Constanze und seinem Sohn Max in einem abseits gelegenen Haus in der Nähe der Oder. Als die Tochter eines ehemaligen Freundes, Anna, und ihr Drogen konsumierender Freund Tom einige Tage bei ihnen übernachten wollen, wird sein Alltag gestört. Koberling erinnert sich an die Zeit, in der Anna noch ein Kind war und wünscht sich einen ruhigen und geordneten Tagesablauf ohne unvorhersehbare Überraschungen. Während seine Frau sich über den Besuch freut und sich mit den Gästen unterhält, zieht sich Koberling zurück. Als er am nächsten Morgen erwacht, steht Anna in seinem Schlafzimmer, was Koberling als unverschämten Eingriff in seine Privatsphäre empfindet. Seine Frau ist mit Annas Freund und ihrem Sohn einkaufen und Koberling soll Anna das Oderbruch zeigen. Während er noch wach im Bett liegt, erinnert er sich zurück an die Zeit, in der er Constanze kennen gelernt hat. Er bezeichnet die Zeit als „[e]ine Zeit, die ausgefüllt, besiegt, zunichte gemacht werden mußte“ (S. 178) und Constanze als „[e]inen Schutz und eine Resignation“ (S. 178). Während des Spaziergangs mit Anna fühlt sich Koberling aufgrund der Entfernung zum „sicheren“ Haus und der Anwesenheit einer anderen Person unwohl und überfordert. Anna fragt ihn, weshalb sein Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen ist, und er gibt ihr zu verstehen, dass es keinen speziellen Anlass gab. Am Abend äußert er Constanze gegenüber den Wunsch, dass sich Max später nicht so benehmen soll wie Anna. Als er am nächsten Morgen erwacht, sind Anna und Tom bereits wieder gefahren. Die Geschichte zeigt einen Mann, dessen Alltag so festgefahren ist, dass jede Abweichung in ihm ein Gefühl der Panik hervorruft. Dieses Unwohlsein bezieht sich auch auf die Kommunikation mit Menschen außerhalb seiner Familie, welche er als sehr unangenehm empfindet.
Thematische Aspekte zu Sommerhaus, später [ ↑ ]
Tod, Abschied
Ein stets präsenter Themenkomplex in Judith Hermanns Texten ist der Tod und das Abschiednehmen der Hinterbliebenen. Die Figuren sterben durch Krankheit, Erschöpfung und Suizid.
Dieser Aspekt ist unter anderem in Sommerhaus, später zugegen. So setzt sich die Großmutter von Sophie in der Erzählung Ende von Etwas selbst absichtlich in Brand und „ha[t], so brennend, tatsächlich getanzt“ (S. 96). Der Tanz verdeutlicht ihre Erleichterung, nach langer Krankheit in eigener Entscheidung ihrem Leben ein Ende gesetzt zu haben. Des Weiteren findet sich in Sommerhaus, später aber auch der Abschied in der Form der Vergangenheit und des innerlichen Abschließens der Figuren mit und Abspaltung von ihrem Leben. „Anstatt sich selbst, wie sonst immer, von oben aus einer Art Vogelperspektive zu sehen, sieht sie auf den Bildschirm, auf diese schweigende, fremde Verknotung zweier Menschen, und das ist seltsam.“ (S. 165)
Kommunikation – das Ungesagte
Die Kommunikation der Figuren in Hermanns Roman und Erzählbänden ist geprägt durch Schweigen und Ungesagtes. Man kann sie als verhinderte Kommunikation bezeichnen. Hermann verwendet die Sprache in ihren Werken nicht nur als künstlerisches, sondern auch als soziales Ausdrucksmittel, wobei jedoch die Kommunikation der ProtagonistInnen sowohl im Roman als auch in den Erzählbänden als problematisch bewertet werden kann. So steht z.B. in Sommerhaus, später in der Erzählung Rote Korallen die Sprachlosigkeit des Geliebten der Ich-Erzählerin im Fokus der Geschichte: „Mein Geliebter stieß beim Sprechen mit der Zunge an, er sprach schwerfällig und lallend, als sei er betrunken“ (S. 23). Die Ich-Erzählerin beschreibt die gemeinsamen Tage als „still und wie unter Wasser“ (S. 22), beschreibt ihren Geliebten als Fisch und deutet damit auf eine stumme bzw. verhinderte Kommunikation zwischen dem Paar hin. Die Erzählung Rote Korallen ist durchweg gekennzeichnet von der Unmöglichkeit zu kommunizieren – vom Ungesagten das zwischen den Protagonisten herrscht und dort wo sie stattfindet, funktioniert sie nicht mehr einwandfrei.
Ebenfalls steht die Kommunikation im Kontext der Liebesbeziehungen in Hermanns Texten im Fokus. So schafft es etwa der Protagonist in der Erzählung Sommerhaus, später Stein nicht, der Ich-Figur seine Liebe zu gestehen und sie zu einem gemeinsamen Leben explizit aufzufordern. Selbst als er die Protagonistin mit in das Haus nimmt, welches er gekauft hat, um dort sein Leben mit ihr zu verbringen, vermag er es nicht, ihr direkt zu sagen, was er empfindet. Doch auch die Ich-Erzählerin will die Bedeutung des Gesagten nicht verstehen:
„Stein, kannst du mir was sagen, bitte? Kannst du mir vielleicht irgendetwas erklären? Stein schnickte seine Zigarette in den Schnee, sah mich nicht an, sagt: Was soll ich dir denn sagen. Das hier ist eine Möglichkeit, eine von vielen. Du kannst sie wahrnehmen, oder du kannst es bleiben lassen. Ich kann sie wahrnehmen, oder abbrechen und woanders hingehen. Wir könnten sie zusammen wahrnehmen oder so tun, als hätten wir uns nie gekannt. Spielt keine Rolle. Ich wollt’s dir nur zeigen, das ist alles. Ich sagte: Du hast 80 000 Mark bezahlt, um mir eine Möglichkeit zu zeigen, eine von vielen? Hab ich das richtig verstanden? Stein? Was soll das?“ (S. 152).
Die Kommunikation der Figuren ist geprägt vom Verschweigen, vom Impliziten, von Vagheit und vom Nichtverstehen der Vorstellungen des jeweils anderen.
Passivität, Gefangensein im Moment
Wie bereits im Absatz Kommunikation – das Ungesagte angesprochen wurde, ist die Zurückhaltung und Passivität der einzelnen Protagonisten bei der Lektüre von Hermanns Texten auffällig. Die Figuren brechen nicht aus ihren Verhaltensmustern aus, sondern bleiben vielmehr in diesen gefangen. Dieser Aspekt erweist sich auch in Bezug auf Hermanns Schreibstil als signifikant. So scheint sich eine Art Machtlosigkeit der Figuren abzubilden, die sich sowohl in Sommerhaus, später als auch in Alice und in Aller Liebe Anfang widerspiegelt. Verdeutlicht wird dieses unter anderem durch die stetige Wiederkehr von Geschehnissen, wie beispielsweise des Todes oder der Figur des Stalkers. Judith Hermann schafft eine passive, von Trägheit geprägte Atmosphäre durch das Gefangensein der Figuren im jeweiligen Moment. Auch das Warten der Figuren auf fremdbestimmte Einflüsse (besonders in Sommerhaus, später) fügt sich in dieses beinahe schon lethargische Bild ein.
Entwicklungslosigkeit der Figuren
Das Innenleben der Figuren bei Judith Hermann zeichnet sich nicht nur durch Gleichgültigkeit und Desinteresse am eigenen und am Leben anderer, sondern vor allem durch seine Entwicklungslosigkeit aus. Scheint es heute der Wunsch jeden Individuums selbstbestimmt und eigenständig zu sein, so charakterisieren Hermanns Werke Figuren, denen es nicht gelingt die eigene Identität zu finden. Im häufigsten Fall ist die Entwicklung der ProtagonistInnen eine Negativentwicklung, in denen sie vergebens darauf warten sich aus ihrem alltäglichen Trott lösen zu können. Nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel der Protagonist Stein aus der Erzählung Sommerhaus, später erkennen die Passivität des Moments und versuchen sich davon zu befreien, indem sie es aufgeben auf gewisse Dinge, oder wie Stein auf die Ich-Erzählerin, zu warten. Die Lethargie der ProtagonistInnen, die sich nicht nur in der Charakterisierung der Figuren, sondern auch im lakonischen Schreibstil der Werke Hermanns niederschlägt, lässt sich auch damit begründen, dass die Gattung der Erzählung oftmals keine Figurenentwicklung zulässt. Meist beschreiben Erzählungen Figuren, die keine Entwicklung durchleben, so auch die meisten Protagonisten in Hermanns Erzählbänden und ebenfalls im Roman.
Musik und Intertextualität
In Sommerhaus, später hören Stein und die Ich-Erzählerin auf ihren gemeinsamen Autofahrten, „die Frankfurter-Allee rauf und runter“ (S. 141), Massive Attack und auf der Autobahn „Trans-AM-Kassetten“ (S. 142). „Stein hatte für jede Strecke eine andere Musik, Ween für die Landstraßen, David Bowie für die Innenstadt, Bach für die Alleen, Trans-AM nur für die Autobahn. Wir fuhren fast immer Autobahn“ (S. 143).
Die Musikzitate der ersten beiden Erzählbände Judith Hermanns fungieren hauptsächlich als Erzeugung von Stimmung und Atmosphäre. So werden ebenfalls Songs von Tom Waits „The doctor says I’ll be alright / but I’m feelin blue“ (S. 7) in Sommerhaus, später und „Wouldn’t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong“ (S. 7) von The Beach Boys in Nichts als Gespenster als Prolog aufgeführt, um in die Erzählungen einzuführen.
Körperidentität
Viele der Figuren in Hermanns Textwelten haben eine gestörte Beziehung zu sich selbst und ihrem Körper. Sie haben bedeutungslosen, passiven und teilweise ihnen unangenehmen Sex, binden sich an Partner, die ihnen nichts bedeuten, und ruhen nicht in sich selbst.
So schläft Marie in der Erzählung Camera Obscura mit einem Künstler, den sich nicht mag, und beobachtet sich dabei auf dem Bildschirm des Computers, der sie über die Webcam filmt. Auch der Zusatz „[a]nstatt sich selbst, wie sonst immer, von oben aus einer Vogelperspektive zu sehen“ (S. 165) lässt auf ein ungesundes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper schließen.
In der Erzählung Rote Korallen wird der Sexualakt als etwas Negatives beschrieben, während dessen sich die Ich-Erzählerin von ihrem Körper loszulösen scheint: „Ich betrachtete meinen Geliebten, mein Geliebter betrachtete seinen Körper, als wäre er schon tot, manchmal liebten wir uns feindselig, und ich biß ihn in seinen salzigen Mund. Ich hatte das Gefühl, als sei ich dünn und mager, obgleich ich das nicht war, ich konnte so tun, als sei ich nicht ich selbst.“ Diese Abgrenzung der Figuren von ihrem Körper deutet auf eine fehlende Körperidentität hin.
Körperidentität
In Sommerhaus, später wird in der Erzählung Rote Korallen der Tod des männlichen Geliebten der Erzählerin angedeutet.
Das Geschlecht des Erzählers/der Erzählerin bleibt in vielen Erzählungen in Sommerhaus, später zudem ungeklärt. Es wird – wenn überhaupt – nur angedeutet und damit bleibt offen, ob es sich in den Geschichten um homo- oder heterosexuelle Beziehungen handelt. So wird in Rote Korallen nie explizit das Geschlecht des Erzählers/der Erzählerin genannt. Lediglich das Korallenarmband als Schmuck und die Kosenamen der Urgroßmutter für den Erzähler/die Erzählerin – „Liebherzelein, Nußbäumelein, Herzäugelein“ (S. 23) – sprechen stereotyp für eine weibliche Erzählerin. In Ende von Etwas wird das Geschlecht des Erzählers/der Erzählerin nicht einmal angedeutet, sondern bleibt vollkommen offen, ebenso in der Erzählung Sommerhaus, später. In der Erzählung Sonja ist bis zu einem bereits weit fortgeschrittenen Punkt in der Geschichte ebenfalls unklar, ob der Künstler weiblich oder männlich ist. Erst, als Sonja ihn mit den Worten „Das ist er“ (S. 65) vorstellt, wird das Geschlecht offenbart.
Formale Aspekte zu Sommerhaus, später [ ↑ ]
Lakonie, Parataxen und Telegrammstil
Die Romane und Erzählungen Judith Hermanns weisen ein gängiges Muster auf, denn eigentlich sagt sie kaum etwas, doch das Ungesagte und seine Bedeutung stehen bekanntlich zwischen den Zeilen. Es lassen sich vornehmlich parataktische Satzgefüge finden. Ihre Sätze bringt sie in einer trockenen und vor allem schmucklosen Ausdrucksweise – Lakonie – zu Papier. Denn hinter den meisten nüchternen Aussagen der Autorin steckt ein tieferer Sinn. Kein Wort zu viel und dennoch ein Maximum an Wahrheit und Offenheit, das eine träge Atmosphäre beschreibt, aber den Leser dennoch in einen Bann zieht, der von Melancholie, Abschied, Schmerz, Trauer und Eintönigkeit geprägt ist. Durch einzelne Sentenzen bekräftigt Hermann die Bedeutung des Ungesagten und untermauert somit ihre Aussagekraft.
Satzzeichen
Hermann verzichtet in all ihren Werken gänzlich auf die Anführungszeichen bei wörtlicher Rede und folgt so ihrem zuvor beschrieben lakonischen Stil. Sie reduziert demnach nicht nur die Wortwahl sondern auch Satzzeichen, kreiert jedoch gleichzeitig eine innere Anhäufung an Emotionen, die der Leser nicht nur bei den Protagonisten, sondern auch bei sich selbst entdeckt und im Laufe des Romans verfolgt.
Personale Perspektive, Indirekte Rede und realistisches Erzählen
Weniger sagen und mehr zeigen oder auch detailliert beschreiben, das ist eines der stilistischen Hauptmittel Judith Hermanns. So erzeugt die Autorin mit einfachsten Beschreibungen von Räumen und sich darin befindlichen Gegenständen eine Atmosphäre, die dem Roman und den Erzählungen ihre melancholisch gefangene Wirkung verleiht.
Chronologie
In Sommerhaus, später finden sich Zeitsprünge, Flashforwards (Hurrikan (something farewell)) und auch Flashbacks (Sommerhaus, später). Die Erzählungen sind oft nicht chronologisch gehalten, sondern werden durch Einschübe (Rote Korallen) ergänzt. Zudem wird das Geschlecht der/die Ich-ErzählerIn in einigen Erzählungen nicht explizit erwähnt, sondern zumeist nur angedeutet (z. B. Ende von Etwas, Rote Korallen).
Pressespiegel zu Sommerhaus, später [ ↑ ]
Mit ihrem Erstlingswerk Sommerhaus, später lieferte Judith Hermann ein „fulminantes Debüt, das Anlaß gibt zu großer Hoffnung“, urteilt Martin Lüdke in der Zeit (08.10.1998). „Der Autorin genügen wenige Sätze, und eine Figur wird lebendig, dabei oft rätselhaft und das heißt: interessant.“ Marcel Reich-Ranicki bezeichnet sie als „hervorragende junge Autorin“ (Literarisches Quartett, 30.10.1998). Er konstatiert, sie gehöre „zum Wichtigsten, was die deutsche Literatur unserer Jahre zu bieten hat“ und legt damit den Grundstein für weitere folgende positive Kritiken, die sich zu überschlagen scheinen im Lob für die junge Autorin. Die Erzählungen, die von Liebe, Einsamkeit und Tod handeln, seien laut Rolf Michaelis von „ungewöhnlicher Sprach- und Verschweigungs-Kraft“ (Die Zeit, 05.08.1999). Ihre klare, einfache und sehr konzentrierte Sprache wird vielfach gelobt und gefeiert. Sie spiegelt die sparsame und dennoch dichte Kommunikation zwischen den Figuren wider, die oft gerade durch das Ungesagte gekennzeichnet ist. So heißt es in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Es ist das Wissen um die Kraft der Auslassung, die Macht des Unbewußten, das Judith Hermann zu einer großen Erzählerin macht“ (ador, 17.03.2002).
Christine Claussen resümiert, dass es auch negative Kritiken gibt und dass einige kritische Leser Hermanns Erzählungen nur „traurig“ und „die Figuren unentschlossen und kommunikationsgestört“ finden (Stern, 15.04.1999). Auch Susann Rehlein kritisiert Hermanns Schreibstil: „Es kommt vor, daß die Autorin selbst der Kraft ihrer Sprache unterliegt, daß die Metaphern nicht stimmig oder zu grell geraten. Diesem Buch wäre ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen“ (die tageszeitung, 12.11.1998). Dahingegen bezeichnen andere Kritiker gerade die sprachliche Einfachheit als die Stärke von Hermanns Erzählungen, die von gescheiterten Lebensentwürfen berichten, von dem Verharren im Gewohnten und von der Unfähigkeit und vielleicht auch dem Unwillen zur Veränderung. In der Laudatio zur Verleihung des Kleist-Preises an Judith Hermann resümiert Michael Naumann (Die Zeit, 19.11.2001), sie sende „Nachrichten aus der Welt des Nichtgelingens“ und lasse damit den Leser Hoffnung schöpfen, in seiner Empfindung nicht allein zu sein: „Judith Hermann ist ein Glücksfall“.
Forschungsspiegel zu Sommerhaus, später [ ↑ ]
‚Fräuleinwunder‘
Die Idee des ‚deutschen Fräuleinwunders‘ entstand eigentlich in den 1950er Jahren in den USA. Damit gemeint waren ursprünglich junge deutsche selbstbewusste moderne Frauen. Um die Jahrtausendwende wird dieser Terminus von Volker Hage in einer Spiegel-Rezension aufgegriffen und auf Autorinnen der deutschen Literaturszene bezogen (vgl. Caemmerer, Delabar, Meise 2005, S. 7f.). In diesem Kontext fügen die Autoren Caemmerer, Delabar und Meise an, dass „die Bezeichnung der beinah schon hilflose Versuch gewesen ist, das Gestrüpp der literarischen Neuerscheinungen zu lichten und handhabbar, bezeichenbar zu machen“ (Caemmerer, Delabar, Meise 2005, S. 10). Der Ausdruck diene demnach der Kategorisierung junger Autorinnen und ihrer Werke. Nikola Roßbach kritisiert diese Art der Gruppierung: „Eine Anzahl von Schriftstellern wird durch Ausblendung ihrer Unterschiede und Fokussierung weniger gemeinsamer Merkmale als ‚Gruppe‘ wahrgenommen, Schriftsteller ohne diese Merkmale werden ignoriert, mögen sie auch zahlenmäßig überwiegen, genauso interessant oder gar interessanter schreiben“ (Roßbach 2005, S. 191). Diese Merkmale sind Roßbach zufolge Weiblichkeit, äußerliche Attraktivität, ein Alter zwischen 20 und 30 Jahren und „erzählerische[…] Begabung“ (Roßbach 2005, S. 191).
Aufgrund der starken Medienresonanz von Judith Hermanns Texten adaptieren viele RezipientInnen den problematischen Begriff des ‚Fräuleinwunders‘ und nutzen ihn zur Beurteilung von Hermanns Texten. Sabine Burtscher führt entsprechend an, dass bei der Rezeption von Sommerhaus, später „die Persönlichkeit des Autors verstärkt in die Rezension [integriert wurde]“ (Burtscher 2002, S. 81), was an Hermanns auferlegtem „Image des schönen, melancholischen 'Fräuleinwunders'“ (Burtscher 2002, S. 81) gelegen habe.
Walter Delabar knüpft diesbezüglich in seinem Text Reload, remix, repeat – remember an Volker Hage an, der den Ausdruck in seiner Sammelrezension geprägt hatte, dass die Bezeichnung 'Fräuleinwunder' auch ein wichtiges Hilfsmittel für die Vermarktung von deutschsprachiger Literatur von Jungautoren in dieser Zeit darstelle (vgl. Delabar 2005, S. 237).Somit verbinden sich das Werk und das Bild der Autorin zu einem Gesamtkonzept, in dem „Jungautorinnen als wirtschaftliche Faktoren“ (Kocher 2005, S. 54) gelten, wie Ursula Kocher zu bedenken gibt.Jörg Döring beschäftigt sich ebenfalls mit der Relation von AutorIn und Werk. Er befasst sich unter anderem mit der der Funktion von Paratexten, denn „nicht nur der Titel eines Buches, auch z.B. das Autorenfoto im Umschlagdeckel kann ein Eigenleben entwickeln“ (Döring 2005, S. 13). Seiner Meinung nach sei „die erstaunliche Wirkungsgeschichte der Bücher von Judith Hermann, die häufig genug – und zum Leidwesen der Autorin – als Klassenbeste des literarischen 'Fräuleinwunders' apostrophiert wurde, nicht zuletzt auf [diese] paratextuellen Effekte zurückzuführen“ (Döring 2005, S. 14). Brigitte Weingart merkt bezüglich des Pressefotos zu ihrem Debütbuch an, dass Hermanns „ungewöhnliche, etwas altmodische Schönheit und der Eindruck leichter Entrücktheit [dazu beitrugen], dass sich die Rezeption der Erzählungen mit den Projektionen auf die Autorin überlagerte“ (Weingart 2005, S. 151). Sie steigert die Annahme der Bedeutsamkeit der fotografischen Darstellung der Autorin bis hin zu der Frage, ob „womöglich diese Fotografie das eigentliche Meisterwerk [ist], ohne das Sommerhaus, später kein solches geworden wäre“ (Weingart 2005, S. 152).
Lakonie und Monotonie
Ein zentraler Aspekt in Judith Hermanns Texten ist die Lakonie und Monotonie des alltäglichen Lebens, die in all ihren Texten als Grundton vorherrscht. So reduziert Hermann ihren Text sowohl in Hinblick auf die Sprache als auch auf inhaltlicher Ebene durch gezielte Auslassungen bis auf ein Minimum, sodass die LeserInnen zum Lesen zwischen den Zeilen aufgefordert sind. Verena Abthoff merkt in ihrem Text Medienspektakel um das Fräuleinwunder – Die Rezeption der Erzählbände der Autorin Judith Hermann zu diesem Aspekt an, dass „in beiden Erzählbänden [Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster] eine lakonisch-nüchterne Sprache [dominiert], die durch kurze Hauptsätze und eine parataktische Struktur gekennzeichnet ist“ (Abthoff 2008, S. 74). Hermann gelinge es demnach, durch den Einsatz von sprachlichen Mitteln eine Atmosphäre zu kreieren, welche dem Leser einen Einblick in den Alltag verschiedener Figuren gewährt: „Auf sprachlicher Ebene kommen somit die Eintönigkeit und Monotonie zum Ausdruck, die den Alltag vieler Protagonisten prägen“ (Abthoff 2008, S. 74).
Auch Wiebke Eden untersucht den Ton der Erzählungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass „eine seufzende Melancholie das 'Sommerhaus' und seine Alltags- und Menschengeschichten [durchzieht]“ (Eden 2003, S. 37). Judith Hermann schreibe von Menschen und auch zeitlichen Abläufen, welche einerseits von einer stets präsenten und gleichzeitig vergänglichen Realität aber auch von Illusionen und Fantasien geprägt sei (vgl. Eden 2003, S. 36). Ursula Kocher, die über junge deutschsprachige Literatur sagt, dass deren Kennzeichen der Verzicht auf theoretischen Überbau und moralische Belehrung sei, stellt fest, dass sich die Werke Hermanns durch kluge Aussparungen, knappe Sätze und einen gestrafften Handlungsverlauf auszeichnen, die den LeserInnen die Möglichkeit zur Ergänzung selbst überlässt (vgl. Kocher 2005, S. 55). Hermann arbeite mit Verknappungen und komprimiere sprachliche Strukturen. Für Katja Stopka wird diese Erzählweise, die der Literatur Hermanns ihre Intensität verleiht, der Vorstellung Walter Benjamins gerecht, nach welcher es „die halbe Kunst des Erzählens [ist], eine Geschichte […] von Erklärungen freizuhalten“ (Stopka 2001, S. 109). Hermann erzähle mit größtmöglicher Genauigkeit, dränge den LeserInnen dabei aber nicht den psychologischen Zusammenhang des Geschehens auf (vgl. Stopka 2001, S. 163). Knappe und einfache Sätze beschreiben das Erlebte in einer nüchternen und unsentimentalen Art und Weise, die ohne Erklärungen und Rechtfertigungen auskomme (vgl. Stopka 2001, S. 163f). Kritsch hingegen betrachtet Antonie Magen die Aussparungen und Nüchternheit Hermanns: „Einigkeit herrscht auch weitgehend darüber, welche Bereiche ausgespart werden: Handlungen und Plots werden zugunsten von atmosphärischem Impressionismus negiert. Gesellschaftliche, soziale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge werden nicht beschrieben, geschweige denn analysiert“ (Magen 2006, S. 32f).
