Svealena Kutschke
Etwas Kleines gut versiegeln
Ein Beitrag von Laila Al Uarrudi, Sophie Greve, Marie Kramp und Lea Sophie Rindfleisch
Inhaltsangabe und Interpretationsansätze [ ↑ ]
In dem Roman Etwas Kleines gut versiegeln aus dem Jahr 2009 steht die Ich-Erzählerin Lisa, eine 26-jährige Fotografiestudentin, die nach dem Verlust ihres Lebenspartners B auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist, im Zentrum. Diese hat sich nach dem Selbstmord von B, einer Transgender-Person, die sie liebte, auf eine einjährige Reise von Deutschland nach Australien aufgemacht. In Australien lebt Lisa bei Marc, dem Exfreund ihres Bruders Elias. Während ihrer Zeit dort trifft sie auf verschiedene Menschen. Im Mittelpunkt stehen dabei Ben, Nick und die Transgender-Person Mora; zu allen dreien unterhält sie erotische Beziehungen, die allerdings nicht gleichermaßen ausgelebt werden. Die gesamte Reise dient der Trauerverarbeitung des Todes von B sowie der Selbstfindung der jungen Frau. Der Roman ist zum einen als Liebesroman zu lesen. Wichtig dabei zu beachten ist vor allem die Verknüpfung mit anderen Themensträngen. Denn Kutschke lässt sich nicht nur einem einzelnen Genre zuordnen, vielmehr handelt sich um einen Genremix, sodass Etwas Kleines gut versiegeln auch als Reise- und Entwicklungsroman gelesen werden kann.
Als ein Mittel, das Ich begreifen und es im Kontext des eigenen Umfelds positionieren zu können, dient vor allem die Sexualität in jeglicher Form (Hetero-, Homo-, Bi- und Transsexualität). Häufig erlebt sich die Protagonistin erst durch das Aufbrechen gesellschaftlicher und eigener Grenzen selbst, wie zum Beispiel durch homosexuelle Erfahrungen. Jegliche Art an Grenzziehung teilt in ein Innen und ein Außen ein. So entsteht eine Unterscheidung und zugleich eine Abgrenzung. Andererseits können Grenzräume auch als „Zonen des Übergangs“ (Parr 2008, S. 12) fungieren. Die normativen Grenzen, mit denen sich der Roman Etwas Kleines gut versiegeln von Svealena Kutschke beschäftigt, werden von der Mehrheitsgesellschaft bestimmt. Sie teilen in das ‚Normale’ und das ‚Abnormale’ innerhalb der Gesellschaft. So ist auch die Frage nach Normalität ein zentraler Aspekt in Kutschkes Roman (vgl. Schlicht 2016, S. 87). Die Figuren des Romans erleben Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen, da die Mehrheitsgesellschaft bestimmt, was toleriert wird. Diese Gesellschaft setzt so beispielsweise der Sexualität und ihrem Ausleben Grenzen (vgl. Wittmann 2010). Eine dieser gesellschaftlichen Grenzen, die in dem Roman eine große Rolle spielt, ist die Transsexualität. Im Roman beschäftigt sich Svealena Kutschke mit den konventionellen Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Geschlecht und hinterfragt diese Konzepte. Bei der Untersuchung der Protagonistin Lisa in Bezug zu normativen Grenzen wird deutlich, dass sie diese einerseits aufbricht und überschreitet, andererseits aber auch selbst an konventionellen Vorstellungen festhält.
Thematische Aspekte [ ↑ ]
Drogenkonsum
Ein Verhaltenszug, mit dem Lisa (und die anderen Figuren in Australien) die normativen Grenzen der Gesellschaft überschreitet, ist ihr Drogenkonsum. Immer wieder taucht Lisa auf ihrer Selbstfindungsreise in das Nachtleben Sydneys ein. Alkohol und Drogen spielen hier durchgehend eine Rolle. So nimmt Lisa beim Feiern mit Marc das erste Mal Ecstasy und in einer weiteren Partyszene beschreibt die Ich-Erzählerin: „Hier kokste man mit kunterbunten Strohhalmen, nicht mit knittrigen Geldscheinen, das reichte mir. Als ich wieder auftauchte, kribbelte meine Nase, mein Bein kribbelte noch stärker, ich fühlte mich wunderbar“ (Kutschke 2009, S. 152). Drogen und Alkohol gehören im Roman zum normalen Alltag der Figuren. Lisa sprengt also immer wieder die normativen Grenzen der Mehrheitsgesellschaft. Sie trifft auf Leute, die ihre Lebensstile ausleben, ohne diese Grenzen zu beachten: „Sie ist von Menschen umgeben, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung vom Standpunkt der Normgesellschaft aus gesehen die Schwellen des ‚Normalen’ überschritten haben, indem sie unterstützt durch einen frequenten Drogenkonsum ihre Homosexualität, Transgender- und Queerexistenzen oder sadomasochistisches Begehren ausleben“ (Schlicht 2016, S. 91).
Liebeskonzepte
Ein zentraler Aspekt ist das Liebeskonzept der Protagonistin. Es folgt konventionellen Vorstellungen, wenn sie sich nach erwiderter Liebe sehnt. Hier tritt die Problematik auf, dass ihr Begehren immer wieder auf Menschen fällt, die selbst jemand anderen begehren. Es wird also an verschiedenen Stellen im Roman das Phänomen einseitiger Liebe aufgegriffen (vgl. Schlicht 2016, S. 88). So begehrt Lisa beispielsweise die Liebe von B, der sie als homosexuelle Transgender-Person jedoch nicht sexuell begehren kann und damit Lisa nicht physisch lieben kann, wie sie es sich wünscht. Ein weiteres Beispiel für die einseitige Liebe ist das Verhältnis von Lisa und Nick. Nick hält an seiner Exfreundin Linn fest und kann Lisas Liebe nicht vollständig erwidern, auch hier wird Lisa vor allem die körperliche Liebe verweigert. Lisa sehnt sich jedoch in ihrem Inneren stark nach der Erfüllung der konventionellen Vorstellung erwiderter Liebe:
„Ich war in meiner Jugend hineingetapert, mit der naiven Annahme, die erwiderte Liebe gehörte neben dem Recht auf Bildung und Arbeit zu den sozialen Menschenrechten. Aber als ich B traf, war ich den Olymp heruntergekullert [...], und war mittlerweile wieder in meinem Teenager-Bravo-Fotolovestory-Status angekommen“ (Kutschke 2009, S.182).
Sie reflektiert also selbst die kulturelle Vorstellung der erwiderten Liebe als Ideal und erkennt, dass diese Vorstellung eine von einer Gesellschaft konventionalisierte Idee ist. Sie zweifelt hier ihr eigenes Liebeskonzept an, gibt jedoch durch eine kulturelle Referenz auf die ‚Bravo-Fotolovestory’ gleichzeitig zu, dass sie dennoch an dem Konzept der erwiderten Liebe festhält. Das Liebeskonzept Lisas ist jedoch der einzige Aspekt, der Lisas Bindung an konventionelle Vorstellungen ausdrückt. Im Mittelpunkt des Romans steht viel mehr das sich Lösen von diesen kulturell geprägten Idealen. So bricht die Protagonistin Lisa selbst mit vielen der normativen Grenzen der im Roman beschriebenen Mehrheitsgesellschaft.
Diesen Bruch praktiziert sie, indem sie beispielweise zwischen Sex und Liebe differenziert. Der Roman dekonstruiert die konventionelle Vorstellung, dass Sex und Liebe immer in einer Person vereint sein müssen, indem Lisa in Nick eine starke emotionale Verbundenheit erlebt und mit Ben eine intensive rein körperliche Beziehung pflegt (vgl. Wittmann 2010, S. 37). Liebe und sexuelles Begehren werden in Lisas Beziehungen mit männlichen Figuren also voneinander getrennt. Es gibt hier nicht den einen idealen Partner, in dem sich beides miteinander vereint.
Das Aufbrechen normativer Grenzen
Sex und Sexualität spielen im Roman eine große Rolle. Die Mehrheitsgesellschaft setzt in Bezug auf das Ausleben von Sexualität Grenzen fest. Dies hebt der Roman hervor, indem er mit dem Aufbrechen dieser Grenzen spielt. Als Beispiel dafür hält Yuan Xue fest: „Lisa, Mora und Marc haben kein ‚lineares erotisches Interesse’: Lisa beschränkt ihre Sexualität nicht auf Heterosexuelle; Mora ist transsexuell und Marc homosexuell“(Xue 2014, S. 197).
Die Protagonistin Lisa verhält sich demnach bisexuell und begehrt Männer, Transsexuelle und Frauen. Deutlich wird dieses Ausleben der Bisexualität zum Beispiel, als Lisa auf einer Party körperlichen Kontakt mit der Frau Charly aufnimmt: „Charly baute sich vor mir auf, wiegte sich in den Hüften, grinste herausfordernd auf mich herab. Ihr kurzes Kleid spannte an den Schenkeln, und ehe ich mich versah, fuhren meine Hände ihre Beine herauf, bis zu ihrer Unterhose [...]. Charly lachte und beugte sich zu mir herab. Sie küsste mich leicht auf die Lippen [...]“ (Kutschke 2009, S. 153).
Über das Ausleben der Bisexualität hinaus stellt Corinna Schlicht fest, dass die Figur Lisa außerdem polyamor lebt. Sie hat Sex mit Ben, ist gleichzeitig in Nick verliebt, welcher aber eigentlich auf die Rückkehr seiner Exfreundin zu ihm wartet. Außerdem hält Lisa immer noch an ihrer Liebe zu B fest und überträgt diese schließlich auf Mora. Schlicht schlussfolgert, dass konventionelle Begehrensstrukturen im subvertiert werden (vgl. Schlicht 2016, S. 95f.). In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, dass sich Lisas Beziehung zu Nick nicht eindeutig betiteln oder kategorisieren lässt. Der Terminus ‚Beziehung‘ trifft auf die beiden nicht wirklich zu. Der Roman zweifelt hier an den Kategorisierungen der Gesellschaft und hinterfragt, ob man immer alles genau festlegen, betiteln oder kategorisieren muss. Er bricht also auch hier mit traditionellen Denkweisen.
Wie bereits erwähnt, werden im Roman durch die Sexualität Grenzen aufgebrochen. Lisa dient Sexualität als Orientierungspunkt. Jan Wittmann zeigt, dass Lisa auf ihrer Reise die Sexualität als etwas Haltgebendes in einer für sie unübersichtlichen Welt entdeckt (vgl. Wittmann 2010, S. 36). Einen Beleg für diese Aussage lässt sich im Roman finden: „Ich hielt die Fasern meiner Lust lose in der Hand wie Drachenschnüre, sie waren das Einzige, auf das ich mich noch verlassen konnte“(Kutschke 2009, S. 68). Im Verlauf des Romans wird deutlich, dass Lisa sich immer mehr auf den Sex als einzigen Haltepunkt verlässt und geradezu eine sexuelle Gier entwickelt. Dies ist auch die Basis ihrer sexuellen Beziehung zu Ben. In dieser steht das Erleben von Sex in Zusammenhang mit Gewalt und Schmerzen im Mittelpunkt. Durch dieses Ausleben an sadomasochistischem Sex wird eine weitere Grenze der Mehrheitsgesellschaft gebrochen. Für Lisa dient der beim Sex empfundene Schmerz der Selbsterfahrung und des Empfindens der eigenen Körperidentität (vgl. Wittmann 2010, S. 36f.). Der Sex spiegelt so ihre Suche nach sich selbst wider, wobei ihr einziger Halt ihr Körper ist: „Ich hörte nur seine nackten Füße auf den Dielen und dann den Gürtel, der durch die Luft sauste. Ich zuckte einmal zusammen und dann wurde ich ganz still. So musste es sein auf dem Mond, die Füße ganz leicht, die Erde ganz klein. Als er in mich eindrang, war es, als würde er seine großen Hände im Inneren meines Kopfes falten, all die haltlosen Gedanken bedecken“ (Kutschke 2009, S. 102).
Durch diese Beschreibung Lisas wird erkennbar, dass sie erst in diesem gewaltsamen Sexakt innere Ruhe finden kann. Später im Roman sagt Lisa: „Wenn Ben mich nicht sofort vögelte, würde ich auseinanderfallen und Möwen würden meine verstreuten Teile im Flug aufpicken“ (Kutschke 2009, S. 135). Diese ausdrucksstarke Bildsprache weist eindeutig darauf hin, dass Lisa in diesem Sex ihren einzigen Halt sieht und welche Verzweiflung für sie mit diesem Akt einhergeht. Schlicht analysiert dies genauer: „In dieser Hinsicht folgt Lisa im Modus der Trauerbewältigung dem Bedürfnis, sich wieder zu spüren, denn die Trauer um B löst sie geradezu auf. Das ersehnte körperliche Selbstgefühl kann sie nur in der sexuellen Interaktion erreichen, je schmerzvoller diese sind, desto intensiver sind die Momente der Selbstwahrnehmung“ (Schlicht 2016, S. 94).
Judith Butler ist eine bekannte Philosophin und lehrt als Professorin für Rhetorik und Literaturwissenschaft an der University of California in Berkeley. Dort ist sie außerdem an den Women’s Studies beteiligt (vgl. Villa 2003, S. 161). Sie ist bekennende Feministin und zugleich eine scharfe Kritikerin von traditionellen feministischen Denkweisen. So problematisiert sie in ihren Arbeiten grundlegende Begriffe feministischer Theorie und Praxis (vgl. ebd. S. 60). In diesen Schriften greift sie über die Philosophie hinaus auf verschiedenste Disziplinen zurück, wie „Psychoanalyse, Sprachtheorie, Geschichte und Sozialwissenschaften, Medientheorie sowie lesbische und feministische Theorien.“ (ebd. S. 12).
Eine Thematik, mit der sich Butler innerhalb ihres Geschlechtsmodells auseinandersetzt, ist die Identität. Ihre Überlegungen dazu sind geprägt von einer Kritik an den „Identity Politics“ (ebd. S. 58). Diese beinhalten „solche politischen Strategien, die Politik im Namen (strukturell benachteiligter) sozialer Gruppen verfolgt: Politik von beziehungsweise für Schwule, Migrantinnen und Migranten [...] und so fort“(ebd. S. 38). Also Politik für eine imaginär einheitliche Gruppe, denen eine gemeinsame Identität unterstellt wird. In diesem Zusammenhang betrachtet Butler den Begriff der Identität kritisch. Sie kritisiert beispielsweise die feministische Politik, die im Sinne von Frauenbewegungen handelt und den Begriff ‚Frau’ als gemeinsame Identität zugrunde legt, ohne zu beachten, welche verschiedenen Identitäten unter diese eine Zuschreibung fallen (vgl. Butler 1991, S. 18ff.). Gleichzeitig ist sie sich bei ihren Überlegungen zu dieser politischen Thematik durchaus bewusst, dass es häufig nötig ist, im politischen Zusammenhang auf diese Identitätskategorien zurückzugreifen. So formuliert sie in ihrem Werk Körper von Gewicht: „Das ist kein Argument dagegen Identitätskategorien zu verwenden, aber es ist eine Erinnerung an das Risiko, das mit jeden solchen Verwendungen einhergeht“ (Butler 1997, S. 313). Hier wird deutlich, dass sie Identitätskategorien grundsätzlich kritisch gegenübersteht.
Dies liegt unter anderem daran, dass sie der Ansicht ist, dass diese Kategorien aus gesellschaftlichen Diskursen heraus entstehen. Sie selbst definiert den Begriff des Diskurses: „Der Diskurs bezeichnet den Ort, an dem Macht in einem gegebenen epistemischen Feld als die historisch kontingente, formierende Macht von Dingen eingesetzt wird“ (ebd. S. 345). In Bezug zu ihren diskurstheoretischen Überlegungen zu Identitätskategorien und Identitäten bedeutet dies, dass Butler annimmt, dass die Macht des Diskurses Dingen und Individuen ihre Bedeutung zuschreibt und die Wahrnehmung dieser prägt (vgl. Villa 2003, S. 20ff.).
Auf der Basis dieser kritischen Auseinandersetzungen Butlers mit der Thematik der Identität lässt sich auch Kutschkes Roman ‚Etwas Kleines gut versiegeln’ lesen. Auch der Roman setzt sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs auseinander, der darüber entscheidet, was genau als ‚normal’ und was als ‚anders’ eingestuft wird. In der Analyse der normativen Grenzen im Roman ist dies bereits deutlich geworden. Festzustellen ist hier, dass Kutschke in ihrem Roman wie Judith Butler den gesellschaftlichen Diskurs und die Grenzen, die dieser setzt, kritisch beleuchtet und sich über die ‚normalen’ Identitätskategorien hinwegsetzt.
Für Butler fungieren Identitätskategorien immer auch mit Ausschlüssen. So zum Beispiel durch Namen, mit denen der Angesprochene betitelt wird und gezwungen ist, eine Identität (Mann, Frau, Nationalität etc.) einzunehmen. Die Soziologin Paula-Irene Villa fasst Butlers Ansicht zusammen: „Und zu einem ‚Jemand’ werden wir gemacht – durch Anrufungen, Namen, Bezeichnungen und Identitätskategorien, die vor uns da sind und ein Eigenleben führen“ (ebd. S. 42). Butler kritisiert, dass ein Individuum allein durch einen Namen vom Diskurs der Gesellschaft in eine Identitätskategorie eingeordnet wird.
Diesen Aspekt nimmt Kutschke auf, indem die Transgender-Person B keinen eindeutigen Namen hat und sich so nicht einfach einem Geschlecht zuordnen lässt. Dadurch bricht Kutschke die von Butler kritisierten Identitätskategorien auf. Ein enger Zusammenhang zwischen Butlers Theorie und Kutschkes Roman besteht darin, dass Butler versucht die Kategorien, in die Subjekte eingeteilt werden, aufzulösen, zu öffnen und neu zu definieren. Außerdem will sie, so formuliert Villa, „die genannten Kategorien davor bewahren, überhaupt jemals abschließend definiert zu werden. Ihr Anliegen ist es, nicht nur die Möglichkeiten dessen zu erweitern, was ein Subjekt (ebenso wie ein Körper, eine Frau, eine Identität, ein Geschlecht, eine Sexualität [...]) sein kann. Sie will außerdem zeigen, dass diese Möglichkeiten potenziell nie ausgeschöpft sind“ (ebd. S. 44). Wenn Lisa am Ende des Romans erkennt, dass sie sich gar nicht eindeutig festlegen muss, sondern ihr verschiedene Existenz- und Lebensmöglichkeiten offenstehen, handelt sie also ganz im Sinne von Butlers Theorie.
Judith Butler definiert außerdem, dass der von der Gesellschaft genutzte Identitätsbegriff immer auch Ausschlüsse beinhaltet. So könne man als Frau kein Mann und als Mann keine Frau sein, oder wer heterosexuell sei, kann nicht homosexuell sein und andersherum (ebd. S. 48f.). Die Aktualität dieser Denkweise der Gesellschaft verdeutlicht auch Etwas Kleines gut versiegeln. Die Figuren Mora und B brechen diese normative Denkweise zwar auf, doch der Roman zeigt gleichzeitig, dass das Abweichen von diesem gängigen Identitätsbegriff von der Gesellschaft oft nur schwer akzeptiert wird. Beide Figuren haben daher mit Erfahrungen der Ausgrenzung zu kämpfen. Judith Butler spezifiziert diesen Konflikt: „Da aber die ‚Identität‘ durch die stabilisierenden Konzepte ‘Geschlecht’ (sex), ‘Geschlechtsidentität’ (gender) und ‘Sexualität’ abgesichert wird, sieht sich umgekehrt der Begriff der ‘Person’ selbst in Frage gestellt, sobald in der Kultur ‘inkohärent’ oder ‘diskontinuierlich’ geschlechtlich bestimmte Wesen auftauchen, die Personen zu sein scheinen, ohne den gesellschaftlich hervorgebrachten Geschlechter-Normen [...] zu entsprechen“(Butler 1991, S. 38). Der Roman zeigt an B und Mora, dass der Diskurs eine so große Macht hat, dass die beiden Figuren von der Gesellschaft als ‚Abnormal’ eingestuft werden, weil sie nicht in die konstruierten Identitätskategorien passen. Diese Macht führt im Roman so weit, dass die Figuren beginnen, an ihren eigenen Identitäten zu zweifeln, und die Figur B in dieser Situation nicht länger weiterleben kann und sich umbringt.
Judith Butlers Überlegungen zur Identität münden in die Queer Theory. Butler gilt als eine der Begründerinnen dieser Theorie, die auch als Queer Studies oder Queer Politics bekannt ist. Der Begriff queer bedeutete im englischsprachigen Raum zunächst so viel wie „schräg, seltsam, [...], eigenartig“ (Villa 2003, S. 107). Lange Zeit wurde dieser Begriff als Schimpfwort für Homosexuelle verwendet. Erst in den 1970er und 1980er Jahren, im Rahmen einer schwul-lesbischen politischen Bewegung in den USA, änderte sich die Bedeutung des Wortes queer; es wurde in etwas Positives umgewandelt und stand nun für die eigene Identität, für das ‚Anders-sein’, auf welches man stolz war. Für Judith Butler ist die Bezeichnung queer „kein Synonym zu lesbisch-schwul – weil man nie sagen kann, was lesbisch-schwul eigentlich ist. Vielmehr deutet queer eine andere Art an, mit Identität und Politik umzugehen, nämlich als eine permanente Auseinandersetzung damit, was die Kategorie bedeutet“ (ebd. S. 109f.). Erneut geht es ihr darum, die Kategorie für alle Möglichkeiten zu öffnen und sich nicht auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen. Da Butler es, wie bereits festgestellt wurde, als problematisch ansieht, Identitäten unter einheitlichen Begriffen wie ‚Frau’, ‚Schwuler’ ‚Lesbe’ etc. einzuordnen, darf für sie auch der Begriff queer keine neue Identitätskategorie werden (ebd. S.109). Villa fasst zusammen: „Queer Theorie als eine politisch motivierte, theoretische Denkfigur, die jegliche Identität problematisiert und diese Kritik politisch situiert, nämlich als Kritik an Identitätspolitik, das ist es, wofür Butler Pate steht“(ebd.). Es wird deutlich, dass sich Überlegungen der Queer Theorie in dem Roman von Svealena Kutschke widerspiegeln. Der Roman legt den Fokus auf homosexuelle, bisexuelle und transsexuelle Figuren. Er bezieht sich damit also genau auf die Personengruppen, auf die sich Butler als Queer-Existenzen bezieht.