Ferner lässt sich auch die Thematik der Alltagsmuster in Judith Hermanns Werken anbringen, mit welcher sich unter anderem Scheitler auseinandersetzt. Hermanns Texte präge eine gewisse Erzählnaivität, um Alltagswirklichkeit zu beschreiben, wobei das Realistische „leicht ins Surreale, ins Märchenhafte umschlägt“ (Scheitler 2001, S. 78). Der/die LeserIn erhält kein konkretes Bild der Figuren oder der verschiedenen Kontexte der einzelnen Lebenssituationen. Vielmehr kreiert Hermann „Alltagsmuster, die von Beziehungsunfähigkeit und Kommunikationslosigkeit geprägt sind“ (Scheitler 2001, S. 78).
Zeitstrukturen
„Während die Texte in Sommerhaus, später oftmals einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen, kreisen die Geschichten in Nichts als Gespenster häufig um wenige Tage oder Stunden“ (Abthoff 2008, S. 73). Hermann setzt demnach Zeitdehnungen und Zeitraffungen ein, um Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Figuren zu erzählen und diese in Relation zu der behandelten Gegenwart zu setzen. Ricarda Dreier führt hierzu die Erzählung Rote Korallen an, da sich „die Geschehnisse in Russland ungefähr über einen Zeitraum von vier Jahren hin [ziehen] (Erzählte Zeit), durch Zeitraffungdaraus [aber] etwa acht Buchseiten (Erzählzeit) [werden]“ (Dreier 2005, S. 57). Brigitte Weingart spricht sogar von einer „märchenhaften Verschränkung der Gegenwart mit dem historisch entrückten Russland der Großmutter“ (Weingart 2005, S. 155) und lobt somit Hermanns Spiel mit Zeitkonstruktionen. Dieses wird ferner durch die Verwendung von sprachlichen Mitteln wie Ellipsen unterstützt, sodass Geschehnisse und Erfahrungen auf ein Minimum beschränkt werden. Durch diese stilistischen Mittel werde auch deutlich, „dass ein bestimmter Moment […] Anlass des Erzählens ist“ (Abthoff 2008, S.74). Auch in der Kurzgeschichte Sommerhaus, später ist die Protagonistin Magnus Schlette zufolge „dem Ticken der Uhr [ausgeliefert]“ und von der „Gleichförmigkeit der Zeit [geplagt]“ (Schlette 1999, S. 94). „Weder Raum noch Zeit werden genauer beschrieben noch die Figuren“ (Tanzer 2002, S. 169). Diese Vagheit in Hermanns Erzählungen werden kontinuierlich fortgeführt und halten „dem Leser […] immer wieder wesentliche Informationen [vor], warum die Dinge so geschehen wie sie geschehen“ (Stopka 2001, S. 154).
Identitätssuche
Der Themenkomplex der Identitätssuche wird bei der Betrachtung der Forschungsliteratur über Judith Hermanns Werke ebenfalls häufig behandelt. In Sommerhaus, später merkt Ricarda Dreier in ihrem Text Literatur der 90er Jahre in der Sekundarstufe II folgendes dazu an: „Die Protagonisten befinden sich auf einer ziellosen Suche nach Glück, und ihre Hoffnungslosigkeit drückt sich besonders in den Begegnungen mit anderen Menschen aus“ (Dreier 2005, S. 54). Uta Stuhr hebt hervor, dass „die Hermannschen Figuren erst dann atmen, fühlen, küssen und für einen Augenblick sogar wirklich glücklich sein können, wenn sie vom erdrückenden Ballast der Sinnsuche, von der anstrengenden Vorstellung, dem Leben eventuell einen Sinn abringen zu müssen, befreit sind“ (Stuhr 2005, S. 47). Diese „Suche nach Sinn konzentriert sich auf den Raum des rein Privat-Persönlichen“ (Stuhr 2005, S. 38).
So befinden sich die Figuren auf der Suche nach individuellem Glück, Hermann beschränkt sich aber darauf, diese Suche im expliziten Moment der Gegenwart darzustellen. Oft wird die Suche nach Identität und Glück aber auch anhand von Rückblicken in die Vergangenheit der Figuren behandelt wie zum Beispiel in Rote Korallen. Die Protagonistin lässt „im Erzählen ihrer Geschichte die Vergangenheit immer wieder aufleben und spürt ihr nach, um Antworten für ihr eigenes Leben zu finden“ (Dreier 2005, S. 55). Sabine Burtscher merkt an, dass „die Protagonisten […] auf der unbestimmten Suche nach etwas [sind], das sie selbst nicht genau benennen können, das sich jedoch im Text auf indirekte Weise mitteilt“ (Burtscher 2002, S. 81). Diese Suche würde sich durch ein anderes Leben oder durch erfüllte wahre Liebe verwirklichen. Doch Hermanns Protagonisten haben eine „permanente[…] Unwissenheit über die eigene seelische Verfassung“ (Stuhr 2005, S. 37) und stellen eine „Bestandsaufnahme nicht gelebten Lebens“ dar (Stuhr 2005, S. 51).
Kommunikationslosigkeit
Mit dem Themenkomplex der Identitätsproblematik geht der Aspekt der Kommunikationslosigkeit einher, da die Figuren oft nicht in der Lage sind, Emotionen bzw. Empathie und Kommunikationzu anderen Personen aufzubauen: „Die Beziehungen scheitern, bevor sie überhaupt ihren Anfang genommen haben“ (Dreier 2005, S. 54). Daraus resultiert ein „Beigeschmack letztendlich einsamer Zweisamkeit“ (Stuhr 2005, S. 49). „Die Zeichen einer grundsätzlichen Unmöglichkeit oder Unfähigkeit zur Kommunikation sind nicht zu übersehen […]“ (Stuhr 2005, S. 48). Eine Äußerung hiervon sei, dass „die Figuren bei Judith Hermann keine wirklichen Gespräche miteinander [führen], sie reden vielmehr aneinander vorbei“ (Dreier 2005, S. 77). Deutlich wird dies in der Kurzgeschichte Diesseits der Oder die missglückte Kommunikation zwischen Koberling und Anna: „Die Verständigung kommt nicht zustande […]“ (Schlette 1999, S. 76).
Auch Verena Abthoff befasst sich mit der Problematik der Kommunikationslosigkeit in Hermanns Werken. Sie bestätigt Dreiers These, dass „eines der Hauptmotive die Unfähigkeit der Aktanten, miteinander zu kommunizieren, ihre Sprachlosigkeit und die Unzulänglichkeit der Sprache [sei]“ (Abthoff 2008, S. 73).
In der Erzählung Sommerhaus, später stehen sich nach Peter Bekes die Protagonistin und die Figur Stein konträr gegenüber: „In subtiler Andeutung, hat die Autorin Stein einen sprechenden Namen gegeben, der ja genau das andeutet, was allen Figuren der Erzählung fehlt: ein Fundament“ (Bekes 2005, S. 44). Gleichzeitig wird durch die Figur Steins „die Programmatik eines neuen Lebensentwurfes symbolisch manifestiert“ (Bekes 2005, S. 44). Dieser Aspekt fehlt den meisten ProtagonistInnen in Hermanns Texten und spiegelt das Problem der Identitätssuche adäquat wider. „Judith Hermanns Geschichten sind Geschichten über die Unmöglichkeit, ja über das Verweigern von Kommunikation, zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen, und es sind Geschichten über die Leere“ (Tanzer 2002, S. 169).
Nichts als Gespenster
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Nichts als Gespenster [ ↑ ]
Nichts als Gespenster ist Judith Hermanns zweiter Erzählband, der sich in sechs Erzählungen gliedert. Im Vergleich zu Sommerhaus, später sind die Erzählungen deutlich umfangreicher und sie spielen in aller Welt. Bei den ProtagonistInnen handelt es sich um Männer und Frauen um die 30. Obwohl sie Freundschaften pflegen, fühlen sie sich einsam, ihre Beziehungen sind fragil und die Kommunikation wird beherrscht durch das Ungesagte. Um diesem Verdruss zu entfliehen, reisen sie in fremde Länder und versuchen dabei etwas über sich selbst zu erfahren. Vier der Erzählungen aus diesem Erzählband fließen 2007 in den gleichnamigen Film unter der Regie von Martin Gypkens ein.
Ruth (Freundinnen)
Ruth und ihre Freundin, die Ich-Erzählerin, kennen sich schon ihr Leben lang. Und dennoch ist ihr Verhältnis geprägt von Ungesagtem: „Ich hätte Ruth niemals erklären können, was es war. Ich hätte ihr nicht erklären können, worum es mir ging, was ich fühlte. Ich habe Ruth niemals etwas erklären müssen, sie verlangte das nicht, obwohl sie mich sicher oftmals nicht verstand“ (S.40). In Berlin teilen sie sich anfänglich eine Wohnung, bis Ruth ein Engagement an einem Schauspielhaus bekommt und für zwei Jahre in die abgelegene Provinzstadt zieht. Die Erzählerin dieser Geschichte bedrückt diese Situation sehr und ihr fehlt die Freundin, aber die beiden telefonieren fast täglich. Auch an diesem einen Tag, an dem Ruth anruft, um ihrer Freundin zu erzählen, dass sie sich verliebt hat – in Raoul, einen Schauspielkollegen. Ruth erzählt, dass Raoul eher nach dem Geschmack ihrer Freundin sei und sie sie bald besuchen kommen solle. Die Erzählerin besucht die beiden in der Stadt und zwischen ihr und Raoul entsteht ein erotisches Interesse, das unausgesprochen bleibt aber anscheinend von der Ich-Erzählerin nicht recht gewollt wird: „Ich berührte ihn, und er verstand es tatsächlich sofort falsch und verkannte meine Übelkeit, meine Furcht und meinen Schrecken […]“ (S.53). Nachdem die Ich-Erzählerin wieder zu Hause ist, schickt Raoul ihr eine Bahnkarte mit einer Einladung nach Würzburg. Sie nimmt die Einladung trotz aller Zweifel an und die beiden verbringen die Nacht zusammen. Am Morgen darauf bringt Raoul die Erzählerin zum Bahnhof und die Erzählung endet.
Kaltblau
Jonina und Magnus sind ein Liebespaar. Früh am Morgen, zu Beginn der Erzählung, erhält Jonina Post. Jonas schickt ihr, ein Jahr nachdem er mit seiner Freundin Irene bei den beiden in Reykjavik zu Besuch gewesen ist, ein eingerahmtes Foto, auf dem Jonina, Irene und Magnus bei einem Spaziergang am 3. Dezember zu sehen sind. Erinnerungen an die Vergangenheit keimen in Jonina auf: Jonas und Irene wohnen im Sommerhaus nebenan, die Paare verbringen viel Zeit miteinander. An einem Abend, als alle zusammensitzen, Wodka trinken und erzählen, kommen sich Irene und Jonas näher. Sie verbringen die Woche im Sommerhaus von Joninas Eltern als Liebespaar. In dieser Woche verliebt sich allerdings auch Jonina in Jonas, behält dies aber für sich. Erneut eine Erzählung Judith Hermanns, die geprägt ist vom Ungesagten. Mit der Abreise von Jonas und Irene endet die Woche und der Alltag kehrt in die Leben der ProtagonistInnen zurück.
Aqua alta
Die Hauptfigur dieser Erzählung berichtet von einer Reise, auf der sie sich mit ihrer Familie trifft. Anfänglich schildert sie ihr Verhältnis zu den Eltern, welche sie seit ihrer Kindheit „Kind“ oder „Mädchen“ (S.129) nennen. Dann erfährt der Leser, dass sie ihren 30. Geburtstag auf Korsika verbringt, um über ihre verflossene Beziehung nachzudenken und nicht mit ihren Freunden daheim feiern zu müssen. Ein Geburtstagsgeschenk eines entfernten Bekannten, ein Buch mit der Widmung „You get so alone at times, that it just makes sense, alles Gute zum Geburtstag, F.“ (S.125) regt die junge Frau zum Nachdenken an. Kurz darauf besucht sie ihre Eltern in Venedig. Sie verbringen einen gemeinsamen Tag in der italienischen Stadt und in der Protagonistin entwickeln sich Gefühle der Sehnsucht – Sehnsüchte, von ihren Eltern beschützt zu werden, Sehnsüchte eines Kindes. Des Weiteren wird von einer Begegnung mit einem Venezianer berichtet, der die Erzählerin öffentlich sexuell belästigt. Diese Begegnung setzt sich zu einem späteren Zeitpunkt in einem Café fort, in dem die Familie gemeinsam am Tisch sitzt und Kaffee trinkt. Der Venezianer setzt sich der Erzählerin gegenüber und seine rechte Hand versinkt „in der Hosentasche“ (S.146). Danach bezahlt er, bedankt sich und geht fort. Die Begegnung endet und auch die Reise wird beendet, indem die Erzählerin von ihren Eltern zum Zug gebracht und verabschiedet wird.
Zuhälter
Diese Erzählung handelt von einer Beziehung und unerfüllter Liebe. Die Protagonistin besucht ihren guten Freund Johannes in Karlsbad in Tschechien, genannt „Karlovy Vary“ (S. 153). Dort hat dieser sich für ein halbes Jahr eine Wohnung gemietet, um zu malen. Die beiden führen keine Beziehung miteinander, dennoch verbinden sie Gefühle mit dem jeweils anderen. Die Protagonistin ist immer noch in Johannes verliebt, der aber mittlerweile eine Freundin hat. Die beiden verbringen eine schöne gemeinsame Zeit miteinander, geprägt von „zufälligen Augenblicken“ (S. 192), die jedoch nichts an ihrer Beziehungssituation ändern. Sie ist und bleibt unerfüllt, denn die Protagonistin schließt nach diesem Aufenthalt metaphorisch eine „Kiste […], eine Kiste voll von altem, sinnlosem, wundervollen Zeug“ (S. 192) und sieht ihren guten Freund nie wieder.
Nichts als Gespenster
Das Paar Ellen und Felix, das sich gefühlsmäßig weit voneinander entfernt hat, reist in der Titelerzählung durch Amerika von der Ost- zur Westküste. Die Erzählung handelt jedoch von nur einem einzigen Tag der Reise während des Aufenthalts in Austin, Nevada. In diesem Ort gibt es ein geschlossenes Hotel, in dem es spuken soll. Daher beschließen die beiden im Hotel nebenan zu nächtigen. Dort macht Ellen die Bekanntschaft einer Geisterjägerin, die das Paar abends in der Bar wieder trifft. Ebenfalls in der Bar ist Buddy, ein örtlicher Bewohner, der sein ganzes Leben in Austin verbracht hat. Buddy ist der erste Mensch dieser Reise, der Felix aus seiner Reserviertheit lockt. Denn Felix und Ellen kommunizieren nicht miteinander. Die Beziehung ist geprägt vom Ungesagten, denn Felix „verweigert[…]“ (S.199) sich Ellen. Der Protagonist schweigt und seine Partnerin versucht „das Schweigen auszuhalten“ (S. 219). Die Begegnung mit Buddy und seine Erzählung, wie schön es ist, „ein Paar kleine Turnschuhe […], ein Paar Turnschuhe von Nike zum Beispiel“ (S. 226) für sein eigenes Kind zu kaufen, führt Ellen und Felix letztendlich aber wieder zueinander. Schlussendlich bleibt das Paar aufgrund des späteren gemeinsamen Kindes zusammen, denn „Du [das Kind] bist da, weil Buddy in Austin, Nevada, zu uns gesagt hat, wir wüßten nicht, wie es ist, für ein Kind Turnschuhe zu kaufen, ein paar perfekter, winziger Turnschuhe in einem vollkommenen, kleinen Schuhkarton – er hatte recht, ich wußte es nicht und ich wollte wissen, wie das ist. Ich wollte es wirklich wissen“ (S. 232).
Wohin des Wegs
Die Protagonistin erzählt in dieser Erzählung von ihrem Leben von zwei verschiedenen Zeitebenen: der Vergangenheit und der Gegenwart. In der Gegenwart ist sie mit Jacob in einer Beziehung, in der Vergangenheit war sie mit Peter zusammen, liebte aber einen anderen namens Lukas. Es wird ein Silvesterabend beschrieben, welchen sie mit ihrem damaligen Freund Peter und drei weiteren Personen in Prag erlebt hat. Wieder befinden sich die ProtagonistInnen in einer Art bewusstlosen bzw. machtlosen Zustand sich aus ihrer derzeitigen alltäglichen Situation zu befreien: „Ich versuchte nicht ihn zu zwingen, ich litt auch nicht wirklich, das unglückliche Verliebtsein schien einfach ein Zustand zu sein“ (S.235). Deutlich wird, dass die Erzählung aufgrund passiver Zustände der Figuren geprägt ist und dadurch eine gewisse Traurigkeit und Melancholie zum Vorschein kommt. Die Liebe zu Ari Oskarsson
Die Protagonistin und ihr Freund Owen fahren zu einem Festival, welches dann doch nicht stattfindet, sodass die beiden in eine nahegelegene Kleinstadt in Norwegen fahren. Sie treffen dort in einem Gästehaus den Vermieter und zwei weitere deutsche Urlauber, mit denen sie sich gut verstehen und den Abend gemeinsam verbringen. Mit Ari Oskarsson und seiner Frau Sikka sprechen sie über Liebe und Freundschaft und Probleme, die in einer Beziehung entstehen, obgleich man sich dennoch liebt und zusammen bleibt. So heißt es beispielsweise in dieser Erzählung: „Ich wußte nicht, wie ich ihn von mir wegbekommen sollte, wie ich verhindern sollte, daß er mich anfaßte, wenn ich nicht wirklich verhindern wollte, von ihm angefaßt zu werden“ (S.303). Aufgrund des Gefühls ausgeliefert und sich nicht sicher zu sein, was sie in der Liebe möchte, gibt es für die Ich-Erzählerin keine Möglichkeit aktiv zu werden und sich der Situation zu entgegenzusetzen. Sie bleibt passiv gefangen im Moment.
Thematische Aspekte zu Nichts als Gespenster [ ↑ ]
Kommunikation – das Ungesagte
Ebenfalls im Erzählband Nichts als Gespenster in der gleichnamigen Erzählung verweigert der Protagonist Felix seiner Freundin die Kommunikation: „Sie tat das seit Wochen. Seit Wochen füllte sie die Anmeldeformulare in den Motels aus, gab die Bestellungen in den Diners auf, verhandelte mit den Rangern auf den Campingplätzen der Nationalsparks, während Felix einfach abwartete, abwartete bis sie die Dinge organisiert hatte, es lag nicht daran, daß er schlecht Englisch sprach, es lag daran, daß er sich ihr verweigerte“ (S. 199). Sprachlosigkeit – verhinderte Kommunikation – herrscht dauerhaft zwischen dem Paar Felix und Ellen: „Letztendlich war es immer Ellen, die mit anderen sprach, fragte und redete, nicht nur in Amerika, auch zu Hause, auch an anderen Orten, immer. Felix saß dabei und hörte zu und schwieg“ (S. 219). Der Protagonist schweigt und seine Partnerin versucht „das Schweigen auszuhalten“ (S. 219). Auch in der Erzählung Wohin des Wegs sagt die Ich-Erzählerin über ihre Kommunikation mit Jacob: „Ich bin nicht sicher, ob er mich verstanden hat. Ich bin mir oft nicht sicher, ob er mich versteht, das ändert nichts für meine Begeisterung für Jacob“ (S. 234).
Entwicklungslosigkeit der Figuren
In Nichts als Gespenster wird die Nicht-Veränderung der Figuren dezidiert im Text Kaltblau thematisiert: „[...] von Veränderung sind sie alle sehr weit entfernt, viel weiter, als sie eigentlich wollen“ (S. 95). Der bestehende Wunsch nach Veränderung wird deutlich gemacht, aber trotzdem nicht eingelöst. Auch in Sommerhaus, später in der Erzählung Hurrikan (Something farewell) wird persönliche Veränderung angesprochen, wenn Kaspar sich fragt, ob er sich durch sein Weggehen verändert hat und keine ersichtliche Veränderung feststellen kann (vgl. S. 36).
Musik und Intertextualität
Hermann setzt in ihren Erzählbanden und in ihrem Roman Musik und Kunst dem Schreiben entgegen. Die Erzählung Ruth (Freundinnen) in Nichts als Gespenster spielt im Theatermilieu, der Protagonist Johannes in Zuhälter ist bildender Künstler, sowie der Ich-Erzähler in Sonja in Sommerhaus, später. In Diesseits der Oder wird die Landschaft als „Tarkowskilandschaft“ (S. 182) bezeichnet und in der letzten Erzählung Die Liebe zu Ari Oskarsson in Nichts als Gespenster liegt die Ich-Erzählerin auf dem Bett und liest „[Hugo von] Hofmannsthal, Inger Christensen, Thomas Mann [...] Stephen Frears, Alex Garland und Heimito von Doderer“ (S. 283) anstatt sich auf die ihr fremde Stadt Tromsø einzulassen. Die Gruppe, in der Erzählung Sommerhaus, später, rund um die Ich-Erzählerin erklärt sich über die Musik, die sie hören: „Paolo Conte aus dem Ghettoblaster“ (S. 153), während sie Drogen nehmen und sich gegenseitig aus Bret Easton Ellis’ American Psycho vorlesen. Sie philosophieren „über Castorf und Heiner Müller und Wawerzineks letzten Absturz in der Volksbühne“ (S. 143).
Körperidentität
In Nichts als Gespenster ist zu Beginn der Erzählungen oftmals nicht deutlich erkennbar, ob der Erzähler/die Erzählerin männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Somit spielt die Körperidentität in Hermanns Werken sowohl im Hinblick auf die Loslösung der Figuren von ihrem Körper als auch in Bezug auf das Geschlecht der Erzähler eine wichtige Rolle.
Pressespiegel zu Nichts als Gespenster [ ↑ ]
Nachdem Judith Hermanns Debüt Sommerhaus, später vielfach und exzessiv gelobt worden war, waren die Erwartungen an ihr zweites Werk hoch. Als schließlich 2003 der Erzählband Nichts als Gespenster erschien, musste die junge Autorin allerdings weitgehend negative Kritiken über sich ergehen lassen. Rüdiger Görner (Die Presse, 08.03.2003) meint hierzu jedoch: „Nichts wäre wohl einfacher, nichts billiger, als diese Erzählungen von Judith Hermann zu verreißen, sie mit Hohn und Spott zu übergießen“. Er gibt zu bedenken, dass die Enttäuschung über ihr zweites Werk auch in der Hoffnung auf einen Roman begründet läge, die schlussendlich nicht erfüllt wurde. Auch Gudrun Norbisrath (WAZ, 21.02.2003) schreibt, dass „die Autorin […] am vorigen Erfolg gemessen [wird] und weil sie beim ersten Mal großartig war, fällt die Kritik nun oft halbherzig aus“. Viele Kritiker beanstanden Hermanns Sprach- und Grammatikgebrauch. Der parataktische und teilweise fälschliche Sprachgebrauch wird unter anderem von Gudrun Norbisrath kritisiert: „Ärgerlich ist die häufige Schludrigkeit der Sprache […], der Konjunktiv wird grundsätzlich falsch gebraucht. Der Ton ist verstörend und unterschiedlich, neben wunderbaren Formulierungen […] stehen […] Sätze von peinlicher Belanglosigkeit“. Hans-Christoph Zimmermann (General-Anzeiger, 17.02.2003) hingegen sieht in Hermanns Sprache ihre Stärke und bewertet stattdessen den Inhalt des Erzählbands negativ: „Die stoffliche Substanz ist schmal, die Figurenzeichnung dürftig, doch der Reiz der Erzählungen liegt in ihrem sprachlichen Sog“. Auch Ingo Arend (Die Presse, 14.02.2003) spricht von einer „überragenden Erzähltechnik“, kritisiert aber die Unschärfe der Figuren: „Da klingt Hermanns kostbare Melancholie plötzlich wieder wie Schwermut für Anfänger“. Diverse Literaturkritiker sehen aber in dieser Abstraktheit Hermanns Potenzial: „Es sind Momentaufnahmen müder Helden, die weder witzig sind noch dynamisch, die müde, unschlüssig, ratlos wirken. Diesen Seelenzustand in karger, reduzierter Sprache widerzuspiegeln, ist Hermanns große stilistische Leistung“ (Börsenblatt NR.15, 10.04.2003). Lothar Schröder (Rheinische Post, 05.02.2003) fasst die Diskussion um Hermanns Werk wie folgt zusammen: „An Judith Hermanns neuem Buch scheiden sich also die Geister“.
Alice
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Alice [ ↑ ]
Leseprobe
Alice ist ein Erzählband, der sich in fünf Kapitel gliedert, welche jeweils den Tod von Familienangehörigen oder Freunden und die Art und Weise, wie die Protagonistin Alice mit diesem Verlust umgeht, beschreiben. Die Titel der einzelnen Erzählungen tragen stets den Namen des Mannes, welcher im Laufe der Erzählung verstirbt oder bereits verstorben ist. Auffällig ist, dass nur männliche Figuren sterben. Ferner scheinen die Erzählungen zunächst zusammenhanglos zu sein. Bei näherer Betrachtung der Texte erkennt man jedoch inhaltliche Zusammenhänge bezüglich der Figurenkonstellation.
Micha
Die erste Erzählung handelt von Micha, dem ehemaligen Liebhaber von Alice. Er hat Krebs im Endstadium und liegt in einem Krankenhaus in Zweibrücken. Seine Frau Maja und ihr gemeinsames Kind haben sich daher eine Unterkunft in der Nähe des Krankenhauses gesucht, um stets in Michas Nähe sein zu können. Maja bittet Alice darum, nach Zweibrücken zu kommen, um Abschied von Micha zu nehmen, aber auch, um Maja zur Seite zu stehen und auf das Kind aufzupassen, während sie bei Micha im Krankenhaus ist. Der Tod durch Krankheit wird in der Erzählung sehr neutral und emotionslos dargestellt. Alice berichtet sachlich davon, dass Micha nicht mehr aktiv am Leben teilhaben kann. Sogar „die Ärzte kündigten sein Sterben schon seit Tagen an“ (S. 8) und haben damit die Hoffnung auf eine Genesung aufgegeben.
Nachdem die drei ihre Unterkunft noch einmal gewechselt haben, um noch näher am Krankenhaus sein zu können, versucht der neue Vermieter Alice von einer sexuellen Beziehung zu überzeugen. Dies geschieht jedoch auf anzügliche Art und Weise, sodass weniger der Diskurs des sexuelles beiderseitigen Verlangens, sondern vielmehr der von Vergewaltigung oder Missbrauch erkennbar wird. Deutlich wird diese Art von Lustempfinden, wenn der Vermieter Maja und Alice ihre Wohnung zeigt: „Er umfaßte sie [Alice], legte seine Hände um ihre Hüften und zog sie an sich ran“ (S. 24). Auch in einer weiteren Szene, als Alice und er alleine sind, zeigt er durch seine Mimik deutliche Anzeichen eines sexuellen Verlangens: „Er lächelte jetzt, auf eine sehr gewisse, eindeutige Weise“ (S. 35). Die Beziehung zu Micha wird dagegen eher zurückhaltend und sachlich dargestellt. Wenn Alice Micha besucht, sagt sie selber, dass „alles, was mal gewesen war, [weg war]“ (S. 27) und dass „alle Geschichten, die zwischen ihm und ihr gewesen waren, [auch weg waren]“ (S. 27). Sie scheint also mit Michas baldigem Tod, aber auch mit ihrer einst emotionalen und sexuellen Beziehung, bereits abgeschlossen zu haben, sich von ihm und der Beziehung distanziert und somit Abschied von ihm genommen. Selbst wenn sie Maja von gemeinsamen Momenten mit Micha erzählt, geschieht dies zwar mit positiven Worten, gleichzeitig aber auch auf eine eindeutig distanzierte Art und Weise.
Nachdem Alice nachts von Maja, welche zuvor den Anruf aus dem Krankenhaus erhalten hat, dass Micha „schon vor zwei Stunden gestorben“ (S. 43) sei, geweckt wird, verlässt Alice Zweibrücken direkt am Nachmittag, denn „das Krankenhaus war [nun] hohl. Ein stilles Gehäuse“ (S. 45). Sie möchte ihren Alltag fortsetzen, um nicht in Trauer oder in dem Zustand des Abschiednehmens gefangen zu sein oder zu bleiben. Alice wird von Maja gebeten, Michas Koffer mit seinen Habseligkeiten mit nach Berlin zu nehmen, wozu Alice gerne bereit ist. Maja und ihr Kind folgen kurz darauf ebenfalls.
Conrad
Alice fährt zu einem befreundeten Ehepaar (Conrad und Lotte) zu Besuch zum Gardasee und wird dabei von einem Rumänen (sein Name wird nicht erwähnt) und ihrer Freundin Anna begleitet, ohne dass die beiden das Ehepaar persönlich kennen oder vorher gesehen haben. Auffällig an der Freundschaft zwischen Alice und dem Ehepaar ist der Altersunterschied: „Lotte war siebzig Jahre alt. Conrad auch. Über ein Vierteljahrhundert älter als Alice“ (S. 53). Nichtsdestotrotz erfährt der Leser keine weiteren Details und Hintergründe über die Freundschaft zwischen den dreien.
Am Gardasee angekommen, erfahren Alice und ihre Freunde, dass Conrad erkrankt ist und sie nicht willkommen heißen kann. Lotte erklärt lächelnd, dass er später dazukommen wird, jedoch wird durch die Bemerkung „es sah nach etwas zwischen Ironie und Traurigkeit aus“ (S. 54) bereits angedeutet, dass es sich vermutlich doch um eine ernstzunehmendere Krankheit als „nur ein wenig Fieber“ (S. 54) handelt. Sie genießen den sonnigen Tag dennoch und verweilen abends in einem Restaurant, während Lotte Conrad ins Krankenhaus fährt, in welchem er dann wider Erwarten zunächst über Nacht bleiben muss, da es ihm „jetzt doch etwas schlechter [geht]“ (S. 61). Am nächsten Morgen fahren alle ins Krankenhaus, um Conrad zu besuchen, Alice plagt dabei ein schlechtes Gewissen, da sie am Abend zuvor im Restaurant saß und Wein getrunken hat, anstatt sich Sorgen um ihren Freund zu machen. Ferner stellt sich heraus, dass Anna und der Rumäne eine sexuelle Beziehung miteinander haben, da Anna in der Nacht bei ihm und nicht in ihrem Zimmer geschlafen hat. Da es Conrad scheinbar besser geht und die Ärzte sagen, „sie vermuten einen Infekt“ (S. 75), verlassen Lotte und die drei das Krankenhaus wieder, erhalten aber noch am gleichen Nachmittag die Nachricht, dass Conrad gestorben ist. In der folgenden Nacht wird die sexuelle Beziehung zwischen Alice und dem Rumänen deutlich gemacht, da der Rumäne nun in das Zimmer von Alice kommt, sie seine Hand nimmt und „der Rest zornig und wüst, heruntergekommen [war]“ (S. 90). Die drei verbringen noch einige Tage am Gardasee, der Tod von Conrad wird zwar mehrfach noch erwähnt, aber Alice besucht ihn nicht noch einmal im Krankenhaus, um Abschied zu nehmen und Anna und der Rumäne merken nur an, dass es komisch ist, dass sie ihn nicht persönlich kennen gelernt haben. Wie bereits in Micha nimmt die Protagonistin also eine distanzierte Haltung ein und führt ihren alltäglichen Ablauf umstandslos fort, um nicht in Trauer zu verweilen.
Richard
Richard liegt im Sterben und ist nicht bei Bewusstsein. Seine Frau Margaret pflegt ihn in ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin, ist aber auf die tägliche Hilfe und medizinische Versorgung eines Pflegers angewiesen. Margaret bittet Alice, Zigaretten und Wasser vorbeizubringen, was Alice gerne erledigt. Alle Beteiligten sind sich bewusst, dass Richard nicht mehr lange leben wird. Margaret erzählt Alice, dass sie alles bereits geklärt hat: „Die Musiker, die Friedhofskapelle, die Grabstelle. Wir haben den Tag für die Beerdigung festgesetzt. In drei Wochen“ (S. 106). Sowohl Margaret als auch Alice scheinen sich damit abgefunden zu haben, dass Richard sterben wird. Als Alice nachfragt, was denn passieren würde, wenn Richard zum geplanten Beerdigungstermin noch leben würde, sagt Margaret nur, dass „[er es] bis dahin geschafft haben [wird]“ (S. 106). Auch Richard selber hat sich bereits mit seinem Tod auseinandergesetzt und an der Planung seiner Beerdigung mitgewirkt. Demnach wird der Tod in der Erzählung als etwas Unumgängliches und als etwas, vor dem man keine Angst haben muss, dargestellt.
Es findet daraufhin ein Szenenwechsel statt: Alice und ihr Lebensgefährte Raymond treffen sich in einer Kneipe und Alice erzählt wie „unfaßbar klein [Richard] geworden ist“ (S. 114). Sie sagt, „er ist in den zwei Wochen so klein geworden wie ein Kind. Seine Haut ist gelb. Es ist alles vorbei, aber sein Herz schlägt noch“ (S. 115). Im Gegensatz zu den Erzählungen Micha und Conrad scheint Alice ihre Sorge oder gar Trauer nun durch das Gespräch mit ihrem Lebensgefährten zu teilen und verarbeiten zu wollen. Die beiden verbringen den Sonntag am See und der bevorstehende Tod von Richard wird nicht weiter erwähnt, vielmehr steht die Natur und die Idylle, welche den See und die Zweisamkeit umgibt, im Vordergrund zu stehen. Erst als Alice abends ein Buch liest, nachdem Raymond die Wohnung verlassen hat, wird der Tod wieder aufgegriffen, wenn „sie das Telefon neben das Buch [legte]“ (S. 125), um keinen Anruf von Margaret zu verpassen. In gewisser Weise lässt sich der Tod demnach an dieser Stelle mit Einsamkeit in Verbindung bringen. Nichtsdestotrotz kehrt Alice in ihren Alltag zurück, indem sie auf der Couch liegt und liest und der Tod eines Freundes sie in ihrer Trauer nicht aus der Bahn werfen soll.
Malte
Die Geschichte über Malte beginnt in medias res, der Leser kennt demnach zunächst keine näheren Details über Malte, Friedrich und Alice und ihre Beziehungen zueinander. Stattdessen wird direkt von dem Tag berichtet, „an dem Alice Friedrich zum ersten und einzigen Mal sah“ (S. 127). Alice möchte Friedrich kennenlernen, um etwas über ihren Onkel Malte zu erfahren. „Alice kannte Malte nicht. Malte wäre ihr Onkel gewesen, wenn er sich nicht an einem Tag im März und vor fast vierzig Jahren das Leben genommen hätte“ (S. 131). Zu diesem Zeitpunkt war Alice zwar noch nicht auf der Welt, sein Tod scheint für sie aber immer noch nicht abgeschlossen zu sein, sodass sie hofft, durch das Gespräch mit Friedrich Klarheit zu erlangen. Vor allem erhofft sie sich auch, Beschreibungen von Malte und seines Charakters und seiner Angewohnheiten zu bekommen. Bisher „hatte [sie] das aus dem herausgeschüttelt, was ihr erzählt worden war, [aber] ihr was nicht viel erzählt worden“ (S. 135). Da Malte homosexuell war und eine Fernbeziehung mit Friedrich führte, welcher Malte also sehr gut kannte, bittet Alice Friedrich telefonisch um ein Treffen mit ihr. Sie erhofft sich so, mehr über Malte zu erfahren. Als Friedrich fragt, worum es in dem Treffen geht, kann Alice allerdings nur antworten: „Sie wisse nicht wirklich, worum es ihr gehe, aber sie würde ihn gerne einmal sehen […]. Einfach so“ (S. 129). Die Protagonistin scheint sich demnach selber nicht sicher zu sein, wie sie mit dem Tod von Malte umgehen und wie sie es verarbeiten beziehungsweise in ihren Alltag und ihren Gedanken einbetten soll. Friedrich sichert ihr ein Treffen zu, sobald er wieder in Berlin ist. Drei Monate später treffen sich die beiden, sprechen jedoch hauptsächlich über andere Familienangehörige. Am Ende des Treffens überreicht Friedrich Alice die Briefe, die er und Malte sich geschrieben haben, damit Alice sie in Ruhe lesen und mehr über ihren Onkel erfahren kann. Friedrich sagt, er möchte die Briefe gerne zurück haben, wenn Alice sie gelesen hat, aber „sie wußten beide, daß es dazu nicht kommen würde“ (S. 153). Der Tod rückt hier wieder in den Vordergrund und erhält einen unumgänglichen Charakter. Nachdem sich die beiden verabschiedet haben, denkt Alice über die Briefe nach: „Und nun. Die Briefe jetzt lesen oder später oder auch gar nicht. Was immer darin stand – es würde nichts ändern“ (S. 156). Sie ist sich also doch unschlüssig, ob die Inhalte der Briefe ihr in der Verarbeitung von Maltes Tod überhaupt helfen können und sagt, dass sie ja nur „eine von vielen“ (S. 156) ist und führt ihr bisheriges Leben wie gewohnt fort.
Raymond
Raymond, der Lebensgefährte von Alice, ist verstorben (der Grund ist den LeserInnen unbekannt und bleibt dies auch bis zum Schluss) und Alice „begann damit, seine Sachen wegzuschaffen. Weg[zu]räumen, [zu] verschenken, verkaufen“ (S. 159). Sie durchlebt die Erinnerungen, welche sie mit Raymonds Kleidungsstücken assoziiert, immer wieder und kann sich nicht von ihm lösen: „Alice dachte, daß sie sich die Erinnerungen offenbar nicht aussuchen konnte, sie kamen, wie sie wollten“ (S. 162). Sie verschenkt das Auto, weil sie es sich nicht alleine leisten kann und ging „in diesem ersten Sommer ohne Raymond unentwegt ins Schwimmbad“ (S. 167), in welchem sie jedoch auch an ihn erinnert wird. Sie besucht Margaret am Stadtrand und die beiden reden über die Überwindung des Schmerzes und dessen Dauer: „Die ersten Tage und Wochen und Monate ohne Raymond; so klar und leuchtend würden sie nie wieder sein, sie mußte vielleicht lernen, eine Lust daran zu empfinden, anders ging es nicht“ (S. 174). Deutlich wird, dass Alice im Vergleich zu den vorherigen Erzählungen nun offensichtlich mit dem Verlust ihres Lebensgefährten zu kämpfen hat und dieser ihren Alltag stark beeinflusst. Zuvor war es ihr möglich, mit den Verlusten umzugehen und ihren alltäglichen Abläufen weiterhin zu folgen. Der Tod von Richard, Margarets Mann, „[ist] jetzt ein Jahr um, erst ein Jahr“ (S. 174) und Margaret sagt, dass sie immer noch viel an ihn denkt und noch lange nicht mit der Trauer abgeschlossen hat. Auch Alice „sah Raymond täglich. Jeden Tag. Sie sah ihn überall“ (S. 178) und ihr ist es nicht möglich, anderen Menschen zu sagen, dass Raymond gestorben ist, sie „konnte das nicht noch einmal sagen“ (S. 181). Mit dem Rumänen trifft sich Alice ebenfalls manchmal, jedoch sprechen die beiden nicht über Raymonds Tod, obgleich dieser allgegenwärtig ist. Wie bereits zuvor der Bezug zu der Erzählung Richard deutlich wurde, wird nun auch ein weiterer inhaltlicher Verweis auf Micha gezogen, da Maja Michas Koffer immer noch nicht bei Alice abgeholt hat. Und auch Lotte, die Ehefrau von Conrad hat mit ihrem Verlust zu kämpfen. Sie „hatte sich einen kleinen Zettel neben die Tür gehängt, auf den Conrad, zu Lebzeiten, einen Satz geschrieben hatte […]: komme gleich wieder“ (S. 184).
Es wird ersichtlich, dass alle Frauen in den Erzählungen mit dem Tod ihrer Lebensgefährten zu kämpfen haben und jede mit dieser Situation anders umgeht. Das, was bleibt, sind die Dinge, seien es Koffer, Zettel oder ein Mandelhörnchen in einer Jackentasche, die in ihrer Materialität den physischen Verlust der Verstorbenen präsent machen und somit zu Gegenständen der Trauer werden.
Thematische Aspekte zu Alice [ ↑ ]
Tod, Abschied
Insbesondere in dem Erzählband Alice rückt das Thema Tod in den Vordergrund, da die Erzählungen das Versterben von fünf Männern und die Reaktion der Protagonistin Alice auf diesen behandelt. Im Zentrum stehen hier die verschiedenen Arten der Trauerbewältigung. Der/ die Leser*in erhält zunächst den Eindruck, dass Alice mit dem Verlust ihr nahestehender Personen gut zurechtkommt und schnell in ihren Alltag zurück findet. Der Grund hierfür kann darin gesehen werden, dass das Thema des Todes zwar im Fokus steht, der Tod an sich aber als selbstverständlicher Aspekt des Alltags dargestellt wird: „Sie hatte anfangs gedacht, es sei ungehörig, mit Richard über seine eigene Beerdigung zu sprechen, aber stattdessen war es selbstverständlich gewesen“ (S. 106f.). Alice wird nicht von Emotionen überwältigt, sondern scheint den Tod als Teil des Lebens hinzunehmen. So verlässt sie Zweibrücken beispielsweise recht zeitnah, nachdem Micha verstorben ist und kehrt nach Berlin in ihr normales Leben zurück: „Alice hatte das Gefühl, sie würde verrückt werden, wenn sie auch nur eine Nacht länger in dieser Wohnung verbringen müsste mit dem Blick auf das Krankenhaus, indem niemand mehr lag“ (S. 44). Den Tod von ihrem Onkel Malte hat sie zwar nicht bewusst miterlebt, versucht aber eine Art Trauerbewältigung zu durchleben, indem sie hofft, ihn durch das Lesen von alten Briefen näher kennenzulernen und danach loslassen zu können. Das Bedürfnis, sich mit dem Tod und dem Abschied auseinander zu setzen, wird so aufgegriffen. Lediglich bei dem Tod ihres Lebensgefährten fällt es Alice schwer, sich alltäglichen Dingen zuzuwenden, ohne an Raymond denken zu müssen: „Er ist nicht mehr da, Alice. Alice sagte sich das, sprach sich selbst mit Namen an, als wäre sie ihr eigenes Kind. Alice, Raymond ist nicht mehr da“ (S. 179). Hier kommen kleinere Motive aus dem Alltag zum Ausdruck, wenn Alice sich zum Beispiel an ein Mandelhörnchen klammert, welches Raymond vor seinem Tod gekauft und nicht gegessen hat. Alice wird also durch die stets wiederkehrende Trauerbewältigung und Relation von Tod und Leben nahezu durchgängig von dem Themenkomplex Tod dominiert und entwickelt so eine melancholische Atmosphäre. Gleichzeitig wird der Tod oder der Umgang mit diesem auf eher zurückhaltende und lakonische Art und Weise beschrieben.
Körperidentität
Generell spielt in Hermanns Werk das Geschlecht eine nicht zu unterschätzende Rolle. In Alice sterben beispielsweise ausschließlich männliche Figuren unterschiedlichen Alters.
Pressespiegel zu Alice [ ↑ ]
Nachdem seit Judith Hermanns letzter Veröffentlichung sechs Jahre vergangen waren, waren die Erwartungen an ihr neues Werk Alice (2009) hoch. LiteraturkritikerInnen diskutierten bereits vor Veröffentlichung des Werks, ob und in wie weit sich Hermanns Schreiben verändert haben könnte. Kritisiert wird diese Vorfreude von der Redakteurin Wiebke Porombka. Bei einer Lesung im Literarischen Colloquium Berlin, berichtet Porombka, verstiegen sich die Kritiker hauptsächlich „in geschmäcklerische Detailkommentare“ (taz, 24.04.2009). Fragen nach Entwicklungen hinsichtlich Hermanns Stil oder gar Themen und Figurenkonstellationen im Werk selber rückten demnach weniger in den Fokus der Diskussion, sodass Porombka zu der kritischen Aussage kommt, man könne diese Debatte „eine Art puristische, pseudoredliche Ungeschicklichkeit der Literaturkritik nennen“. Auch Helmut Böttiger (dradio, 04.05.2009) merkt an, dass Alice „auch ein Medientest, ein Indikator für die irrationalen Schwankungen des Journalismus“ sei. Hiermit weist er auf den einerseits von der Presse enorm gelobten Erzählband Sommerhaus, später (1998) und auf das andererseits stark kritisierte Werk Nichts als Gespenster (2003) hin. Tatsächlich finden sich vor, aber auch nach der Veröffentlichung zahlreiche Rezensionen über Alice in den Feuilletonseiten der Zeitungen. Gerrit Bartels (der Tagesspiegel, 04.05.2009) sagt, dass es zunächst so scheint, „als habe sich Hermann bewusst losschreiben wollen von ihrem Image, die 'Stimme der Generation' zu sein, das sie seit ihren Erzählbänden 'Sommerhaus, später' und 'Nichts als Gespenster' hat“. Seiner Meinung nach sei es aber wie bereits bei Hermanns vorherigen Werken wieder „ein Dahintreiben“ und „eine gewisse Traumverlorenheit“, die nun auch Alice auszeichnen. Bartels merkt an, dass Hermann „im Beschreiben der Dinge […] so ausdauernd und präzise [ist] wie sie in den Wortwechseln ihrer Figuren und den Beschreibungen ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen betont unpräzise ist“. Er lobt jedoch den „herben Sound“, welcher „Hermanns Geschichten stilsicher […] beherrscht“. Auch Helmut Böttiger hält fest, dass Judith Hermann „sprachlich und formal […] zweifellos raffinierter und ästhetischer“ geworden sei. Hiermit bezieht er sich auf die für Hermanns Erzählen typischen kurzen, oftmals elliptischen Sätze. Bartels (der Tagesspiegel, 04.05.2009) vergleicht Hermann in dieser Hinsicht mit der Autorin Marlene Streeruwitz, die ebenfalls oder gar noch stärker elliptische Satzkonstruktionen in ihren Werken verwendet und für diesen Stil bekannt und weitgehend positiv wahrgenommen wird. Ferner sagt Böttiger, dass es „daneben aber auch Aufzählungen, die einen rhythmischen Sog entfalten, und abrupte Rhythmuswechsel [gibt]“. Auch Ina Hartwig (Frankfurter Rundschau, 02.05.2009) ist der Meinung, dass eine Entwicklung hinsichtlich Hermanns Schreibstil festzustellen ist. So sagt sie: „Man trifft auf eine ernster gewordene Erzählstimme“. Wie bereits Gerrit Bartels vergleicht auch Ina Hartwig Judith Hermann und ihren Schreibstil mit dem einer anderen Gegenwartsautorin: „Darin unterscheidet Judith Hermann sich von ihrer vergleichbar erfolgreichen Generationsgenossin Juli Zeh“. Während Zeh in ihren literarischen Texten das gesellschaftliche Geschehen Deutschlands offen kommentiere, würde sich Hermann mit Urteilen und Meinungen über soziale und politische Gegenwartsentwicklungen stark zurückhalten beziehungsweise Äußerungen nur zwischen den Zeilen lesen lassen. Felicitas von Lovenberg (Frankfurter Allgemeine, 02.05.2009) meint, dass Alice „ein stilles Buch“ sei, „in dem sich die Worte, Sätze und Bedeutungen in sich selbst zurückzuziehen scheinen“. Von Lovenberg kritisiert jedoch gerade auch diesen Aspekt sehr deutlich: „[M]it Judith Hermanns Prosa ergeht es einem wie mit den Gerichten von Maja [einer Figur in den Erzählungen, Anm.v.Verf.]: 'Sie kochte absolut salzarm, ohne jeden Hokuspokus'“. Auch Ina Hartwig meint, dass sich „Gefühle kaum ein[stellen, denn] dazu fehlt es dann doch an Vorgeschichte, Psychologie, an seelischer Tiefe, Zuspitzung und Konflikt.“ Des Weiteren beurteilt von Lovenberg Judith Hermanns Stil, welcher durch eine trübe Atmosphäre und Lakonie charakterisiert ist, als anstrengend. Dieser Ansicht ist auch Gerrit Bartels, der genau wie von Lovenberg zwar anmerkt, dass es Hermann gelungen sei, ihren elliptischen und lakonischen Stil umzusetzen, genau dieser Stil beim Lesen aber auch anstrengend oder gar störend sei (vgl. dradio, 02.05.2009). Anders sieht dies Iris Radisch (Zeit online, 04.05.2009). Sie schreibt, dass sich das Todesthema und die „bewährte Technik Judith Hermanns, unsere spätkapitalistischen, großstädtischen Lebenswelten in wohlig kalte Idyllen des Banalen umzumalen“ problemlos miteinander kombinieren lassen und in Alice exzellent umgesetzt wird. Auch Bernadette Conrad (Zürcher Zeitung, 03.05.2009) schreibt, dass all die aufgelisteten und oft negativ kommentierten Aspekte, die Gründe dafür sind, dass „dieses Buch, schwer von Tod [aber] dennoch seltsam leicht [ist]“.