Für die weitere Betrachtung des Romans ist grundlegend wichtig, dass Butler die in der feministischen Theorie und in der Frauen- und Geschlechterforschung gängige Trennung zwischen ‚sex’ und ‚gender’ ablehnt. Butler hinterfragt die traditionelle „Unterscheidung zwischen sex (als biologischem, natürlichen, anatomischen Geschlecht) und gender (als kulturelle, soziale, historisch gewordene Ausformungen des sex)“ (ebd. S. 81). Nach Butler entsteht der ‚sex’ durch den ‚gender’ und durch den Diskurs der Zwangsheterosexualität (vgl. ebd. S. 59). In ihrem Buch ‚Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen’ beschreibt Butler dies wie folgt: „Ein Schachzug besteht darin, Sexualität von Gender zu trennen. Wenn man ein Gender hat, setzt das nicht voraus, dass man bestimmte sexuelle Praktiken ausübt. Ebenso bedeutet die Ausübung bestimmter sexueller Praktiken [...] nicht automatisch, dass man ein bestimmtes Gender ist“ (Butler 2009, S. 93). Sie definiert ‚sex’ und ‚gender’ und die Beziehung zwischen beiden also völlig neu. Wichtig ist ihr dabei, dass das Geschlecht nicht einfach als eine natürliche Gegebenheit angesehen werden kann, sondern dass es ein kulturelles Konstrukt sei, welches aus hegemonialen Diskursen heraus entsteht (vgl. Villa 2003, S. 61). Ihre Ansicht, dass das ‚gender’ sich nicht aus dem ‚sex’ heraus entwickelt, verdeutlicht Butler auch in Das Unbehagen der Geschlechter: „Wenn der Begriff ‚Geschlechtsidentität’ die kulturellen Bedeutungen bezeichnet, die der sexuell bestimmte Körper (sexed body) annimmt, dann kann man von keiner Geschlechtsidentität behaupten, daß [sic!] sie aus dem biologischen Geschlecht folgt“(Butler 1991, S. 22).
Butler ist der Ansicht, dass unsere Gesellschaft von einer Zwangsheterosexualität bestimmt wird. Diese meint die hegemoniale Norm „‚normalerweise’ heterosexuell zu sein, und die daraus resultierende Unsichtbarkeit [...] anderer Sexualitäten“(Villa 2003, S. 66). Butler widerspricht dieser Zwangsheterosexualität und dem binären System der Zweigeschlechtlichkeit, bei dem nur die eindeutigen Geschlechter Mann und Frau akzeptiert werden. Der Zwang zur Heterosexualität und die binäre Einteilung der Geschlechter zeigen für Butler, dass die normativen Grenzen der Gesellschaft eine so große Macht haben, dass sie entscheiden, was in der Gesellschaft akzeptiert wird und was nicht (vgl. Ludewig 2002, S. 158f.).
Die Kritik an diesem gesellschaftlichen Konzept ist in Kutschkes Roman zu erkennen. Dieser versucht Vorstellungen wie Zwangsheterosexualität oder das binäre Geschlechtsmodell aufzulösen und folgt damit Butlers Kritik. Der Roman bricht diese Vorstellungen auf, indem er Figuren einführt, die gerade nicht in das binäre Geschlechtsmodell (B und Mora) und in die Heterosexualität (Marc, Elias, Lisa) einzuordnen sind. Darüber hinaus beschäftigt er sich direkt mit diesen aus dem gesellschaftlichen Diskurs hervorgegangenen Vorstellungen, indem geschildert wird, wie ‚Abweichler’, wie die transsexuelle Mora, aus der Gesellschaft ausgegrenzt oder auch mit Gewalt angegriffen werden. Der Roman reiht sich so in Judith Butlers Kritik an dem Zwang zur Heterosexualität, durch den alle anderen Sexualitäten als Abweichungen ausgegrenzt werden, und an der binären Geschlechterdifferenz ein (vgl. Bublitz 2002, S. 66).
Transsexualität [ ↑ ]
Lisa ist nicht die einzige Figur, die normative Grenzen überschreitet. Zwei Figuren, die deutlich machen, wie der Roman diese Grenzen auflöst, sind die Transgender-Personen B und Mora. Durch ihren Lebensstil brechen sie konventionelle Grenzen auf und bestimmen sie neu. Wittmann kommt zu dem Schluss:
„Das Paradigma der Heterosexualität wird im Roman ebenso sukzessiv zerstört wie der Geschlechterdualismus, dem das Konzept des Transgender entgegengesetzt wird. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen durch die Darstellung der einzelnen Romanfiguren zunehmend“ (Wittmann 2010, S. 35).
Die Transsexualität stellt für die Mehrheitsgesellschaft also eine eindeutige Grenzüberschreitung dar. Bei der Figur B verweist schon die konsequente Abkürzung des Namens darauf, dass es eine Figur ist, die sich nicht in die gesellschaftliche Norm einordnen lässt (vgl. Schlicht 2016, S. 92). „Ich stand auf, zog mir das Kleid über den Kopf, streifte es B über den nackten Körper. An seinem Weinglas klebte Lippenstift. Wenn er lachte, blitzten seine schiefen Zähne zwischen den roten geschwungenen Lippen“ (Kutschke 2009, S. 31). An dieser Textstelle wird deutlich, dass B seine Transsexualität durch Kleider und Schminke auslebt. B ist in dem Roman keine aktive Figur, da er/sie vor Beginn der erzählten Zeit Selbstmord begangen hat. Der Selbstmord war Auslöser für Lisas Flucht nach Australien. Durch verschiedene Rückblicke, die aus Lisas Perspektive erzählt werden, erfährt man von B und der Beziehung zwischen Lisa und B. Während der Selbstmord gegen Ende des Romans aufgeklärt wird, wird Bs wirklicher Name nicht genannt. Dass Lisa den Namen nicht aussprechen will oder kann, gehört zu der Darstellung ihrer Trauerbewältigung. Die Betitelung B, ist weder klar männlich noch weiblich und hebt somit die Unbestimmtheit der Figur B hervor. Dies unterstreicht die Transsexualität und lässt B diffus erscheinen, genau wie er oder sie scheinbar für Lisa nicht genau zu definieren ist. Obwohl B transgender ist und auch Lisa ihn/sie so sieht, wird im Laufe des Romans deutlich, dass Lisa B eher männlich als weiblich wahrnimmt, da sie ihn in ihrer Erzählung durch männliche Pronomen ersetzt, was im Folgenden übernommen wird. „Lisa begehrt in B […] einen Menschen, der in seinem Körperempfinden der Norm entgegensteht. Er scheint androgyn, liebt sie, aber begehrt sie nicht. Darin liegt Lisas Grundproblem. B wiederum unterhält eine SM-Beziehung zu einem anderen Mann; Lisa pflegt und überschminkt B’s Wunden. Ihre Beziehung gipfelt schließlich in B’s Todeswunsch“ (Schlicht 2016, S. 92f.).
Der transsexuelle B und Lisa lebten zusammen in dem Haus von Lisas verstorbenen Großeltern. Das Zusammenleben und die Beziehung der beiden gestalten sich jedoch schwierig, da Lisa in B verliebt und nicht nur von seiner Transsexualität fasziniert ist. Obwohl Lisa weiß, dass sie niemals eine ‚richtige’ körperliche Beziehung zu B führen wird, lässt sie B bei sich einziehen. Sie akzeptiert ihre Rolle in der Beziehung zu B, die durch sein Transgendersein eher die einer Freundin oder Schwester ist, trotz ihres Wunsches nach körperlicher Nähe zu ihm und gelegentlicher Verdrossenheit:
„’Willst du mit mir schlafen?’, hatte ich B einmal aus lauter Unzufriedenheit gefragt. Ich hatte ihn öfter Dinge gefragt, auf die er nicht geantwortet hatte. Trotzdem, diese Frage fiel ihm über die Schulter aus dem Fenster und schlug auf das Pflaster im Hinterhof. [...] ‚Komm schon’, sagte ich und er folgte mir mit dem gemütvollen Blick des Stärkeren. Ich legte mich aufs Bett und B wühlte im Kleiderschrank. Er kicherte und probierte meine Sommerkleider. [...] Ich raffte mich auf und stieg in Opas alte, ausgebeulte Anzughosen. Ich befestigte die Hosenträger und stopfte sogar die langen Haare unter einen Hut. ‚Schlaf mit mir’, sagte ich noch einmal. ‚Ach, Lisa.’ B schüttelte lächelnd den Kopf“ (Kutschke 2009, S. 92).
B arrangiert sich mit den ungleichen Gefühlen und Bedürfnissen in der Beziehung zu Lisa und erlaubt ihr eine gewisse Nähe: „Er saß nackt am Küchentisch und zog sich die Lippen rot nach, ich küsste ihn leicht auf den Mund und setzte mich ihm gegenüber“(ebd. S. 30). Insgesamt beruht die Beziehung der beiden auf einer generellen Akzeptanz des anderen, wobei Lisa B zum Fokus ihres gesamten Lebens werden lässt und sich in der Beziehung verliert, woran der romantische Grundgestus Lisas deutlich wird. Welche Wichtigkeit und welchen Stellenwert B für sie hatte, zeigt sich darin, dass Lisa ihre Geschichte mit B niemandem außer Mora erzählt. Während ihres Zusammenlebens mit B verliert Lisa Freunde und nach Bs Tod bricht sie ihr Fotografie-Studium ab, da sie auch dieses mit ihm verbindet. Für Lisa verkörpert B das Zentrum ihres Lebens, weswegen sie ihn häufig zum Objekt ihrer Fotoprojekte macht. Dies ist der Grund, warum Lisas Gedanken über B meist in Form von Fotoeinstellungen wie Blende oder Belichtungszeit formuliert werden. Es wirkt, als würde B seinerseits Lisas Fixiertheit auf ihn brauchen, nicht nur weil er ein gewisses Maß an Körperlichkeit zulässt, sondern auch weil er „[zufrieden] lächelte, wenn er die Bilder anschaute“ (ebd. S. 59). Lisas Fotocollagen von sich und ihm, wie sie sich anschauen und er seine Hände auf ihren Brüsten hat, belächelt er hingegen, sodass sich Lisa bewusst, dass sie zu B nie die Art der Beziehung führen wird, die sie gerne hätte:
„Ich dachte daran, wie B immer eine abgenuckelte Zahnbürste aus der Manteltasche geholt hatte, wenn er bei mir übernachtete, wie ich auf diese Zahnbürste wartete, als er bei mir einzog, wie er stattdessen eine neue Elmex aus der Verpackung schälte und auf die Ablage legte; und ich wusste, dass seine Zahnbürste [...] in seiner Manteltasche weiterlebte; dass seine abgenuckelte Zahnbürste nie mir gehört hatte“ (ebd. S.198).
Im Vergleich zu Lisa, deren Lebensmittelpunkt B ist, führt B in der Zeit, als er bei Lisa wohnt, eine sexuelle Beziehung zu einem Mann. Durch die Beziehung zu diesem Mann verändert B sich: „B hatte aufgehört Kleider zu tragen. Jeden Tag lief er in derselben grauen Hose rum, im selben weißen Hemd“ (ebd. S. 235). Trotz sexueller Gewaltakte in der Beziehung spricht B Lisa gegenüber von Liebe. Die Male, die er auf ihm hinterlässt, überschminkt B (vgl. ebd. S. 146f.). Er scheint sich in der Beziehung zu verlieren, genau wie sich Lisa in der Beziehung zu ihm verliert. Lisas Einstellung zu dieser Beziehung ist negativ, was sie B immer wieder deutlich sagt. Vermuten lässt sich, dass zu Lisas Sorge um Bs körperliches Wohl Eifersucht hinzukommt, denn bereits bei Bs Einzug wird ihr bewusst, dass sie nicht sein Lebensmittelpunkt ist oder sein wird. Sie hinterfragt des Öfteren ihre Rolle in Bs Leben und ihre Wichtigkeit für ihn: „Ich dachte an B und daran, dass ich mich oft gefragt hatte, ob er nur mit mir befreundet gewesen war, weil ich ihm mit meiner Bewunderung so einen schönen Resonanzboden geboten hatte“ (ebd. S.206).
Lisa und B kapseln sich, wenn sie zusammen sind, von ihrer Außenwelt ab und ziehen sich in dem Haus von Lisas Großeltern teilweise vollständig zurück, was sich auf die gegenseitige Akzeptanz und die Distanz zur Außenwelt zurückführen lässt. B steht in seiner Transsexualität, seiner Homosexualität und seinem sadomasochistischen sexuellen Ausleben gegen die Norm der Gesellschaft. Dass B sich darüber bewusst ist und mit dieser Kategorisierung der Gesellschaft als ‚abnormal’ nicht klarkommt, wird deutlich, als er anfängt sich nicht mehr zu schminken und keine Kleider mehr zu tragen. Es erscheint hier so, als habe B aufgegeben seine wahre Identität entgegen der gesellschaftlichen Norm auszuleben. Und es wird deutlich, dass er keinen Sinn mehr in diesem Leben sieht. Er und Lisa verlassen die Wohnung nicht mehr, duschen nicht mehr und hören schließlich auf zu essen. Stattdessen nehmen sie Drogen. B’s Lebenseinstellung wird durch seine Aussage: „Wir sind nutzlos, Lisa. Wir haben den Anschluss verpasst“ (Kutschke 2009, S. 236) deutlich. B will mit Lisa zusammen in ihrer Wohnung sterben, er will dort einfach verwesen. Doch Lisas Lebenshunger „ist größer als ihre Überzeugung von einem romantischen Liebestod“, so Schlicht (Schlicht 2016, S. 93). Als Lisa sich daher aufrafft, duscht und einkaufen geht, bezeichnet B sie als „Verräter!“ (Kutschke 2009, S. 237) und erhängt sich in der Wohnung (vgl. ebd. S.238). An verschiedenen Stellen im Roman erzählt Lisa von Situationen, in denen sie und B tagelang das Haus nicht verließen und Alkohol und Drogen konsumierten (vgl. ebd. S. 123f.; S. 236f.). Liest man diese Passagen in dem Wissen, dass B sich vor Lisas Abreise umgebracht hat, so kann man Parallelen zwischen dieser Situation und der Situation ziehen, die dem Selbstmord vorausging. Bs Gedankenspiele über das Verweilen, Verdorren oder Ausharren, die er äußert, während er und Lisa den Winter im Haus verbringen, ähneln den Schilderungen, die Lisa über die Zeit direkt vor Bs Selbstmord macht. Das Motiv des romantischen Liebestods wird von Kutschke an dieser Stelle des Romans aufgegriffen und ironisiert, da Lisa das Ausharren, Verweilen und allmähliche Sterben nicht länger aushält. Kutschke beschreibt hier kein romantisches, gemeinsames aus dem Leben scheiden, sondern ein gemeinsames Dahinsiechen. Lisa realisiert dieses, verlässt die Situation und ist angeekelt von sich und B:
„Ich wachte auf, B hatte seine Arme fest um mich geschlungen, ich konnte nicht mehr unterscheiden, wo sein Körper anfing und meiner aufhörte. Sein dünner Körper war bleich und glitschig und stank. Ich stank auch. [...] Ich konnte B nicht mehr ertragen. In der Dusche rutschte ich aus und schlug mir den Kopf an. Ich duschte eine halbe Stunde, ich schrubbte meinen ganzen Körper wie wahnsinnig. Als ich wieder zurückkam, schlug mir der faulige Geruch im Zimmer wie eine Ohrfeige ins Gesicht. [...] Ich sah auf seinen jämmerlich, stinkenden Körper und hasste ihn. ‚Es reicht,’ sagte ich. [...] ‚Verräter!’, zischte B“ (ebd. S. 237).
Um B beschreiben zu können, bleibt es nicht aus, ihn in der Beziehung zu Lisa zu betrachten, da ihre Gedanken und Erinnerungen an B die einzigen Einblicke sind, die Kutschke in die Figur B gewährt. Anhand der vorausgegangenen zitierten Textstellen lässt sich B wie folgt beschreiben. Er ist ein transsexueller Mann, der, folgt man dem Roman, zwei für ihn sowohl physisch als auch psychisch ‚ungesunde’ Beziehungen führt. Zum einen befindet er sich in einer sexuellen Beziehung zu einem Mann, die für B die Liebesbeziehung darstellt. Mit diesem Liebhaber hat B gewalttätigen Sex: „B und ich zuckten gleichzeitig zusammen, als ich über die Striemen fuhr. ‚B, er geht zu weit’, sagte ich. ‚Schau dich an, das hat mit Sex nichts mehr zu tun. Was macht er mit dir?’“ (ebd. S. 115). Obwohl dieser ihn nicht nur während des Geschlechtsverkehrs zu schlagen scheint (vgl. ebd. S. 146), spricht B von Liebe. Die zweite ‚ungesunde’ Beziehung, in der B sich befindet, ist die zu Lisa. Er lebt mit Lisa zusammen, für die er, aufgrund seiner Trans- und Homosexualität, außer Freundschaft keinerlei körperliches Begehren hegt. Lisa hingegen liebt B, von dem sie weiß, dass er nicht dasselbe für sie empfindet. Dennoch lässt B körperliche Nähe zwischen ihm und Lisa wie beispielsweise Küsse oder Umarmungen zu. Er scheint Lisas Faszination und Bewunderung ihm gegenüber zu genießen. An einigen Stellen des Romans, in denen B Lisas Kleider trägt oder sie ihm ihre Haare über den Kopf legt, wirkt es beinahe so, als nutze er Lisas ‚Besessenheit’ von ihm aus, da er nur dann aus Lisas Perspektive zufrieden zu sein scheint (vgl. ebd. S. 190f.).
In seine Beweggründe erhält man, aufgrund der Erzählung der Geschichte aus Lisas Perspektive, keinerlei Einblick, weshalb auch kein genauer Grund für seinen Selbstmord genannt wird. Dass B sich zerrissen oder unsicher fühlt, lässt sich lediglich aus Lisas Beschreibungen seines Äußeren ableiten. „Sein Gesicht war auseinandergefallen, zerklüftet. [...] B bleckte die Zähne, starrte mich an, wusste nicht weiter mit seinem Gesicht und seinem Körper“ (ebd. S. 207). Dies erweckt den Eindruck, dass die Darstellung von Bs Physiognomie zugleich eine Darstellung seiner Psyche ist. Wie zuvor bereits geschrieben, liest sich der Text anders, wenn man weiß, dass B Selbstmord begangen hat, da B in Lisas Erzählungen mit Thematiken wie Tod, Ungesundsein oder Selbstverletzung in Bezug gesetzt wird (vgl. ebd. S. 201; S. 236). Die Zerrissenheit, die Psychologen bei Personen feststellen, die sich ihrer sexuellen Identität unsicher sind, stellt Kutschke an B heraus. June Singer beschreibt in dem Kapitel Androgynität in Homosexualität, Bisexualität und Heterosexualität (vgl. Singer 1981, S. 329) Probleme, die oft mit Identitätsstörungen auftreten, wie Depressionen und übermäßiger Drogenkonsum, die auch in Lisas Erinnerungen von B erscheinen. Letztlich ist ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenwerdens ein möglicher Auslöser für Bs Selbstmord. Die Tatsache, dass Lisa B am Tag seines Todes verlässt, ist der Grund für Lisas Schuldgefühle und ihre Unfähigkeit seinen Namen zu nennen. Als Lisa gegen Ende des Romans ihre Fotos von B betrachtet „zeugten die Bilder von seiner Melancholie, die er trug wie ein warmes Gewand, aber nicht von seiner Verzweiflung, deren Natur [sie] nur erahnen konnte“ (ebd. S. 275). B ignoriert also zunächst die gesellschaftliche Norm, um seine wahre Identität leben zu können, erträgt dann jedoch die Ausgrenzungserfahrungen, die er in dieser Gesellschaft zu spüren bekommt, nicht mehr und versucht sich der Norm der Gesellschaft unterzuordnen. Da dies aber seiner eigentlichen Identität zutiefst widerspricht, gibt er letztlich auf und nimmt sich das Leben.
Der zweiten transsexuellen Figur begegnet Lisa in Australien. Mora wirkt als Transgender-Person für Lisa wie ein Spiegel von B, daher fühlt sie sich zu ihr hingezogen (Schlicht 2016, S. 89). Sie wird geradezu als „Doppelgängerfigur von B eingeführt“ (Xue 2014, S. 193). Ihre Wege kreuzen sich, nachdem Lisa ein Foto auf der Straße findet, auf der eine Frau zu sehen ist, die genauso aussieht wie sie selbst. Sie begibt sich auf die Suche nach dem Ort, der im Hintergrund zu sehen ist. Als sie den Ort, das ‚Oceanic Café’ findet und dort hingeht, wird Lisa mit dem Namen Lucy von Moras Mutter begrüßt. Es stellt sich heraus, dass Lucy die Ex-Freundin von Mora war, der Lisa ungewöhnlich ähnlich sieht. Das erste Aufeinandertreffen von Lisa und Mora leitet Kutschke mit einer Art Countdown ein, indem sie Lisas Tag in kurze Abschnitte einteilt und diese Abschnitte mit den Stunden bis zur Begegnung abschließt (vgl. ebd. S. 174f.), was die Bedeutung Moras für Lisas Entwicklungsweg veranschaulicht. Genau wie B wird auch Mora überwiegend durch Lisas Gedanken beschrieben. Jedoch gibt es einen Unterschied in der Darstellung von Mora und B. Während Lisa B durch männliche Pronomina beschreibt, verwendet sie für Mora weibliche, was im Folgenden übernommen wird.
Noch vor einem ersten Dialog ruft Mora Erinnerungen an B in Lisa hervor. „Mora hatte den schleppenden Gang eines Menschen, der lange nicht geschlafen hatte. Ich dachte an B, wie er durch den Sand vor mir herging, plötzlich mit dem Gang eines alten Mannes“ (ebd. S. 175). Während ihres ersten Gespräches hält Mora Lisa ebenfalls für ihre ehemalige Freundin. In der Beschreibung dieses ersten Gesprächs wird deutlich, dass Mora kein sonderlich großes Interesse an einem Wiedersehen mit Lucy hat, sie würdigt Lisa zu Beginn keines Blickes. Schließlich steht Mora jedoch auf und signalisiert ihr, dass sie ihr folgen soll. Sie führt Lisa in ihre Wohnung. Auch in dieser Situation scheint B für Lisa allgegenwärtig zu sein, denn während Mora sich abschminkt und rasiert, zieht Lisa Parallelen zwischen Mora und B (vgl. ebd. S. 178). Der karge Dialog zwischen den beiden gerät auf Grund der Parallelen zwischen Mora und B außer Kontrolle, da Lisa bewusst wird, dass sie sich von B hintergangen fühlt. Lisa projiziert ihre Wut auf B auf Mora und generalisiert diese Wut, indem sie sich mit Lucy identifiziert: „Und tatsächlich fühlte ich mich betrogen. Von B, der meine Brüste nur angefasst hatte, um sich besser vorstellen zu können, wie es wäre, selber welche zu haben. Von Mora, die sich weigerte, ein zerzauster Mann zu sein, der [...] um meine Hand anhielt“ (ebd.). Moras Schuldgefühle Lucy gegenüber werden deutlich, als sie ihr Gesicht in ihre Hände presst, nachdem sie Lisas wütende Aussage, dass Brüste und Kleider keine Frau aus jemandem machen (vgl. ebd.), resigniert abtut. Hier zeigt Kutschke erneut die Verletztheit beider Seiten, in diesem Fall Lisa und B und Mora und Lucy, da Lisa zum ersten Mal von Rache spricht und durch ihre Gedanken deutlich macht, dass sie B nachträglich verletzen will, indem sie Mora verletzt:
„Ich hatte meine Rache nicht gehabt. B hatte sich verdrückt und mir war nichts geblieben, als den Boden zu wischen, die Topfpflanze wieder aufzuhängen und mich ins Bett zu legen und mich damit abzufinden, dass mein Bett kein Bett mehr war, mein Zimmer kein Zimmer mehr [...]. Nein, zu Rache war ich noch nicht gekommen. Ich schob meine Brüste vor und legte die Hand an meine samtweiche, bartfreie Wange“ (ebd. S. 178f.).