Forschungsspiegel zu Alice [ ↑ ]
Zeitstrukturen
„[D]ie Untersuchung des Zeitgerüsts und der Erzählebenen zeigt, dass die Erzählungen sehr komplex sind“ (Abthoff 2008, S. 73). Wiebke Eden merkt an, dass „Judith Hermann von Menschen und Zeitläufen, von vorübergehender Wirklichkeit und bleiben Trugschlüssen“ schreibt (Eden 2003, S. 36). In Hermanns Erzählband Alice z.B. werden nahezu keinerlei Zeitangaben gemacht, lediglich an einigen wenigen Textstellen lassen sich zeitliche Bezüge finden. So lässt sich die Handlungszeit in Alice nur schwer eingrenzen, da sie zum Teil vierzig Jahre zurück in die Vergangenheit reicht, die Gegenwart im Text selber jedoch auf ungefähr ein bis zwei Jahre gesetzt werden kann. Damit bestätigt sich Verena Abthoffs These, dass sich die Behandlung von Zeitkonstruktionen in Hermanns Werken oft als schwierig gestaltet.
Aller Liebe Anfang
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Aller Liebe Anfang [ ↑ ]
Leseprobe
Judith Hermann erzählt in ihrem ersten Roman Aller Liebe Anfang von den Anfängen und Fortgängen der Liebe, von Stalking und vom Umbruch und Einsturz eines sicher geglaubten Lebens.
Stella und Jason sind verheiratet und haben eine Tochter namens Ava. Sie leben in einem kleinen Haus am Rande einer nicht näher beschriebenen Stadt. Es ist ein schönes, einfaches Haus mit einem kleinen Garten. Es handelt sich um eine zeitlose Gegend und ein zeitloses Haus, welche nicht mit markanten, detailverliebten Ausstattungen protzt. So heißt es im Roman: „Am Rand des Gartens beginnt eine verwilderte Wiese, ein braches Feld, das ist ein Zustand von ungewisser Dauer, irgendwann werden hier neue Häuser gebaut“ (S. 11). Hermann spielt hier auf den Zustand des Verweilens an, den Zustand von Passivität, der alle Protagonisten in Aller Liebe Anfang umgibt und dazu zwingt in ihrem beständigen Leben zu bleiben, nicht auszubrechen und einen Umsturz zu wagen. Diese Passivität findet sich auch im Leben von Stellas dreiköpfiger Familie wieder, denn es ist ruhig und beschaulich und findet zumeist ohne Jason statt, da dieser viel auf Montage arbeitet. Das alltägliche Leben geht einen gewohnten, regelmäßigen Gang, bis dieser eines Tages von einem fremden Mann gestört wird. Jemand, den Stella nie zuvor gesehen hat, steht vor der Haustür. Sein Name ist Mister Pfister. Ein etwas heruntergekommener, knapp dreißigjähriger Mann, der „in derselben Straße“ wohnt: „sieben oder acht Häuser weiter […]“ (S. 47). Er wolle sich lediglich mit Stella unterhalten, sagt er, was diese allerdings ablehnt, und erscheint von nun an jeden Tag vor ihrer Tür. Vorerst klingelt er nur zur selben Uhrzeit an der Haustür, bald schmeißt er jedoch Zettel, Briefe und weitere Dinge in den Briefkasten. Für Stella und ihre Familie beginnt ein Albtraum, der im Laufe des Buchs eskaliert, denn Mister Pfister ist ein Stalker. Die junge Frau beobachtet ihn. „Sie sitzt oben in ihrem Zimmer am Schreibtisch, und sieht ihn an […]“ (S. 45), wenn er klingelt, etwas in den Briefkasten einwirft, sich eine Zigarette dreht und dann mit langsamen Schritten den Ort des Geschehens wieder verlässt. Doch offenkundig interessiert sich der Stalker nicht für Stella als Person, sondern für irgendeine ungewisse Vorstellung von ihr – „Mister Pfister interessiert sich für Stella in ihrem verschlossenen Haus. […], für die wartende Stella am Schreibtisch oben in ihrem Zimmer. Diese Stella meint Mister Pfister. Eine imaginierte Stella. Seine“ (S. 142). Dies wird der der Hauptfigur des Romans deutlich, als sie ihn an der Kasse des Supermarkts entdeckt und er ihr in dieser Situation keine Beachtung schenkt. Dennoch wirft der junge Mann ein irritierendes Licht auf die einigermaßen glückliche Beziehung zwischen Stella und Jason. „Sie wünscht sich, dass Jason sie ansieht. Sie wünscht sich, dass er ihr zuhört. Sie will ihm zeigen, was sie sieht. Sie wünscht sich, dass sie Jason schon immer hätte kennen können, obwohl sie weiß, dass sie, hätte sie Jason schon immer gekannt, heute auf keinen Fall mehr mit ihm zusammen wäre“ (S. 55). Trotz der Gedanken vom Aufbruch in ein neues Leben verharrt Stella in ihrem alten. Ihr familiäres und berufliches Leben, als Altenpflegerin, geht seinen geregelten Gang. Doch Mister Pfister ist hartnäckig. Auch Stellas Versuche ihn zur Vernunft zu bringen, sie und ihre Familie in Ruhe zu lassen, scheitern. So entschließt sie sich vorerst den Stalker bei der örtlichen Polizei anzuzeigen und später mit Ava für eine unbestimmte Zeit lang in das Ferienhaus ihrer Chefin Paloma zu reisen. Jason bleibt allein in der Vorstadt zurück und wartet geduldig auf Mister Pfister, den er, am Ende des Romans bei einem erneuten Versuch Stella nah zu sein, mit einem Stock zu Boden schlägt. Die Familie zieht weg und Stella erinnert sich „wie aus weiter Ferne an die Jahre in der Siedlung, an diese Zeit in ihrem Leben“ (S. 218). „Ihr fehlt – nichts. Oder nur das, was ihr ohnehin fehlt“.
Thematische Aspekte zu Aller Liebe Anfang [ ↑ ]
Tod, Abschied
Auch in Aller Liebe Anfang findet sich dieser Aspekt, da die Protagonistin Stella dauerhaft mit dem Tod konfrontiert wird. Sie arbeitet als Hauskrankenpflegerin und die drei bedürftigen Alten, die sie regelmäßig besucht, konfrontieren die junge Frau mit der passiven sozialen Wirklichkeit, die sie alltäglich umgibt. Trotz apathischer Haltung der Alten vermitteln diese etwas Hochkonzentriertes und bringen Stella beiläufig dazu sich und ihrem Leben einen Spiegel vorzuhalten und sich zu fragen, ob sie dieses Leben so gewollt hat. Die Schilderung dieser Todesnähe, dieses gelebten Lebens, ist aber fernab jeglicher Sentimentalität. In Aller Liebe Anfang wird der Stalker Mister Pfister am Ende von Stellas Ehemann erschlagen. Im Gegensatz zu Alice tritt der Tod hier also durch das aktive Handeln einer der Figuren ein. Jason übernimmt die aktive Rolle, übt vermeintliche Gerechtigkeit aus und tötet den Stalker, obgleich dies nicht explizit artikuliert wird. Folglich wird der Themenkomplex des Todes in dem Roman mit einem Gewaltakt in Verbindung gebracht und kann in dieser Hinsicht als Kontrast zu den Todesfällen in Alice angesehen werden. Weitere Todesnähe in Aller Liebe Anfang wird dargestellt durch Stellas Beruf. Sie arbeitet als Hauskrankenpflegerin und besucht regelmäßig drei bedürftige Alte, die ihr Leben prägen. Durch diese Menschen, mit denen ebenfalls sie oberflächliche Gespräche führt, beginnt Stella ihr Leben Revue passieren zu lassen, kann sich aber dennoch nicht von ihrem bisherigen Alltag lösen, ebenfalls wie diese alten Menschen, die gefangen sind im Moment des gelebten Lebens, der Passivität aufgrund ihrer fortschreitenden Gebrechlichkeit. Die Schilderung dieser Todesnähe, dieses gelebten Lebens ist fernab jeglicher Sentimentalität. Es sind kurze Zusammentreffen, die Stella beiläufig einen Spiegel vorhalten, ob sie sich ihr Leben so vorgestellt hat und ob Mister Pfister nicht der Beginn eines Umsturzes sein könnte.
Kommunikation – das Ungesagte
Ähnliche Kommunikationsprobleme lassen sich im Roman Aller Liebe Anfang finden. Stella und Jason führen eine einigermaßen glückliche Beziehung. Doch viele offene Wünsche bezüglich Zwischenmenschlichkeit, Liebe und Zuneigung stehen im Raum und finden erst nähere Betrachtung, als sich ein Schatten in Form eines auftretenden, lebensverändernden Ereignisses darüber legt – dem Stalker Mister Pfister. „Sie wünscht sich, dass Jason sie ansieht. Sie wünscht sich, dass er ihr zuhört. Sie will ihm zeigen, was sie sieht. Sie wünscht sich, dass sie Jason schon immer hätte kennen können, obwohl sie weiß, dass sie, hätte sie Jason schon immer gekannt, heute auf keinen Fall mehr mit ihm zusammen wäre“ (S. 55). Dennoch bleiben die Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen der Protagonisten ungesagt. Ferner scheint es keine adäquaten Kommunikationsmuster im Roman zu geben. Die Figuren „kommunizieren“ vielmehr durch das immer wieder auftretende Schweigen. Doch nicht nur auf der Ebene der Liebenden in Hermanns Werken fehlt eine gemeinsame Sprache, auch die Freundschaften der ProtagonistInnen weisen eine Unfähigkeit zur Kommunikation auf. Die Freundschaft zwischen Paloma und Stella in Aller Liebe Anfang schildert, ebenso wie einige von Hermanns Erzählungen, eine verhinderte Kommunikation. So heißt es: „Vielleicht wünscht Paloma sich, dass Stella spricht. Aber Stella wüsste nicht, was sie sagen sollte. Wie sie ihre Passivität erklären sollte, ihr Warten. Worauf wartet sie?“ (S. 117). So steht das Ungesagte nicht nur im Einklang mit zwischenmenschlichen Problemen, sondern auch mit Passivität – mit dem Gefangensein im Moment.
Musik und Intertextualität
Auch Aller Liebe Anfang beschäftigt sich mit dem Thema Musik. Die pflegebedürftige Alte Esther sitzt „am Küchentisch und hat das Radio sehr laut gestellt. Sie hört ein klassisches Konzert und hebt warnend die Hand, als Stella in die Küche kommt […]. Sie neigt den Kopf zum Radio hin und dirigiert mit geschickten, kleinen Bewegungen ein unsichtbares Orchester. Pa-ti-ta. Pa-ti-ta. Pa-ti […]“ (S. 170f). Sie ärgert sich darüber, dass Stella „wirklich von nichts die allergeringste Ahnung hat“ (S.170). Wieder besteht ein Problem der Kommunikation zwischen den Protagonistinnen, denn Stella „hör[t] schon lange keine Musik mehr […]. Sowieso, schon lange nicht mehr“ (S. 121).
Entwicklungslosigkeit der Figuren
Doch nicht nur die Erzählungen, sondern auch Hermanns Roman Aller Liebe Anfang schildert Figuren ohne Entwicklung. Stella, die durch den Stalker Mister Pfister energisch dazu gezwungen wird ihr familiäres und berufliches Leben zu überdenken, entscheidet sich letzten Endes für das bisher geführte Leben mit ihrem Ehemann Jason und ihrer Tochter Ava. Lediglich Hermanns Sätze „Veränderung ist kein Verrat. Und wenn doch, dann wird er nicht bestraft“ (S. 218) zeugen von einer winzigen Neugestaltung – dem Umzug in ein neues Haus. Doch Stellas Innenleben führt keine weitere Entwicklung an, denn mit der Unfähigkeit der ProtagonistInnen, in allen Werken Hermanns, Verantwortung zu übernehmen, scheitert die Emanzipation des Individuums.
Körperidentität
Der Stalker Mister Pfister, der am Ende des Romans Aller Liebe Anfang stirbt, ist ebenfalls männlich. Dies kann zum Beispiel mit der höheren Lebenserwartung der Frau verbunden sein. Ferner wird hier das stereotype Bild der sich sorgenden Frau gezeichnet, das übergeht in das der im häuslichen Alltag Ordnung schaffenden Witwe.
Pressespiegel zu Aller Liebe Anfang [ ↑ ]
Am 13.08.2014 erscheint der erste Roman von Judith Hermann Aller Liebe Anfang. Auf NDR Kultur und NDR Info stellt die Autorin ihr Buch acht Tage lang vor. Nach Erscheinen des Romandebüts gehen die Meinungen in den Feuilletons über das Buch allerdings weit auseinander. „Ein meisterhaft komponierter psychologischer Roman“ lobt die Autorin Heide Soltau (NDR Kultur, 08.08.2014) und auch Thomas Böhm (rbbRadio Eins, 14.08.2014) würdigt das „Meisterwerk an psychologischer Feinheit.“ Lakonisch erzählt Judith Hermann, wie ein unvermittelt auftauchender Fremder, der Stalker Mister Pfister, das Leben eines Ehepaares und seiner Tochter aus dem Gleichgewicht bringt. Besonders dieser kühle und unaufgeregte Ton, der durch alle Werke Judith Hermanns klingt, wird in den Feuilletons heftig diskutiert. So beschreibt die Sonntagszeitung Schweiz (Sonntagszeitung Schweiz, 10.08.2014) die Autorin als eine „brillante Erzählerin, die ihre Sätze wie Perlen aneinanderreiht“. Edo Reents (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.08.2014) allerdings hält Judith Hermanns Roman für gescheitert: „Judith Hermann hat zwei Probleme: Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen“. Auch der Hermann-Sog, dem viele Kritiker seit Jahren unterliegen, sei Reents ein Rätsel: „Manche Besprechung sei so lau wie ihre Prosa“ und auch das „Lob für Sommerhaus, später [sei] reichlich übertrieben ausgefallen“, da Judith Hermann in ihrem ersten Roman, wie auch bereits in ihren vorherigen Erzählungen, nur „Aufzählungen von Dingen und Verrichtungen“ aneinander reihe, die „unmotiviert“ wirken und „so gut wie nichts zum Verständnis von Handlung und Psychologie“ beitragen. Ihr reduktionistischer Stil erscheint dem Rezensenten viel eher eine „gedankliche Schlichtheit“ zu sein, der lediglich „Nichtigkeiten [aufbauscht] und Triviales [wichtig] macht“. „Aber nur so hat Judith Hermann ihr Buch vollgekriegt, für diese Null-acht-fünfzehn-Geschichte hätte eine Erzählung dicke gereicht.“ Im Gegensatz zu Edo Reents empfindet Ijoma Mangold (Die Zeit, 14.08.2014) den Kult der Lakonie und des Ungesagten als „eine Poetologie des Alles-Zeigens“, denn die „unausgesprochene Bedeutung wabert wie Nebel zwischen den Zeilen“. Auch Helmut Böttiger (Süddeutsche Zeitung, 15.08.2014) betrachtet das „[A]uslassen und karge […] Möblieren des Textes“ als Hinweise auf ein Mehr. Für Marc Reichwein (DieWelt, 09.08.2014) ist der Roman bloß eine lange Erzählung. Kein gesellschaftliches Panorama, überschaubare Figurenkonstellationen von „matten, gespenstergleichen“ Personen, welche allerdings im Vergleich zu Judith Hermanns früheren Erzählbänden deutlich gealtert sind und nun „ein echtes Leben mit Kindern führen“.
Ob sich der Roman letztendlich einreiht in ihre Sequenz der lakonischen Stilsicherheit und exorbitanten Aussagekraft oder ob Aller Liebe Anfang den hohen Erwartungen an ihren ersten Roman nicht gewachsen ist, darüber sind sich die Kritiker uneinig.
Lettipark [ ↑ ]
Ein Beitrag von Marisa Linß
Inhaltsangaben
Die Erzählungen von Judith Hermanns Lettipark beschreiben scheinbar banale Alltäglichkeiten. Der Erzählband wurde 2016 veröffentlicht und umfasst 17 Erzählungen, deren Umfang sich zwischen sechs und 16 Seiten bewegt. Als verbindendes Element der einzelnen Geschichten erweist sich das Nachsinnen über die individuelle Vergangenheit und die Konstruktion von Sinn und Bedeutung. Der Blick zurück in die eigene Biografie wird meist angeregt durch zufällige oder auch geplante Begegnungen mit alten Freund*innen. Diese rufen Reflexionen über den eigenen Werdegang oder den eines anderen Menschen hervor. Die Figuren von Judith Hermann altern mit ihrer Autorin, so sind die meisten von ihnen in Lettipark Mitte 40. Sie erinnern sich an ihre bereits vergangenen Leben, an eine Zeit, in der sie noch nicht wussten, wohin sie der Weg führen wird und als vielversprechende Sehnsüchte nach einer entfernten Zukunft noch ihr Handeln bestimmten.
In der ersten Erzählung Kohlen sinniert der Ich-Erzähler in Wir-Form über die kürzlich verstorbene Mutter des vierjährigen Vincents. Sie wurde von dessen Vater verlassen, erkrankte daraufhin und stellt damit für den Erzähler den lebendigen Beweis dar, „dass man an einem gebrochenen Herzen sterben kann“ (S. 12). Während die Figuren gemeinsam mit dem Jungen Kohlen für den Winter in den Stall schippen, denken sie über die Konsequenzen des Verlusts für das weitere Leben Vincents nach. Literarisch wird hier die Thematik prägender oder gar traumatischer Ereignisse in Kindheit und Jugend und deren Einfluss auf die Zukunft eines Menschen geöffnet. Damit bildet diese erste Erzählung die Ausnahme zwischen den anderen, die den Blick nicht in die Zukunft, sondern retrospektiv in die Vergangenheit richten.
In Fetisch erzählt der personale Erzähler von Ella und Carl. Sie leben zusammen in einem „Circuswagen“, der in einer Siedlung mit anderen Circuswagen steht. Ella wartet auf Carl, der zwar nicht körperlich anwesend ist, Ellas Handeln und Denken aber trotzdem dominiert. Sie vermeidet es, mit anderen Männern zu sprechen, stapelt das Feuerholz für das Lagerfeuer auf eine Art, wie Carl es immer tut und sinniert über seine Erwartungen an sie. Während sie am Lagerfeuer sitzt und auf ihn wartet, setzt sich ein kleiner Junge zu ihr und möchte ihr eine Fotomontage von Freuds Couch schenken, welche sie jedoch ablehnt. Als er das Bild ins Feuer schmeißt, fragt sich Ella, ob dies wohl das erste Opfer in seinem Leben gewesen sei, was darauf hindeutet, dass Ella in ihrem Leben (möglicherweise auch für Carl) bereits eigene Opfer bringen musste. Als der Junge am nächsten Tag die Siedlung verlässt, ist Carl noch immer nicht zurückgekehrt und Ella wartet noch immer auf ihn.
In der Geschichte Solaris besucht Ada ihre ehemalige Kommilitonin und Mitbewohnerin Sophia. Ein personaler Erzähler berichtet von den beiden Freundinnen, die früher ein gemeinsames Leben führten, sich im Laufe der Jahre jedoch immer weiter voneinander entfernt haben. Nach dem Studium haben beide geheiratet und Kinder bekommen. Sophia ist mittlerweile geschieden und Mutter von drei Kindern, Ada ist verheiratet und hat mit ihrem Mann zwei Kinder. Sophia ist Schauspielerin und Ada kommt sie für die Premiere des Theaterstücks Solaris besuchen. Ada findet in Sophias Wohnung „überall eine Spur aus ihrem gemeinsamen Leben“ (S. 29) – kleinere oder größere Gegenstände, die sie an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnert und an ein anderes Leben als Studentin. Außerdem trifft Ada Aleksander wieder, einen Schauspielerkollegen von Sophia, der ihr ebenfalls aus dem Studium bekannt ist. Sie trinken beim Kindergeburtstag von Sophias Tochter gemeinsam Sekt, der einen von Ada vermutlich sonst unterdrückten Schmerz zum Vorschein bringt. Vor der Premiere von Solaris küsst Aleksander Ada auf den Mund, woraufhin Sophia zu ihr sagt: „Es gibt keine Brücke zwischen Solaris und Erde“ (S. 34).
In Gedichte reflektiert und resümiert die Protagonistin[1] als Ich-Erzählerin über den letzten Besuch bei ihrem psychisch kranken Vater, der jahrelang in einer Klinik stationär in Behandlung war. Er übte dort unter anderem „Gedichte auszuhalten“ (S. 37), was ihm „außerordentlich und erstaunlich schwer [fiel]“ (ebd.). Sie erzählt außerdem, wie sie ihn einmal mit ihrem Mann abholen musste, da er aus der Psychiatrie entflohen war. Zum letzten Treffen vor seinem Tod brachte sie Pflaumen- und Aprikosenkuchen mit, der, so bezeichnet der Vater sie, aus der „schwule[n] Konditorei“ (S. 39) kommen müsse. Die Erzählung stellt den Reflexionsprozess der Protagonistin über den pflegebedürftigen und kranken Vater dar und verdeutlicht die damit einhergehende psychische Belastung, die sich aus einer solchen Situation für die engen Bezugspersonen und Angehörigen ergibt.
In der titelgebenden Erzählung Lettipark trifft Rose auf Elena, die früher „kräftig, mutig, heiter und gereizt“ (S. 43) war, sich aber im Laufe der Jahre in eine „schwermütige, verzauberte Riesin“ (S. 45) verwandelt hat. Der personale Erzähler schildert Roses differierende Eindrücke, die Elena bei einem alltäglichen Einkauf in der Markthalle bemerkt. Daraufhin erinnert sie sich an eine Zeit, in der ihre Bekannte mit Page Shakusky liiert war. Elena erzählte ihm damals vom Lettipark, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Es war ein „gewöhnlicher, trostloser Park am Stadtrand, eine Brache, und es gab gar nichts zu sehen“ (S. 49). Daraufhin schenkte ihr Page Shakusky ein Fotoalbum ebendieses Parks. Elena trennt sich von Page und bricht ihm damit das Herz. Rose erinnert sich daran, reflektiert diese Erlebnisse um Elena und Page Shakusky und hofft, dass der Lettipark, mit seinen „vielversprechenden Schatten“ und den „Wege[n] ins Ungefähre“, für die nicht mehr wiederzuerkennende Elena noch zählt (S. 51).
In Zeugen erzählt die Ich-Erzählerin von einem Abendessen in einem Etablissement namens Anice. Die Protagonistin, Ivo – ihr Ehemann, Henry und Samanta treffen sich dort, um über Berufliches zu sprechen, da Samanta bald Ivos Arbeit in einem Institut übernehmen wird. Das Treffen fand in der Zeit statt, in der die Ehe mit Ivo in einer Krise steckte. Sie denkt darüber nach, wie sie diese Situation damals wahrnahm. Unter anderem fragte sie sich, ob Ivo außer der gemeinsamen Tochter Ida möglicherweise noch weitere Kinder bekommen würde. Am Tisch erzählt Henry außerdem von einer Begegnung mit Neil Armstrong, bei der dieser erzählte, dass der Mond ihn kaputtgemacht hat. Die Erzählung endet auf dem Heimweg des Ehepaares, das auf einer Brücke über einem Fluss steht und den Mond betrachtet. Die Protagonistin hört Ivo zu und sucht währenddessen „nach einem unwahrscheinlichen Funken, einer Möglichkeit“ (S.62), vermutlich für eine Lösung ihrer Probleme.
Die Geschichte Papierflieger erzählt in personaler Erzählperspektive von der alleinerziehenden Tess, die ihre beiden fiebernden Söhne Sammi und Luke für ein Vorstellungsgespräch in Nicks Obhut übergibt. Er ist nicht ihr Vater, aber als Freund der Familie kümmert er sich immer um die beiden Jungen, wenn Tess Termine hat. Das Vorstellungsgespräch ist für einen Job in der „Sozialstation“ (S. 67), in einer Einrichtung für „Leute, die in einer Lebenskrise sind“ (ebd.). Als Tess von ihrem Vorstellungsgespräch zurückkommt, trifft sie Nick und ihre beiden Söhne an, wie sie Papierflieger falten, um sie so weit wie möglich fliegen zu lassen. Tess erzählt Nick von ihrer wiederkehrenden Sehnsucht, alles in ihrem Leben „noch mal zerlegen, neu zusammensetzen“ (S. 72) zu wollen. Doch sie sieht auch ein, dass sie nicht mehr ganz von vorne anfangen kann, nicht zuletzt wegen ihrer beiden Söhne, für die sie Verantwortung trägt.
Inseln erzählt von Iris und Martha, die sich früher einmal sehr nah gewesen waren, es mittlerweile aber nicht mehr sind. Die Ich-Erzählerin Iris betrachtet ein altes Foto, auf dem sie beide zu sehen sind und versucht sich nach und nach daran zu erinnern, wo es aufgenommen wurde. Dadurch rekonstruiert sie ein traumatisches Ereignis aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit, an das ihre Erinnerungen nur verschwommen zurückkommen. Sie verbrachten früher einige Wochen bei Zach, der ein Freund Marthas war und auf den Antillen im Dschungel in einem Haus auf einer Mangoplantage lebte. Sie lebten dort mit Zach, den Angestellten Bumpie und Squeekie, die beide People of Color sind, und einem mageren, weißhaarigen Jungen, der viel schlief, nicht redete und an dessen Namen sich Iris nicht mehr erinnern kann. Iris berichtet außerdem von dem Tag, als sechs schwerbewaffnete Polizisten in das Haus stürmten, den mageren Jungen, Bumpie und Squeekie mitnahmen und die beiden Frauen ratlos zurückließen. Jahre später treffen sich Martha und Iris auf Geburtstagen, Hochzeiten oder Beerdigungen, sprechen miteinander, als sei nichts gewesen, versuchen sich an weitere Details aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern, „finden [jedoch] nicht mehr zueinander zurück“ (S. 76).
Die Erzählung Pappelpollen handelt von Selma, die Bojana und deren Mann Robert besucht. Bojana ist die Schwester von Selmas Ex-Mann Markovic und die Freundschaft der beiden Frauen geht über die Ehe von Selma und Markovic hinaus. Selma trennt sich von Markovic, weil sie zur Ruhe kommen will und das mit Markovic zusammen nicht möglich ist. Der personale Erzähler berichtet vom gemeinsamen Abend der drei Erwachsenen. Sie sitzen gemeinsam in Roberts und Bojanas Küche, essen zu Abend und erzählen sich Anekdoten aus der Vergangenheit. Dabei kommt es in einer Ecke des Innenhofs ihres Hauses zu einer Selbstentflammung der weißen, flauschigen Pappelpollen, weshalb die Feuerwehr anrücken muss. Der Kleinbrand wird gelöscht und Selma verabschiedet sich von dem Ehepaar. Dabei analysiert Robert die Trennung von Markovic als Indiz dafür, dass sie das Grenzenziehen gelernt habe. Für Selma ist das „tröstlich und schrecklich zugleich“ (S. 92). Wie unbeständig das Leben sein kann, erfährt auch Bojana einige Jahre später, die entgegen Selmas Erwartungen ganz plötzlich von Robert verlassen wird und sich dadurch ebenfalls neuorientieren muss.
In Manche Erinnerungen berichtet der personale Erzähler von den Erinnerungen aus Gretas Leben. Sie ist 82 Jahre alt und bewohnt ein dreistöckiges Haus, in dem sie mit ihrem Mann, fünf Kindern, einem Hund und etlichen Katzen lebte. Nun vermietet sie die oberen beiden Stockwerke und Maude, die etwa 50 Jahre jünger als Greta ist, zieht in eines der Zimmer. Die Bewohner*innen des Hauses teilen sich Küche und Garten. Maude erinnert sich an ihr Vorstellungsgespräch für das Zimmer und an Gretas Versicherung, dass sie sich nicht um sie kümmern müsse. Trotzdem verbringen die beiden Frauen öfter Zeit miteinander. Maude lebt bereits ein halbes Jahr in Gretas Haus, als sie ankündigt, dass sie für zwei Wochen an den Lago d’Iseo nach Italien verreisen will. Daraufhin erzählt die alte Frau, dass sie früher einmal ebenfalls dort Urlaub gemacht habe, in einer Zeit, in der ihre „Jugend erblüht[e]“ (S. 108). Sie erinnert sich an einen tragischen Badeunfall, bei dem ein junger Mann ums Leben kam und den sie möglicherweise hätte verhindern können. Vermutlich hat Greta deswegen seit langer Zeit mit Gewissensbissen zu kämpfen und Maude vermutet, dass sie mit dieser Erzählung „in ihrer Erinnerung angekommen“ ist oder diese wie Blätter abwerfe, um sich davon zu befreien (S. 107).
Die Erzählung Gehirn handelt von Philipp und Deborah, die bis zu Philipps fünfzigstem Lebensjahr vergeblich versuchen ein Kind zu bekommen. Der personale Erzähler berichtet von den beziehungsdynamischen Entwicklungen, die sich nach der Adoption eines kleinen, russischen Jungen zwischen dem Ehepaar aufgrund der neuen familiären Situation ergeben. Da Deborah ohne ein Kind das Gefühl hat, dass sie „nicht mehr atmen könnte“ (S.111), entschließen sie sich, den Kontakt zu einer russischen Adoptionsagentur aufzunehmen. Sie nehmen Alexej bei sich auf, der zu Beginn stark verängstigt ist, am Ende trotzdem mit ihnen mitgeht und benennen ihn in Aaron um. Philipp hatte eigentlich mit seinem eigenen Kinderwunsch abgeschlossen und folgt mit der Adoption dem Bedürfnis seiner Partnerin, die sich jedoch als Mutter verändert. Als Philipp ihr von seiner aktuellen Fotoserie einer Operation am offenen Gehirn erzählt, muss er schmerzlich feststellen, dass Deborahs Aufmerksamkeit jedoch ausschließlich ihrem Sohn gilt, der neben ihnen sitzt und isst. Philipp vermisst seit Aarons Einzug in die Familie die tiefgründigen Gespräche mit Deborah und erspürt, dass er an einem Punkt in ihrer Beziehung angelangt ist, die ihn zu einer Entscheidung zwingen wird, womit er, der nunmehr fünfzig Jahre alt ist, nicht mehr gerechnet hatte.
In Brief erinnert sich der Ich-Erzähler an den vermutlich letzten Besuch bei seinem alten Kinderfreund Walter. Walters Familie flüchtete während der Zeit des Nationalsozialismus’, als dieser noch ein Kind war, nach Boston. Der Protagonist berichtet von seinem Treffen mit dem alten Freund und seiner 86-jährigen Frau Edna. Walter, Augenarzt, „ein Verrückter […] [e]in hochintelligenter Spinner, ein Philosoph, ein Exzentriker“ (S.123), baut auf eigene Faust ein Holzhaus auf Nantucket und zeigt seinem Besucher dieses Altersprojekt. Er schreibt außerdem deutsche Romane und „zitiert Hölderlin, Goethe, Kleist und Rilke auswendig“ (S. 123). Auch wenn nicht ganz klar ist, ob Walter die Beendigung seines Bauprojektes noch erleben wird, arbeitet er hart an der Genehmigung der eigens konstruierten Abwasseranlage und möchte gegen deren Verbot wenn nötig „über seinen Tod hinaus“ (S. 124) vorgehen. Die Grundstimmung der Erzählung ist melancholisch. Der Titel verrät zwar, dass es sich um einen Brief handelt, an wen er gerichtet ist, bleibt jedoch offen, sodass man als Leser*in selbst zum*zur Adressat*in wird, dem*der die letzten Erinnerungen des Protagonisten an seinen alten Freund unterbreitet werden.
Träume berichtet aus personaler Erzählperspektive von Effi und Teresa, die jahrelang miteinander befreundet sind, sich jedoch eigentlich nicht wirklich für die jeweils andere interessieren. Effi erzählt Teresa von einem Traum, in dem sie gemeinsam Zug fahren. Während sie Fahrkarten kaufen, wird Teresa immer kleiner, bis Effi sie in ihre Jackentasche stecken kann. Außerdem empfiehlt Effi Teresa Doktor Gupta, einen Psychotherapeuten, bei dem Effi bereits eine Zeit lang in Therapie ist. Die beiden Frauen entfernen sich immer weiter voneinander und haben kaum noch Kontakt. Ab und zu treffen sie sich zufällig auf der Straße. Effi bekommt ein Kind, zu Beginn grüßen sie sich noch, doch irgendwann hören auch diese Bekundungen einer ehemaligen Freundschaft auf. Weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht mehr weiter weiß, begibt sich Teresa tatsächlich bei Doktor Gupta in therapeutische Behandlung. Viele Jahre geht sie dorthin und versucht die Ursachen ihrer psychischen Probleme aufzuarbeiten. Dabei erkennt sie neben anderen Dingen auch die Toxizität ihrer Beziehung zu Effi, die sie wie im bereits erwähnten Traum jahrelang in die metaphorische Tasche stecken wollte und imaginiert die Antwort Doktor Guptas, dessen Lösung vermutlich wäre, dass man damit leben müsse.
Osten handelt von Jessica und Ari und den Machtspielchen, die sich innerhalb ihrer langjährigen Beziehung mehr und mehr in den Vordergrund drängen. Sie reisen mit dem Zug nach Odessa in die Ukraine. Der personale Erzähler berichtet von Jessica, die dorthin möchte, da sie gelesen hat, dass Odessa im Herbst schön sein soll. Ari hingegen ist schlecht gelaunt und hat keine Lust auf den Trip, zu dem er lediglich aus Höflichkeit mitgekommen ist. Sie kommen am frühen Morgen dort an und machen sich auf die Suche nach einer Bleibe. Am Bahnhof stehen Frauen mit Schildern, auf denen ‚Unterkunft‘ steht, von denen sie eine ansprechen und ihr zu einem Quartier folgen, das sich als schäbige Holzbaracke in einem Hinterhof zwischen den Behausungen von Prostituierten und streunenden Katzen entpuppt. Damit bestätigt sich Aris Vorstellung von Odessa, es gebe dort nur „Militär und Prostitution, Taubendreck und ein […] schmutzige[s] Meer“ (S. 144). Das Zimmer entpuppt sich als Strafe für Jessica, da sie Ari zu dieser Reise überredet hat. Kurzerhand verlassen sie den schäbigen Hinterhof wieder und Ari versichert Jessica, dass sie etwas anderes Schönes finden werden.
In Rückkehr geht es um eine ungleiche Freundschaft zwischen einer Mutter eines Sohnes namens Ziggy und Ricco, den sie von Kindheit auf kennt. Riccos Vater sprengte sich, als dieser sieben Jahre alt war, in der Garage aus Versehen selbst in die Luft und seitdem ist Ricco „in gewisser Weise verletzt“ (S. 154). Ricco ist rastlos und erlebt viel, die namenlose Ich-Erzählerin hingegen hat sich von ihrem gemeinsamen einstigen Lebensstil gelöst und hat ein Kind bekommen, ist angekommen. Die Freundschaft zwischen den beiden Protagonist*innen ist einseitig. Ricco redet ununterbrochen und erzählt der Protagonistin die immer gleichen Geschichten, kann aber im Gegenzug nicht zuhören, wenn sie etwas erzählen will. Die Jahre vergehen, Ricco ist in den Vierzigern und zieht wieder in die Gegend, in der er aufgewachsen ist, ganz in der Nähe des Grabes seines Vaters. Er besucht seine Freundin und sie unterhalten sich. Die Art ihrer Beziehung bleibt unverändert, Ricco kann noch immer nicht zuhören und die Protagonistin akzeptiert dieses Charakteristikum ihres Freundes – vielleicht weil es einfacher ist, als sich von ihm aktiv zu trennen.
In der Erzählung Kreuzungen erzählt der personale Erzähler von Vito und Patricia, einem Ehepaar, dessen Nachbar aus gesundheitlichen Gründen aus seinem Haus ausziehen muss und dieses an eine sechsköpfige Familie vermietet, die von der Erzählerin als „[d]ie Asozialen“ (S. 169) kategorisiert wird. Der Vater ist gewalttätig, die Mutter offensichtlich süchtig nach Medikamenten und ihr sechzehnjähriger Sohn Steven Gonzales Soderberg zeigt bereits kriminelle Tendenzen auf. Er bricht in der Abwesenheit des Paares in ihr Haus ein und verwüstet es. Sie rufen die Polizei und Patricia steht vor der Entscheidung, den Jungen anzuzeigen und damit seine Perspektiven im Leben zusätzlich zu schmälern. Sie entscheidet sich dafür. Ein Telefonat mit Andre, dem ehemaligen Nachbarn und Vermieter des Hauses, bringt die Erkenntnis, dass nur ein Eigentümerwechsel den Rauswurf der Nachbarn rechtfertigen könnte. Vito ist bereit für den Hauskauf, Patricia jedoch möchte die für die Nachbarn richtungsweisende Entscheidung „moralisch verantworten können“ (S. 174), hat sie doch bereits Stevens Anzeige veranlasst und damit an einer bedeutenden Kreuzung im Leben des Jungen den Weg vorgegeben.
Die letzte Geschichte Mutter erzählt von der Differenz zwischen zahlreiche und vielseitige Erwartungen an das Leben und wie es am Ende wirklich wird. Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrer Mutter, die ihre Jugend mit ihrer Freundin Margo Rubinstein verbrachte. Die Ich-Erzählerin berichtet von Margo, die mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne, in der sie in einem Schwesternheim wohnte, bei ihrer Mutter lebte. Als junge erwachsene Frauen schrieben die namenlose Mutter der Protagonistin und Margo Rubinstein Tagebuch. Sie versuchten die Facetten ihrer Persönlichkeit zu erfassen und malten sich die Dinge und Träume aus, die in ihrem Leben möglicherweise passieren könnten. Die Erzählerin berichtet von Margos Gesichtsausdruck, der auf sie gewirkt habe, als wisse sie, „dass alles schief gegangen sei, obwohl es gar nicht schief hätte gehen müssen“ (S. 180). Mit 50 Jahren stirbt Margo Rubinstein schließlich an Krebs, kinderlos, unverheiratet und ohne die Möglichkeiten ihr Leben ausgekostet zu haben. Nach ihrem Tod kümmert sich die Mutter der Protagonistin um die zurückgebliebene alte Frau Rubinstein. Bald muss diese aufgrund ihres fortschreitenden Alters in einem Pflegeheim untergebracht werden, wofür ein entfernter Verwandter die nötigen Schritte einleitet. Nach einem letzten Besuch der Mutter der Erzählerin bei der alten Frau Rubinstein stirbt diese.
Inhaltliche Aspekte
Der Lettipark als Allegorie für den Blick zurück
Die Figuren in Hermanns Erzählungen blicken aus ihrer Gegenwart zurück in ihre eigene Vergangenheit. Sie erinnern sich an vergangene Lebensabschnitte, Entscheidungen, die sie getroffen haben, Beziehungen zu bestimmten Personen oder die Momente, die für den weiteren Verlauf ihres Lebens richtungsweisend waren und reflektieren ihr gegenwärtiges Leben vor diesem Hintergrund. Die Protagonist*innen konstituieren die Bedeutung, die dem Vergangenen für die Gegenwart innewohnt und konstruieren durch das Erinnern eine Narration ihres Lebens.
Die Titelerzählung wird durch eine Analepse eingeleitet, in der die Protagonistin Rose Elena beschreibt, wie sie in der Zeit ihrer Jugend war. Nach einigen Jahren treffen die beiden Frauen in einer Markthalle aufeinander. Dabei nimmt Rose eine Differenz zwischen dem früheren und heutigen Erscheinungsbild der alten Bekannten wahr. Früher war sie „das schönste Mädchen der Straße“ (S. 44) und „kräftig, mutig, heiter und gereizt“ (S. 43). Heute wirkt sie auf die Protagonistin „wie eine traurige Riesin. Eine schwermütige, verzauberte Riesin“ (S. 45), „alt […], phlegmatisch und langsam“ (S. 44). Rose kann sich diese Veränderungen nicht erklären und mutmaßt, dass sie möglicherweise „in etwas hineingeraten“ (ebd.) sei. Vielleicht könnte das etwas mit Elenas Begleitung, einem kräftigen Inder, bei dem sie eine „Neigung zur Gewalttätigkeit“ (ebd.) zu erkennen scheint, zu tun haben.
Rose erinnert sich an den stets alkoholisierten Page Shakusky, dessen Schwärmerei für beide Frauen das einzige verbindende Element zwischen ihnen darstellte. Die Protagonistin, zu dieser Zeit eine Klosterschülerin, wies Shakusky ab. Danach ging er eine Liaison mit Elena ein, die damals Kneipenbesitzerin war und ihm nach sechs Wochen das Herz brach. Shakusky machte Elena damals ein Geschenk. Er gab ihr ein Fotoalbum mit Bildern des Lettiparks, dieses „gewöhnliche[n], trostlose[n] Park[s] am Stadtrand“ (S. 49), in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte und der damit eine biographische Signifkanz für sie erhält. Schon damals entdeckte Rose in dem Geschenk für Elena etwas, was man nur einmal im Leben bekommt.
Die Bedeutung des Lettiparks geht über Elenas Kindheit und die zerbrochene Beziehung zu Shakusky hinaus und wird durch die erzählende Instanz auf Roses Leben ausgeweitet. Er wird für sie zu „[einem] Zwischenreich“ (S. 50) mit „vielversprechenden Schatten“ (S. 51). Rose und Elena sprechen nicht miteinander, sondern nehmen sich nur kurz wahr. Elenas Gedanken bleiben deshalb verborgen und Roses Deutung bleibt die einzige, zu der der/die Leser*in Zugang hat. Der aufgrund seiner unspezifischen Beschreibungen wenig konkrete Lettipark, der sich überall auf der Welt befinden könnte, wird für Rose und Elena zur Projektionsfläche ihrer Vergangenheit, als sie den Großteil ihres Lebens noch vor sich hatten. Er birgt verschiedene Wege, die mehr oder weniger eingeschlagen worden sind, „ungewisse Schatten“ (S. 50), die sich noch enthüllen müssen und Möglichkeiten oder Erlebnisse, die noch ergründet werden wollen. Er kann allegorisch auch auf die anderen Erzählungen bezogen werden, in denen sich die Figuren an ein Früher erinnern, als alle möglichen Richtungen des eigenen Lebens noch denkbar waren. Rose hofft, dass Elena sich noch an den Lettipark erinnern kann und dass er mit seinen „Wege[n] ins Ungefähre“ (S. 51) noch eine Rolle spielt, sie den bereits beschrittenen Weg also nicht als endgültig betrachtet. Damit einher geht vermutlich auch der Wunsch, dass Roses eigenes Leben noch vielfältige Möglichkeiten bereithält, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ganz ersichtlich sind oder für die sie noch hofft genügend Mut zu finden.
Unendliche Möglichkeiten, nötige Kompromisse
Manche Titel von Herrmanns Erzählungen lassen bereits erahnen, dass die metaphorische Deutung des Lebens als Weg mit diversen Abzweigungen, Kurven, Sackgassen u.Ä. ein wiederkehrendes und übergeordnetes Motiv ist („Manche Erinnerungen“, „Träume“, „Rückkehr“, „Kreuzungen“). Die Figuren erinnern sich und reflektieren ihren individuellen Werdegang. Sie bringen ihre Biografie in Relation zu ihren ursprünglichen Träumen und messen ihrer Vergangenheit Bedeutung zu. Was in der Erzählung Lettipark durch ebendiesen „trostlose[n] Park am Stadtrand“ (S. 49) allegorisch verdeutlicht wird, nimmt die Autorin im ersten Kapitel Kohlen vorweg.
Diese erste Erzählung ist die einzige des Bandes, in der der Blick in die Zukunft gerichtet ist. Der Erzähler deklariert die nachhaltige Bedeutung der an gebrochenem Herzen gestorbenen Mutter als richtungsweisend für das restliche Leben des vierjährigen Vincents („Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde“ S. 12). Auch Elena aus der Erzählung Lettipark scheint unbewusst „in etwas hineingeraten“ (S. 44) zu sein, worauf sie keine oder wenig Kontrolle hat und was ihrem Leben eine bestimmende Richtung gegeben hat. Für Vito und Patricia aus dem Kapitel Kreuzungen sind es die neuen Nachbarn, die nebenan einziehen und das gemeinsame Leben der beiden Figuren beeinflussen. Für die Biografie des Nachbarsjungen Steven Gonzales Soderberg ist Patricia wiederum eine Schlüsselfigur, die an einer ebensolchen Kreuzung über seinen weiteren Weg entscheidet. Für Philipp aus der Erzählung Gehirn stellt die Adoption Alexejs einen der ungefähren Wege des Lettiparks dar. Eigentlich hatte er das Thema Elternschaft für sich bereits abgehakt, seine Frau Deborah kann sich ein Leben ohne Kind jedoch nicht vorstellen, weshalb er diese Entscheidung mitträgt. Wie sehr Deborahs neuer Selbstentwurf als Mutter die Beziehung des Paares belastet, war für Philipp jedoch vorher nicht absehbar.
Das alles sind Beispiele für die vielen Ungewissheiten, die sich im Laufe des Lebens von Hermanns Figuren in die eine oder andere Richtung konkretisieren. Bestimmte Ereignisse, Entscheidungen, Begegnungen oder Zufälle, bringen neue Möglichkeiten mit sich, lassen andere dafür jedoch verschwinden und grenzen die Entscheidungsfreiheit eines Menschen in gewisser Weise ein. Ein frisch verliebtes Ehepaar erträumt sich eine sorglose und glückliche Zukunft zu zweit, der nichts im Weg stehen kann, entfremdet sich jedoch nach Jahren voneinander und die Frage danach, wer Recht hat spielt plötzlich eine immer größere Rolle (Osten). Zwei Freundinnen, die während ihres Studiums eine enge Freundschaft zueinander pflegten, sind aufgrund anderer Lebenssituationen und weiterer unbekannter Faktoren nun metaphorisch gesehen so weit voneinander entfernt wie die Sonne zur Erde (Solaris). Eine Frau, die ihre beiden Kinder allein erziehen muss, nimmt jeden Job an, der deren gemeinsame Existenz sichern kann und kann dabei keine anspruchsvolle Auswahl treffen (Papierflieger). Was am Ende übrig bleibt, sind aus Sicht der Figuren Hermanns oft Kompromisse. Sie trafen und treffen ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit und den daraus resultierenden Spuren, die bis in ihre Gegenwart hineinreichen. Die einzelnen Erzählungen sind Reflexionen und Überlegungen, die einen Deutungsprozess der Figuren sichtbar machen. Damit konstruieren sie eine individuelle Narration über ihre eigene Biografie. Die namenlose Protagonistin aus Rückkehr reflektiert beispielsweise über ihre Beziehung zum alten Kinderfreund Ricco. Beide Figuren haben sich verändert: „Er sieht ganz und gar anders aus als damals [...] Ich will nicht wissen, wie anders ich aussehe.“ (S. 162). Was jedoch wie früher unverändert bleibt, ist das Ungleichgewicht in ihrer Freundschaft. Vielleicht hätte sie Ricco irgendwann darauf hinweisen können, dass er zu viel spricht und selbst niemals zuhört. Doch nach der vergangenen Zeit, in der sich die Prioritäten der Protagonistin anderweitig verschoben haben, scheint es einfacher zu sein, es dabei zu belassen, weil es neben der Verantwortung für ihren Sohn Ziggy unwichtig erscheint.