Im weiteren Verlauf des ersten Aufeinandertreffens von Lisa und Mora erkennt Mora, dass Lisa nicht Lucy ist und fordert Lisa auf, die Wohnung zu verlassen. Dennoch ist Lisa wie auch bei B von der Transsexualität Moras fasziniert und sucht den Kontakt zu ihr, indem sie Mora in ihrer Wohnung unangemeldet besucht. Moras Verzweiflung und das Gefühl der Entfremdung wird erstmals wirklich ausgesprochen, als sie Lisa bittet, sie in Ruhe zu lassen: „Hier gibt’s nichts für dich. Hier gibt’s noch nicht einmal was für mich“ (ebd. S. 192). Lisas Interesse an Mora lässt nicht nach. Sie verfolgt sie bis zu ihrer Arbeit in ihrem Tattoostudio und positioniert sich in einem Café gegenüber. In diesem Café kommen Mora und Lisa zum ersten Mal in ein Gespräch, ohne dass Mora Lisa wegschickt.
Mora erscheint wie B androgyn und wie B ist sich auch Mora dessen bewusst, dass sie durch ihr transsexuelles Auftreten normative Grenzen überschreitet. Sie nimmt mithilfe von Kleidung und Kosmetik die Identität einer Frau an. Yuan Xue merkt dazu an:
„Moras Kleidung und Schminke gestatten ihr ein plurales Leben, das für die heteronormative Gesellschaft untypisch ist. [...] Während die Brüste für eine Frau ein eindeutig weibliches Merkmal sind, besitzt Mora, wie Lisa auffällt, noch nicht einmal den Ansatz von Silikonbrüsten. Sie profiliert ein noch ganz uneindeutiges Geschlechterdasein“ (Xue 2014, S. 194).
Dass Mora für Lisa ein größeres Mysterium zu sein scheint als B es war, den Lisa öfter nackt gesehen hat, zeigt sich nicht nur an Lisas allgemeinem Interesse an der Transgenderfigur Mora, sondern auch, als sie sie nach ihrem biologischen Geschlecht fragt, obwohl sie eine belanglose Frage stellen wollte (vgl. ebd. S. 199). Die eigene Entfremdung sich selbst gegenüber, die Mora fühlt, wird in ihrer Reaktion auf die Frage abermals deutlich. „‚Ich versteh das alles nicht’“ (ebd. S. 200). Zusätzlich kommt die Frage auf, ob es nicht einfacher wäre, ein „Biomann“ zu sein, wie die Holzpuppe Sudden Smith Lisa als Erklärung zuflüstert: „Das Gegenteil von Transgender wird manchmal als Biomann und Biofrau bezeichnet“ (Kutschke 2009, S. 181). Als Mora die Frage stellt, beschreibt Lisa, dass „Mora [...] ihre rotlackierten Fingernägel wie einen Feind [fixierte]“ (vgl. ebd. S. 208), wodurch die innere Zerrissenheit Moras hervorgehoben wird, unter der auch B zu leiden schien. Bezeichnenderweise erzählt Lisa Mora auf einem Friedhof von B. Es ist das erste Mal in dem Roman, dass Lisa einer fremden Person gegenüber B erwähnt, wobei sich die Distanz Lisas zu den Erinnerungen an B sprachlich manifestiert, denn die Erzählung wird in indirekter Rede wiedergegeben, was Lisas Verdrängung von Bs Tod unterstreicht. Auf der folgenden Seite artikuliert Lisa erstmals, dass B für sie weiterhin lebendig ist, als Mora sie fragt, ob sie je an seinem Grab war (vgl. ebd.). Hier scheint sich Lisa auch erstmals darüber bewusst zu werden, dass B für sie nicht wirklich tot ist. Dass ihr nach der Aussprache mit Mora „nichts mehr weh [tut]“ (ebd.), lässt erahnen, welche Last das Verschweigen von Bs Tod für Lisa war.
Die nächste bedeutende Begegnung zwischen Lisa und Mora ereignet sich, als Mora in ihrem Tattoostudio überfallen wird. Die gewaltige Abneigung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber transsexuellen Menschen, wie sie Jan Wittmann herausstellt (Wittmann 2010, S. 28), kommt hier zum ersten Mal ebenso wie die Wut Moras über diese Abneigung und Ausstoßung zum Ausdruck. Auch nach dem Überfall auf Mora kann man die Abneigung gegen ihre Sexualität durch ihre Umwelt erahnen, da es keine Ergebnisse in der Fahndung nach den Tätern gibt. Schon vorher ist Lisa die Andersartigkeit Moras aufgefallen, die sie vom ‚normalen‘ Teil der Gesellschaft isoliert: „Mora saß wieder am anderen Ende der halbrunden Bar. Obwohl der Laden voll war, die Typen sich auf der Tanzfläche und an der Bar gegenseitig auf die Füße traten, um Mora war Stille. Als hätte sie sich einmal mit ausgestreckten Armen im Kreis gedreht, bevor sie sich setzte“ (Kutschke 2009, S. 201).
Ablehnungserfahrungen macht Mora auch auf der gemeinsamen Reise mit Lias und Marc in das australische Outback (vgl. ebd. S. 254). Eine weitere Gemeinsamkeit von B und Mora ist die temporäre Veränderung, die beide durchleben; B durch die Beziehung zu seinem Liebhaber und Mora, als sie zusammen mit Lisa und Marc in das australische Outback fährt: „Das Outback hatte auf Mora eine ähnliche Wirkung wie ein heftiger Kater. Sie wirkte fast roh. Sie schminkte sich nicht mehr. Die Haare auf ihren Beinen wucherten. Aber sie trug ihre Kleider mit ungebrochener Eleganz“ (ebd.). Auf Lisa wirkt sie stolz in ihrer Transsexualität und zugleich zerbrechlich. Trotz der vielen Zeit, die Mora und Lisa gemeinsam verbringen, schafft Lisa es nicht, Mora nicht mit B zu vergleichen und ihn auf sie zu projizieren: „Mora sagte etwas, aber ich hörte sie nicht. Ich setzte Bs Lippen in ihr Gesicht, Bs Augenbrauen und seine Pickel. Ich retuschierte die dunklen Stoppeln und ersetzte sie durch Bs blasse Wangen. Ich zog ihre Augenbrauen nach, wenn ich tot wäre, an was könnte ich mich erinnern?“ (ebd. S. 233). Erst nachdem Lisa mit Bs Tod in der Wüste von Australien abgeschlossen hat und wirklich versteht, dass sie niemals eine Liebesbeziehung zu B hätte haben können (vgl. ebd. S. 238), beginnt sie wieder zu fotografieren. Im Folgenden wird Mora wie B in Verbindung mit Blende und Verschlusszeit der Kamera genannt.
In ihrem Text Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen stellt Butler (2009) fest, dass Gender „in sich selbst instabil [ist], und das Leben von Transgender-Personen [...] der Beweis für den Zusammenbruch jedweder Annahmen eines kausalen Determinismus zwischen Sexualität und Gender [ist]“ (S. 94). Kutschke zeigt in ihrem Roman wie instabil der traditionelle Gender-Begriff ist. Darüber hinaus definiert Butler das Geschlecht als performative Inszenierung. Sie beschreibt es wie ein Schauspiel, das auf kulturellen Vorstellungen, Stereotypen und Idealen beruht. So ordnet sie auch die Travestie als Geschlechterparodie ein (vgl. Butler 1991, S. 200ff.). Butler ist der Ansicht, dass jede Inszenierung des Geschlechts dem Muster der Travestie folgt. Sie erklärt, „daß [sic!] drag keine sekundäre Imitation ist, die ein vorgängiges und ursprüngliches soziales Geschlecht voraussetzt, sondern daß [sic!] die hegemoniale Heterosexualität selbst ein andauernder und wiederholter Versuch ist, die eigenen Idealisierungen zu imitieren“ (Butler 1997, S. 178, Hervorh. im Original). In Bezug auf die Geschlechterparodie lässt sich im Vergleich des Romans mit Judith Butlers Theorie auch eine Abgrenzung vom Roman zu Butler erkennen: Als Mora, Marc und Lisa sich im Outback von Australien aufhalten, passt sich Moras Körper der Natur an. Wie in der Analyse des Überwindens geografischer Grenzen im Roman bereits festgestellt wurde, findet Mora hier zu einer neuen Form an Freiheit. Yuan Xue interpretiert diese Stelle so, dass Mora hier das Konzept der Geschlechterparodie von Butler ablehnt, „indem sie keine Geschlechtsidentität imitiert oder inszeniert, sondern versucht, ihre Identität von dieser geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) abzutrennen“ (Xue 2014, S. 199). Dabei lässt Xue jedoch außer Acht, dass die Figur Mora an dieser Stelle zwar die Geschlechterparodie ablehnt, jedoch gleichzeitig auf andere Weise Butlers Theorie praktisch umsetzt. Mora bricht hier die gängigen Identitätskategorien und das binäre Geschlechtermodell noch weiter auf, da sie in ihrer Erscheinung keinem Geschlecht mehr eindeutig zuzuordnen ist. Der Roman bezieht sich hier also auf die Geschlechterparodie, indem die Figur Mora diese ablehnt, er nimmt jedoch gleichzeitig in bestimmter Weise Butlers Theorie inhaltlich auf.
Judith Butler bezieht sich in den vorherigen Zitaten zur Geschlechterparodie auf Travestie und Drag. Obwohl dies von der Transsexualität zu unterscheiden ist, lassen sich Zusammenhänge zu der Transsexualität entdecken, wie sie in Kutschkes Roman behandelt wird. So definiert Butler: „Die Performanz der Travestie spielt mit der Unterscheidung zwischen der Anatomie des Darstellers (performer) und der dargestellten Geschlechtsidentität. Doch stehen wir hier vor drei kategorialen Dimensionen der signifikanten Leiblichkeit: dem anatomischen Geschlecht (sex), der geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) und der Performanz der Geschlechtsidentität (gender performance)“ (Butler 1991, S. 202; Hervorh. im Original). Da die Transgender-Personen B und Mora im Roman beide ihre Körper noch nicht vollständig operativ haben umwandeln lassen, sind diese drei definierten Dimensionen der Leiblichkeit auch bei ihnen zu analysieren. Damit setzt Kutschke sich erneut mit diesen beiden Figuren über alle traditionellen Identitätskategorien hinweg. Wie Judith Butler definiert Svealena Kutschke so die Begriffe ‚sex’ und ‚gender’ in ihrem Roman neu, beziehungsweise öffnet die traditionelle Definition.
Identitätsgrenzen
Die Überzeugung, dass (sexuelle) Identität etwas Einheitliches, Stabiles, ist, hat sich mit Beginn des Feminismus Mitte der 1960er Jahre gewandelt. Mit Judith Butler und den Gender Studies kam die Theorie auf, dass jeder Mensch sowohl männliche als auch weibliche Eigenschaften vereint und kein Mensch ‚nur’ Mann oder Frau ist. Inwiefern die Figuren B, Mora und Lisa durch das Aufbrechen ihrer gesellschaftlich vorgegebenen Identitätsgrenzen zu einer eigenen Identität gelangen, soll im Folgenden diskutiert werden.
Viel eher als um die Grenzen, die die Gesellschaft den Figuren des Romans aufzeigt, behandelt der Roman die Entgrenzung, wie Jan Wittmann betont: „Grenzlinien [werden] ebenso aufgebrochen wie neu bestimmt. Sexualität setzt sich über Grenzen hinweg und ermöglicht dadurch eine unbedingte Freiheit, die für die Suche nach dem eigenen inneren Kern notwendig ist“ (Wittmann 2010, S. 35). B und Mora, die sich ihrer Transsexualität bewusst sind und diese ausleben, brechen allein dadurch mit den Identitätsgrenzen, die die Mehrheitsgesellschaft aufstellt. Dass Sexualität durch gesellschaftliche Normen und Werte, also Rahmenbedingungen, problembehaftet sein kann, wird in Kutschkes Roman durch die Anfeindungen den transsexuellen Figuren gegenüber und deren Unsicherheit und Zerrissenheit deutlich. Wittmann begreift Sexualität als eigenen Raum, der erst durch verschiedene Mikrokosmen ermöglicht wird (vgl. ebd. S. 32f.). So versteht Lisa ihre Sexualität als abgetrennten Raum und bezeichnet diesen als „Subsystem der Liebe“ (Kutschke 2009, S. 37). In ihrem neuen Umfeld, in dem die geschlechtlichen und sexuellen Grenzen verwischen, bilden sich neue Mikrokosmen. Sie grenzt während ihres Aufenthaltes in Australien Liebe und Sexualität voneinander ab und bricht somit mit der bürgerlich-gesellschaftlichen Norm, dass Liebe und Sexualität zusammengehörig sind. Für Lisa verkörpert der Künstler Nick die Liebe, während Lisa mit seinem besten Freund Ben ihre Sexualität neu entdeckt und auch ihre eigenen bisherigen Grenzen aufbricht, da sie mit Ben, ähnlich wie B mit seinem Liebhaber, gewalttätigen Sex hat, den sie zuvor stark ablehnte. „Ben fuhr mir mit der Hand zwischen die Beine, ich dachte an den Schmetterling, der sich jetzt dort auf und ab bewegte, das tröstete mich, denn ich war erschrocken über die fast gewalttätige Lust, die mit einem Mal in mir aufbrach“ (ebd. S. 70). Der empfundene Schmerz, den Lisa während des Sex mit Ben hat, dient ihr zur Selbsterfahrung und als Empfinden der eigenen Körperidentität. Zusätzlich zu der Entgrenzung in Bezug auf Unterwürfigkeit und sexuelle Gewaltakte, experimentiert Lisa mit Homosexualität. Auf einer Party lernt sie Charly kennen, mit der sie homoerotische Phantasien hat und diese zum Teil auch auslebt. Doch schon bevor Lisa nach Australien gekommen ist, hat sie die Grenzen ihrer Identität aufgebrochen, nämlich durch ihre Beziehung zu dem transsexuellen B. Letztlicht scheint es, als würden Lisa und B insbesondere am Ende ihrer gemeinsamen Zeit eine Symbiose eingehen. Kurz vor Bs Selbstmord erinnert Lisas Beschreibung an die Kugelmenschen aus Platons Mythen (vgl. Graubner 1994, S. 89). Lisa ist sich generell ihrer eigenen Identität nicht sicher zu sein, da sie sich in ihrem Körper teilweise fremd fühlt und ihr Bs Körper näher ist als ihr eigener. Zusätzlich beschäftigt sie sich mit dem Gedanken ein Mann zu sein, jedoch nur für B: „‚Was wäre’, fragte ich, ‚wenn ich ein Junge wäre?’“ (ebd. S. 124). Lisa führt diesen Gedanken weiter und kommt zu dem Schluss, dass B die Möglichkeit verloren hat, eine heterosexuelle Beziehung mit Lisa zu führen, allein durch die Entscheidung, dass er transgender ist.
Auch B entgrenzt seine transsexuelle Identität durch seine Beziehung zu Lisa, denn obwohl B transgender ist, lebt er mit Lisa zusammen und lässt körperliche Nähe zwischen den beiden zu. Durch Bs häufige Auseinandersetzung mit dem Tod öffnet er die Grenze zwischen Leben und Tod. Mora hingegen entgrenzt sich weniger als B und Lisa, da sich die Darstellung ihrer Person auf die Abgrenzung zu dem ihr feindlich gesonnen Umfeld beschränkt. Jedoch lässt sich sagen, dass B und Mora ihre Identitätsgrenzen insgesamt verwischen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihres Lebensstils. Bei der Beschäftigung mit Kutschkes Roman wird klar, „dass der freie Raum der Sexualität nicht an jedem beliebigen Ort platziert werden kann“ (Wittmann 2010, S. 36. Sexualität begreifen alle drei Figuren als Orientierungspunkt und als etwas Haltgebendes auf der Suche nach ihrer Identität.
Reisen – Identitätsorte [ ↑ ]
Dass es im Roman um das Aufbrechen und Neudefinieren von Grenzen geht, ist anhand der untersuchten normativen Grenzen bereits deutlich geworden. Es werden jedoch nicht nur unsichtbare normative Grenzen überwunden, sondern auch sichtbare geografische Grenzen. So spielt das Motiv der Reise in Kutschkes Roman eine große Rolle. Der gesamte Roman befasst sich mit Lisas Reise aus Deutschland nach Australien. Wittmann versteht diese Reise als „Selbsterfahrungstrip“ (ebd. S. 34). Sie beinhaltet die Identitätssuche Lisas, die durch die Reise von ihrem alltäglichen, bisherigen Lebensumfeld in Deutschland getrennt wird. Schlicht wertet das Reisemotiv als mehrfach motiviert: „Trauer und Schuldgefühle gegenüber der/dem Verstorbenen treiben Lisa in die Fremde. Das Reiseziel Australien ist auch symbolisch zu verstehen, denn sie stellt damit ihre bisherige Existenz buchstäblich auf den Kopf. Mit dem Eingangsmotiv der Reise ist das zentrale Strukturmoment und Motiv des Romans angesprochen, die Grenzüberschreitung“ (Schlicht 2016, S. 93).
Auf diese geografische Grenzüberschreitung werden die LeserInnen bereits zu Beginn des Romans hingewiesen. Die ersten Seiten des Romans beschreiben die Reise selbst, sie nehmen die Situation in einem Flugzeug und am Flughafen auf. Der Roman beginnt also direkt mit dem Ortswechsel, der Grenzüberschreitung hin nach Australien. Außerdem wird schon auf diesen ersten Seiten darauf hingewiesen, wie präsent B für Lisa in ihren Erinnerungen ist und es lässt sich bereits erahnen, dass er der Auslöser für die Reise ist: „Ich schloss meine Augen. Ich sah B. Er lachte mich an, hatte Lippenstift an den Zähnen. Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich B, als wäre er mir in die Innenseite der Lider tätowiert“ (Kutschke 2009, S. 7). Die Erinnerung an B, welcher der stete Begleiter auf Lisas Reise ist, wird so schon zu Anfang des Romans als allgegenwärtig vermittelt.
Das Reisen als ‚Selbstfindungstrip’, also als Reise zum ‚inneren Ich’, ist ein alt bekanntes Motiv in der Literatur. Kufeld (2010) fasst zusammen, dass Reisen in der Moderne zunächst Freiheit bedeutete und mit dem Ausreißen aus dem Gewohnten gleichgesetzt wurde: „In diese Zeit fallen auch die ersten großen Reisebeschreibungen und -reflektionen der Neuzeit, von Ludwig Börne über Goethe bis hin zu Heine. Es gab kaum einen Literaten oder auch Philosophen, der nicht in die Welt hinaus aufbrach. Die Erfahrung der Fremde wurde auch zur Erfahrung des Selbst, eine Reise zum Ich“ (S. 99). In dieser Tradition steht bei Kutschke das Motiv der Reise. Daher lässt er sich über das Genre des Liebesromans hinaus auch als Reiseroman und Entwicklungsroman einordnen. Wie bereits analysiert wurde, setzt sich der Roman aus verschiedenen Genres zusammen, inhaltlich vor allem aus dem Liebesroman und formal aus dem Reise- und Entwicklungsroman (Schlicht 2016, S. 89).
In dem Roman stellt die Grenzüberschreitung, der Ortswechsel aus Lisas altem Mikrokosmus hin nach Australien, eine Entgrenzung dar, mit der sie auf Freiheits- und Identitätssuche geht (Wittmann 2010, S. 34f.). So wird die Großstadt Sydney zum Ort der Selbstsuche Lisas. Wie in der Analyse der normativen Grenzen im Roman schon deutlich geworden ist, erkundet Lisa während dieses Aufenthalts in Sydney die Schwellenbereiche ihrer Existenz. Schlicht stellt fest, dass „es [...] ihr demnach nicht um Festlegung, sondern um die Auflösung, Überschreitung und Widersprüchlichkeiten ihrer Identität [geht]“ (Schlicht 2016, S. 93). Die geografische Grenzüberschreitung unterstützt also die Suche nach Lisas Identität und das darin enthaltene Überschreiten normativer Grenzen. Brigitte Moll definiert das Motiv der Reise als „Bewegung selbst [, die] zum eigentlichen Ziel [wird]. Es geht nicht mehr um das Ankommen, sondern um die fiebrige Freiheit des Aufbrechens und Wegkommens. Der Mensch wird zum Touristen aus Verzweiflung“ (Moll 2004, S. 65). Diese Dynamik lässt sich auch bei Lisas Reise feststellen. Vor allem das Empfinden von Verzweiflung ist als Grundstimmung für Lisas Reise auszumachen. Es geht Lisa weniger darum, irgendwo anzukommen, sondern mehr um das Inbewegungbleiben und das Suchen selbst.
Eine Romanpassage, die das Überwinden geografischer Grenzen beschreibt, ist der Ausflug von Lisa, Marc und Mora in das australische Outback im sechsten Kapitel des Romans. Nachdem Lisa Mora anvertraut hat, dass B tot ist und Moras Tattoostudio zerstört worden ist, beschließen die beiden gemeinsam mit Marc in die Wüste zu reisen. Yuan Xue stellt fest, dass „das Verlassen der Stadt nicht nur eine Ablenkung von der alltäglichen Wirklichkeit [bedeutet], sondern auch eine rebellische Konfrontation mit der Heteronormativität“ (Xue 2014, S. 197). Das Überwinden der geografischen Grenzen Australiens aus der Großstadt hinaus in die Wüste steht an dieser Stelle also in einem engen Zusammenhang mit dem Überwinden der normativen Grenzen. Die drei lassen die Stadt mitsamt ihren Normen und Grenzen hinter sich und fliehen in die Wüste. Dazu fliegen sie zunächst von Sydney aus nach Alice Springs, um von dort selbst mit einem Auto in die Wüste zu fahren. Moll definiert: „Das Automobil dient sowohl als Mittel zur Welteroberung als auch zur Weltflucht: Mit dem Auto begibt der Mensch sich auf die Flucht vor dem einförmigen Alltag, auf die Flucht vor Verboten und natürlich auch auf die Flucht vor Verfolgern“ (Moll 2004, S. 64f.). Genau diese Funktion als Fluchtmittel nimmt es auch bei dem Ausflug in das Outback ein. Mit dem Auto fahren die drei zum Ayers Rock, der in der Sprache der Aborigines Uluru heißt. Marc bringt das Motto dieses Ausflugs zum Ausdruck, indem er ruft: „’Time to leave everything behind!’“ (Kutschke 2009, S. 224; Hervorh. im Original). Während sie nun alles hinter sich lassen, kommt dem Auto eine besondere Bedeutung zu. Lisa verbindet das Fortbewegungsmittel mit Science-Fiction Anspielungen: „’Captain Spock’, flüsterte sie. ‚Schalten Sie in den Unwahrscheinlichkeitsdrive.’ [...] Marc steuerte das Raumschiff mit unbeschreiblicher Eleganz“ (ebd. S. 225, Hervorh. im Original). Im weiteren Kapitel bezeichnet Lisa das Auto außerdem als „Ufo“ (ebd.). Durch diese Anspielungen und vor allem durch die Bezeichnung ‚Ufo’ macht Lisa die Insassen selbst zu Außerirdischen, was Schlicht wie folgt interpretiert: „Die Reise zum Ich bedarf [...] einer geradezu extraterrestrischen Distanz zu allen Bedingtheiten“ (Schlicht 2016, S. 90).