Formale Aspekte
Erzählsituation und Konjekturales Lesen
Die Erzählungen in Lettipark entfalten sich anhand zweier unterschiedlicher Kombinationen von Erzählperspektive und Tempusgebrauch (vgl. Herrmann 2020: 144f, siehe auch Kapitel Forschungsspiegel). In einigen Geschichten erzählt ein Ich-Erzähler über etwas Vergangenes und bedient sich dabei meist dem Präteritum, während er jedoch einige reflektierende Sätze im Präsens einfügt, die seine eigene Deutung über das Geschehene durchblicken lassen:
„Und ich war mir sicher, ich würde ihn nicht wiedererkennen [...] er wäre ein anderer, ich weiß, dass das möglich ist, dass wir so sind.“ (S. 54)
„Baden, Jeepfahren, Rum trinken, Mangos pflücken und rauchend in der Hängematte liegen, damit wir solche Dinge tun konnten; ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das nur gedacht oder möglicherweise auch laut gesagt habe.“ (S. 77)
In den anderen Kapiteln spricht ein personaler Erzähler über Ereignisse und Begebenheiten, die einer Figur simultan zum Prozess des Erzählens passieren. Die Gleichzeitigkeit wird durch den Gebrauch des Präsens ausgedrückt:
„Tess sitzt mit Luke auf dem Sofa und wartet auf das digitale Piepen des Thermometers unter Lukes Achsel.“ (S. 63)
„Als Ella vom Fluss zurückkommt, brennt hinter dem Circuswagen ein Feuer, aber Carl ist nicht zu sehen.“ (S. 13)
Bei beiden Kombinationen sind die Erzähler immer intern fokalisiert und ihr Wissen ist eng auf dasjenige einer der Figuren beschränkt. Diese Innensicht und das Fehlen von einordnenden oder auch strukturierenden Erzählerkommentaren geben den Geschichten eine Ambiguität, die es dem/der Leser*in überlässt, Interpretationen vorzunehmen und eigene Vermutungen anzustellen. Hermann entwirft in Lettipark Impressionen und liefert Detailbeobachtungen aus dem Leben der Protagonist*innen, deren Bewertung von den Rezipient*innen vorzunehmen ist, weil sie zwischen den Zeilen stehen. Damit bedient sich die Autorin eines konstituierenden Merkmals von Kurzgeschichten, was der Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway mit dem Begriff des Eisbergmodells gefasst hat. Damit einher geht eine konjekturale Haltung des/der Leser*in, die selbige*n dazu ermuntert, die Lücken der elliptischen Erzählungen mit dem eigenen Realitätswissen selbst zu füllen.
Radikaler Minimalismus
Hermanns Schreibstil zeichnet sich durch einen „radikalen Minimalismus“ (Schröder 2016) aus. Dieser Minimalismus zeigt sich im parataktischen Satzbau:
„Er sieht den Circuswagen, er sieht Ella aus den Augenwinkeln an. Sie reden ein wenig miteinander.“ (S. 19)
„Robert deckt den Tisch. Er deckt Holzbrettchen und Weingläser, stellt Käse, Oliven und Brot dazu.“ (S. 86)
„Die Dicke flüstert mit der blonden Prostituierten. Sie spuckt auf zwei Finger und wischt an irgendwas auf ihrem Schlafanzug herum. Sie warten alle ab.“ (S. 150)
„In der Nacht stehen sie alle zusammen am geöffneten Fenster. Tess hat Sammi auf dem Arm, sie hat die Decke fest um ihn gewickelt.“ (S. 73)
Außerdem werden die Dialoge der Figuren in Form autonomer Rede, also der Redewiedergabe ohne begrenzende Anführungszeichen, wiedergegeben:
„Und dann, sagt Maude zögernd.“ (S. 107)
„Los, wir gehen, sagt Ari. Wir gehen mit ihr mit.“ (S. 145)
„Er sagte, dreimal kannst du raten.“ (S. 173)
Dieser minimalistische Erzählstil trägt zur oben bereits erwähnten konjekturalen Haltung bei, bei der der/die Leser*in eigene Interpretationsleistungen vornehmen muss. An der Oberfläche scheinen die alltäglichen Ereignisse durch Hermanns minimalistischen Erzählstil zunächst banal. Die Erzählungen bewegen sich zwischen den beiden Polen showing und telling, sind also weder ausschweifend erzählt noch einfach nur präsentiert (vgl. Herrmann 2020: 155). Durch das Weiterdenken und Hinzufügen des hemingwayschen Eisbergs unter der Erzähloberfläche kommt jedoch der Kern des Erzählten zum Vorschein. Die Figuren erzählen, manchmal selbst oder durch einen Erzähler, von den Ereignissen, die einen weitreichenden Einfluss auf ihr restliches Leben oder das Leben anderer hatten und konstruieren dadurch die Bedeutung, die sie diesen Geschehnissen geben. Welche Konsequenzen einzelne Begebenheiten auf das Leben eines Menschen haben können, vermutet der Wir-Erzähler im einleitenden Kapitel, als er über die Zukunft Vincents nachdenkt, und nimmt damit vorweg, was der Vierjährige später vielleicht einmal, wie die Figuren der anderen Erzählungen, erzählen wird. Das Wir fungiert zudem als Kollektiv und führt zur Konstruktion von Vincents Außenseiterstatus, dem er durch seine traumatische Kindheit im Leben immer wieder neu begegnen könnte.
Präzisierende Repetitionen
Die Suche nach treffenden Formulierungen, um das Innere zu transportieren, äußert sich in Hermanns Erzählungen in dem Spannungsverhältnis von Repetition und Variation. Dadurch entsteht eine sprachliche Suchbewegung, die die tragende Rolle des Erzählens als Denkvorgang veranschaulicht und das zuvor Gesagte sowohl für den/die Leser*in, in erster Linie aber für die Figuren selbst genauer präzisiert. In Zeugen stellt die Ich-Erzählerin Vermutungen über die Zukunft ihres Ehemannes an, die auf der Krise ihrer gemeinsamen Ehe basieren: „ich würde keine Kinder mehr bekommen. Ivo schon. Ivo möglicherweise schon“ (S.54). Rose unternimmt in der Erzählung Lettipark den Versuch, die beträchtliche Differenz zwischen der früheren und heutigen Elena in Worte zu fassen: „Elena sieht aus wie eine traurige Riesin. Eine schwermütige, verzauberte Riesin“ (S. 45). Die junge Maude interpretiert das Kaffeetrinken mit ihrer viel älteren Mitbewohnerin Greta, die ihr von einem Erlebnis eines Badeunfalls in ihrer Jugend erzählt: „Die Krieger auf dem Wandteppich stehen hinter Greta wie eine Gefolgschaft. Stehen hinter Greta wie Ahnen“ (S. 105f).
Auf sprachlicher Ebene wird so in den Erzählungen Hermanns der individuelle Interpretationsprozess der Figuren sichtbar gemacht. Maudes Deutung der Krieger auf dem Wandteppich als „Gefolgschaft“ oder „Ahnen“ macht ihren Denkprozess nachvollziehbar. Die Krieger stehen sowohl buchstäblich als auch metaphorisch hinter Greta. Sie halten ihr den Rücken frei, während sie von dem Badeunfall erzählt, für den sie sich möglicherweise seit Jahrzehnten verantwortlich fühlt. Die Ereignisse bekommen so einen Sinn und eine Bedeutung, deren Konsequenzen sich in der Biografie der Protagonist*innen widerspiegeln oder diese sogar beeinflusst haben. Das Erzählen dient als Mittel, um diesen Deutungsprozess zu versprachlichen und prägende Ereignisse zu verarbeiten.
Pressespiegel
Die Rezensionen zu Lettipark fallen gemischt aus und zeigen ein breites Spektrum an Leseeindrücken. Juliane Witzke beschreibt auf literaturkritik.de, dass die Autorin die „Zukunftsangst und Verlorenheit [der Figuren, Anm. d. Verf.] […] vielschichtig und reizvoll [darstellt]“. Die Erzählungen wirken durch ausgewählte altmodische Elemente (z.B. Kohlen schippen in der Erzählung Kohlen) „wie aus der Zeit gelöst“ und erzeugen „ein Gefühl der Irritation“. Charakteristisch für die einzelnen Kapitel sind für Witzke „poetische Bilder, wie die Erkenntnis, dass es genügen kann, ein Gesicht im Traum eines anderen gewesen zu sein“ (ein Zitat aus der Erzählung Lettipark) und eine „starke Bildlichkeit“, die die einzelnen Momentaufnahmen im Leben der Figuren zeichnet, die jedoch sehr komponiert wirke. Essenz der „Gegenwartsprosa“ von Judith Hermann sei die Tatsache, dass ihre Protagonist*innen „üben, das Leben auszuhalten“.
Sabine Voda Eschgfäller thematisiert auf der Internetseite des Goethe-Instituts die oft negativ besprochene Reduziertheit Hermanns, die manchem Kritiker „als Leere und als Versuch [erscheint], Bedeutung und Tiefe zu behaupten, wo keine ist“. Lasse man sich jedoch auf diesen Stil ein, erkenne man die Schatten, die von Leid erzählen oder einen Nachklang von Melancholie enthalten. Hermann erzähle von „kaum beachtete[n] Gefühlen, die in der Alltäglichkeit des Lebens […] nisten“ und die Dilemmata freilegen, für die es „keine klassischen Lösungen“ gibt.
Kristina Maidt-Zinke von der Süddeutschen Zeitung schreibt in ihrer Rezension Dieses Kreiseln um Belangloses geht leicht auf die Nerven über die „hübsche[n] kleine[n] Erzählungen“ Hermanns, die mal und mal weniger funktionieren. Weltliteratur solle man von dem Erzählband nicht erwarten, auch wenn die Autorin ihrem literarischen Stil aus „Lakonie, Parataxe, Beschreibungsaskese [und] Ironiefreiheit“, der sie mit ihrem Debütband Sommerhaus, später zu einer „Ikone des Ungesagten“ machte, treu geblieben sei. Hermann betreibe mit diesem Schreibstil eine unermüdliche Suche nach „dem poetischen Moment“, in dem sich „eine komplexe menschliche Erfahrung“ zu einem Bild verdichten lasse. Dabei deute die „schleierhafte Aura ihrer Texte“ solche Momente nur an, belasse dabei jedoch Größeres (wie den Tod) im Vagen. Auch die „preziöse Internationalität“ der Vornamen von Hermanns Figuren (bspw. Ada, Sophie, Martha, Maude, Henry) steche der Rezensentin negativ ins Auge, da sie den „Understatement-Ton“ der Erzählungen auf ungelenke Art unterlaufe.
Für Meike Feßmann von Deutschlandfunk Kultur sind Hermanns Erzählungen lediglich „Ausstattungsprosa, die dem Leser die Dinge bloß nenne, die er sich vorstellen soll“. Sie behandeln, wie auch schon Sabine Voda Eschgfeller vom Goethe-Institut feststellte, „Gefühle, die man normalerweise kaum beachtet“, die jedoch schlecht und eigentlich sogar gar nicht erzählt seien. Der Erzählband wirke zunächst eher wie ein „Film-Exposé“, entwickele jedoch bei genauerem Hinsehen einen Zauber, der auf alle Erzählungen zurückstrahle. Die Autorin erzähle von lockeren Figurenkonstellationen, deren Erlebnisse und Beziehungen in „kleine Nachdenklichkeiten“ über das Leben münden. Man müsse den Geschichten einen „Empathie-Vorschuss gewähren, um sie zum Klingen zu bringen“.
Christoph Schröder bezeichnet Lettipark in seiner Rezension auf tagesspiegel.de als „seltsames Buch“, welches ein „schön wohliges Unbehagen“ ausstrahle. Hermanns Texte lassen sich aufgrund von „Erwartungen, vorweggenommenen Zuschreibungen [und] Mystifizierungen“ nach ihrem bereits erwähnten Erfolg mit Sommerhaus, später nicht mehr unvoreingenommen lesen. Für Schröder geht die Strategie der „große[n] Kurzfasserin“, die in der „Technik der Radikalbeschneidung“ läge, nicht mehr auf – im Gegenteil: „Quälend laut dröhnt ab und an das Pathos“. Die Motive, die in den Erzählungen auftauchen (wie z.B. der Papierflieger im gleichnamigen Kapitel) und das Potenzial besäßen, die „enge Welt [der jeweiligen Figuren, Anm. d. Verf.] aufzureißen“ und eine „Tragik ganzer Leben“ sichtbar werden zu lassen, gehe jedoch selten auf. „Der viel beschworene Raum zwischen den Zeilen ist leer und bleibt auch leer“, so Schröder. Auch er kritisiert die Namensgebung Hermanns Figuren und bezeichnet sie als „süßlich parfümiert“. Gelungen ist für den Rezensenten die Erzählung Zeugen, in der plötzlich alles („die Bilder, der Rhythmus der Sprache, die Stimmung“) funktioniere und auf Hermanns Fähigkeit hindeute, „von der Fragilität der Welt zu erzählen“.
Forschungsspiegel
Leonard Herrmann spricht in seinem Artikel Framing the Presence: Judith Hermann’s Lettipark von einer „strong relation to the present“ (Herrmann 2020: 144), die in den Erzählungen durch je eine gegenwärtige Rahmenhandlung und die darin eingebettete, vergangene Haupthandlung konstruiert wird. Verschiedene Kombinationen von Erzähler und Zeitformgebrauch tragen zu Hermanns „practice of framing“ (ebd. S. 148f) bei, die an die Tradition der Novelle des 19. Jahrhunderts erinnere, in der ebenfalls eine äußere Handlung den Rahmen für weitere Binnenerzählungen bietet. Bekannte Beispiele sind der gattungskonstitutive Novellenzyklus Giovanni Boccaccios Il Decamerone (1348-53) oder Johann Wolfgang von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795).
L. Herrmann stellt in seinem Artikel zwei „main patterns of voice/tense-combinations“ (ebd. S. 144f) fest: In den Erzählungen Kohlen, Gedichte, Zeugen, Inseln, Brief, Rückkehr und Mutter werden Haupt- und Rahmenerzählungen über einen Ich-Erzähler in der Vergangenheitsform (meist Präteritum) vermittelt und mit punktuellen Kommentaren und Reflexionen des Erlebenden Ichs im Präsens versehen (vgl. ebd. S. 145). In den übrigen Erzählungen berichtet ein personaler Erzähler, der nicht Teil der erzählten Welt ist, von „occurrences or events occuring simultaneously with the process of narration“ (ebd.), welche die Rahmenhandlung darstellen. Diese Gleichzeitigkeit („simultaneously“) wird durch den Gebrauch des Präsens vermittelt. Die Haupterzählung erfolgt wieder in der Vergangenheitsform. Diese Form des Erzählens steht nach L. Herrmann in Kontrast zum klassischen personalen Erzähler – dieser „relates the plot, describes scenarios and settings, introduces characters, and relates their actions“ (ebd.) und ist damit weitgehend allein für den Fortgang der Handlung verantwortlich. Hermanns personaler und zugleich eng auf eine der Figuren intern fokalisierter Erzähler hingegen erschafft lediglich einen Rahmen für die Handlung, die von den Protagonist*innen selbst entfaltet wird. Das begrenzte Wissen des Erzählers lässt Freiraum für eigene Interpretationen oder Ergänzungen des/der Leser*in, was L. Herrmann wiederum als typisch für die Gattung der Kurzgeschichten konstatiert (vgl ebd.).
Judith Hermanns Erzählstil verdeutlicht für L. Herrmann „how stories are told“ (ebd. S. 155) und beinhaltet „characters who talk about actions situated in their (or others’) personal history” (ebd. S. 150f). Für die Figuren erhält das Erzählen also eine therapeutische Funktion und ist ein Versuch, familiäre oder beziehungsbedingte Probleme zu bewältigen. Wie auch in der Novelle spielt das Erzählen an sich und weniger der dichte Plot eine übergeordnete Rolle, was L. Herrmann als „metafictional turn that addresses a potential function of storytelling in the real world too“ (ebd. S. 146) konstituiert. Die Erzählungen in Lettipark sind mit ihrer zeitlich-räumlichen Unbestimmtheit und dem starken Bezug zur alltäglichen Realität der Charaktere, fern eines jeglichen durch eine/n Autor*in konstruierten Plots, also unmittelbar auf unsere eigene reale Welt beziehbar und verdeutlichen, wie Sinn und Bedeutung vor dem Hintergrund der eigenen Biografie von den Figuren selbst konstruiert werden.
Literatur
Primärliteratur
Hermann, Judith: Lettipark. Erzählungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016.
Forschungsliteratur
Herrmann, Leonhard: Framing the Presence: Judith Hermann’s Lettipark. In: Marven, Lyn/Plowman, Andrew/Roy, Kate (Hrsg.): The short story in German in the twenty-first century. Rochester: Boydell & Brewer 2020, S. 137-155.
Rezensionen
Feßmann, Meike: Von Gefühlen zwischen Tür und Angel. In: Deutschlandfunk Kultur, 24.05.2016. [zu Lettipark]
Maidt-Zinke, Kristina: Dieses Kreiseln um Belangloses geht leicht auf die Nerven. In: Süddeutsche Zeitung, 30.05.2016. [zu Lettipark]
Schröder, Christoph: In leeren Räumen. In: Der Tagesspiegel, 22.05.2016. [zu Lettipark]
Voda Eschgfäller, Sabine: Online-Rezension, In: Goethe Institut. [zu Lettipark]
Witzke, Juliane: Üben, das Leben auszuhalten. In: literaturkritik.de. rezensionsforum, 03.06.2016. [zu Lettipark]
[1] In dieser wie auch in anderen Erzählungen ist die Geschlechtsidentität der Protagonist*innen nicht explizit durch Personalpronomen, Namen etc. erkennbar. Sowohl in literaturwissenschaftlichen Beiträgen wie auch in einem großen Teil der Literaturkritik wird davon ausgegangen, dass die Autorin exklusiv weibliche Figuren in das Zentrum ihrer Erzählungen stellt. Dies entspricht aber eher einer Rezeptionskonvention, als dass die Erzählungen Hermanns die geschlechtliche Unbestimmtheit auflösen würden.
Irgendwo dazwischen - Analyse zu Judith Hermanns Daheim
(Ein Beitrag von Marisa Linß)
Inhaltsangabe
Daheim (sein) – was bedeutet das? Eine Suche auf duden.de ergibt unter anderem die Synonyme Heimstätte, Domizil, Elternhaus oder zu Hause. Doch auch diese Lexeme öffnen wiederum verschiedene Assoziationen eines schwer greifbaren Begriffs. Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Susanne Scharnowski widmet sich in ihrer Untersuchung Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (2019) dem vielfältig besetzbaren Heimatbegriff – Heimat kann demnach mal ein „reaktionäres Konstrukt, mal Sehnsuchtsort, dann wieder ein gefährdeter Raum, den es zu verteidigen gilt“ sein (aus der Buchkritik von Katharina Döbler auf Deutschlandfunkkultur.de). Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff als „Raum [...], der Geborgenheit und Sicherheit gibt“.
Rainer Gross beschreibt die Beschäftigung mit dem Heimatbegriff mithilfe einer Skala. Auf der einen Seite befinde sich der „‚Kältepol‘“, der unter anderem die politisch hochgradig besetzten und immer wieder neu umkämpften Schlagwörter „‚Nation‘“ und „‚Vaterland‘“ in sich vereint. Etwa in der Mitte der Skala stehe der Begriff Heimat selbst. Am anderen Ende jedoch verortet Gross den bereits erwähnten, immanent individuellen und deshalb unscharfen „‚Wärmepol‘“ des Heimischen (Gross 2019: 12). Die Auseinandersetzung mit dem politisch konnotierten Skalenende von Heimat bedarf durch seine Aktualität besonderer Zuwendung. Die folgende Analyse widmet sich jedoch lediglich dem „Wärmepol“ der Skala.
In Judith Hermanns Roman Daheim, der 2021 veröffentlicht wurde, befindet sich die namenlose Protagonistin am Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Die Erzählung beginnt mit einer Analepse, in der sie sich an den Sommer vor dreißig Jahren zurückerinnert. Damals arbeitet sie in einer Zigarettenfabrik am Fließband und wohnt allein in einer Einraumwohnung einer unbestimmten Großstadt. Eines Tages begegnet sie an der Tankstelle einem Zauberer, der ihr ein unverhofftes Jobangebot als seine Assistentin auf einem Kreuzfahrtschiff offeriert. Auf seine Einladung hin und nach kurzem Zögern trifft sie sich mit ihm und seiner Frau, um die Illusion der zersägten Jungfrau zu proben und das weitere Vorgehen zu besprechen. Vor ihr liegt eine Entscheidung, die für ihr Leben richtungsweisend sein wird.
Die Protagonistin entscheidet sich dagegen, auf der ‚MS Aurora‘ die Assistentin des Illusionisten zu werden, heiratet den sammelwütigen Otis und bekommt mit ihm Tochter Ann. Ihre Beziehung zerbricht, als Ann alt genug ist, um ihren eigenen Weg zu gehen, weshalb die nun mittelalte Figur aus der Stadt an die Küste in ein altes Haus am Meer zieht. Dort arbeitet sie in der Kneipe ihres Bruders und lernt Mimi und deren Bruder Arild kennen. Künstlerin Mimi wohnt in der unmittelbaren Nachbarschaft und Schweinebauer Arild kümmert sich um den vermeintlichen Marder, der auf dem Dachboden der Protagonistin eingezogen zu sein scheint, und wird im Verlauf der Handlung ihr Lebensgefährte.
Während sich die Existenz ihrs Bruders Sascha (Ende 50), Inhaber der Kneipe „Shell“ (S. 36), um seine Liebschaft mit der zwanzigjährigen und „mit allen Wassern [gewaschenen]“ (S. 31) Nike kreist, Arild sein Leben um den Schweinehof seiner Eltern ausrichtet und seine Schwester, die Künstlerin Mimi, ihren Lebensmittelpunkt nach einer längeren Zeit und nach mehreren Ehen in der Großstadt wieder zurück in ihren Geburtsort verlegt hat, macht die neu Angekommene vorsichtige und unsichere Schritte, um in ihrem neuen zu Hause anzukommen. Dabei pendelt sie immer wieder zwischen der unsicheren Zukunft und der Vergangenheit, die ihr einst ein sicheres Zentrum bot, jetzt jedoch nicht mehr fortbestehen kann.
Der Roman endet, als sich der Winter ankündigt. So wie das Jahr immer weiter voranschreitet, lebt sich die Protagonistin mehr und mehr in ihrem neuen zu Hause ein. Sie erkennt, dass sie in ein neues Leben eingestiegen ist und dass der Abschnitt mit Otis und Ann zu Ende ist. Ein Paket von ihrem Ex-Mann, das seit längerem ungeöffnet im neuen Haus liegt, zeigt, dass auch er spürt, wie ein gemeinsamer Abschnitt vorüber ist. „[I]rgendetwas ist vorüber und vorbei“ (S. 178) denkt sie sich beim Auspacken des Pakets, in dem Otis verkündet, er wolle seine Sammlung auflösen. Die anfänglichen vorsichtigen Schritte in ein neues Leben kulminieren in einer neuen Freundschaft mit Mimi und einer Beziehung zu Arild, die das neue Zentrum in ihrem Leben bilden und aus einem zu Hause ein Daheim machen können.
Inhaltliche Aspekte
Beziehungen
Von zentraler Rolle für den Fortgang der Erzählung sind die Beziehungen der Protagonistin zu den Menschen aus ihrer Vergangenheit, ihrem alten Leben und denen, die für den künftigen Lebensabschnitt konstitutiv sein könnten. Ihr Ex-Mann Otis, von dem sie sich trennte, als ihre gemeinsame Tochter „Ann groß genug dafür gewesen ist“ (S. 66), taucht dabei immer wieder auf, wenn auch nicht physisch. Der Kontakt zu ihm mittels Briefen oder Telefonaten fungiert als Anker eines vergangenen und sicher geglaubten Lebens in einer neuen, verunsichernden Situation. Gesprächs- und Briefausschnitte, in denen die Protagonistin über ihr Leben in der neuen Heimat erzählt („Otis, der Winter ist bald vorbei. Die Tage werden länger, und ich werde rausgehen und mir alles ansehen. Ich habe mir ein Fahrrad gekauft. Ich werde dir berichten!“ S. 30) oder in denen Otis mit einem beachtlich detailreichen Erinnerungsvermögen die Erinnerungslücken seiner Ex-Frau füllt, durchziehen die Erzählung (vgl. S. 134ff).
Auch mit ihrer Tochter Ann steht die Protagonistin in sporadischem Kontakt über Videotelefonate. Sie reist auf einem Schiff übers Meer und schickt ihrer Mutter in unregelmäßigen Abständen einen Link, der ihre aktuellen Koordinaten verrät. Was von dem einzigen Kind bleibt, ist ein kleiner Punkt auf der Karte, „geborgen in blauem Wasser [...] wie ein Embryo in einer Fruchtblase“ (S. 120) und die „[haltlose] Schwäche [...], die etwas Körperliches hat“ (S. 104) bei dem Gedanken, nach langer Zeit ohne sie zu leben und die bis dahin alltäglich präsente Rolle als Mutter aufzugeben.