Die Fahrt in das Outback kann demnach als Mittelpunkt von Lisas ‚Selbstfindungstrip’ bezeichnet werden. Außerdem dient dieser Ausflug auch für Marc und Mora als Selbstfindungserfahrung. Der Uluru liegt in der Wüste geografisch in der Mitte Australiens. So dringt auch die Protagonistin Lisa erst an diesem Ort zum tiefsten Punkt ihres ‚Ichs’, also ihrer eigenen Mitte vor und geht so den Schuldgefühlen, die sie wegen Bs Tod verspürt, nach. Nachdem Lisa hier im Outback vor Mora zugegeben hat, dass sie denkt, sie habe B verraten, zieht sie sich ein altes Kleid von B an, welches sie mitgenommen hat. Sie nimmt die sechs Filmdosen mit alten Fotos von B, die sie schon den ganzen Weg über begleiten, und fährt alleine zum Ulruru. Dort denkt sie über Bs Tod nach und reflektiert ihre Rolle. Sie wird sich bewusst, dass nicht sie die Schuld an seinem Suizid trägt und zerstört daraufhin die Fotos.
Auch Mora und Marc fahren während des Ausflugs jeweils allein zum Uluru, Lisa reflektiert: „Anscheinend mussten wir unsere Siechtümer einzeln zum Uluru tragen“ (ebd. S. 246). Bei allen drei Personen haben eine Art Selbstreflektion und ein Nachdenken über ihre Lebenssituationen stattgefunden. Dies führt bei Lisa dazu, dass sie Mora an Bs Stelle setzt, indem sie damit beginnt Mora auf die gleiche Weise zu fotografieren, wie sie es früher bei B getan hat. An dieser Stelle löst sich Lisa von B: „Und B ging das alles nichts mehr an“ (ebd. S. 244).
Es wurde schon analysiert, dass im Roman Begehrensstrukturen und Geschlechtergrenzen verschwimmen. Im Outback wird dies an der Figur Mora sehr deutlich. Die geografische Grenzüberschreitung des Ausflugs hat von der Stadt in die Natur stattgefunden. Yuan Xue stellt fest, dass diese Natur hier eine reinigende Funktion hat: „Mitten in der Wüste verspürt Mora den Impuls, sich hemmungslos und vorbehaltslos zu zeigen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, ob ihr Erscheinungsbild weiblich oder männlich ist. Ohne [...] Rasierer und Kosmetika demonstriert die hüllenlose Mora anhand ihres Körpers ihre pure Natürlichkeit“(Xue 2014, S. 198). Die Natur stellt für Mora einen Ort der Selbstfindung dar. Die ‚hüllenlose Mora‘ präsentiert sich, während Lisa sie fotografiert. Mora posiert für Lisa: „Ich hob die Kamera vors Gesicht und legte den Finger auf den Auslöser. Mora strich sich den Bart und lächelte spöttisch. [...] Mora zog sich das Kleid über den Kopf, und holte wie ein Zauberer ein Taschentuch nach dem anderen aus ihrem BH“ (Kutschke 2009, S. 243). Mora findet hier durch die geografische Entgrenzung von der Stadt und durch die Nähe zur Natur ein neues Gefühl von Freiheit. Dies wird auch an einer weiteren Stelle des Kapitels deutlich: „Das Outback hatte auf Mora eine ähnliche Wirkung wie ein heftiger Kater. Sie wirkte fast roh. Sie schminkte sich nicht mehr. Die Haare auf den Beinen wucherten. Aber sie trug ihre Kleider mit ungebrochener Eleganz“ (ebd. S. 288). Mora scheint ihren Körper an diesem Ort in der Wüste erstmals akzeptieren zu können, während sie sich innerlich wie eine Frau fühlt. Während Lisa sie fotografiert, gelangt sie zu einem neuen Verständnis ihrer Identität und scheint mit sich selbst und ihrer Körperidentität Frieden zu schließen. Der Roman erzählt jedoch nicht, wie Mora dies im Alltag in Sydney praktizieren kann, da der Roman auch in Bezug auf die Figur Mora mit einem offenen Ende endet.
Am Ende des Romans wird klar, dass es ihr nicht um das ‚Heimkommen’ oder Zurückkehren nach Deutschland geht. Ihre Abreise aus Australien fällt mit ihrem Geburtstag zusammen. Dies steht – so Schlicht – metaphorisch für eine zweite Geburt Lisas, „denn sie kehrt nicht in die Heimat zurück, sondern vollzieht mehrere Abschiede von ihrem alten Ich“(Schlicht 2016, S. 98). Lisa lässt die Wohnung ihrer Großeltern, die sie sich zuletzt mit ihrem homosexuellen Bruder Elias geteilt hat, in Deutschland zurück und will auch nicht dorthin zurückkehren. Zu diesem Entschluss gelangt sie jedoch erst durch ein Gespräch mit ihrem Bruder, der im Laufe des Romans immer wieder eine Vorbildfunktion für Lisa einnimmt. Als sie in diesem Gespräch erkennt, dass sie es ihrem Bruder gleichtun und nicht mehr nach Berlin zurückkehren will, verändert sich ihre gesamte Denkweise. Sie erfindet sich geradezu neu: „Ich könnte den nächsten Zug nehmen, das nächste Schiff, die nächste Kutsche, den nächsten Heißluftballon, den nächsten Zeppelin. Ich würde in Baumhäusern wohnen, ich würde in verschiedenen Sprachen küssen [...]. Ich würde Kinder in stickigen Hütten gebären, ich würde Doktortitel erwerben, ich würde Schaden nehmen und über Eislöchern knien, aber nie mehr würde ich nach Hause fliegen“ (Kutschke 2009, S. 289f.).
Lisa entwirft an dieser Stelle im Konjunktiv sehr viele Möglichkeiten, was sie alles tun oder erleben könnte. Ihr wird plötzlich klar, was alles im Rahmen des Möglichen liegt. Da der Roman mit einem offenen Ende schließt, bleibt auch Lisas Weg offen. Doch man erkennt die Verwandlung ihrer Denkweise und ihre neu entdeckten individuellen Möglichkeiten: „Das ‚Normale’ ist damit überwunden, denn es hat dem Individuellen Platz gemacht, das sich neu erfinden kann und letztlich muss, um nicht doch wieder nur ‚normal’ zu sein“ (Schlicht 2016, S. 98; Hervorh. im Original).
Doppelgänger-Motivik in Etwas Kleines gut versiegeln von Marie Kramp
Das Ringen um die eigene Identität bekommt in der Gegenwart und der Gegenwartsliteratur viel Aufmerksamkeit. In der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung wird angenommen, „dass über personale Identität [die Identität des Individuums, A.d.V.] […] nachzudenken sich überhaupt erst aus dem Umstand ergeben habe, dass sie nicht mehr selbstverständlich ist, sondern im Zuge eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses vom Subjekt eigenverantwortlich hergestellt werden muss“ (Gugutzer 2002, S. 13).
Diese Aufgabe wird durch die vielen Möglichkeiten, die dem Individuum in der gegenwärtigen Gesellschaft geboten werden, nicht leichter. Auch die Protagonistin in Kutschkes Roman sieht sich vor dieser Aufgabe. Die vielen Möglichkeiten zeigen sich unter anderem in den Varianten der Geschlechts- bzw. sexuellen Identität ihres Umfelds. Das passt zu den Ausführungen Gugutzers, der im Körper eines Individuums ein besonderes „Identitätspotenzial“ (ebd.) sieht, nämlich in der „Vorstellung und vor allem in [der] Möglichkeit, den eigenen Körper nach individuellen Interessen und Bedürfnissen zu gestalten“ (ebd.) Dass dies aber nicht immer zur Zufriedenheit der Individuen führt, sondern auch zu Frust, wenn man durch die Modifikation des Körpers seine Wünsche z.B. der Geschlechteridentität nicht erreicht, das zeigt Lisas Umfeld in Etwas Kleines gut versiegeln.
Auch Lisas Identität steht zur Disposition. Doch was steht am Ende der Handlung, ein Identitätsverlust oder die Entwicklung einer eigenen Identität? Lisa, die Erzählerin in Etwas Kleines gut versiegeln, wird in eine Umgebung versetzt, in der eine queere Weltansicht vorherrscht bzw. die Gender-Identität fließend ist (vgl. hierzu u.a. Butler 2009). Die Menschen um sie herum – ihr homosexueller Bruder Elias und dessen Ex Marc, ihr eigener Ex B, ein Transgender-Mensch, und nicht zuletzt Mora, die Trans-Frau, die Lisa über die Doppelgänger-Episode kennenlernt – sie alle stecken in der Frage über sexuelle Identität, Normalität und Liebeskonzepte fest. „So steht die Hauptfigur Lisa vor der Problematik sexueller Identität, gerade weil sie als heterosexuelle Frau, die sich nach einem sie liebenden Mann sehnt, damit ein konventionelles Muster erfüllt“ (Schlicht 2016, S. 88). Die folgende Analyse steht unter der Prämisse, dass Lisa im Laufe ihres Aufenthaltes in Sydney, den sie zur Trauerbewältigung um den Selbstmord ihres Freundes B antritt, aber vor allem während der gemeinsamen Reise mit der Transgender-Frau Mora und ihrem homosexuellen Freund Marc ins Outback eine Entwicklung durchmacht, an deren Ende ein Fortschritt und nicht der endgültige Verlust der eigenen Identität steht, denn „durch seine sieben Kapitel [kann der Text] auch als eine Art Schöpfungsgeschichte“ (ebd. S. 89) gelesen werden. Lisas Einsicht am Ende des Romans, an dem der Abschied von Nick steht, dem Mann, zu dem sie sich emotional hingezogen fühlt, unterstreicht diese Annahme. Lisa betrachtet die Vielfalt an Möglichkeiten nicht mehr als Bürde, sondern als Chance: „Ich würde warten, bis mein Gepäck abgeflogen war, dann wäre alles egal. Ich könnte den nächsten Zug nehmen, das nächste Schiff, die nächste Kutsche, den nächsten Heißluftballon, den nächsten Zeppelin. Ich würde in Baumhäusern wohnen, ich würde in verschiedenen Sprachen küssen […]. Ich würde meine Zähne mit den Haaren meiner Feinde polieren und mir die Knie an rostigem Eisen aufschürfen. Ich würde Kinder in stickigen Hütten gebären, ich würde Doktortitel erwerben“ (Kutschke 2009, S. 289f.).
Kutschkes Roman ist so durchkomponiert, dass sich die Doppelgänger-Motive nicht nur auf rein inhaltlicher Ebene, sondern auch auf sprachlicher Ebene finden. So ist der Erzählstil von Dissoziationen geprägt und legt somit das Fundament für die Doppelgänger-Handlung, weit bevor sich diese Motive auch in der Handlung selbst finden. Es finden sich unterschiedliche Kategorien des dissoziativen Erzählens. An einigen Stellen dehumanisiert Lisa sich selbst und sieht sich eher als Ding denn als menschliches Lebewesen. „Wandfarbe wollte ich sein, an einem soliden australischen Haus. Beton im Rücken, die Gischt im Gesicht“ (ebd. S. 20f.) so empfindet die Erzählerin noch ganz zu Beginn ihres Aufenthaltes in Sydney. Sie strebt nach absoluter „Assimilation“ (ebd. S. 20). An anderen Stellen zieht sie Vergleiche: Sie „erwachte […] klebrig wie ein Stück Kuchen mit Zuckerguss“ (ebd. S. 24) oder fühlt sich „ein wenig wie ein weißes Laken, das in der Sonne trocknete“ (ebd.). Besonders auffällig sind aber zwei Bildsprachen, die des Verschmelzens von Lisa und anderen Objekten oder Menschen, aber auch die Trennung von Lisas Geist und ihrem eigenen Körper. Dass diese beiden, auf den ersten Blick gegensätzlichen Bildsprachen dennoch nebeneinander auftreten, ist auch erstes Indiz dafür, dass Lisa keinen völligen Identitätsverlust erleiden wird (dann könnte man eher die trennenden Elemente erwarten, im Sinne einer Abspaltung), sondern im Laufe ihrer Entwicklung diverse Stadien durchmacht (vgl. Schlicht 2016, S. 90). Lisas „Entwicklungsweg [ist] auf den Aspekt der Wahrnehmung von Wirklichkeit […], also auf das Verhältnis vom Ich zur Welt“ (ebd.) konzentriert.
Verschmelzen
„Ich wünschte mir ein Häuserdach, ein ganz hohes. Dort wollte ich flach auf dem Rücken liegen und mich betrinken, ganz langsam und unaufhörlich. Ich würde die Flaschen auf die Straße schmeißen, während die Tage vergingen, mein Körper würde allmählich mit der Dachpappe verschmelzen. ‚Himmel‘, seufzte Sudden Smith. ‚Beuys ist tot!‘“ (vgl. Kutschke 2009, S. 43). Das bildliche Verschmelzen mit Objekten, wie Lisa es sich im obigen Zitat wünscht, könnte auch mit der Auflösung des eigenen Körpers bezeichnet werden und ist somit dissoziativ. Allerdings würde das Auflösen des Körpers ein gänzliches Verschwinden bedeuten, in diesem Fall aber geht es um das Auflösen in etwas anderem, sozusagen eine Neubildung aus zwei Teilen. Lisa befindet sich den größten Teil des Romans in tiefer Trauer um ihren Freund B, der als transsexueller Mensch neben seiner Beziehung zu Lisa, die keine sexuelle Komponente aufweist, in einer sadomasochistischen Beziehung Befriedigung findet, jedoch immer mehr zum Opfer seines Partners wird und sich schließlich das Leben nimmt. Lisa trauert nicht nur wegen des Verlustes, sie hat auch Schuldgefühle, weil B mit ihr einen gemeinsamen Liebestod plant, sie aber nicht mitmacht. Diese Trauer und diese Schuldgefühle, aber auch ihre Verwirrung über die Liebe, die B ihr auf körperlicher Ebene verweigert, sind eine Ursache für Lisas fragile Identität. Noch im ersten Kapitel sieht sie für sich keine Chance, aus dieser sie verstörenden Situation herauszukommen, wie sich in ihrem ersten richtigen Gespräch mit Nick zeigt, als er sie in Laken gehüllt auf der Couch in Marcs Apartment trifft: ‚„Der Mumie ist es warm!‘, grinste er. ‚Raupe‘, sagte ich. ‚Was?‘ ‚Ich bin keine Mumie, eher eine Raupe.‘ […] ‚Was wirst du denn für ein Schmetterling?‘ ‚Gar keiner. Ich bin doch mumifiziert‘ (ebd. S. 45) Das Bild der mumifizierten Raupe könnte den Stillstand kaum deutlicher machen, in dem Lisa sich befindet. Auch hier verschmilzt Lisa mit ihrer Umwelt, in diesem Falle mit den Bettlaken, in die sie sich gehüllt hat. Die Funktion des Verschmelzens ist hier das Spüren, aber auch das Verdecken des eigenen Körpers. In Nicks Nähe häufen sich Lisas dissoziative Momente enorm, aber nicht nur ihre eigenen, sondern auch in ihrer Beschreibung von Nick: Sie „raffte die Bettlaken enger und starrte auf Nicks wunderbares sandfarbenes Lächeln, das noch lange im Raum stand, lange nachdem Nick seine Gliedmaßen eingesammelt hatte und hinter Marc aus der Tür gelaufen war“ (ebd.). Für Nick hegt Lisa liebevolle Gefühle, wenngleich unabhängig von körperlicher Begierde. Am liebsten wäre ihr eine Verschmelzung gleich mit Nick selbst, oder mit etwas, das stellvertretend für Nick steht, was in Lisas verquerer Identitätswahrnehmung praktisch das Gleiche wäre. So wünscht sie sich am Weihnachtsabend, den sie mit Nick verbringt, er „wäre fertig mit seiner Zeichnung. Ich könnte mich ausziehen und in das raschelnde Papier einrollen, einpuppen in 15 Meter Nick“ (ebd. S. 127). In der Olympia Milk Bar, jenem Ort, an dem das erste Foto von Lisas Doppelgängerin Lucy aufgenommen wurde, stellt Lisa fest, dass „es [sich] irgendwie intim an[fühlte], sich auf seinen [Nicks, A.d.V.] Stuhl zu setzen. Als wäre sein Stuhl sein Körper“ (ebd. S. 107). Dieser Wunsch, mit Nick zu verschmelzen und das nicht auf sexueller Ebene, lässt sich mit Lisas Faible für Transgender-Menschen in Verbindung bringen. Lisa begehrt B, sie begehrt Mora ebenfalls und in jenen Momenten, da sie sich am meisten ihrer selbst sicher sein kann, sich spüren kann (beim gewaltvollen Sex mit Ben), fühlt sie, wie sie die sadomasochistischen Erfahrungen mit Ben näher mit B zusammenbringen, „als wären wir eine Person, androgyn und verwischt“ (ebd. S. 147). In Nicks Nähe verlässt Lisa jegliches Wissen um ihre Identität fast vollständig, so wie auch auf einer von Nicks Partys: „Der Liegestuhl und ich, wir waren langsam aus einem Guss. Man müsste mich schon ablösen, und selbst dann war nicht gewährleistet, dass mein Körper nicht einfach zurückblieb, für immer in Nicks Garten herumlümmelte und wartete, dass mein Bild im Garten so selbstverständlich wurde wie der Baum oder das Gras“ (ebd. S. 55). In diesem Zitat finden sich die dissoziativen Momente beider Kategorien, zunächst verschmilzt Lisa mit dem Stuhl, um sich dann vollständig von ihm lösen zu können und den Körper bei ihrer neuen Liebe zurückzulassen. Außerdem tritt sie wieder in eine Reihe mit – zwar lebendigen – aber nicht menschlichen Wesen, dem Gras und dem Baum. Lisa scheint die Verschmelzung herbeizuwünschen, wenn sie sich in ihrer Haut unwohl fühlt, aber nicht gänzlich verschwinden, sondern nur anders sein möchte. Es bietet ihr eine Art Schutz, sich vorzustellen, sie könne mit Dingen eins werden oder sich unter ihrem Schutz verwandeln. So auch, als sie mit Ben, ihrem Liebhaber, am Hafen durch den Regen läuft: „Der Regen umhüllte mich wie ein Kostüm, in dem ich jemand anderes sein konnte (vgl. ebd. S. 70). Während die dissoziativen Momente Lisas in der Nähe von Nick meistens eher eine Bildsprache des Verschmelzens aufweisen, neigt sie in den Momenten, wenn es um ihre Doppelgängerin geht, aber zum Teil auch um die Trauer um B, eher dazu, ihren Körper als Fremdkörper wahrzunehmen, und tendiert zu trennenden Vergleichen.
Trennen
Auch Sprachbilder der Trennung oder Abspaltung, die sicherlich noch stärker auf ein Doppelgänger-Motiv verweisen, wenn man es als Variationen der Ich-Spaltung versteht (vgl. Daemmrich 1987, S. 97), finden sich zahlreich in Etwas Kleines gut versiegeln. Auffällig ist jedoch, und das gilt gleichermaßen für die Bilder des Verschmelzens, dass diese Wendungen im späteren Verlauf des Romans seltener werden. Speziell in der Episode im Outback, als Lisa, Mora und Marc ihre „Siechtümer einzeln zum Uluru tragen“(Kutschke 2009, S. 246), tauchen kaum noch dissoziative Momente auf. Dieser Teil des Romans kann ohnehin als Schlüsselepisode bezeichnet werden, weil Lisa sich ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen offen stellt und sie zu verarbeiten sucht. Diese Sonderstellung wird durch die Sprache somit unterstützt, Lisa befindet sich hier in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung.
Ganz anders verhält sich dies in der ersten Hälfte des Romans. Besonders in Momenten vor oder nach Auftauchen von Lucy, Lisas Doppelgängerin, die sie immer nur auf Fotos sieht, ist Lisa sich ihrer selbst nicht sicher und leidet unter Ich-Dissoziationen. So auch, bevor das erste Foto vor ihr auf der Straße liegt: „Ich schloss […] die Tür hinter meinem Rücken und lief die Straße hinunter, plötzlich leicht, als hätte sich auch meine Haut abgelöst, als hätte ein langer Sandsturm meine Knochen geschliffen, als bliebe nur noch meine Essenz“ (ebd. S. 64). Dieses Gefühl des Verlustes von Teilen des Körpers verstärkt sich, nachdem sie das Foto gefunden hat. Während sie das Foto ansieht und versucht, zu begreifen, wie sie selbst darauf zu sehen sein kann, ohne sich an den Ort oder die Situation zu erinnern, starrt sie ihre „Hände an wie Fremdkörper. Als könnte ich bis auf die Knochen schauen“ (ebd. S. 67). Interessanterweise hegt Lisa diese dissoziativen Gefühle oft gegen ihre Hände, auch weit bevor sich B das Leben nimmt. In einer Rückblende an die gemeinsame Zeit mit ihm heißt es: „Manchmal starrte ich so lange auf meine Hand, bis sie mir fremd wurde, dann schaute ich lieber auf Bs Hand, die wurde mir nie fremd“ (ebd. S. 124). Dass ihr Bs Hand vertrauter ist als die eigene, ist eine erneute Anspielung auf den Wunsch nach einer androgynen Verschmelzung.