Nachdem die Protagonistin bereits einen Winter in ihrem neuen, unpersönlich und spärlich eingerichteten Haus an der Küste verbracht hat, zieht in der Nachbarschaft die Künstlerin Mimi ein. In einem Brief an Otis schreibt sie: „Ich hätte sie nicht nicht reinlassen können. Ich hatte keine Chance“ (S. 33). Mimi, die in der Gegend geboren wurde und zwischendurch woanders gelebt hat, deren Großmutter ihr das Schwimmen im kalten Meer beibrachte, charakterisiert sich vor allem durch ihr einnehmendes Wesen und die Verwurzelung mit der Heimat. „[A]lles gehört zu ihr“ (S. 91) bemerkt die Protagonistin und man könnte auch sagen: Alles an diesem Ort ‚gehört ihr‘. Ob die auffällige ochsenblutrot leuchtende Farbe, mit der sie ihre Schuppentür streicht (vgl. S. 32), der etwas über-griffigen Art, mit der sie das Haus ihrer neuen Nachbarin für sich erschließt („Sie fasste alles an, was auf dem Tisch lag, wirklich alles – meine Lesebrille, meine Muscheln, meine Kerzen, die Postkarten“ S. 33) oder die Selbstverständlichkeit, mit der sie nackt ihren Rasen mäht und im Meer schwimmen geht – sie gehört an diesen Ort und er gehört zu ihr. Im Laufe der Erzählung verändert sich die Beziehung zwischen den beiden Frauen von einer einfachen Nachbarschaft hin zu einer echten Freundschaft. „[I]ch denke, dass ich Mimi liebe und dass sie das weiß“ (S. 177) sagt die Protagonistin, als sie bereits mehr und mehr in ihrem neuen Daheim ankommt.
Arild, Mimis Bruder, der Schweinebauer, der den Bauernhof der Familie traditionsgemäß übernahm, als er noch sehr jung war, heiratete eine Frau, die ihn vor die Wahl zwischen sich und seiner Familie stellte. Er wählte die „Furie“ (S. 44), wie Mimi sie nennt. Nach einigen Jahren trennte sie sich wieder von ihm, sodass der Kontakt zwischen den distanzierten Familienmitgliedern vorsichtig wieder möglich wird. Zwischen dem wortkargen Schweinebauer, der mit jedem seiner Schritte scheinbar unsichtbare Dinge aus dem Weg schiebt (vgl. S. 147), und der Hauptfigur entsteht zunächst ein körperlich-sexuelles Verhältnis, das sich im Laufe des Sommers immer mehr in eine Paarbeziehung entwickelt. „Wir sind zufällig zusammen alleine auf einem fremden Planeten“ (S.107) reflektiert die Protagonistin über die Beziehung zu Mimis Bruder. Auf dem Geburtstag von Arilds Mutter Amke etikettiert sie ihn gegenüber seinem Vater Onno bereits als ihren Mann. Im Verlauf der Erzählung nähern sich die beiden nicht mehr nur körperlich, sondern auch zunehmend emotional einander an, werden Vertraute und spenden sich gegenseitig Halt. So sucht Arild bspw. den Blick der Protagonistin, die auf der Rücksitzbank sitzt, während sie Onno gemeinsam ins Krankenhaus bringen, der über schlaganfallähnliche Symptome klagt: „Als er ihn [den Blick, Anm. d. Verf.] hat, hält er ihn fest“ (S. 164).
Die Beziehung zu ihrem Bruder Sascha ist mehr eine Zweckgemeinschaft als die eines eng verbundenen Geschwisterpaares. Das Einzige, was die beiden verbindet, sind die Spuren, die ihre gemeinsame Kindheit hinterlassen haben. Stundenlang mussten sie nach der Schule im Treppenhaus auf die Heimkehr ihrer Mutter warten. Manchmal kam sie spät in der Nacht, manchmal war sie auch bereits zu Hause und „musste für sich sein“ (S. 139). Der fast sechzigjährige Besitzer der Hafenkneipe ‚Shell‘, einer „Baracke auf Stelzen“ (S. 36), lebt in einem viel zu großen Haus, das er mit dem gesamten Mobiliar der Vorbesitzerin übernommen hat, und trifft sich regelmäßig mit der deutlich jüngeren Nike, für die er sich verantwortlich fühlt, die ihn jedoch fertig macht. Nike wurde in ihrer Kindheit misshandelt, indem sie geschlagen, an andere Männer verkauft und dann von ihrer Mutter immer wieder stunden- oder tagelang in einer kleinen Holzkiste mit einem Schlafsack eingesperrt wurde, wenn sie sich nicht benahm. Auch diese Beziehung wirkt eher zweckdienlich: Sascha ist froh darüber, sich in seinem Alter noch einmal in jemanden verliebt zu haben und sich für sie aufzuopfern, und Nike hat eine Möglichkeit, zwischen ihrer Arbeit in der Kneipe ‚Zum Anker‘ und ihren regelmäßigen Aufenthalten in abgelegenen Trailern an einen Schlafplatz, an Zigaretten, Chips und Cola zu gelangen. Die Beziehung findet jedoch ihr Ende, als Sascha Nikes toten Körper vor eben diesen Trailern vorfindet und die Protagonistin diesen Körper für ihren Bruder in der Pathologie identifizieren muss.
Die Kiste als Dingsymbol
Der Anblick der Marderfalle, des „längliche[n] Kasten[s]“ (S. 53) mit den beiden guillotinenartigen Klappen an den Enden, löst in der Protagonistin die Erinnerung an ihre Begegnung mit dem Zauberer aus. „[W]ie ein Traumbild“ (S. 56) erscheint ihr dieser längst vergangene Nachmittag, der sich reflexiv als bedeutende Weiche für ihr Leben entpuppt. Die Kiste zieht sich als Dingsymbol durch den gesamten Roman und taucht immer wieder in den Erlebnissen der Figuren auf. Sie dient darüber hinaus als Ausgangspunkt für die Schilderungen der Protagonistin, die ihr Ankommen in einer fremden Gegend aus der Ich-Perspektive autodiegetisch erzählt.
Verstärkt wird die Funktion des Kistenmotivs durch den Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens auf Seite 57. Hier findet sich der*die Lesende in der Gegenwart der Erzählerin wieder, die den Prozess ihres Einlebens von anfänglichen Ängsten und Unsicherheiten bis zu neuen Freundschaften und eines ersten, vorsichtigen Gefühls von Geborgenheit in einem neuen zu Hause reflektiert.
Das Paket von Otis, das die Protagonistin zum Ende des Romans nach langer Zeit öffnet und das sich als Schuhkarton mit einem darin verpackten „Weltempfänger, Salut 001“ (S. 178) entpuppt, markiert den Übergang zu etwas Neuem. Als ein Rudiment ihrer Vergangenheit verkörpert das Gerät neue Möglichkeiten in einem neuen Lebensabschnitt – die ‚Welt öffnet sich‘ ihr metaphorisch in Form eines Schuhkartons.
Auch für Nike, die als Kind von ihrer eigenen Mutter immer wieder für lange Zeit in einer Holzkiste eingesperrt wurde, die sie danach von ihren eigenen Fäkalien säubern musste, stellt sich die Kiste als ein ihr Leben bestimmendes Motiv dar. Die junge Frau, die „mit allen Wassern gewaschen“ (S. 31) ist, lebt in ihrer eigenen Welt. Sie trägt die Kiste, die in ihrer Kindheit ihr zu Hause war, noch immer bei sich, sei es in Form des Skip-Bo Kartensatzes, den man ihr irgendwann zur Beschäftigung in die Kiste gegeben hatte, oder in ihrer ganz eigenen Perspektive auf die Welt: „Die Jahre in der Kiste haben ihr offenbar einiges beigebracht“ (S.72).
Das Öffnen von Otis’ Paket kann als Symbol für das Ankommen der Protagonistin im neuen Leben interpretiert werden. Daraufhin erinnert sie sich noch einmal an das Kennenlernen mit Otis und die Zeit, in der sie in der Zigarettenfabrik arbeitete (auch Zigaretten werden ja am Ende ihrer Produktion in kleine Kisten verpackt). Ihre Erinnerungen werden detaillierter, gleichen sich nun wieder den Schilderungen ihres Ex-Mannes an. Als sie schließlich Arild von dem Erlebnis mit dem Zauberer erzählt, öffnet dieser sich ebenfalls und schildert, wie er, ohne sich wirklich aktiv dafür zu entscheiden, Schweinebauer geworden ist. Wie Onno (Arilds Vater) auf dem Geburtstag von Amke (Arilds Mutter) bereits feststellte – „Du fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter was ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst“ (S. 159) – richtete sich sein Leben und auch das der Protagonistin nicht nach einem bevorzugten Plan. Vielmehr beruht es auf Zufällen, intuitiven Entscheidungen oder Begegnungen, auf die sie keinen oder nur wenig Einfluss hatten. Als die Protagonistin zum Schluss hört, wie die Marderfalle auf dem Dachboden endlich zuschnappt, schließt sich damit auch das vergangene Kapitel in ihrem Leben. Die Bedingungen für das Neue sind mit Arild, Mimi und dem eigenen Haus an der Küste bereits zum Teil festgelegt. Was sich in der Kiste und damit auch im neuen Leben genau befindet, bleibt offen.
Dazwischen
Die Protagonistin ist (noch) nicht, wie der Titel Daheim suggeriert, in ihrem neuen Leben angekommen. Sie befindet sich in einem Schwebezustand, einem ‚Dazwischen‘ als Transition zwischen der eigenen Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft. Während Mimi, Arild und der Küstenort als neues zu Hause den neuen Alltag bestimmen, bricht die (abgeschlossene) Vergangenheit der Hauptfigur immer wieder in ihre neue Gegenwart ein.
Der Briefwechsel oder die Telefonate mit Otis, die Videotelefonate mit Tochter Ann, die ihrer Mutter immer wieder ihre aktuellen Koordinaten schickt, oder auch alte Erinnerungen aus den vergangenen Leben der Figur fungieren als Sicherheitsnetz in einem neuen Leben in ungewohnter Umgebung und Gesellschaft („Otis hat mir das beigebracht.“ S. 79), als Möglichkeit der Reflexion über das täglich Erlebte, das in Form des schriftlichen Briefwechsels als Art selbstreflexives Tagebuch der Protagonistin funktioniert („Ich schreibe, mein Bruder verliert möglicherweise den Verstand. Ich glaube, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ S. 57) und als Moment der Kontaktaufnahme mit dem alten Ich der Figur, das sie mehr und mehr als eine Fremde wahrnimmt, zum Beispiel als sie von sich selbst in der dritten Person berichtet („Ich sage zu Arild, ich habe mal eine Frau getroffen, die auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur hätte reisen können“ S.185).
Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und mehr und mehr auch Zukunft, die damit einhergeht, ist ein Symptom des biographischen ‚Dazwischen‘ im Leben der Protagonistin. Immer wieder reflektiert und benennt sie diesen Schwebezustand mit den damit verbundenen Emotionen und nähert sich dabei vorsichtig dem eigenen, neuen Daheim an:
„Aber ich will lieber nach Hause fahren, ich brauche Schlaf. [...] Nach Hause. Wie das klingt.“ (S. 88)
„Jetzt habe ich es doch gesagt – nach Hause. Ich wollte es nicht sagen, ich habe nicht aufgepasst.“ (S. 130)
„[Ich] habe eine verrückte Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte, ich kann mich nicht bewegen vor Sehnsucht.“ (S. 133)
Je mehr die Handlung des Romans fortschreitet, desto häufiger wird jedoch auch der Blick in eine mögliche Zukunft, mit der sich die Protagonistin sukzessive identifizieren kann:
„Ich muss lernen, ohne sie [Ann, M.L.] zu sein, Zeit ohne sie zu verbringen und nicht an sie zu denken, ich glaube, wenn ich das gelernt habe, wird die Angst vor dem Schwimmen im tiefen Wasser wieder verschwinden.“ (S. 104)
„Er [Arild, M.L.] trägt einen schwarzen Anzug, in dem er wie ein stattlicher Bräutigam aussieht, der Anzug macht ihn verlegen, mich schließlich auch.“ (S. 156)
Schließlich transformiert sich die anfängliche Unsicherheit und Angst der Protagonistin in ein Gefühl von Geborgenheit, indem sie sich der neuen Lebenswelt buchstäblich öffnet:
„Der Schlüssel [der Protagonistin, M.L.] liegt unter den Muscheln neben der Tür, ich weiß gar nicht mehr, wann ich damit angefangen habe, den Schlüssel unter die Muscheln zu legen, anstatt ihn mitzunehmen [...] und ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich dieses Haus gar nicht mehr abschließen, die Haustür am Ende einfach offen stehen lassen werde.“ (S. 177)
Direkt danach öffnet sie schließlich Otis’ Paket, ein Rudiment ihrer Vergangenheit, und auch er reflektiert ihren gemeinsamen Lebensabschnitt als beendet („meine Liebe ich versuche das Archiv aufzulösen weil die Welt sich auflöst“ S. 178). Die Welt des einstigen Ehepaares ist es, die sich auflöst und die sich in zwei andere, neue Welten transformiert. Die gemeinsame Vergangenheit ist abgeschlossen, was durch den darauffolgenden Bericht der autodiegetischen Erzählerin verstärkt wird, die nun deutlich detaillierter und auch reflektierter als zu Beginn der Handlung über ihre Zeit in der Zigarettenfabrik, als Single, wie sie Otis kennenlernte und die Begebenheit mit dem Zauberer erzählt (vgl. S. 179ff).
Formale Aspekte
Unzuverlässiges Erzählen
Die Ereignisse in Daheim werden von der Protagonistin selbst als autodiegetische Erzählerin berichtet. Die Handlung ist durchzogen von Erinnerungen aus ihrem früheren Leben. Dabei fällt auf, dass sich ihre Erinnerungen von denen ihres Ex-Manns Otis in einigen Punkten unterscheiden. So berichtigt Otis seine Ex-Frau in ihrem Briefwechsel, dass sie zur Zeit des Zauberers gar nicht mehr am Fließband der Zigarettenfabrik gearbeitet, sondern stattdessen „Ingenieure. Maschinenbauer. Techniker. Studenten. Sozialwissenschaftler. Arbeitsrechtler. Ärzte.“ durch die Fabrik geführt habe (S. 134). Weiter erklärt er, dass sie nicht mehr in „dieser Einraumwohnung an der Tankstelle gewohnt“ habe, sondern in einer „Zweiraumwohnung in einem Altbau in der Beletage“ (S. 135).
Angesichts der Eigencharakterisierung der Protagonistin, die sich selbst als vergesslich einschätzt („Mein Erinnerungsvermögen ist gering. Ich erinnere mich halbwegs an Situationen, die eine kurze Zeit zurückliegen, was vor langer Zeit geschehen ist, habe ich in Einzelheiten fast vergessen.“ S. 58), einige Seiten weiter jedoch in Bezug auf ihren Besuch bei dem Zauberer behauptet, sie erinnere sich genau („[...] ich erinnere mich. Ich erinnere mich genau.“ S. 68), kann in Hermanns Roman von einer unzuverlässigen Erzählinstanz gesprochen werden. Sowohl in ihren Darstellungen über die Welt (mimetische Unzuverlässigkeit) als auch in ihrer Bewertung des eigenen Erinnerungsvermögens (evaluative Unzuverlässigkeit) widerspricht sich die Erzählung der Protagonistin mit sich selbst und mit den Schilderungen ihres Ex-Mannes Otis, der im Gegensatz zu ihr sehr viele Details aus dem gemeinsamen Lebensabschnitt rekonstruieren kann (vgl. S. 134f).
Die Erinnerung der Protagonistin an den Nachmittag mit dem Zauberer unterscheidet sich zwar in vielen Details von der Version ihres Ex-Mannes, die bedeutungstragenden Elemente (die Probe des Zaubertricks, die Möglichkeit auf ein neues Leben auf einem Kreuzfahrtschiff, die Entscheidung gegen diesen Weg) bleiben jedoch in beiden Versionen gleich und ziehen sich in ihrer Summe durch den gesamten Roman als ein einschneidendes Ereignis, bei dem sie „noch Jahre später das Gefühl hatte, etwas von sich in dieser Kiste verloren zu haben“ (S. 186). Schließlich erinnert sie sich jedoch an andere richtungsweisende Ereignisse in ihrem Leben (S. 179ff), die sie detailliert wiedergeben kann und die aus der Retrospektive zusammen die Geschichte ergeben, die sie dorthin gebracht hat, wo sie sich am Ende des Romans befindet: in einem neuen Daheim.
Die Unzuverlässigkeit der Schilderungen der Protagonistin deutet auf die mit der neuen Lebenssituation verbundenen Unsicherheiten hin und verdeutlicht die radikale Subjektivität, die durch die Erzählperspektive konzipiert wird. Zusammen mit den Briefen an Otis, ihren Telefonaten mit Ann und den neuen Erfahrungen und Beziehungen in einem neuen Daheim bekommt die Vergangenheit eine neue Bedeutungsdimension, die über verschiedene Versionen des Erlebten deutlich wird.
Die Unsicherheit der Protagonistin könnte sich auch auf die Art beziehen, wie die Protagonistin ihre eigene Geschichte erzählen will. Welche Ereignisse waren richtungsweisend für sie? Warum? Und verändert sich diese Beobachtung im Laufe eines Lebens? Als sie Otis’ Paket mit dem Weltempfänger öffnet, expliziert sie diese dem Leben immanente Unsicherheit der (eigenen) Perspektiven:
„Und möglicherweise träume ich und habe alles geträumt, auch Nike, auch ihre hohen Wangenknochen, ihr Kartenspiel und ihre Wehrhaftigkeit, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich.“ (S. 178)
Die Unzuverlässigkeit der Erzählerin fungiert im Roman als Veranschaulichung des Deutungsprozesses eines Individuums, das sich in einem ‚Dazwischen‘ befindet und vor dem Hintergrund der eigenen Vergangenheit, die in Form von bruchstückhaften Erinnerungen in die Gegenwart einbricht, neue Erfahrungen erlebt und deutet und viele kleine Schritte in eine ungewisse Zukunft unternimmt. Das reflektiert auch Tochter Ann, die über ein Gespräch mit ihrem Onkel Sascha spricht:
„Ich sage ihm, dass es [seine Beziehung mit Nike, M.L.] keine Bedeutung hat. Dass es nur gibt, was du gerade erlebst, und jede Erklärung, die du dafür hast, ist ausgedacht und existiert erst, wenn du sie formulierst.“ (S. 128)
Und weiter erklärt sie:
„Ich hab Onkel Sascha gesagt, dass er keine Wahrheit finden wird. Er ist der, der er ist. Er interpretiert sich und diese Geschichte mit Nike, aber seine Interpretation gilt nicht, sie ist eine Ansammlung von Spuren. Du und er. Als ihr Kinder gewesen seid. Spuren davon.“ (S. 129f)
Damit spricht Ann eine grundlegende Beschaffenheit individueller Erinnerungen und der Deutung der eigenen Biografie an, die den eigenen Erfahrungen der Welt immanent sind: die radikale Subjektivität der eigenen Biografie (die im Roman durch die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz besonders anschaulich wird). Judith Hermann konstruiert in Daheim eben diesen radikal subjektiven Konstruktionsprozess der eigenen Lebensgeschichte, den die Protagonistin in ihrem neuen Zuhause herbeiführt. Was genau in ihrem neuen Lebensabschnitt passieren wird und wie sich etwa die Freundschaft zu Mimi, die Beziehung zu Arild, der Job bei ihrem Bruder Sascha entwickeln, ist ungewiss. Im Gegensatz zur Vergangenheit kann die Zukunft noch nicht gedeutet und interpretiert werden, auch wenn das Zentrum des eigenen Lebens für die Protagonistin bereits eindeutig definiert zu sein scheint:
„Was brauchen wir und worauf können wir verzichten. Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene. Meine Sonne ist Ann. Otis und Ann.“ (S. 148)
Hermanns Schreibstil
Judith Hermanns Schreibstil charakterisiert sich unter anderem durch den überwiegend parataktischen Satzbau („Ich mache das Licht in der Küche an und schrecke zwei große Motten auf, sie fliegen gegen die Lampe, pochen mit den Flügeln an die Decke. Ich trinke eine Glas Wasser aus dem Hahn.“ S. 90), der autonomen Rede, in der die Figuren zu Wort kommen („Otis sagt, und bei so jemandem gehst du ein und aus. Ich sage, ich habe nicht gesagt, dass ich bei ihm ein- und ausgehe.“ S. 66), die elliptischen Satzkonstruktionen, in denen mal das Subjekt („Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Haus wohne. Alleine lebe in einem Haus [Hervorh. d. Verf.].“ S. 28, „Mimi schwört auf das Schwimmen im Meer, sie sagt, es ist ein Elixier, und es verlängert unser Leben. Mach uns glücklich. Ist ein Gottesgeschenk [Hervorh. d. Verf.].“ S. 90) häufig aber auch noch weitere Satzglieder ausgelassen werden, sodass nur noch den vorherigen Satz präzisierende Ergänzungen übrigbleiben („Ich würde gerne was von dieser Nixe auf meinen Leinwänden wiederfinden. Was von ihr einfangen, wenn ich meinen Ton in der Hand habe. Was von ihr in meinen Besitz bringen. Wehrhaftigkeit. Zorn. All das [Hervorh. d. Verf.].“ S. 98, „Wenn Nike auf der Seite lag, die Hände unter der Wange zu einem Kissen gefaltet, konnte sie durch ein Astloch das Fenster sehen, den Fuchs an seinem Fallschirm auf dem Glas und die Außenwelt. Andere Fenster. Himmelüber hohen Häusern. Mond [Hervorh. d. Verf.] S. 69). Durch diese Charakteristika entsteht der für Hermanns Werke typische radikale Minimalismus, der dem*der Leser*in einen Spielraum für vielfältige Interpretationen offen lässt und der bereits im Lexikonartikel zu Lettipark analysiert wurde. Auch in Daheim bewirkt die Erzählperspektive das Freilegen eines sowohl intra- wie auch extradiegetischen Deutungsprozesses, der innerhalb der Diegese bei der Protagonistin zu beobachten ist, außerhalb jedoch von den Leser*innen selbst erfolgen muss.
Das lesende Individuum muss also die Leerstellen füllen und interpretieren, die auch die erzählte Figur im Laufe des Romans nach und nach rekonstruiert. Dieser Parallelismus verdeutlicht die Selbstreferentialität von Daheim, indem innerhalb wie außerhalb der Diegese das subjektive Erleben und Erzählen einer Biografie thematisiert und gedeutet wird.
Pressespiegel
Das Feuilleton ist begeistert von Hermanns Roman Daheim. Christoph Schröder sieht in ihm „wahrscheinlich das beste Buch, das Judith Hermann geschrieben hat“ und lobt die „melancholisch-elegische Stimmung“, die „eng verknüpft mit den Schauplätzen, der Psychologie und den Biografien der einzelnen Charaktere“ sei (Deutschlandfunk.de). Schröder lobt außerdem die einzelnen Figuren des Romans, die „jede für sich hoch interessant ist“ und in den unterschiedlichen Konstellationen des Aufeinandertreffens immer wieder eine Überraschung darstellen.
„Wie Judith Hermann von einem ländlichen Daheim erzählt, ohne die Zumutungen des Ländlichen auszulassen, gehört zu den Stärken des virtuosen Romans“, schreibt Carsten Otte auf swr.de. Er hebt außerdem die unterschiedlichen „Tonfälle“ hervor, die sich von Hermanns sonst eher schwermütiger Prosa unterscheiden, und lobt, dass es neben düsteren Passagen auch heitere, gar lustige Szenen gebe.
Lisa Kreißler rezensiert den Roman als NDR Buch des Monats Mai (2021) und lobt wie Christoph Schröder die starke Figurenkonzeption: „Es hat fast etwas Märchenhaftes, wie sehr Judith Hermann auf die Strahlkraft ihrer Charaktere vertraut. Und sie hat allen Grund dazu.“ Für die Rezensentin hat Hermanns Erzählweise etwas parabelhaftes, das sie „[mit] großer Sicherheit“ erzähle.
Deutschlandfunk Kultur bewertet den Roman als „[betörend]“, Maike Albath beschreibt seine Wirkung: „Auf hypnotische Weise weiß sie [Hermann, M.L.] den Zustand ihrer Heldin einzufangen – eine Mischung aus Melancholie, Versenkung und Freiheitsrausch. Die Rezensentin lobt außerdem Hermanns Mühelosigkeit, mit der sie eine Eigenheit unserer Zeit einfange: „den eigentümlichen Zustand des Dazwischen“.
Marieluise Labry schreibt auf literaturkritik.de, dass Hermanns Roman voller Überraschungsmomente sei: „Grausamkeiten und Abgründe, die leicht und leise erzählt werden, fließen in die Banalitäten des Alltags ein.“ Labry lobt ebenfalls die Figuren von Daheim, deren Entwicklung innerhalb der Diegese genügend Raum und Zeit gelassen werde, mit denen sich die Autorin aber trotzdem treu bleibe.