Aber auch im Auto auf dem Weg zum Picknick mit Nick, Ben und Marc ist Lisas Hand für sie ein Fremdkörper: „Ich wand meine Hand um die Kopfstütze, kraulte Nicks Hinterkopf, wich seinem irritierten Blick aus, schaute unbeteiligt aus dem Fenster, als wäre es nicht meine Hand, die sich da in Nicks Haare grub, als wäre eine herrenlose Hand eingestiegen, zusammen mit Marc und mir“ (ebd. S. 89). So sehr Lisa auch davor erschrickt, wie unsicher sie sich ihrer selbst im Angesicht einer Doppelgängerin ist und wie sehr sie auch die Trauer und die Schuldgefühle im Zusammenhang mit Bs Tod zermürben, in Einzelfällen sieht sie die Möglichkeit, sich von ihrem Körper oder ihrem Ich zu trennen, als Chance. In diesem Fall kann sie Nick den Kopf kraulen, ohne sich darum zu scheren, ob es ihm passt, weil es nicht ‚ihre‘ Hand ist. Ähnlich geht es ihr bei der Vorbereitung der Suche nach der Olympia Milk Bar, um das Geheimnis des Fotos zu lüften, als Nick vorschlägt, dass sie sich die Stadtgebiete aufteilen, die sie absuchen möchten, und auf dem Stadtplan von Sydney Quadrate einzeichnet: „Nick würde konzentriert meinen Körper unterteilen in Nick- und Lisa-Gebiete, dann wäre alles geklärt“ (ebd. S. 83). Die Vorstellung, dass jemand anders über den eigenen Körper verfügt, etwas festlegt – ob das nun realistisch ist oder nicht – beruhigt Lisa.
Die These, dass Lisas dissoziative Momente von ihr selbst nicht ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Möglichkeit begriffen werden, wird fast poetisch unterstützt, als Lisa, Ben und Nick nach einem gemeinsamen Besuch in der Milchbar zusammen zum Strand gehen. Betrunken und überwältigt beschreibt die Erzählerin es so: „Wir waren leuchtende Prismen in einem Kaleidoskop. Ich drehte es, und die bunten Kristalle purzelten durcheinander, formten immer neue Bilder von Nick, Ben und mir zwischen grell leuchtenden Blüten“ (ebd. S. 132). Dieses Bild steht abermals für die unendlichen Möglichkeiten, die Lisa und ihren Freunden in der Identitätsbildung offenstehen und Lisa hat den Zufall auch noch selbst in der Hand, wenn sie sagt „ich drehte es“ (ebd.). Diese Metapher ist darüber hinaus zur Doppelgänger-Motivik zu zählen, denn mit jedem Steinchen, das sich ändert, mit jeder Möglichkeit, die man ergreift, ergibt sich ein anderes ‚Bild‘, ein anderes Ich, je nach Perspektive. In einem Schlüsselmoment, nämlich als Lisa zu Mora ins Appartement kommt, Mora immer noch in dem Glauben, es handele sich um ihre Schwester Lucy, findet sich eine ähnliche Metapher wie das Kaleidoskop zur Bildung von Identitäten: „Dinge bestünden aus Subatomen, fluktuierenden, sich ständig ändernden elektrischen Ladungen, hatte Elias gesagt. Sie verfestigten sich erst, wenn man sie beobachtete“ (ebd. S. 180). Auch hier spielt der Zufall eine Rolle. Je nachdem, wann man die Dinge beobachtete, würden sie sich wieder neu verfestigen bzw. je nach Perspektive, würde sich ein anderes Bild ergeben können.
Corinna Schlicht schreibt zu Lisas Identitätsfindung: „Lisa erkundet während ihres Aufenthaltes in Sydney die Schwellenbereiche ihrer Existenz, es geht ihr demnach nicht um Festlegung, sondern um die Auflösung [Herv. d. V.], Überschreitung und Widersprüchlichkeit ihrer Identität“ (ebd. S. 93). Diese Aussage wird durch die oben analysierten sprachlichen Mittel der Beschreibung ihrer Ich-Dissoziationen gestützt. Lisa wünscht sich Verschmelzung und Trennung – zwei zunächst widersprüchlich erscheinende Vorgänge – und Neuerschaffung, sei es in einer androgynen Mischform aus ihr und der Person, der ihr Begehren gilt. Die tatsächliche Begegnung mit einer Doppelgängerin aber ängstigt sie und sie wird sich ihrer selbst unsicherer, was im Detail noch analysiert wird. Durch das Erzählen dissoziativer Gefühle bei Lisa wird bereits vor Auftauchen von Lucy deutlich, dass Lisas Identität zur Disposition steht. Damit wird die eigentliche Doppelgänger-Handlung vorbereitet und bis zum Schluss sprachlich gestützt. Dass in der Episode im Outback kaum noch solche dissoziativen Momente auftauchen, stärkt die These, dass dies ein Fortschritt in Lisas Entwicklung ist. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, welche Bedeutung die Doppelgänger-Episode ‚Lisa – Lucy‘ für Lisas Entwicklung hat.
Fotografie und Wahrnehmung [ ↑ ]
Der Ausgangspunkt der These, dass Kutschkes Roman von einer Doppelgänger-Motivik – nicht von Doppelgängern an sich – geprägt ist, liegt in einem Handlungsstrang des Romans begründet, der auf einem „unheimlichen Fotofund“ (Schlicht 2016, S. 94) aufbaut und eine tatsächliche Doppelgänger-Handlung darstellt: Lisa ist auf dem Rückweg von Nick, es ist Nacht und an einem Bushaltestellenhäuschen sitzt ein alter Mann und singt. Plötzlich liegt mitten auf der Straße ein „winziges Schwarz-Weiß-Bild, nicht größer als ein Passfoto“ (Kutschke 2009, S. 64). Das Foto zeigt eine junge Frau, die Lisa so ähnlich sieht, dass sie selbst glaubt, sie sei die Person auf dem Foto, obwohl sie diesen Ort „noch nie gesehen [hatte], […] nie dort gewesen“ (ebd. S. 67) war. Lisa macht das nicht nur an der äußerlichen Ähnlichkeit, der gleichen Frisur oder dem gepunkteten Kleid fest, welches sie auch besitzt, sondern ist erst vollends überzeugt dadurch, dass „dieses Mädchen die Zigarette im selben leicht behämmert wirkenden Winkel hielt, wie ich es manchmal tat, wenn ich gedankenverloren war“ (ebd. S.64). Dass Lisa sich in der Haltung eher wieder zu erkennen meint als in der verblüffenden körperlichen Ähnlichkeit, zeigt, wie unsicher sie sich ihres eigenen Körpers bereits ist. Dieses Foto aber weckt bei ihr vollständiges Unbehagen:
Wie sollte ich Nick erklären, dass ich unter Schichten lag, wie sollte ich ihm das Gewicht von Bildern erklären. Das Gewicht meines Abbildes an einem Ort, an dem ich nie gewesen war. Ich konnte Nick nicht erklären, dass der Gedanke an mein Bild auf einem Foto, das es nicht geben konnte, ein Misstrauen in mir auslöste, meinem Körper gegenüber (ebd. S. 97). Auf Nicks Vermutung hin, Lisa habe eine Doppelgängerin, reagiert sie bestimmt: „‘Nein‘, sagte ich, ‚das bin ich‘“ (ebd. S. 77). Im weiteren Verlauf der Handlung stellt sich aber heraus, dass die Fotos nicht Lisa zeigen, sondern, dass es sich bei dem Mädchen um Lucy handelt. Ein zweites findet sie am Strand, jenes, das sie zusammen mit Mora vor ihrem Coming-Out als Transgender-Menschen zeigt (vgl. ebd. S. 133). Über Umwege erfährt man, dass Lucy Moras Schwester ist, dass die Besitzerin des Oceanic Cafés ihre und Moras Mutter ist und der alte Mann von der Bushaltestelle ihr Onkel Jon (vgl. S. 171; S. 232). Doch haftet dieser Doppelgänger-Episode einiges an Surrealität und Mysteriösem an. Wie z.B. kommt Lisas geerbter Armreif an das Handgelenk des Mädchens auf dem ersten Foto, wenn es nicht Lisa, sondern Lucy ist, die dort posiert (vgl. S. 67)? Wie kam Lucy an das Telefon, das Lisa in einem Anfall von Wut in eine Mülltonne irgendwo in Sydney geworfen hat, um sie von dieser Nummer aus im Outback anzurufen, und wie kann der Anruf durchgehen, wenn Lisa keinen Empfang hat (vgl. S. 232)? Und wie kommen die Fotos überhaupt in einer riesigen Stadt wie Sydney immer ausgerechnet dorthin, wo Lisa sich aufhält? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Die Auflösung der Doppelgänger-Episode als eine schlichte Verwechslung aufgrund äußerlicher Ähnlichkeiten ist also nicht ganz befriedigend. Wäre Lucy keine reale Figur in der Geschichte, sondern vielleicht eine „Spiegelung des Unbewußten“ (Daemmrich 1987, S. 98). Lisas, dann würde ihr eine metaphorische Funktion zukommen, ihr Auftreten wäre ein symbolisches, das die Handlung und die Entwicklung der Protagonistin voran bringt, indem über diese Doppelgänger-Geschichte Lisa und Mora zusammenfinden – eine sehr wichtige Begegnung für Lisa und ihre weitere Entwicklung, weil sie in Mora auch ihren Ex B sieht und die Freundschaft zu Mora Lisa dazu bringt, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es gibt aber eben auch Ansätze einer realistischen Verwechslungsgeschichte. Mit anderen Worten, Lucy ist weder ein Doppelgänger im Sinne einer Ich-Spaltung, weil sie ein anscheinend eigenständiger Mensch ist, noch ist es ein klassischer Fall von äußerlicher Ähnlichkeit, die zum vorübergehenden Rollentausch und zur Verwechslung führt, weil offensichtlich noch eine andere Verbindung zwischen Lisa und Lucy besteht, die nicht aufgeklärt wird, die aber über die äußerliche Ähnlichkeit hinausgeht. Das Auftreten dieser Doppelgängerin ist eine Mischform aus beidem, ihr kommt eine gewissermaßen übernatürliche Funktion zu, die Lisa in ihrer Entwicklung zunächst stagnieren bzw. sogar zurückfallen lässt: „Ich verlor den Boden unter den Füßen, meine Haut wurde seltsam substanzlos, und wenn da nicht bald jemand kam und nach mir griff, seinen Abdruck auf meiner Haut hinterließ, dann würde ich mich mit Sicherheit auflösen“ (Kutschke 2009, S. 97). Später dann führt Lucy Lisa weiter, weil diese über sie an Mora gerät und es schafft, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Lisa trennt sich nicht nur von den Fotos, die sie von B gemacht, aber nie entwickelt hat, sondern sie fängt wie besessen an, neue Fotos zu schießen, nun allerdings mit Mora als Modell (vgl. ebd. S. 242ff.). Mora kommt schon deshalb eine gesonderte Rolle in Lisas Entwicklung zu, weil auch sie eine Transgender-Frau ist, genau wie es B war, und Lisa ist von ihr so fasziniert, dass sie sie förmlich belagert und verfolgt, bis sie Freunde werden. Vor allem aber verdeutlicht Mora fast sinnbildlich die Identitätskrise, die in diesem Roman bei weitem nicht nur die Erzählerin betrifft. Wie weiter oben ausgeführt, bietet der Körper durch Modifizierungen die Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen, aber eben nur bedingt. Man hat einerseits alle Möglichkeiten und steckt andererseits doch in der eigenen Haut fest. Schon Lisas Recherche bezüglich Moras Namens spiegelt das Dilemma wider, viele Möglichkeiten zu haben und doch nicht recht zu wissen, was oder wer man eigentlich ist: „Ich hatte Mora gegoogelt. Bei Wikipedia wurde ich fündig: In der Phonologie war Mora eine Maßeinheit für das Silbengewicht (1). In Kamerun, Schweden und Portugal war Mora eine Kleinstadt (2). Mora war eine Baumsorte (3), eine Kriegseinheit der Spartaner (4), ein Hersteller für Mischbatterien (5), Mora bedeutete Verzug (6). Mora konnte anscheinend alles sein, das hatte ich mir irgendwie schon gedacht“ (ebd. S. 194f.).
Ein gesonderter Blick lohnt sich außerdem auf den alten Mann Jon, denn sein seltsames Verhalten und seine augenscheinliche Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein (ebd. S. 188), verleihen der Romanhandlung ein weiteres surreales Moment, ähnlich wie es die sprechende Holzpuppe Sudden Smith tut, die Lisa auf ihrer Reise begleitet. Diese Surrealismen haben eine bestimmte Funktion. Sie verdeutlichen Lisas Schwebezustand, in dem sie nicht sicher ist, was eigentlich real ist und was nicht – sie spiegeln ihr gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit bzw. zur Wahrnehmung dessen, was wirklich ist, und damit das Missverhältnis zu sich selbst. Bei Nick versucht sie sich Rat zu holen: „Was glaubst du, ist Realität?“ (ebd. S. 75), fragt sie ihn und bekommt nur eine sehr oberflächliche Antwort: „Weiß nicht, alles was wir sehen, alles, was wir tun, der Teer in deinen Lungen“ (ebd. S. 76). Wie soll Lisa das weiterhelfen, wenn es ihr scheint, dass das, was sie sieht, nicht real sein kann. Etwas später dann zeigt Nick sich über die Doppelgänger-Geschichte völlig irritiert und fragt, wie das überhaupt sein könne. Darauf reagiert Lisa fast resigniert mit einer Frage von Fischli und Weiss: „Soll ich die Wirklichkeit ruhen lassen? [Herv. i. Original.]“ (ebd. S. 79).
Die ganze Episode um Lucy und um Mora, die ebenso oder gar heftiger, um ihre Identität kämpft, die surrealen Momente durch den merkwürdigen Jon, das alles lässt Lisa nicht nur an ihrer Identität, an ihrem Körper zweifeln, sondern eben auch an dem, was sie für wirklich hält, was eigentlich objektiv wirklich sein kann. „War alles nur eine Frage der Perspektive?“, fragt sie sich bei ihrem ersten Besuch in der Olympia Milk Bar, als Nick und sie die Plätze tauschen, damit sie auf demselben Stuhl sitzt wie Lucy auf dem Foto. Und kurz später im Gespräch mit Nick: „‚Weißt du‘, begann ich, ‚als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, wie es mich, die dachte, und fror und aß, nicht gegeben haben konnte.‘ Und das leicht irre Erstaunen, das entsetzte Erstaunen, als ich als Kind begriff, dass die Zeit nicht anhielt, wenn jemand starb. Als hätten meine Gedanken Ränder, von denen man fallen konnte.“ Auch jetzt, als 26-jährige Frau, beschleicht Lisa offenbar wieder das Gefühl, dass ihre Vorstellungs- und Gedankenkraft nicht ausreicht, um das, was wirklich zu sein scheint, ganz zu erfassen. Sie kann sich nicht auf ihre Sinne verlassen, vor allem auf das nicht, was sie sieht. Das hängt mit einem wichtigen Motiv zusammen, das bereits in der Doppelgänger-Episode seinen Ausdruck gefunden hat: mit dem Foto bzw. dem Blick durch die Kamera. Sowohl ersteres als Produkt als auch letzteres als der Akt des Festhaltens von Realität sind maßgeblich von der Perspektive beeinflusst, genauso wie zwei weitere Abbilder des Menschen: das Spiegelbild und der Schatten.
Ins Feld der Doppelgänger-Motivik fallen auch potenziell Fotos/Porträts, das Spiegelbild und der Schatten. Zu allen drei Motiven gibt es berühmte Beispiele der Weltliteratur, z.B. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, Franz Werfels Spiegelmensch oder Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In diesen Beispielen werden sowohl das Porträt als auch das Spiegelbild zu Doppelgängern mit einem eigenständigen Dasein, jedoch in ihrer Funktion immer als Teil des Protagonisten, sie verkörpern eine bestimmte Seite der Figur. Der Schatten, den Schlemihl an den Teufel verkauft, kann als gleichwertig mit seiner Seele interpretiert werden und damit ebenfalls als seine Persönlichkeit (vgl. Hildenbrock 1986). Für Lisa in Etwas Kleines gut versiegeln spielen all diese Motive eine große Rolle. Sie alle nehmen die Funktion eines abgespaltenen Teils ihrer Persönlichkeit ein – mal mit größerer, mal mit geringerer oder gar keiner seelischen Affinität.
Bei Lisas Identitätsfindung geht es vor allem darum, ein Verhältnis zur Wirklichkeit herzustellen, dem sie vertrauen kann. „Die Reise zum Ich bedarf demnach einer geradezu extraterrestrischen Distanz zu allen Bedingtheiten“(Schlicht 2016, S. 90). Für Lisa sind Fotos, der Blick durch die Kamera, das Spiegelbild, aber auch ihr Schatten Formen der Wirklichkeitsabbildung, mit denen sie unterschiedlich umgeht. Während der Blick durch die Kamera, ein konstruierter und perspektivierter Ausschnitt der Wirklichkeit, für sie die gewohnte Wahrnehmung und damit die Wirklichkeit darstellt, ist der Blick in den Spiegel unheimlich und sie erkennt sich nicht. Ihren Schatten hingegen sieht Lisa als einen zwar zu ihr gehörigen, aber dennoch selbstständig agierenden Teil ihrer Identität an. Vor dem Hintergrund ihrer Identitätskrise und der bereits analysierten Doppelgänger-Erscheinung ist es sinnvoll, sich Lisas Verhältnis zu diesen drei Abbildungsmöglichkeiten der Wirklichkeit anzusehen, um ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie Lisa Wirklichkeit wahrnimmt und inwiefern ihr das bei der Identitätsfindung im Wege steht.
Diese Unsicherheit dem eigenen Ich gegenüber lässt die Erzählerin in weiten Passagen des Romans in eine Beobachterposition zurückfallen, aus der sie einzelne, ausgewählte Ausschnitte betrachtet und sie regelrecht fotografiert und anschließend in Filmdosen versiegelt, ohne das Ganze zu erfassen (Wittmann 2010, S. 39). Dass Lisa ein besonderes Verhältnis zur Fotografie hat, wird besonders durch die Tatsache deutlich, dass sie in Deutschland Fotografie studiert hat, bevor sie nach Sydney geht, um ihre Trauer zu verarbeiten. Wie Jan Wittmann bereits im obigen Zitat darlegt, nimmt Lisa aufgrund ihrer Kameraperspektive ihr Umfeld nie als Ganzes wahr. Corinna Schlicht differenziert dies noch weiter: „An der Fotografin Lisa zeigt sich die Perspektivität von Weltdeutung, denn sie nimmt ihre Welt (und letztlich auch sich selbst) nur durch den Blick durch eine Kamera wahr. Es sind also nur Ausschnitte von Wirklichkeit, zudem subjektiv perspektivierte Ausschnitte, die erst im Nachhinein […] betrachtet, zum Teil neu angeordnet und gedeutet werden“ (Schlicht 2016, S. 91). Für Lisa ist dieses eingeschränkte Blickfeld und auch sein Ergebnis – das Foto, das die Wirklichkeit nur partiell wiedergibt – ein Schutzfilter. Lisa ist von der Realität überfordert und braucht diese Eingrenzung: „Es war mehr so, als könnte ich in die Kamera leichter hineinschauen als in einen Spiegel. Als bräuchte ich eine Linse zwischen mir und meinem Gesicht. Als könnte ich mich meiner nur vergewissern, wenn meine Züge regungslos hinter die glänzende Haut des Fotopapiers gebrannt waren“ (Kutschke 2009, S. 117). Ihr eigenes Abbild auf einem Foto ist für Lisa so viel Realität, wie nur möglich. Auch ihre Umwelt hat sie immer durch die Kameraperspektive wahrgenommen, vor allem B, was sich darin äußert, dass sie sich an B buchstäblich in Fotos erinnert, jedoch nicht in physischen Fotos, denn die zu entwickeln hat sie nach seinem Suizid nicht über sich gebracht, sondern in den Momentaufnahmen: „Ich schaute in Bs Gesicht wie in einen Spiegel (Halbdunkel, Lichtempfindlichkeit 1600 ASA, grobkörnig, Blende 5,6, Verschlusszeit 1/15 Sekunde“ (ebd. S. 30f.). Diese Beschreibungen von Lisas Erinnerungen an B sind im Verlauf des Romans von genau diesen technischen Angaben zu Kameraeinstellungen geprägt (vgl. S. 92; S. 108; S. 115; S. 146). Auch ihren Freund B hat sie hauptsächlich durch die Kameraperspektive wahrgenommen und es für die Wirklichkeit gehalten. Die Planung und Durchführung seines Selbstmords hatte Lisa allerdings nicht vorhergesehen, was ihr auf schockierende Weise deutlich macht, wie eingeschränkt ihr Kamerablick auf ihren Freund war und wie wenig sie von ihm wusste. Ein Jahr lang kann sie nach seinem Tod daher keine Kamera anfassen, sie wirft sie auf die Zuggleise und versiegelt alle Negative. Wie stark diese Perspektive Lisas Wahrnehmung prägt, wird auch in einem Gespräch mit Nick deutlich: „‚Es erschreckt mich. Man wird das alles nicht mehr los. Jedes Bild ist wie eine Tätowierung‘ ‚Irgendwann lösen sich die Bilder von dir ab, Lisa. Bilder sind anders als Erinnerungen. Sie werden fremd‘“ (ebd. S.72).
Für Lisa aber sind Bilder nicht fremd. Sie sind die wahre Form für sie, Wirklichkeit wahrzunehmen. Darin wird sie auch bestärkt, als ihre Oma die Fotos von Lisa und ihrem Bruder sieht, die sie als Kinder einmal im Jahr machen lassen. „Wenn wir […] die Fotos herumgaben, strich Oma mit den Fingern über die Bilder, ‚ihr seid aber schmal geworden‘, als würde sie uns erst auf den Fotos erkennen, obwohl wir doch direkt vor ihr saßen“ (ebd. S. 73).
Als Lisa auf das Foto von Lucy stößt und ein weiteres Mal erkennen muss, dass Fotos eine unzuverlässige Quelle für Erkenntnis und die Abbildung von Wirklichkeit sind, merkt sie, wie sehr sie unter ihrer Identitätskrise leidet. Sie ist sicher, sich selbst auf diesen Fotos zu sehen, und macht neue Fotos von sich in einem Automaten. Diese neuen Bilder von ihr sehen für Lisa so aus, „als ob sich nichts hinter meiner Haut verbarg. Als wären meine Augen die leeren Fensterhöhlen einer Filmkulisse“(ebd. S. 74). Die klassische Metapher der Augen als Fenster zur Seele wird hier negiert – für Lisa ist da auf einmal ein großes Nichts. Das Bild von Lucy hingegen „wirkte realer als dieses noch warme Bild, das ich jetzt in der Hand hielt“ (ebd.). Dennoch bleiben diese Abbilder von ihr selbst ein Teil ihrer Identität (und damit ein eindeutiges Doppelgänger-Motiv), denn als sie die Bilder nach Deutschland zu Elias schickt, verspürt sie das Bedürfnis, „fragile auf den Umschlag zu schreiben oder handle with care“ (ebd.).
Fotos stellen für Lisa aber keine feststehende Größe dar, da ist ihr Verhältnis zu dieser Abbildung der Wirklichkeit etwas widersprüchlich. Dies wird durch die Doppelgänger-Erscheinung ausgelöst, mit der sich ihr Wirklichkeitsbild ohnehin nach Bs Tod ein zweites Mal verschiebt. Lisa hält es nun für möglich, dass Fotos als Abbild der Realität willkürlich sind: „Nick schaute direkt in meine Kamera. Durch den Sucher sah ich direkt in seine Augen. Wenn ich abdrückte, wer würde auf dem Foto zu sehen sein?“ (ebd. S. 108).
Interessant ist außerdem, dass Lisa in den Momenten, in denen sie sich selbst spürt, nämlich beim Sex mit Ben, also mit anderen Worten in den Momenten, in denen sie sich ihrer selbst und ihres Körpers sicher ist, nicht fotografiert werden möchte. Ben fesselt sie ans Bett und gibt ihr den Schmerz, den sie braucht, nur, wenn sie sich fotografieren lässt, doch anfangs dreht sie sich von ihm weg, weil sie sich unwohl fühlt (vgl. ebd. S. 146). Auch das kann als widersprüchlich interpretiert werden, aber möglich ist auch, dass Lisa Angst vor dem hat, was das Foto als vermeintliches Abbild der Wirklichkeit von ihr preisgeben könnte.
Zu guter Letzt ist für Lisa die Kamera zu einer Art Waffe geworden. Als sie es wieder schafft, zu fotografieren, sieht sie in einem Café ein junges Paar und ist eifersüchtig auf die erwiderte Liebe, die diese beiden gefunden haben und die ihr verwehrt bleibt: „Ich verbarg meine gefletschten Zähne hinter einem Lächeln und streichelte die Kamera wie einen rauchenden Colt“ (ebd. S. 117).
Das Foto und der Blick durch die Kamera sind beides zugleich: eine Möglichkeit für Lisa, die Realität nur in den für sie ertragbaren Dosen und dem subjektiven Blickwinkel zu erleben, aber sie sind auch zu einer Bedrohung geworden, weil sie lernt, dass Abbildungen von Wirklichkeit keinen echten Erkenntnisgewinn bringen, sondern im Gegenteil, die Realität verfälschen und so die Identität gefährden können (vgl. Schlicht 2016, S. 91).
In ihrer Interpretation von Chamissos Figur Schlemihl und dessen Verlust seines Schattens an den Teufel deutet Algaia Hildenbrock den Schatten als ein „Symbol der menschlichen Seele“, er ist „nur der bildhaft-konkrete ‚Ersatz‘ für die abstrakte Konzeption von der ‚Seele‘, das materielle Gegenstück zu etwas, das nur gedacht ist und deshalb keinen eigentlichen Handelswert besitzt“ (ebd. S. 238). Auch Lisa misst dem menschlichen Schatten sehr viel mehr Bedeutung bei, als ein bloßes Abbild zu sein, das durch die körperliche Präsenz in der Sonne entsteht. So finden sich zahlreiche Textstellen, in denen Lisas Schatten ein von ihrem Körper losgelöster Teil von ihr ist, der tiefe Bedürfnisse von ihr tatsächlich erleben kann. Er ist damit ebenfalls dem Motiv des Doppelgängers zuzuordnen. So führt ihr Schatten im Oceanic Café ein Eigenleben, an dem Ort also, der Lisa ihre fragile Identität immerzu vor Augen führt: „Mein Schatten saß auf jedem Platz, raufte sich die Haare, warf sich auf den Boden und trampelte mit Händen und Füßen, kauerte sich unter den Tischen zusammen und greinte“ (Kutschke 2009, S. 169). Während Lisa sich immerzu still verhält, wenn sie an diesem Ort ist, sich nicht einmal traut, „nach Kaffee zu fragen, [denn] Lucy schien dünnen Tee zu favorisieren“ (ebd.), steht ihr Schatten in diesem Moment für ihre eigentlichen Bedürfnisse, die alle Ausdruck tiefer Verzweiflung sind – jener Verzweiflung, die Lisa über ihre Identitätskrise empfindet. Der Schatten ist in diesem Fall also tatsächlich ein Doppelgänger im psychoanalytischen Sinn, er steht für Lisas ‚Seelen-Bedürfnisse‘.
Gleiches lässt sich auch in Bezug auf Lisas Freundschaft zu Mora feststellen. Als Lisa bei Mora im Appartement sitzt, heißt es: „Ich schüttelte den Kopf, ich wollte einfach sitzen bleiben, bis wir uns aneinander gewöhnt hatten, bis sich die Ränder unserer Schatten in die Wand eingeschrieben hatten. Auch wenn unsere Schatten sich näher wären, als wir es jemals sein würden“ (ebd. S. 179). Hier gesteht sie erneut dem menschlichen Schatten ein Eigenleben zu, bzw. eine eigenständige Gefühlswelt. ‚Nähe‘ kann in diesem Zusammenhang nämlich nicht nur als räumliche, sondern auch als menschliche Nähe interpretiert werden. Wenn der Schatten für Lisa also das verkörpert, was die Menschen, in diesem Fall Lisa und Mora, wirklich in tiefster Seele wünschen, dann wissen ihre Schatten auch, dass zwischen den beiden eine besondere Verbindung besteht – und später, während der Reise ins Outback, wird diese Verbindung auch den ‚Besitzern‘ der Schatten bewusst.
Lisa weiß aber auch, dass der Schatten nur dann existieren kann, wenn entsprechende physikalische Gegebenheiten vorliegen, also eine Lichtquelle, die den Schatten wirft. Damit ist auch der Schatten als exaktes Abbild der Wirklichkeit nicht tauglich, selbst wenn Lisa sich das herbeiwünscht, wie z.B. auf dem Friedhof, wo sie Mora aufsucht und eine erste Annäherung stattfindet: „Wir schauten auf das Meer hinaus und tranken. Ich wünschte mir einen riesigen Scheinwerfer in unserem Rücken, der unseren Schatten auf das Wasser werfen würde“ (ebd. S. 205).
Dass der Schatten trotz des fast liebevollen Verhältnisses, das die Erzählerin zu ihm hat, nicht als Erkenntnisquelle dienen kann, wird auch durch die Überschrift des siebten und letzten Kapitels deutlich, jenes Kapitels, das für Lisas Entpuppung steht und für die eigentliche Schöpfung ihrer Identität: „Ist das Leben ein seltsames Höhlensystem? […] markiert eine weitere, diesmal kanonische philosophische Interferenz, nämlich zu Platons Höhlengleichnis. […] Platon macht mit seinem Höhlengleichnis, das den Menschen vorführt, dass sie anstatt die Wahrheit zu erblicken, bloß die Schatten von Abbildungen wahrnehmen, eigentlich eine medientheoretische Frage auf: Welchen Erkenntniswert haben Abbildungen der Wirklichkeit?“ (Schlicht 2016, S. 90).
Der Bezug zum Höhlengleichnis bietet sich nicht nur hinsichtlich Lisas Verhältnis zu ihrem Schatten an, sondern betrifft in erheblichem Maße ebenso ihr gesamtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Weder der Blick durch die Kamera noch der Blick in den Spiegel liefern anscheinend geeignete Abbildungen der Wirklichkeit, speziell dann nicht, wenn man wie Lisa an dem eigenen Körper, sogar an der eigenen Existenz zweifelt. Die Anspielung auf Platons Höhlengleichnis in der Überschrift des letzten Kapitels verdeutlicht Lisas Erkenntnis, dass all diese Abbildungen der Wirklichkeit nicht auch automatisch der Wirklichkeit entsprechen, und diese Einsicht macht einen entscheidenden Schritt in ihrer Identitätsfindung aus. Lisa nutzt im gesamten Romanverlauf die Fragen von Fischli und Weiss oft als Antworten auf komplizierte Fragen. Nur ein Beispiel: Nick stellt auf dem Weg zum Picknick die Frage, unter welchem Stern dieser Tag stehe, und Lisa liest darauf eben jene Frage von Fischli und Weiss vor, die später dem siebten Kapitel die Überschrift gibt: „Ist das Leben ein seltsames Höhlensystem?“ (ebd. S. 87). Ganz eindeutig ist diese Frage nicht nur die Antwort in diesem einen Fall, sondern steht für Lisas Identitätsproblem insgesamt. Lisa war es bislang immer gewohnt, ihre Wirklichkeit hochgradig zu konstruieren, sei es mit dem Blick durch die Kamera als eingeschränkte Wahrnehmung oder auch durch die anschließende Bearbeitung der Bilder (vgl. Kutschke 2009, S. 59f.). Als sie merkt – und sich auch eingesteht – dass ihre Wirklichkeit immer nur ein Trugschluss aus den verschiedenen Abbildern der Wirklichkeit war, eine Einsicht, die in Platons Höhlengleichnis nur bestimmten Menschen vergönnt ist, fühlt sie sich plötzlich frei und die vielen Möglichkeiten einer Identitätsbildung stören sie nicht weiter. Sie kommt aus dem Outback zurück und fährt direkt zu Nick, plötzlich nicht mehr in dem Wunsch, mit ihm zu verschmelzen, sondern in vollem Bewusstsein ihres Körpers: „Ich wusste genau, wo Nicks Körper aufhörte und meiner begann, und die Luft zwischen uns fühlte sich an wie Brausepulver, es war lebendige, zischende, prickelnde Luft, die Möglichkeiten barg. Ich konnte alles tun, was mir einfiel, ich konnte Berge besteigen und Nobelpreise erhalten, ich konnte Ölbilder malen und Autos reparieren, ich konnte Lieder komponieren und Flüsse durchqueren, ich war ein Rechengenie und bezwang zumindest für eine Weile den Tod, der in unseren Zellen lag“ (ebd. S. 258).
Und so ist Lisas Entwicklung nicht die einer eigenen Identität mit feststehenden Größen und Eigenschaften. Lisas Entwicklung rückt viel mehr ihr zuvor gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit wieder zurecht, das massiv unter ihrer verfälschten Wahrnehmung, dem Verlust Bs, dem Auftauchen einer Doppelgängerin und der unerwiderten Liebe Nicks gelitten hat. Lisa kommt an einen Punkt im letzten Kapitel, an dem sie sich ihrer selbst wieder sicherer ist. „Lisa, schrieb ich auf die Couch, Lisa, schrieb ich auf das Bett, Lisa, schrieb ich auf die Badewanne [Herv. i. Original]“ (ebd. S. 259). Die Ameisen, die Lisa über den Körper krabbeln, als sie mit Nick im Garten liegt, „verliehen allem Gewissheit“ (ebd.). Man kann also das Motiv des Schattens als ein in zweierlei Hinsicht positives Doppelgänger-Motiv lesen: Lisas Verhältnis zum eigenen Schatten ist durch ein psychisches Band gekennzeichnet, das dem Schatten die wahren Seelen-Wünsche zuspricht, gleichzeitig hilft aber das Motiv des Schattens in Anspielung auf Platons Höhlengleichnis Lisa dabei, ihr Verhältnis zur (Wahrnehmung von) Wirklichkeit zu korrigieren.
Stadt aus Rauch
Inhaltsangabe
(Marisa Linß)
Im Jahr 2017 erscheint Svealena Kutschkes bisher umfangreichster Roman Stadt aus Rauch. Das Werk changiert zwischen historischem und Familienroman und erzählt mit detaillierter Bildsprache aus dem Leben der vier Generationen einer Familie in Lübeck. Innerhalb des realhistorischen Zeitrahmens zwischen dem Ende des Deutschen Kaiserreichs und einem bis heute nicht aufgeklärten Brandanschlag auf ein Lübecker Asylbewerberheim 1996 entfaltet sich die achronologische Erzählung über die drei Frauen Lucie Hinrichs, deren Tochter Freya Petersenn und deren Tochter Jessie Mertens.
Die Geschichten der Protagonistinnen sind von Beginn an mit surrealistischen oder gar phantastischen Elementen durchzogen. Magdalena, die mit Lucie zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwanger ist, will der Hölle Lübeck (vgl. S. 13) entkommen und springt in die Trave, während sie der Teufel auf der anderen Seite des Flusses rauchend dabei beobachtet. Lucie wird in der Trave geboren und auf dem Bauch ihrer toten Mutter an der Kaimauer des Hansahafens von Hafenarbeitern gefunden, die Nabelschnur in der Faust. Damit beginnt für die folgenden Generationen ein Leben „auf Kredit“ (S. 651), denn wie es immer wieder heißt: „[w]en die Trave geboren hatte, den holte sie sich zurück“ (S. 650).
Lucie, die dieselbe Augenfarbe wie der Teufel hat („traveblau“, S. 94), wird von ihrem Vater Michél Hinrichs, einem Maler, in seinem Haus in der Gröpelgrube großgezogen. Sie wächst zwischen seinen Farben und Gemälden in Armut auf und erlebt die Schrecken des ersten und zweiten Weltkriegs. In den 1920er Jahren der Weimarer Republik lernt Lucie den gescheiterten Schauspieler Christoph Maria Petersenn kennen – sie verlieben sich ineinander und heiraten. Christoph, wie sich herausstellt ein überzeugter Befürworter Hitlers, arbeitet zunächst als Verwaltungsfachangestellter für die Weimarer Polizei und später für die Gestapo, wo er immer wieder dafür sorgt, dass Lucies und Michéls Akten in der Gröpelgrube verschwinden.
Freya, die Tochter von Lucie und Christoph, kommt als Kind der Nachkriegsgeneration zur Welt. Sie wird von ihrem Großvater Michél großgezogen, die Fürsorge ihrer Mutter jedoch beschränkt sich lediglich auf die rudimentär notwendigen Dinge Füttern, Waschen und Windel Wechseln. Erst als der Maler seine Enkelin in die Welt malt (vgl. S. 560), entwickeln sich in der morphiumsüchtigen Lucie erste Muttergefühle. Freya arbeitet schließlich auf der Geburtsstation im Krankenhaus und heiratet Jürgen Mertens, der als Bestatter arbeitet und eine Vorliebe für Fotographie und alte Westernfilme hat. Gemeinsam leben sie im stets lebendig und vor allem bedrohlich wirkenden Haus in der Gröpelgrupe in Lübeck und bekommen dort ihre einzige Tochter Jessie Mertens.
„Die Traurigkeit, die Freya seit der Kindheit in den Knochen steckte, war zusammen mit Jessie in die Welt gekommen“ (S. 23). Auch Freya befürchtet, ihrer Familie nicht viel geben zu können, da ihr der Krieg und vor allem ihre eigene Mutter Lucie in den Knochen stecke. Schließlich hat sie eine Affäre mit einem Arzt ihrer Station und Jürgen Mertens verlässt die Familie, als Jessie noch ein Teenager ist.
Mit Jessie soll sich die Geschichte der Frauen der Familie ändern in eine, „die nur noch ihre eigene [ist]“ (S. 667). Zwischen den Schatten ihrer Vorfahren, die noch eine Zeit lang im Haus in der Gröpelgrube hängen bleiben, und der „fauna“, einer Bauwagensiedlung zwischen Stadtgraben und Trave, in der die leben, die „über den Rand der Stadt gefallen“ waren (S. 276), sucht Jessie nach ihrer eigenen Identität.
Sie tritt in die Fußstapfen ihres Vaters und beginnt eine Ausbildung als Bestatterin. Mit den Punks Lasse, Schwani, Falk und den ihr bereits aus Kindheit bekannten Finchen und Bjarne, findet sie eine neue, eigene Familie. Gemeinsam gehen sie gegen die Lübecker Nazis vor, wenn es sein muss auch gewaltvoll. Sie wachsen zusammen in einer Mischung aus Drogenkonsum, Außenseitertum und der damit einhergehenden Freiheit. Als Schwani an einer Überdosis stirbt und seine Freunde ihn samt Bauwagen in einem kollektiven Drogenrausch verbrennen, verändert sich die Schwerkraft zwischen den Freund*innen. Nach und nach verschwinden alle aus der Stadt, inklusive die Schatten der Familienvergangenheit. Jessie bleibt in der Gröpelgrube.
Die Geschichte der Familie um Lucie, Freya und Jessie erstreckt sich über Teil 1 „Sommersonnenwende“ und Teil 2 „Wintersonnenwende“, die jeweils in sieben Unterkapitel unterteilt sind. Die drei Frauen leben in Lübeck, das im Laufe der Geschichte, aber vor allem im Zusammenhang des zweiten Weltkrieges durch eine Flächenbombardierung der Royal Air Force buchstäblich zu einer Stadt aus Rauch wird. Leben und Tod, Phantastik und Realismus begegnen sich im Laufe der Handlung immer wieder in einer durch Metaphern und Symbole angereicherten Sprache und verwischen so ihre vermeintlich antonymische Konnotation. Die Figuren bewegen sich dabei im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, der individuellen Geschichte und der Geschichte der Stadt und kämpfen um Autonomie im Zwang der ihnen auferlegten Rollenerwartungen.
Der Teufel, der mit roten Lippen und schwarzem Frack eher als stiller Beobachter der Jahrhunderte denn als „dynamisches Prinzip“ (Hellberg 2014: 200) fungiert, begleitet alle drei Frauen mit seinen hellblauen Augen. „‚[W]ir zerfallen, wenn wir die Trave verlassen‘“ (S. 666) erkennt Jessie schließlich und bleibt in Lübeck. Sie kämpft sich aus den Schatten ihrer Familiengeschichte frei – ob sie der Trave tatsächlich entkommt, bleibt jedoch offen.
Thematische Aspekte
(Corinna Schroll)
Der Teufelskreis der Isolation
Ein auffälliger thematischer Aspekt des Romans ist der Zustand der Isolation, der an einigen der Figuren sichtbar wird. Der Begriff der sozialen Isolation beschreibt die Situation, in der ein Individuum wenige bis gar keine sozialen Kontakte hat und es zu einem Empfinden von Einsamkeit kommen kann. Einsamkeit als Gefühl kann jedoch ebenfalls bei Menschen mit mehreren sozialen Kontakten auftreten, und ist entsprechend nur teilweise in Verbindung mit Isolation zu betrachten, da ein Mensch sich selbst mit mehreren sozialen Kontakten einsam fühlen kann, und somit ein Unterschied zu einer sozial isolierten Person besteht. Der erste Teil von Stadt aus Rauch beginnt mit dem Suizid von Lucies Mutter Magdalena, welche kurz vor ihrem Tod dem Teufel auf der anderen Seite der Trave gegenübersteht. Die Zigarette des Teufels erhellt die Nacht und doch sieht niemand, wie Magdalena sich in der Trave ertränkt. Die Inszenierung dieser Sequenz eröffnet einen Einblick in die Ausweglosigkeit zweier sozial isolierter Existenzen mit dem unbemerkten Freitod einer Frau und der Figur des Teufels, welcher seit Anbeginn seiner Existenz von niemandem bemerkt oder gar gesehen wird, ausgenommen von den drei Figuren Magdalena, Lucie und Jessie. Es ist nicht nur die Fähigkeit den Teufel zu sehen, die die drei Frauen miteinander verbindet, sondern ebenfalls die Tatsache, dass sie die Isolation des Teufels auf verschiedenen Ebenen teilen. Da Magdalenas Leben bereits auf der 11. Seite des Romans endet, liegt der Fokus innerhalb der Narration somit auf ihrer Tochter Lucie und deren Enkeltochter Jessie.
Die Figur des Teufels
Nach Jahrhunderten in einer isolierten Existenz trifft der Teufel unverhofft auf den ersten Menschen, der ihn sehen kann (vgl. S. 236): Lucie, die in der Trave von einer sich ertränkten Mutter geboren wird und wie durch ein Wunder überlebt. Dieses ‚Wunder‘ ließe sich der Anwesenheit des Teufels zuschreiben, jedoch weißt selbst dieser an anderer Stelle darauf hin, dass er „rein gar nichts gegen den Tod tun [kann]“ (S. 72). Somit lässt sich Lucies Überleben weder dem Schicksal noch einer höheren Instanz, sondern womöglich nur dem Zufall zuschreiben. Ihre tiefgreifende Verbundenheit mit dem Teufel bleibt ebenso ungeklärt. In der Beschreibung der Gefühle, die der Teufel für Lucie hegt, wird das Wortfeld der Isolation aber auch das des Hungers aufgegriffen: Denn er fürchtet den Tag, an dem er wieder ohne Lucie existieren muss und will sie in seinen Besitz bringen. Nach Lucies Tod bleibt der Teufel jedoch vorerst wieder in seiner isolierten Existenz gefangen, ohne eine „Vorstellung […] davon, was sich hinter dem Horizont [von Lübeck] [verbirgt]“ (S. 267), da er nicht in der Lage ist, die Stadt zu verlassen.
Jessie
Wie ihre Großmutter Lucie besitzt Jessie ebenfalls die Gabe, den Teufel sehen zu können und scheint ebenso die tiefe Verbindung zu ihm wie auch die beunruhigende Ausstrahlung ihrer Großmutter geerbt zu haben, was sich vor allem in ihrer Schulzeit bemerkbar macht: „Die anderen mochten sie nicht, aber es war mehr als das, es war, als hätten die anderen Kinder Angst vor ihr. […] Jessie war anders als die anderen Kinder. Und anders war kein Vorteil, nicht in der Grundschule.“ (S. 30). Jessie wird von ihrem gesellschaftlichen Umfeld als Außenseiterin deklariert, da ihre persönlichen Eigenschaften in ihren Altersgenossen Unwohlsein hervorrufen. Ihre Interessen passen nicht zu denen der anderen Kinder, die sich populärer Jugendkultur und gesellschaftlichen Normen anpassen: anstatt Michael Jackson zu hören, spricht Jessie in nicht zeitgemäßen Westernzitaten und zeigt gerne die Fotos von Verstorbenen, die ihr Vater zuhause im Bad entwickelt. Jessies Vater Jürgen, der ihr diese unkonventionellen Interessen nähergebracht hat, findet seine Tochter so wie sie ist liebenswert, erkennt allerdings letztendlich selbst, dass Jessie mitunter wegen dieser unkonventionellen Sozialisierung der Anschluss zu ihren Klassenkameraden verwehrt bleibt. Ihr einziger Freund ist Bjarne, welcher jedoch wegzieht und Jessie sich und ihrer Situation letztendlich selbst überlassen bleibt. Nach der Trennung ihrer Eltern zieht Jessie sich täglich ins Badezimmer zurück, um sich zu betrinken und ertränkt sich somit in ihrer Einsamkeit, da sie niemanden hat, der sie in ihrer Situation versteht. Jessies Einsamkeit zieht sich fort durch ihre Adoleszenz bis sie nachts betrunken von dem Punk Lasse gefunden wird und von diesem in seinen Freundeskreis von gesellschaftlichen Außenseitern aufgenommen wird und hier auch wieder auf ihren ersten Kindheitsfreund Bjarne trifft. Auf den ersten Blick scheint sie ihrer Einsamkeit entkommen zu sein.