Im Tagesspiegel rezensiert Gerrit Bartels den „souveränen, überzeugenden Roman“ Hermanns und bewertet ihn als das beste Buch seit ihrem Debüt. Bartels schreibt weiter: „Die poetisch ins Bild gesetzte Landschaft harmoniert gut mit den bedächtig wirkenden, von nicht wenig Melancholie umflorten Figuren und das, was sie sagen und vor allem auch nicht sagen.“ Als „[ein] wenig überstrapaziert“ wirkt für ihn das Kistenmotiv.
Forschungsspiegel
Mantahèwa Lebikassa (Lomé) widmet sich in ihrem Aufsatz Der Einwanderungsort ist der Tod der Heimat? Zur inneren Remigration in Judith Hermanns Roman Daheim (2023) der Frage nach der inneren Remigration „als Mittel gegen das seelische Leiden an der Entwurzelung der ausgewanderten Protagonistin“ (S. 254). Ähnlich der Prämisse dieses Lexikonartikels behandelt Lebikassa den Heimatbegriff ebenfalls nicht geografisch oder kulturell, sondern individuell und darin begründet, dass sich ein Individuum damit identifiziert, „weil man dort ins (Gesellschafts)Leben eingeführt wurde“ (Lebikassa S. 256). Damit bezieht sie sich auf die „Otis-Ann-Familiengemeinschaft“ (ebd. S. 254), in der die Protagonistin des Romans die eine Hälfte ihres Lebens ‚Daheim‘ war, sich zugehörig und verwurzelt fühlte. Diese Zugehörigkeit ist trotz des Umzugs ans Meer noch immer präsent und äußert sich durch die Erzählungen der Protagonistin, die sich selbst als zu einem Stamm zugehörig kategorisiert, der trotz neuer Lebensumstände zu ihr gehört (vgl. ebd. S. 258).
Lebikassa analysiert die äußerliche Migration der Protagonistin von Daheim als ein Einzelschicksal einer Figur, die „ihre Heimat nicht aus politischen oder existentiellen Gründen verlassen hat, sondern weil sie ihr Recht auf ein freies Leben wahrnehmen möchte“ (ebd. S. 259). Die Unsicherheit in einem neuen, bisher unbestimmten Leben trifft auf die innere Remigration in die Otis-Ann-Gemeinschaft, die der Protagonistin durch Erinnerungen, Telefonate oder Briefwechsel Sicherheit schenkt. (vgl. ebd.) Lebikassa sieht darin das Heilmittel gegen die „Nirgendwo-Situation“ (ebd. S. 261), oder (wie es in diesem Artikel bereits bezeichnet wurde) den Zustand des ‚Dazwischen‘, in dem sich die Hauptfigur in Daheim befindet. Nicht als metaphorischer Tod des Auswanderungsortes (in dieser Analyse nicht geographisch, sondern individuell und im Sinne der Otis-Ann-Gemeinschaft zu verstehen) sollte das neue zu Hause verstanden werden, sondern als ein Daheim, in dem der Sehnsuchtsort der Vergangenheit immer wieder als sicherer Anker dient.
Literatur
Primärliteratur
Hermann, Judith: Daheim. Frankfurt am Main: S. Fischer 2021.
Forschungsliteratur
Bundeszentrale für politische Bildung: Projekt: Integration. Info 03.05. Was ist Heimat?- Definitionen. In: bpb.de, 01.12.2010.
Gross, Rainer: Heimat: Gemischte Gefühle. Zur Dynamik innerer Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG 2019.
Lebikassa (Lomé), Mantahèwa: Der Einwanderungsort ist der Tod der Heimat? Zur inneren Remigration in Judith Hermanns Roman Daheim. In: Böker, Ines; Schulte Eickholt, Swen (Hg.): Interkulturelle Konstellationen in Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023, S. 253-262.
Scharnowski, Susanne: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg 2019.
Rezensionen
Albath, Maike: Der eigentümliche Zustand des Dazwischen. In: Deutschlandfunkkultur.de, 28.04.2021. [zu Daheim]
Bartels, Gerrit: Judith-Hermann-Roman „Daheim“ Alles noch einmal bedenken. In: tagesspiegel.de, 25.04.2021. [zu Daheim]
Döbler, Katharina: Susanne Scharnowski: „Heimat“. Es geht auch ohne Gartenzwerg. In: Deutschlandfunkkultur.de, 22.07.2019. [zu Heimat. Geschichte eines Missverständnisses]
Kreißler, Lisa: NDR Buch des Monats Mai: „Daheim“ von Judith Hermann. In: NDR.de, 07.05.2021. [zu Daheim]
Labry, Marieluise: Endlich angekommen. In: literaturkritik.de, 28.05.2021. [zu Daheim]
Otte, Carsten: Judith Hermann – Daheim. In: swr.de, 22.04.2021. [zu Daheim]
Schröder, Christoph: Neubeginn am Schweinestall. In: Deutschlandfunk.de, 02.05.2021. [zu Daheim]
„Und träumte. Und träume.“
Judith Hermanns Wir hätten uns alles gesagt
(Ein Beitrag von Marisa Linß)
Konzeptueller Rahmen:
Frankfurter Poetikvorlesungen (Sommersemester 2022)
Wir hätten uns alles gesagt versammelt Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen, die sie im Mai 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt gehalten hatte. Dafür wird in jedem Semester ein*e namenhafte*r Schriftsteller*in eingeladen, um über das (eigene) Schreiben im Kontext der zeitgenössischen Literaturlandschaft zu dozieren. Die erste Poetikdozentur wurde 1959/60 von Ingeborg Bachmann gehalten.
In der Vergangenheit wurde die Vorlesungsreihe unter anderem durch die drei Verlage S. Fischer, Suhrkamp und Schöffling gefördert – die Zusammenarbeit wurde jedoch zu Gunsten der Wissenschaftsfreiheit und Neutralität, die eine „strikte[] Trennung von Akteuren und Förderern“ verlangt, aufgegeben (Homepage der Universität). Aktuelle Förderer sind bspw. die Vereinigung der Freunde und Förderer der Goethe-Universität, die Stadt Frankfurt, die Dr. Marschner-Stiftung und das Literaturhaus Frankfurt. Hermann referierte an drei Abenden über ihr literarisches Schaffen und dessen zu Grunde liegender Poetologie.
Inhalt und Schwerpunkte
Bereits der im Konjunktiv stehende Titel Wir hätten uns alles gesagt deutet auf einen Schwebezustand zwischen einer möglichen und einer tatsächlichen Realität hin. Die Autorin erklärt im Vorwort: „Der erste Teil erzählt vom Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, von Ada und Marco und in Ansätzen von Familien. Der zweite Teil erzählt mehr von Familien. Und der dritte versucht dann doch, Einfluss und Schreiben zueinander zu bringen.“ (S. 7)
Die Ausführungen beginnen im ersten Teil mit der zufälligen Begegnung Hermanns und einem Freund „G.“ (S. 9) mit ihrem alten Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, den sie nachts in einem Spätkauf um zwei Zigaretten bitten. Nachdem der Psychoanalytiker in der Kneipe „‚Trommel‘“ (S. 14) verschwunden ist, sind sich beide über die Surrealität der Begegnung einig: „Er [G., ML] sagte, er sei sich gar nicht sicher, ob es diese Situation gerade wirklich gegeben habe“ (S. 13).
Schon auf den ersten Seiten verschwimmen Realität und Fiktion, belässt Hermann die Grenzen zwischen beiden uneindeutig. Zuvor schreibt die Autorin bspw. über Dr. Dreehüs:
„ich hatte angenommen, Dr. Dreehüs gäbe es nicht. Er sei eine Art spezieller Motte, die sich für eine Weile einer Analysestunde zu einer Person materialisieren und nach dem Ende der Stunde zu Staub zerfallen würde, um sich zwei Tage später wieder zu erneuern.“ (S. 12)
Schnell stellt Hermann den Bezug zu ihrer Erzählung Träume aus ihrem Erzählband Lettipark (2016) her und bereitet damit den programmatischen Konjunktiv ihrer Poetik vor. Sie erklärt den Zusammenhang zwischen den in der Erzählung agierenden Figuren und ihrem eigenen Leben. Die Erzählerin sei an ihr selbst, Dr. Gupka an Dr. Dreehüs und Effi an ihre einstige Freundin und „ungekrönte Königin eines urbanen und weit verzweigten Stammes“ (S. 19) Ada entlang erzählt. „Ich schreibe über mich“ (S. 15) erklärt Hermann, eine Seite später jedoch erläutert sie weiter: „Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich und ist auch Dr. Gupka nicht Dr. Dreehüs [...], beide Figuren sind Träume“ (S. 16).
Der uneindeutige Zustand des Traumes, in dem der*die Träumende eine Art alternative Realität erlebt und die außerdem einen Raum für sämtliche weitere Realitäten öffnet, zieht sich als Motiv durch die Poetikvorlesungen und das gesamte Werk Hermanns. Dabei bezieht die Autorin ihre Überlegungen immer wieder auf das Verhältnis zwischen einer möglichen Realität (die des Traumes) und einer tatsächlichen Realität (die des Wachseins). Das Traummotiv erhält so – von Hermann verdeutlicht an ihrer Erzählung Träume – gemeinsam mit dem konjunktivischen Titel programmatischen Wert.
„Der Traum hat eine schöpferische Qualität“ erklären Fromm und Scherer in ihrem Artikel Der Traum, die Künste und die Wissenschaften (Literaturkritik.de vom 20.01.2005). Wie das Schreiben also zeichnet sich auch das Träumen durch einen schöpferischen Aspekt aus, der in Judith Hermanns Poetik eine tragende Rolle spielt. Genauso wie Realität und Fiktion, verschwimmen auch Schreiben und Träumen in den Vorlesungen mehr und mehr ineinander. Immer wieder stellt die Autorin ihre eigenen Erinnerungen in Frage: „Und während ich das schreibe, daran zurückdenke, bin ich gar nicht sicher, ob das tatsächlich stattgefunden hat. Habe ich Ada besucht? Oder habe ich geträumt, dass ich sie besucht habe.“ (S. 55)
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Hermanns Poetik? Die Antwort der Autorin deutet sich bereits im Untertitel der Vorlesungen an: Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben heißt es dort. Wie in einem Traum geht es um Verfremdung von Realität(en) in eine alternative Wirklichkeit hinein, „[sodass] am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“ ist (S. 64, Herv. i. O.). Diese Bemerkung von Dr. Dreehüs nach der Lektüre von Hermanns Lettipark bringt den ersten Teil zum Ende und auf den Punkt: Hermann schreibt am eigenen Leben entlang und hinterfragt dabei das scheinbar Objektive. Bezogen auf die Erzählung Träume führt sie aus:
„Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen. Ich habe mich für Dr. Dreehüs und gegen Ada entschieden. So könnte ich es sehen.“ (S. 19)
Die Entscheidung, Träume Dr. Dreehüs und nicht Ada zu widmen, ist zugleich die Entscheidung für und gegen eine bestimmte Perspektive der Erzählung, also für die Verfremdung zu Gunsten einer spezifischen Erzählperspektive und für das Verschweigen einer anderen. Wieder öffnet Hermann jedoch den Raum des Mehrdeutigen, in dem sie ihre Deutung mit einem konjunktivischen Satz schließt („So könnte ich es sehen.“).
„Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst“ (S. 128) schreibt die Autorin am Ende des zweiten Teils der Vorlesungen. Damit ruft sie ein weiteres Motiv auf, das man wie schon zuvor den Traum mit Uneindeutigkeit und mit etwas, das man nicht begreifen kann, vielleicht auch mit etwas Unheimlichem in Verbindung bringen kann. Dieses Gespenst stellt im Hermann‘schen Sinne das Zentrum einer Geschichte dar, um das sie die einzelnen Wörter und Sätze herumbaut. In Hermanns zweitem Erzählband Nichts als Gespenster (2003) ist das Motiv des Gespensts sogar titelgebend, in seiner Titelerzählung treffen die Protagonist*innen eine Gespensterjägerin, gehen aber vor allem den Geistern ihrer Ehe auf den Grund. (Für den Artikel über Nichts als Gespenster klicken Sie bitte hier.)
Dieses Zentrum beschreibt die Autorin auch als „das Nichtstattfindende, Fehlende. Das Versäumnis“ (S. 65), „ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen“ (S. 128). Wie passend, bleibt man beim Motiv des Gespensts, dass Hermann den Beginn ihrer Geschichten immer körperlich deutlich spürt als eine „unmittelbar körperliche [...] Empfindung – ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut“ (S. 37). Sie erklärt, dass jede ihrer Geschichten einen ersten Satz hat, der in etwas „ganz anderes, unterhalb oder außerhalb des Gesagten [mündet, ML], ein doppelter Boden, ein Hinweis auf etwas, das ich nicht erkennen, nur erahnen kann“ (Ebd.).
In diesem „glühenden Zentrum“, diesem „Gespenst“, spiegelt sich die Bedeutung der Ambiguität in Hermanns Werk wider: „Sätze, die in eine Geschichte hineinführen, kommen aus einer Zwischenwelt, sind zwielichtig, interpretierbar, veränderbar, was bedeutet, dass die Welt veränderbar ist.“ (S. 67) Diese Zwischenwelt, zusammen mit den Gespenstern, die die Schriftstellerin in ihr ‚träumt‘, bildet zugleich den Nährboden, aber mitunter auch den Inhalt für ihre Erzählungen.
Die Protagonistin ihres jüngsten Romans Daheim (2021), die sie später in ihrer Vorlesung als ein „Traumbild“ (S. 148) bezeichnet, zieht, wie Hermann selbst im Winter 2020, allein in ein Haus, das „in sicherem Abstand zum Dorf“ liegt, und begibt sich damit in einen „Schwebezustand zwischen der Erinnerung und der Freiheit, sich an gar nichts zu erinnern“ (S. 129) – in eine Zwischenwelt zwischen Vergangenheit und Zukunft, oder auch zwischen Realität und Fiktion (siehe dazu auch die Analyse zum Roman Daheim).
Als ein „Leben unter Wasser“ (S. 130) bezeichnet die Autorin die Zeit, die sie während der Corona-Pandemie allein, hin und wieder mit ihrem Freund Jon, verbringt. Ihr Lebensgefühl gleicht jenem, das sie vor über dreißig Jahren in der Erzählung Rote Korallen aus Sommerhaus, später (1998) verschriftlicht hat. Hermann stellt fest, dass man „offenbar [...] zu gänzlich verschiedenen Zeiten im Leben von ein und demselben Gefühl getragen werden [kann, ML]“ (Ebd.) – in Rote Korallen wird dieses Gefühl der Isolation von der Protagonistin eher negativ erzählt (und von ihrer Autorin auch selbst so empfunden), zur Zeit der Corona-Isolation, in der Daheim entsteht, verkehrt sich diese Empfindung in eine „beinahe“ (Ebd.) glückliche. Hermann beschreibt eine Sehnsucht, die sich aus der Pandemie ergibt: „Ich und ein anderer sind alleine auf der Welt. Jon und ich sind alleine auf der Welt.“ (Ebd.)
Mit der Sehnsucht nach „Tage[n] ohne Grund“ (Ebd.) rückt die Schriftstellerin das letzte programmatische Motiv ihres Werkes in den Fokus: das des Wassers. Ein Artikel über Naturlyrik auf Deutschlandfunkkultur.de beschreibt das Wasser „als ein Phänomen, in dem sich Reales und Imaginäres mischen. Vor allem in der Poesie wird es bald schon zum Spiegel- und Reflexionsraum, der mit Ängsten und Utopien erfüllt ist“ (aus dem Podcast Zeitfragen). Hermann sowie die Erzählerinnen in Rote Korallen und Daheim leben „unter der Strömung“, wo sie mit ihren Ängsten, ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hadern oder diese reflektieren. Was genau reflektiert wird, bleibt sowohl in Rote Korallen als auch in Daheim nur verschwommen, wird poetisch verfremdet und unter der Wasseroberfläche verhandelt. Dabei ‚fließt‘ das Wasser von seiner Funktion als Symbol hin zu einer übergeordneten Poetik, wieder zurück und verfremdet „das Gespenst“ der Erzählung, das nur noch „das Gespenst“ ‚verschwommen‘ erahnt werden kann:
„Ich stehe auf, ziehe mich aus und meinen Badeanzug an. Ich gehe vorsichtig die Stufen runter, bis ich zum Bauch im Wasser stehe, ich schütte mir das Wasser über Schultern und Brust, zum Schluss ins Gesicht. [...] Das Wasser ist erregend kalt, es riecht nach Algen und nach Schlick. Ich hole Luft, tauche ein, stoße mich von der Treppe ab und schwimme mit offenen Augen raus. [...] Mimi weiß nicht, dass ich seit einiger Zeit Angst vor dem Schwimmen im tiefen Wasser habe, ich habe nie zuvor Angst vor tiefem Wasser gehabt, und ich vermute, es könnte etwas mit Ann zu tun haben, mit ihrem Auszug, ihrem Abschied von Otis und mir.“ (aus Daheim, S. 98f.)
„Ich betrachtete meinen Geliebten, mein Geliebter betrachtete seinen Körper, als wäre er schon tot, manchmal liebten wir uns feindselig, und ich biß ihn in seinen salzigen Mund. [...] Das Licht fiel grün durch die Bäume vor dem Fenster, es war ein wässriges Licht, ein Licht wie es an Seen ist, und die Staubflocken trieben durch das Zimmer wie die Algen und der Tang.“ (aus Rote Korallen, S. 20)
Hermann erklärt im dritten Teil der Poetikvorlesungen unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihr Lebensgefühl „unterhalb der Strömung“ und beschreibt eine Sehnsucht, die sich in ihr entwickelt: „Ich und ein anderer sind alleine auf der Welt. Jon und ich sind alleine auf der Welt.“ (Hermann 2023, S. 130) Diese Sehnsucht zeigt sich besonders, als sie mit Jon in dem Museum, in dem er 2020 beruflich beschäftigt ist, beinahe über das Wochenende eingeschlossen wurde. Nur durch Zufall habe der Nachtwächter die beiden noch entdeckt. Die Autorin, die „ausgesprochen gerne ein ganzes Wochenende über mit ihm in einem Provinzschloss eingesperrt gewesen [wäre, ML]“, schreibt ihm daraufhin eine Kurznachricht: „wie bedauerlich, wir hätten uns alles gesagt“ (S. 132) und nimmt damit direkten Bezug zum Titel der Anthologie.
Was genau „alles“ geheißen hätte, kann sie ihrem Freund Jon jedoch nicht beantworten, da nur die zwei Tage und Nächte allein im Provinzschloss eine Wahrheit mit sich gebracht hätten, die jetzt jedoch „unwiederbringlich über den Jordan gegangen ist“ (Ebd.). Diese Wahrheit bleibt verborgen in dem Konjunktiv dieses Wochenendes, sie existiert nur als Gespenst, nicht als reale Erinnerung. Hermann kommentiert: „beruhigend, anzunehmen, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt“ (Ebd.) und unterstreicht damit das, was sie bereits über die Ambiguität ihres Schreibens (und Träumens) ausgeführt hat.
Diesen Konjunktiv legt Judith Hermann am Ende ihrer Vorträge noch einmal über alles zuvor aus ihrem Leben Beschriebene, indem sie Träume und Wachsein miteinander gleichsetzt:
„Das Eigentliche des Traumes ist nicht sein Inhalt, seine Handlung, sondern das Gefühl, mit dem er geträumt wird, sein Stoff im haptischen, empfindsamen Sinn. Dieser Stoff bleibt, wenn du wach wirst.“ (S. 184)
Und dieser Stoff fungiert ganz im literarischen Sinn als Essenz, derer Hermann sich für ihre Erzählungen dann bedient. Mit diesem Gefühl, das sich auch zu Beginn einer ihrer Geschichten bei ihr einstellt, schreibt sie weiter, verfremdet das Inhaltliche, dichtet es um, bis sich die Geschichte am Ende „schlicht verselbstständigt“ (S. 186) und damit eine neue Perspektive auf ihr „Gespenst“ und das Ungeheuerliche in ihr wirft. Dabei ist es für sie von Bedeutung, dass die Dinge, über die sie schreibt, abgeschlossen sind und sich „verpupp[en] und in der Erinnerung veränder[n] [...] [dürfen]“ (S. 173). Man könnte auch sagen, dass sie ihre eigenen „Gespenster“ aus den Geschichten ihres Lebens im Schreiben verschweigt und weiterträumt. „Und träumte. Und träume.“ (S. 187).
Pressespiegel
Im Feuilleton wurde das im Jahr 2023 erschienene Buch Wir hätten uns alles gesagt als poetologische Ergänzung zum literarischen Werk der Autorin diskutiert, in dem es, wie der Untertitel der Vorlesungen bereits verrät, um das „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ geht. Positiv gelobt wird vor allem die „berührend persönliche“ Perspektive, die aus dem Buch „eine poetologisch-psychologische Tiefenschürfung“ mache (so Katrin Krämer auf der Homepage von NDR Kultur).
Für Peter Mohr (Literaturkritik.de) hat der Konjunktiv im Titel des genrelosen Buches „programmatischen Charakter für Hermanns gesamtes Werk“. Die Berlinerin breche ihr lang gehaltenes Schweigen über ihre eigene Biografie, ihre Poetik „Schreiben heißt auslöschen“ (Hermann 2023, S. 19) führe jedoch auch dazu, dass, wie in ihrem gesamten Oeuvre, „Fiktion und Realität verschwimmen“ und dass sich am Ende gar „die Frage [stelle], ob Judith Hermann mit diesem Band nicht sogar die Geheimnisse um ihre Person bewusst vergrößert“ habe.
Auch Gerrit Bartels sieht den Konjunktiv als „Schreibmotor“ für das Schaffen der Autorin (Tagesspiegel.de). Für ihn machen gerade „das Verhangene, das Vage, das oft Ungeklärte“ die Erzählungen Hermanns aus und die Frankfurter Poetikvorlesungen reihen sich in diese Tradition als „ganz eigenständiges Judith Hermann-Werk“ ein, deren persönlichen Ton sie, respondierend auf ihren Kommentar in der Einleitung (Vgl. Hermann 2023, S. 7), nicht bereuen müsse.
In der Berliner Morgenpost ordnet Cosima Lutz Wir hätten uns alles gesagt aufgrund des konjunktivischen Charakters zum sog. Genre der „Frauenliteratur“ zu, da „Frauen, das hat mal jemand erforscht, [...] häufiger den Konjunktiv [verwenden] als Männer“. Sie summiert Hermanns Werk unter einer „Poetologie des Verschweigens“, in der „ein Horror im Konjunktiv“ und vor allem dessen „Nichterzählbarkeit“ erzählt werde.
Im Erscheinungsjahr erhält die Schriftstellerin den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2023 für Wir hätten uns alles gesagt. Als Begründung für die Vergabe des Preises führt die Jury die Besonderheit von Judith Hermanns Werk an, sich dem Unsagbaren anzunähern, was für die Kritiker*innen gleichzeitig den „Urgrund des Schreibens ausmacht – wenn nicht von Literatur und Kunst überhaupt“.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Hermann, Judith: Wir hätten uns alles gesagt. Frankfurt/Main: S. Fischer 32023.
Hermann, Judith: Lettipark. Erzählungen. Frankfurt/Main: S. Fischer 2016.
Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt/Main: S. Fischer 211998.
Sekundärliteratur
Fromm, Waldemar; Scherer, Christina: Der Traum, die Künste und die Wissenschaften. Einführung zum Schwerpunkt. In: Literaturkritik.de, 20.01.2005.
Wiemers, Carola: Naturlyrik. Reale und symbolische Wasser in der Poesie. In: Deutschlandfunkkultur.de, 04.08.2017.
Rezensionen
Bartels, Gerrit: Judith Hermanns Buch „Wir hätten uns alles gesagt“. Unerwartet viel Privates. In: Tagesspiegel.de, 12.03.2023.
Krämer, Katrin: „Wir hätten uns alles gesagt“: Poetischer Judith Hermann-Sound. In: NDR.de, 16.03.2023.
Lutz, Cosima: Judith Hermann führt ein Verhör mit sich selbst. In: Berliner Morgenpost, 15.03.2023.
Mohr, Peter: Am eigenen Leben entlang. Judith Hermanns Band „Wir hätten uns alles gesagt“ ist ihre bislang persönlichste Veröffentlichung. In: Literaturkritik.de, 24.03.2023.
o.V.: Judith Hermann mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2023 ausgezeichnet. In: Deutschlandradio.de, 06.11.2023.