Sagen
Doch auch andere Figuren befinden sich in Isolation, außerhalb der Gesellschaft oder gar von Zeit und Raum: So ist nicht nur der Teufel als mystische Entität in der Textwelt außerhalb des weltlichen Geschehens positioniert, sondern auch der der Sage entsprungene Roggenbuk, welcher auf dem Grund der Trave haust. Das Themenfeld um diese Figur herum zeichnet sich durch Kälte, Müdigkeit und Hunger aus, womit auch eine gewisse Resignation des Roggenbuks in seiner Situation mitschwingt. In ferner Vergangenheit ein gefürchtetes Ungeheuer, dem verängstigte Bürger der Stadt Lübeck Opfer erbracht haben, ist der nun in seiner Einsamkeit ein Schatten seiner selbst: „Jetzt ließ sich niemand mehr betören, sein Gesang war dünn geworden, die Stimme brüchig.“ (S. 42). Über den Lauf der Zeit ist der Roggenbuk immer weiter geschrumpft, da seine Größe in Verbindung zu seiner Relevanz zu stehen scheint. Letztendlich ist er so klein und unwichtig, dass er niemanden mehr schreckt. Als Teil einer lokalen Geschichte war die Sagenfigur des Roggenbuks in der Vergangenheit der Stadt Lübeck bedeutsamer, jedoch wie auch die Westernfilme, die Jessie mit Jürgen in ihrer Kindheit gesehen hat, ist er mittlerweile aus der Zeit gefallen und findet keine Beachtung mehr. Vergessen von der Welt und stätig schrumpfend haust er in der Dunkelheit auf dem Grund der Trave, ohne Aussicht auf Zeiten, in denen er wieder an Relevanz gewinnen könnte.
Fluch
Lucie und Jessie passen nicht wirklich in die Welt hinein in die sie geboren werden, doch selbst fantastische Wesen wie der Teufel von Lübeck und der Roggenbuk wirken deplatziert und gefangen in der eigenen Existenz. Isolation in Verbindung mit der Situation, anders zu sein und nicht als Teil der Welt zu existieren, scheint wie ein Fluch, der schon Jessies Vorfahrinnen auferlegt wird, dem es nur bedingt möglich ist zu entkommen und in Jessies Fall noch zusätzlich mit der Wut des Teufels belastet wird. Denn durch den Tod von Lucie wird die Wut des Teufels, der seiner Gefangenschaft in Lübeck nicht entkommen kann (vgl. S. 267-268), geweckt: „Er hatte schon fast vergessen, wie es war, für etwas zu entfachen. […] Ihr Tod entzündete in dem Teufel eine Wut, für die er keinen Körper hatte.“ (S. 267) Und erst durch Jessie findet diese Wut „einen Körper“ (S. 268). Die beiden Menschen, die den Teufel sehen können, scheinen ihm gleich zu sein in ihrer Einsamkeit, denn als Jessie und der Teufel zusammen Zigaretten rauchen, glaubt sie zu erkennen, „dass ihre Einsamkeit nichts war, gemessen an seiner, aber das war kein Trost. Es war als würden sie und der Teufel im All trudeln, […] ohne Herzschlag, aber unsterblich“ (S. 150). Die isolierende Einsamkeit in Kutschkes Roman wird nicht nur als belastend dargestellt, sondern wie eine Art Gefangenschaft inszeniert, aus der es fast unmöglich scheint sich selbst zu befreien. Letztendlich ist Jessie die einzige in ihrer Familie, der sich die Chance eröffnet, ihrem Schicksal, in Isolation und doch gefangen im Schatten ihrer Vorfahren zu leben, zu entkommen. Schließlich steht am Ende, in der letzten Szene des Romans, nicht mehr der Teufel an ihrer Seite, sondern Lasse, neben dem sich für Jessie eine mögliche Zukunft frei von erdrückender Isolation eröffnet. Topografisch beginnt und endet der Roman somit an der Trave.
Krieg
Die Handlung des Romans erstreckt sich über mehrere Zeitpunkte der deutschen Geschichte, wobei die Narration keiner Chronologie folgt. Der Zeitraum der Handlung verläuft von dem ersten Treffen zwischen Ludwig Graf und Johann Petersenn 1864 nach dem Ende des Deutsch-Dänischen Krieges über den ersten und zweiten Weltkrieg, bis zu den Anschlägen auf Asylheime durch Rechtsextremisten in den 1990er Jahren. Besonders die Kriege, die von Preußen und dem späteren Deutschen Reich geführt wurden, nehmen einen großen Teil der Romanhandlung ein. Jedoch ist zu erwähnen, dass Sequenzen in Kutschkes Werk nicht an den kriegerischen Auseinandersetzungen an den Frontlinien spielen, sondern die Situation zu Kriegszeiten ‚zuhause‘ in Deutschland und somit ‚im Kleinen‘ von Kutschke ausgearbeitet werden sowie auch gesellschaftliche Auswirkungen und Versuche der Bewältigung des Erlebten nach Kriegsende.
Der Künstler Michél wird zur Zeit des 1. Weltkrieges in die Armee eingezogen, und erst während seines Fronturlaubes kommt es zu einer Reflektion des Erlebten an der Front: Er schafft es nicht Lucie zu besuchen, trotz der Wahrscheinlichkeit, dass es später zu keinem weiteren Wiedersehen kommen könnte, da er fürchtet, sie könne „den Tod an ihm riechen“ (S. 138). In den fragmentartig beschriebenen Erinnerungen an die Zeit an der Front zeichnet Kutschke durch Michél ein erschütterndes Bild, in welchem ein Leutnant weint „wie ein Kind“ (S. 138) und der Geruch der Verstorbenen in der Hitze unerträglich wird. Um Lucies kindliche Unschuld zu beschützen, mit der eine einfachere, noch ‚reine‘ Weltanschauung wie auch ein naives Vertrauen in die Welt einhergehen, und um Lucie vor dem Schrecken, den er erlebt hat, zu bewahren, beschließt Michél zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in die Gröpelgrube zurückzukehren und sieht seine Tochter erst wieder, als sie ihn nach dem Verlust seiner Hand im Lazarett besucht.
Doch wie von Michél erwartet, wird selbst Lucie als unschuldiges Kind mit den Auswirkungen des Krieges konfrontiert, als ihr im Lazarett weinende Schwestern mit blutigen Uniformen begegnen, während hinter geschlossenen Türen Schreie der verletzten Soldaten ertönen. Lucie flüchtet sich in die an einer Leine hängenden frisch gewaschene, reine weiße Wäsche, um den scheußlichen Gerüchen zu entkommen. Nachdem sie sich auf dem Weg befindet ihren Vater zu besuchen, folgt im Text ein Erzählerkommentar, in dem ausgelegt wird, dass es ‚Kriegshelden‘ als solche nur in der menschlichen Vorstellung als Konstrukt gibt. Mit diesem imaginären Konstrukt des Kriegshelden soll der unvorstellbare Schmerz der physisch wie auch psychisch verwundeten Soldaten erträglich gemacht werden, was jedoch in der Realität keinem der sich erholenden oder gar sterbenden Soldaten in irgendeiner Weise hilft. Selbst nicht körperlich verwundete Männer tragen trotzdem bleibende Schäden des Krieges in Form von psychischen oder nervlichen Störungen, wie das Kriegszittern (vgl. S. 141). Keinem dieser Männer hilft es als ‚Held‘ betitelt zu werden, denn Helden „sind nur eine Vorstellung, die einer von sich hat, solange er eine falsche Vorstellung von der Welt hat. Solange er den Krieg nicht kennt“ (S. 140).
Ehre
Eine zweifelhafte Vorstellung von Krieg und ‚Kriegshelden‘ lässt sich schon zu Beginn des Romans anhand eines Gespräches zwischen Ludwig Maria Graf und Johann Christoph Petersenn beobachten. Johann, der aus einer militärischen Familie kommt, sehnt sich geradezu nach einer kriegerischen Auseinandersetzung, um sich zu beweisen. Zusätzlich scheint es ihm auch wichtig, seiner Familie Ehre zu machen und als erster im Krieg zu sterben, verglichen mit allen anderen Petersenns vor ihm, die zwar an unterschiedlichen Umständen während eines Krieges verstorben, jedoch nie im Krieg gefallen sind. Er trifft eines Abends auf Ludwig in einer Gastwirtschaft, kommt mit ihm ins Gespräch über militärische Konflikte und beide freunden sich am Ende des Abends an. Anders als Johann hat Ludwig bereits wirkliche Kriegssituationen an der Front erlebt und aktiv gekämpft, aber erkennt den Vorfahren des unerfahrenen Soldaten wohlwollend eine vermeintliche Ehre an, die diese nie errungen haben. Die nächste ‚gemeinsame‘ Kriegserfahrung machen beide als „1866 Preußen Holstein besetzte und der Lübecker Senat tatsächlich beschloss Krieg zu führen. 1866 war das Jahr, in dem Ludwig und Johann gegeneinander in den Krieg ziehen sollten“ (S. 50). Ironischerweise bleibt Johann ein direkter Kampf mit seinem Freund, wie auch ein ‚heldenhaftes‘ Ende erspart, da „der Krieg […] beendet [war], noch bevor er den Zug wieder verlassen konnte“ (S. 51). Eine weitere Demütigung folgt, da ihm auf seiner Rückreise derartig übel wird, dass er sich übergeben muss und entsprechend keine Nahrung zu sich nimmt. „Schließlich stieg er kreidebleich und dehydriert in Lübeck wieder aus. Ein Schlachtfeld hatte er nicht zu sehen bekommen. Es war der demütigendste Sieg, den Johann je erleben sollte.“ (S. 51) Anders als Johann trifft es Ludwig Graf deutlich härter, denn zwar ist er in der „entscheidenden Schlacht dabei“ (S. 51), wird aber von einer Kugel am Kopf getroffen und fällt daraufhin in eine Art Wachkoma, aus dem er nicht mehr aufwacht, sondern sogar am Ende in diesem Zustand noch versteinert. In der Figur des Johann Petersenn wird eine extreme militaristische Haltung deutlich, die sich durch eine Kriegslust in unerfahrenen jungen Männern äußert, die selbst nie teil eines kriegerischen Konflikts waren und entsprechend auf naive Weise von vermeintlichem Ruhm und Ehre träumen. Anders steht es um die, die den Ernst einer Kriegssituation bereits kennen, und nur wenig Enthusiasmus für weitere Konflikte besitzen, wie die Figur des Ludwig Grafs. Soldaten, die an kriegerischen Frontlinien gekämpft haben, hilft die Idee eines Kriegshelden nicht ihre psychischen und physischen Wunden zu heilen. Im Fall von Ludwig Graf bleibt letztendlich nur die körperliche Hülle eines vermeintlichen Kriegshelden nach einer schweren Verwundung zurück, jedoch hat der Krieg ihm alles genommen was ihm zu einem lebendigen Menschen gemacht hat, und er erstarrt zu Stein.
Formale Aspekte
(Corinna Schroll)
Typographie: Intertextualität und Intermedialität
In der Textgestaltung finden sich typographische Auffälligkeiten: Hier stechen vor allem kursivierte Phrasen und Wörter hervor, welche aufgrund ihrer bedeutungstragenden Verwendung innerhalb des Textes unweigerlich die Aufmerksamkeit des Lesers erwecken. Diese kursivierten Textelemente lassen sich als Zitate lesen, welche nicht direkt von Figuren innerhalb der Handlung stammen müssen, sondern ebenso als ein Ablauschen der Wirklichkeit und der verschiedenen Zeiten, in denen die Handlung spielt, zu verstehen sind. So wird beispielsweise auf entlarvende Weise der Sprachgebrauch der Zeit, der zeittypische Denkmuster enthüllt, anhand der Figur Alfons Petersenns während der Handlung zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus ‚zitiert‘, als es ihn juckt und er seine Fingernägel betrachtet, welche „dem Führer sei Dank, einen Hauch zu lang“ (S. 433) seien.
Die Kursivierung bezieht sich aber auch auf Text-Text-Beziehungen: Buchtitel wie Buddenbrooks oder Filmsongs wie Spiel mir das Lied vom Tod werden genannt oder ganze Songstrophen etwa von Lonesome Billy werden zitiert.
Ebenso werden kursivierte Phrasen und Wörter verwendet, um Beschriebenes zu betonen oder Kontraste stärker hervorzuheben. Der Künstler Michél weist die Eigenart auf, seine Tochter Lucie als junges Mädchen in seinen Bildern zu verewigen, jedoch vernachlässigt er sie als reales Kind, was auch Lucie bewusst wird: „Sie war da. Sie existierte. Keine Selbstverständlichkeit für ein Mädchen, nach dem der Roggenbuk gegriffen hatte.“ (S. 119) Ihr Unverständnis über die fehlende Interaktion mit ihrem Vater in der realen Welt findet Betonung durch die kursivierten Wörter, jedoch wird ebenso ein Kontrast zwischen Lucie zu den nicht lebendigen Menschen auf Michéls Leinwand verdeutlicht.
Paratexte
Auch auf der paratextuellen Ebene lässt sich eine Auffälligkeit anhand der Karte von Lübeck („Grundriss von Lübeck, 1830“) feststellen, die beim ersten Aufschlagen der gebundenen Ausgabe des Buches noch mit dem Einband verbunden zu finden ist. Diese Karte vom Handlungsort Lübeck erinnert an einen Reiseführer, der dem Leser gestattet, sich innerhalb der Handlung an realen Orten und Straßennamen zu orientieren. Ebenfalls lassen sich der Verlauf der Trave nachvollziehen, auf deren Grund der Roggenbuk haust, wie auch die Lage der Gröpelgrube in der Nähe der Burg, in welcher Christoph Maria Petersenn während seiner Tätigkeit bei der Gestapo die Akten seiner Frau und seines Schwiegervaters immer wieder verschwinden lässt.
Pressespiegel
(Corinna Schroll)
Die Kritiken zu dem Roman Stadt aus Rauch fallen insgesamt sehr positiv aus. So beschreibt Constanze Matthes für Zeichen & Zeiten Kutschkes Werk als sprachgewaltig und poetisch, und sieht hier eine Geschichte der Stadt Lübeck, welche generationsübergreifend verwoben ist mit der Geschichte einer Familie. Im Vordergrund stehen für Matthes vor allem der Aspekt der „Dunkelheit/Verlorenheit“, welcher nicht nur die Frauen der Familie verbindet, sondern auch die düstere deutsche Geschichte vom 19. bis zum 20. Jhd. mit einschließt. Zur Dunkelheit gehört ebenso die Thematisierung des Nationalsozialismus und aktuellen Formen von Fremdenfeindlichkeit wie etwa die Schilderung rechtsextremer Angriffe auf Asylbewerberheime in den 1990er Jahren: „Mit Blick auf dieses Thema könnte man meinen, die Autorin schlägt dabei kommentarhaft auch einen Bogen in die Gegenwart.“.
In Literatur Lounge bespricht Markus Eggert Stadt aus Rauch, was er für ein facettenreiches Werk hält, welches die Schuld- und Täterfrage nach dem sogenannten Dritten Reich wie auch fremdenfeindliche Angriffe der 1990er Jahre wie in Lichtenhagen und Lübeck thematisiert. Auf diese aufzuarbeitenden Themen der deutschen Geschichte bezieht Eggert seine ‚Kritik‘, bei der es sich eher um die eigenen Leseerfahrung handelt: Es handele sich um ein „literarisches Wagnis, welches wichtig ist, aber für mich eher erschreckend war als mitreißend. Man sollte mit sich einigermaßen im Reinen sein, damit man diesen Roman auch aushält, wenn man ihn auf sich wirken lässt.“ Eine weitere Qualitätsbestimmung des Romans ist somit innerhalb dieser Rezension schwierig.
Etwas kürzer erfolgt die Kritik von Marion Sedelmayer für den Borromäusverein, in welcher sie den Roman als „Gegenstück“ zu den Buddenbrooks von Thomas Mann bezeichnet, in welchem „Kutschke die Geschichte der Stadt sehr poetisch mit dem Schicksal der einfachen Leute [verwebt]“. Besonders positiv wird die poetische Sprache der Autorin gelobt, was zu dem „spannend[en] und mitreißend[en]“ Leseerlebnis beiträgt. Schlussendlich erfolgt ein Hinweis auf die Erzähldichte des Romans: „Manchmal sind es fast etwas zu viele Handlungsstränge und Erzählschichten, die sich überlagern“.
Ebenfalls positiv bewertet Stefanie Baade für litnity den Roman, und sieht hier ebenfalls die drei Frauenfiguren als generationsübergreifendes „Zentrum der Geschichte“ in Verbindung mit der größeren deutschen Geschichte des 20. Jhd.. Es erfolgt in der Kritik ebenfalls ein Hinweis auf ‚schwere‘ Themen und eine düstere Atmosphäre. Baades finales Urteil über Stadt aus Rauch beschreibt den Roman als „eine Meisterleistung in der Auseinandersetzung mit der Deutschen Geschichte und in der heutigen Zeit aktueller den […] je.“.
Literatur
Primärliteratur
Kutschke, Svealena: Stadt aus Rauch. Köln: Eichborn 2017.
Sekundärliteratur
Hellberg, Wolf Dieter (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Faust – Der Tragödie Erster Teil. Stuttgart: Reclam XL 2014.
Rezensionen
Baade, Stefanie: Familienepos durch die deutsche Zeitgeschichte. In: litnity.com, 19.11.2017.
Eggert, Markus: [Rezension] Stadt aus Rauch – Svealena Kutschke. In: Literaturlounge.eu, zuletzt aufgerufen am 22.02.2024.
Matthes, Constanze: Drei Frauen – Svealena Kutschke „Stadt aus Rauch“. In: Zeichen und Zeiten, 30.11.2017.
Sedelmayer, Marion: Stadt aus Rauch. In: borromaeusverein.de, zuletzt aufgerufen am 22.02.2024.
Gewittertiere
Inhaltsangabe
(Marisa Linß)
„Martin erholte sich üblicherweise schnell von den Auseinandersetzungen, als wäre ein Ausgleich des Luftdrucks erfolgt, nach dem es sich leichter atmen ließ, die Kinder aber blieben in ihnen gefangen“ (S. 46). Wie bei ihren Namensvettern den Gewittertierchen scheinen sich Existenz und (zwischenmenschliche) Unwetter bei den Protagonist*innen in Gewittertiere gegenseitig zu bedingen. Svealena Kutschkes psychologischer Familienroman erscheint im Jahr 2021 im claassen-Verlag. Die Geschwister Hannes und Cornelia Becker, die später von ihrer Freundin Max den „Jungennamen“ (S. 62) Colin bekommt, wohnen mit ihren Eltern Martin und Nora in einer Reihenhaussiedlung im deutschen Norden und wachsen im Kontext der Deutschen Wiedervereinigung auf.
„Aus den Nachbarhäusern drang schon das Summen der Staubsauger herüber, das Brummen der Spülmaschinen und Waschmaschinen, in den Gärten wurden die Wäschespinnen aufgespannt [...]. Es wurden Bartstoppeln aus Waschbecken gewischt, Brotkrümel vom Frühstückstisch und die feuchten Fußabdrücke der Kinder vom Badezimmerboden“ (S. 19f).
Was als scheinbare Familienidylle am Rande einer Stadt beginnt, entpuppt sich im Laufe der Handlung als sensibles Familienkonstrukt, das nur durch die Kinder gegenüber den Widrigkeiten des Alltags und der Gesellschaft zusammengehalten wird. Vater Martin führt ein Lebensmittelgeschäft. Er ist ein Kind der Nachkriegsgeneration, das weder den eigenen Schmerz und schon gar nicht den der eigenen Kinder zulassen kann, weshalb er die finanziellen und emotionalen Ressourcen der Familie verbraucht, um aus Angst vor den zunehmenden Flüchtlingsbewegungen in Europa einen Bunker im Familiengarten zu bauen. Mutter Nora kümmert sich um den Haushalt und die Kinder und leidet unter der toxischen Beziehung zur eigenen suizidalen Mutter Paula Bode, für die sie sich verantwortlich fühlt, sowie unter der Ehe, in der Martin wie ein weiteres Kind an ihr zerrt.
Hannes und Cornelia wachsen im Schatten der Kindheitstraumata ihrer Eltern auf und entwickeln deshalb Strategien, um mit der stets ‚gewittrigen‘ Atmosphäre umgehen zu können: Hannes hortet und isst heimlich Schokolade und Chips, Cornelia versucht die autoritär-patriarchalen Ansprüche ihres Vaters gegenüber ihrem Bruder zu nivellieren und fühlt sich zudem für den instabilen Gemütszustand ihrer Mutter verantwortlich. Das Familienleben besteht für die Geschwister aus einem ständigen Kampf um die eigene Daseinsberechtigung und den Schwierigkeiten, die mit der Adoleszenz zusammenhängen. Beide sind als Außenseiterfiguren angelegt, die ihre Schulzeit als gemobbte und im wörtlichen Sinn als geschlagene Kinder erleben. Das zentrale Thema des Romans ist der Schmerz. An den Beckers, einer prototypischen kleinbürgerlichen Familie der alten BRD, zeigt Kutschke nicht nur das Phänomen transgenerationeller Traumata auf, sondern auch das gesamtgesellschaftliche Versagen, in denen Gewalt, Alkoholismus und das Verdrängen von Problemen alltäglich erscheinen.
Als Erwachsene wohnen beide in einer eigenen Wohnung in Berlin. Colin bricht ihr Studium ab, arbeitet in einem Späti und zieht schließlich mit ihrer Freundin Eda zusammen. Hannes arbeitet als Gerichtsvollzieher, ist alkoholkrank und reaktiviert mit einem Suizidversuch die alte „familiäre Choreographie“ (S. 203), in der alle Familienmitglieder in ihre bekannten Verhaltensmuster zurückfallen. Noch immer leben beide Becker-Kinder im Spannungsfeld zwischen Autonomie und der Familiengeschichte, die ihre Entscheidungen nachhaltig beeinflusst.
Stück für Stück versuchen sich die Protagonist*innen aus diesen Verstrickungen ‚herauszuleben‘. Dabei stellen sie wiederholt fest, dass sie das „Becker’sche Phlegma“ (S. 200) gegenüber bedrohlichen Situationen in der Gesellschaft und in den eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen geerbt haben und dass sie beide diesem Erbe nicht so leicht entkommen können.
Colins ‚Rebellions-Akt‘, das Studium abzubrechen und stattdessen in einem Spätkauf zu arbeiten entpuppt sich als versteckter Nachlass ihres Vaters:
„Colin saß in einer Galerie in Kreuzberg, nur dreihundert Meter von ihrem ersten Späti entfernt, als ihr dämmerte, dass ihre Entscheidung, auf die sie immer vor allem deshalb stolz gewesen war, weil sie ihr unabhängig vorkam, möglicherweise in tiefster Verstrickung mit ihrer Familie gefallen war“ (S. 286).
Hannes, der in der Zeit seines Aufwachsens immer wieder Opfer der autoritären Pädagogik seines Vaters wurde, entdeckt im Umgang mit dem Sohn seiner Freundin, dass sich diese destruktiven Muster nun auch in der Beziehung zu dem Kind widerspiegeln:
„Und plötzlich die Augen des Jungen. Dieser Blick, den er fast täglich sah, der ihn aber erst jetzt im eigenen Schreck erreichte. Wie eine Erinnerung, die im toten Winkel gelegen hatte: diese angespannte, ängstliche Erschöpfung im Blick von Juttas Sohn. Eine Erschöpfung, die man hat, wenn man sich so anstrengen muss, richtig verstanden zu werden, dass man beginnt, sich selbst zu misstrauen. Wenn man das Vertrauen verliert, mit Wohlwollen angeschaut zu werden. Ein Gefühl, das Hannes kannte. Natürlich“ (S. 326).
Colin und Hannes werden, wie Gewittertierchen von den Luftmassen, von den Stimmungen ihrer Eltern immer wieder hin und hergerissen. Der tägliche Kampf um die eigene Daseinsberechtigung wird verstärkt durch Unsicherheiten mit der eigenen Körperlichkeit, Sexualität und dem Urteilsvermögen über die eigenen Grenzen, das von Martin und Nora regelmäßig negiert wird. Im Laufe der Zeit begreifen Hannes und Colin, wie sehr sie noch immer in die Geschichte ihrer Familie verstrickt sind. Nachdem ihre Eltern sich getrennt haben, reflektieren die Geschwister schließlich ihre Beziehung beim Besuch einer Kunstausstellung zueinander, die mehr einem Abhängigkeitsverhältnis in der ‚Becker’schen Choreographie‘ gleicht als aus wahrer Zuneigung besteht. Dass es ausgerechnet ein Kunstraum ist, in dem es um Tiere in Käfigen geht, ist als Metareflexion zu verstehen, d.h. nicht zuletzt die Kunst erscheint im Roman als der Ort, in dem persönliche wie gesellschaftliche Fragen sichtbar gemacht und problematisiert werden (können).
Thematische Aspekte
(Luka Markovic)
Bunker als persönlicher Schutzort
Wie bereits in der Inhaltsangabe des Familienromans erwähnt, distanziert sich Martin Becker im Verlauf der Handlung durch den Bau des Bunkers zunehmend von seiner Familie. Die Tschernobyl-Kataststrophe sowie die scheinbare Gefahr der Zuwanderung im Osten, die durch den Mauerfall entsteht, sind die Gründe, warum er seine Familie mit diesem Bunker schützen möchte. Allerdings wird deutlich erkennbar, dass seine Familie nicht dasselbe Bedrohungsempfinden wie er teilt und demnach keinen Sinn in diesem Bunkerbau sieht. Die ritualisierte Antwort: „im Garten" (S. 60), die Colin und Hannes von ihrer Mutter erhalten, wenn sie nach dem Aufenthaltsort ihres Vaters fragen, zeigt, wie Martin phasenweise immer tiefer im Garten gräbt, bis "nichts mehr von seiner Anwesenheit als die Erde" (ebd.) zu sehen ist. Seine obsessive (und wortwörtliche)Vertiefung in den Bau verdeutlicht die wachsende Distanz zu seiner Familie und den damit einhergehenden Verlust des Bezugs zur Realität.
Seine Familie bemüht sich regelmäßig, ihn von diesem Bauvorhaben abzuhalten. Unter anderem teilt Hannes seinem Vater mit, dass er ,,noch keinen einzigen Flüchtling gesehen" (S. 76) hat. Trotz wiederholter Versuche seiner Familie, ihm zu versichern, dass keine reale Gefahr in ihrer Siedlung besteht und dieser Bunker ihnen nur finanziell schadet, bleibt Martin Becker beharrlich. Aus Colins Perspektive leben sie in einer ,,friedlichen Siedlung am Rand der Welt" (S. 115) und Martins Bunkerprojekt wird als übertriebene Reaktion auf nicht vorhandene Bedrohungen interpretiert. Um seine Motive allerdings zu untermauern und seine Familie vom Gegenteil zu überzeugen, liest er Zeitungsartikel über Gewalttaten in Deutschland vor, wie etwa einen Bericht über eine Schießerei ,,[b]ei einem Edelitaliener" (S. 80) oder dass ,,Russische Banden […] auf dem Vormarsch nach Westen" seien (ebd.) . Obwohl diese Ereignisse der Realität entsprechen, wird durch die Aussagen von Nora und den Kindern deutlich, dass der Familie keine wirkliche Gefahr droht. Aus diesem Grund ist deutlich zu erkennen, dass Martin Becker nicht rational handelt, sondern sein Verhalten pathologisch ist.
Im Verlauf der Handlung wird allerding selbst ihm mit der Zeit bewusst, wie realitätsfern sein Vorhaben ist. Insbesondere in seinem zwiespältigen Lachen, das ,,vertuschen sollte, wie sehr er sich wünschte, dass [Nora] ihn weiter dazu drängte, die Schaufel niederzulegen" (S. 82), wird deutlich, dass er zumindest in seinem Inneren von diesem Bunker nicht mehr überzeugt ist. Martins fanatisches Verhalten könnte durch seine Prägung als Kind der Nachkriegszeit bedingt sein, was zu einem unterschiedlichen Empfinden gegenüber potenziellen Bedrohungen führt. Der Bunker fungiert dabei als Schutzort vor den inneren Problemen, die Martin Becker belasten. Seine diffuse Nervosität, sein Zittern an den Händen sowie das Herzrasen, hören erst auf, ,,wenn er in seine Höhle" (S. 121) hinabsteigt, wodurch deutlich zu erkennen ist, dass er den Bunker nutzt, um vor seinem eigenen Problem zu fliehen, dass sein ganzes Vorhaben sinnlos war und er seiner Familie damit mehr geschadet hat als ihr zu helfen.
Wohnungsbesuche als Form der Rache
Ähnlich wie sein Vater hat Hannes im Leben einen Zufluchtsort gefunden, ,,nachdem er an seinem Wunschberuf gescheitert war" (S. 163). Diesen Zufluchtsort entdeckt er in der Stadt Berlin, in der er den Beruf eines Gerichtsvollziehers ausübt und daher regelmäßig mit wirtschaftlich schwachen Menschen konfrontiert ist. Insbesondere bei diesen neigt er dazu, sie in bestimmte Kategorien zu stecken, was seine Empathielosigkeit zu diesen Menschen deutlich unterstreicht. Wenn beispielsweise der Briefkasten eines Schuldners gut gefüllt ist, geht er unmittelbar von den Möglichkeiten ,,Säufer, tot oder verzogen" (S. 221) aus. An seinen Gedanken und Formulierungen ist daher deutlich zu erkennen, dass er wenig Mitgefühl gegenüber sozial benachteiligten Menschen hat, was an ähnliche Verhaltensweisen seiner Eltern erinnert. Obwohl er eine gewisse Empathie für bspw. der Schuldnerin Frau Brehmer zeigt, genießt er es zeitgleich, sie ,,als Fall zu bezeichnen" (S. 225).
Sein Beruf scheint ideal zu ihm zu passen. Denn sein kürzlicher Aufenthalt in der Psychiatrie erscheint für ihn wie eine ferne Vergangenheit, seitdem er wieder seiner beruflichen Tätigkeit nachgeht. Demnach findet er in seiner beruflichen Ausübung einen Zweck in seinem Leben. Der Beruf als Gerichtsvollzieher wird von Hannes als eine Art Rüstung betrachtet, in die er ,,nahtlos [...] in seine Rolle geschlüpft ist". Ähnlich wie eine echte Rüstung Schutz bietet, gewährt ihm dieser Beruf Sicherheit, indem er eine Machtposition innehat, da die Schuldner und Schuldnerinnen ihm ausgeliefert sind.
Anhand seiner Verhaltensweisen und im Kontext seiner Vergangenheit wird deutlich, dass Hannes auf gewisse Weise Rache bzw. Justiz an anderen Menschen übt, weil ihm selbst in der Kindheit und Jugend durch seinen Vater und seine ehemaligen Mitschüler Unrecht widerfahren ist. Jedoch bringt ihn seine Mutter bzw. seine Erinnerungen zu ihr zum Nachdenken, als er ursprünglich beabsichtigt, bei der Schuldnerin Frau Hartmann, die von zuhause aus arbeitet, den Strom abzustellen. ,,Ihr durch Make-up zusammengehaltenes Gesicht" (S. 329) erinnert ihn an seine eigene Mutter. Obwohl Nora, ebenso wie ihr Ehemann, den Kindern gegenüber oft Schwierigkeiten hatte, Empathie zu zeigen, da diese nicht unter denselben Umständen wie ihre Eltern leben mussten, hat sie sich bei dringenden Problemen dennoch um ihren Sohn gekümmert, insbesondere wenn er schwere gesundheitliche Probleme hatte, wie bei seiner Zeit nach seinem Suizidversuch.
Aufgrund dieser Assoziation entscheidet sich Hannes ohne zu zögern, den Strom bei Frau Hartmann nicht abzustellen. Im Gegensatz zu Frau Brehmer, bei der er halbherzige Hoffnungen auf eine bessere Perspektive geweckt hatte, teilt er Frau Hartmann ehrlich mit, dass sie aus ihrer finanziellen Notlage herauskommen kann, und dass er selbst schon einmal in einer ähnlichen Situation war. Seine aufrichtigen Worte und seine Gutherzigkeit in diesem Moment offenbaren, dass er nicht nur Mitgefühl für die Schuldner und Schuldnerinnen zeigt, sondern auch, dass seine Mutter in gewisser Hinsicht einen positiven Einfluss auf ihn ausgeübt hat.
Zwischen Mütterlichkeit und Selbstfindung: Die Figurenkonzeption der Nora
(Mariana Khanal)
Inmitten der komplexen Beckerschen Familienstruktur befindet sich die Figur Nora, Mutter von Colin und Hannes sowie die Ehefrau von Martin. Anhand der Figuren Nora und Martin wird deutlich, wie unausgesprochene und unverarbeitete Erlebnisse nicht nur ihre Beziehung, sondern letztendlich auch das Leben ihrer Kinder beeinflussen. Dabei bringt Martin, als Kind der Nachkriegsgeneration, die unbewältigten Belastungen seiner Vergangenheit mit in die Ehe, während Nora ebenfalls mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen zu kämpfen hat. Sie selbst ist die Tochter einer suizidalen Mutter und leidet unter den Auswirkungen dieser toxischen Beziehung. Vor dem Hintergrund dieser emotionalen Belastung stellt sich die Frage, wie die Figur Nora in Svealena Kutschkes Gewittertiere in Bezug auf ihre Rolle als Mutter dargestellt wird und welche Einblicke dies in die gesellschaftlichen Narrative von Mütterlichkeit bietet. Um die Frage präzise zu beantworten, soll zunächst eine definitorische Einordnung von Mütterlichkeit und Mutterrolle vorgenommen werden.
Hierfür erscheint das doing gender-Konzept von West und Zimmerman sinnvoll, wonach Geschlecht nicht nach Eigenschaften oder Merkmalen, sondern aus sozialen Interaktionen entsteht (vgl. Gildemeister 2010: 137). Daraus ergeben sich Geschlechterrollen, die Zuordnungen von beispielsweise Aufgaben und Funktionen zwischen Geschlecht und Rolle darstellen (vgl. Schön 2015: 217). Die Mutterrolle stellt dabei eine der gesellschaftlich etablierten Geschlechterrollen dar. Nachfolgend bedeutet dies, dass es sozial geteilte Erwartungen und Aufgaben gegenüber Müttern gibt, die sie zu erfüllen haben (vgl. Hungerland 2018: 28). Betrachtet man hierzu generell die Thematik der Mutterschaft, so wird „unter Mutterschaft ‚die biologische, soziale und juristische Dimension des Gebärens sowie der Versorgung, Betreuung und Erziehung eines Kindes‘ [Thiessen 2011: 296] verstanden“ (Thiessen 2017: 2). Semantisch betrachtet wird Mutterschaft und Mutterliebe noch immer als „naturgegebene Aufgabe und Fähigkeit verstanden“ (Thiessen 2017: 2). Einhergehend mit dieser Annahme ist der ‚Mythos der Mutterliebe‘, „der auf einer traditionellen Sichtweise beruht und die leibliche Mutter zu dem naturgegebenen wichtigeren Elternteil für das Kind macht“ (Berner, 2018: 46) auch im 21. Jahrhundert noch wirkmächtig.
Im Zuge der Industrialisierung und Etablierung der Kleinfamilie entwickelte sich das Konzept der ‚Mutterliebe‘ als sozialer Wert, wonach Frauen auf die Rolle der Mutter und Hausfrau beschränkt wurden (vgl. Krüger-Kirn 2021: 99). Dies resultierte darin, dass Mutterschaft und deren Aufgaben und Eigenschaften zum Identifizierungsmerkmal für Frauen aufgrund einer angenommenen Natürlichkeit eines Mutterschaftswunsches wurden (vgl. ebd.). Fortan erschwert „der mit Mutterschaft verbundene Mythos der ‚Mutterliebe‘, hingebungsvoll und verzichtend, […], mütterliche Identität auf vielfältige Art und Weise zu denken“ (Krüger-Kirn und Wolf 2018: 7). Dieses Narrativ verhindert, dass Weiblichkeit sich nicht getrennt von Mütterlichkeit entwickeln kann, da Frauen stets als potenzielle Mütter betrachtet werden und im gesellschaftlichen Diskurs die Aufgabe der Erziehung und Pflege der Kinder den Frauen obliegt (vgl. Schlicht 2016: 112). Dementgegen nutzt die feministische Mutterschaftsforschung Simone de Beauvoirs Argumentation, „dass man nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht wird, […] [als] Leitmotiv, um patriarchale Weiblichkeitsvorstellungen und körperliche Fremdbestimmungen […] in Bezug auf Mutterschaft zu demaskieren“ (Krüger-Kirn 2021: 99). Diesbezüglich wurde bereits 1980 die Vorstellung von natürlicher ‚Mutterliebe‘ von der Philosophin Elisabeth Badinter als kulturelle Konstruktion entlarvt. In ihren späteren Arbeiten beschreibt sie den gesellschaftlichen Diskurs, der „nichts Geringeres zum Ziel [hat], als die Mutterschaft wieder ins Zentrum des weiblichen Lebens zu stellen“ (Badinter 2010: 13, zitiert nach Schlicht 2016: 113). Dies zeigt, dass Weiblichkeit noch immer mit einem (scheinbar) natürlichen Streben nach Mutterschaft verknüpft wird. Aus diesem Grund ist es für die folgende Analyse von Relevanz, dass Mutterschaft nicht als biologischer Instinkt betrachtet wird und bestimmte Gegebenheiten, wie beispielsweise nicht verarbeitete Kindheitserlebnisse eine Mutterschaft erschweren können (vgl. ebd.: 109). „Denn nur, indem […] zärtliche, aufopferungsvolle Fürsorge an das eigene Kind nicht exklusiv mit ‚Weiblichkeit‘ konnotiert ist, kann sich im Diskurs so etwas wie ‚Elternliebe‘ verankern“ (ebd.).
Die skizzierten Diskurse bilden den Grundstein für die Analyse der Figur Nora aus Svealena Kutschkes Gewittertiere. Unter Berücksichtigung dessen erfolgt die Analyse unter der Annahme, dass Nora in Gewittertiere als eine Reflexionsfläche für die Diskurse über Weiblichkeit und Mütterlichkeit fungiert. Ihre Figurenkonzeption als Mutter, die in ihren eigenen seelischen Verwundungen gefangen ist, ermöglicht eine Dekonstruktion des Konzepts der natürlichen Mütterlichkeit. Im Verlauf der Analyse wird untersucht, wie Noras Beziehung zu Mutterschaft und Weiblichkeit dargestellt wird und wie sie ihre eigene Identität als Frau und Mutter neu definiert. Diesbezüglich weist Nora aus Gewittertiere Parallelen zu ihrer Namensschwester Nora aus Henrik Ibsens Drama Nora oder Ein Puppenheim (1879) auf, denn wie Ibsens Nora ist auch Kutschkes Mutterfigur zunächst gefangen im Konstrukt der ,natürlichen‘ Mütterlichkeit und kann zuletzt den Weg der Selbstbefreiung gehen. Für die Figurenanalyse sind folgende Aspekte interessant: die Ambivalenz der Mutterrolle und Identität als Frau, die Problematisierung der Mutterrolle aufgrund von stereotypischen Geschlechterrollen, das Erbe durch ihre eigene alkoholkranke Mutter und die Selbstfindung inmitten des „Puppenheims“.
Ambivalenz der Mutterrolle und Identität als Frau
Die erste Erwähnung der Figur Nora stellt den Zwiespalt zwischen ihrer Mutterrolle und ihrer Identität als Frau heraus:
„Nora Becker schaute zum Wald hinüber, sah ihre Kinder nicht, sie blies den Rauch aus und wirkte auf eine ungewohnte Art entspannt. Colin wusste nicht genau, was ihr an diesem Bild so ungewöhnlich erschien. Ihre Mutter war perfekt geschminkt und frisiert, wie sie es immer war: die Lippen tiefrot, die Wimpern schwarz und lang, die blasse Haut gepudert, das rote lockige Haar hochgesteckt, und doch wirkte sie fremd. Es war das erste Mal, dass Colin Nora Becker nicht als Mutter wahrnahm. Wenn Hannes und Colin aus der Schule kamen, stand Nora üblicherweise in der Küche, oder sie lief geschäftig durch Haus und tat Dinge, die Mütter eben so tun, manchmal machte sie ihre wohlverdiente Pause […]“ (Kutschke 2021: 15, Hervorhebung i. O.).
Diese Textstelle markiert einen Bruch mit den üblichen mütterlichen Tätigkeiten, denen Nora sonst nachgeht, weshalb Colin sie nicht als Mutter wahrnimmt. Colin assoziiert die Mutterrolle mit häuslichen Aufgaben, „die Mütter eben so tun“ (ebd.). Die Kursivsetzung von „wohlverdiente Pause“ (ebd.) hebt Noras seltene Momente der Ruhe hervor und deutet auf die gesellschaftlichen Erwartungen hin, dass Mütter sich Erholung nur als Ausnahme und nicht als Regel gönnen dürfen und reflektiert die internalisierten Vorstellungen, dass Muße für Mütter etwas Besonderes und Seltenes ist. Weiterhin kann die Kursivsetzung als ein Einblick in die Gedankenwelt Noras durch den Erzähler gelten, zumal die Pause als „wohlverdient“ (ebd.) erachtet wird und somit eine subjektive Beurteilung vorliegt. Auch werden die mütterlichen Pflichten, die in diesem Moment ruhen, im Umkehrschluss als Arbeit charakterisiert, zumal Pausen ein Erholungsangebot für Leistung und/oder Arbeit darstellen. Arbeit (und somit Pausen) werden mit Erwerbstätigkeit assoziiert, welche wiederum traditionell vom (Ehe-)Mann geleistet wird. Durch die Einbindung der Gedanken Noras, welche sich eine Pause von ihrer Arbeit gönnt, ermöglicht der Erzähler, die Wahrnehmung der mütterlichen Leistung durch die Figur Nora der Wahrnehmung Colins, welcher jene Leistung als natürlich empfindet, gegenüberzustellen. Sobald sich Nora nun von diesen 'natürlichen mütterlichen Pflichten' entfernt, wird sie für Colin zu einer Fremden. Colins Blick wirkt als Diskursecho; dies deutet darauf hin, wie stark die Identität als Mutter mit Noras sozialem Selbst verknüpft wird. Eine Mutter, die rauchend, träumend und als entspannt wahrgenommen wird, bewegt sich außerhalb der an sie gerichteten Erwartungen. Dass es sich dabei um einen Rollenzwang und damit verbundene Eingeschränktheit handelt, zeigt sich daran, dass Nora, sobald sie in ihre traditionelle Mutterrolle zurückkehren muss, sie als „ungehalten und gereizt“ (ebd.: 16) beschrieben wird, die ihre Kinder wie unangekündigten Besuch behandelt: „Ihr seid aber früh dran“ (ebd.: 15). Dass die Rollenerwartung an sie zu einer tiefen Selbstentfremdung führt, macht der Roman an verschiedenen Stellen deutlich. So stößt sie auf Ratlosigkeit seitens ihrer Familie, als sie ungewohnterweise ein Buch am Frühstückstisch liest. Da sie auf keine Akzeptanz für derartige Momente der persönlichen Selbstentfaltung trifft, unterdrückt sie ihre Bedürfnisse und lässt deshalb das Buch verschwinden (vgl. ebd.: 18). Insofern erscheinen Noras Rauchen und Lesen auf der Terrasse Momente der Unabhängigkeit, die im Kontrast zu ihrem erwarteten Rollenverhalten als Mutter stehen, da sie hier die Möglichkeit hat, sich von Geschlechterrollen distanzieren zu können. Jedoch zeigen Interaktionen mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter, wie tief verwurzelt die Erwartungen an bestimmte Geschlechterrollen sind.
Die Figur Nora in Bezug zur Mutterschaft
Die Interaktionen mit Martin, der mit „zärtlicher Vorfreude“ (Kutschke 2021: 21) nach dem Mittagessen fragt, verdeutlicht diese Geschlechterdynamik, denn Martin ist in seiner Rolle als Hausherr und Geldverdiener selbstzufrieden. (vgl. ebd.). Dabei ist er so gefangen in seinen Idealisierungen einer Bilderbuchvorstellung von Elternschaft, dass er weder seine Frau noch seine Kinder als Individuen ernstnimmt. Seine Kritiklosigkeit gegenüber Noras Kochkünsten deutet auf eine fehlende Wahrnehmung Noras als Person hin.
„Nora war keine gute Köchin, Martin lobte jedoch selbst das schlichteste ihrer Gerichte, was ihr, wenn sie gerade eine Dose Corned Beef, eine Dose Erbsen und ein paar Spirelli in eine Auflaufform geschichtet und mit Gouda bestreut hatte, kein gutes Gefühl gab“ (ebd.: S. 21).
Martin gibt sich folglich mit dem Essen zufrieden, weil es das Essen der Ehefrau ist und eine Form der Kritik gegenüber den Kochkünsten bedeuten würde, dass er sich damit auseinandersetzen müsste, dass Nora nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern auch eine individuelle Person ist. Weiterhin „lobte [Martin] jedes Essen nach dem ersten Bissen. Immer mal wieder nahm sie sich vor, vernünftig zu kochen, kaufte Zeitschriften mit Rezepten“ (ebd.). Hierbei zeigt sich, dass gerade für Nora diese Kritiklosigkeit ihres Mannes ein besonderer Schmerzpunkt ist.
Des Weiteren fühlt sich Nora von der Monotonie der Mutterrolle und den damit verbundenen Erwartungen eingeengt. Ihre Versuche, diesen Anforderungen gerecht zu werden, sorgen für Frustration und Resignation, denn
„schon die strahlenden Hochglanzgesichter der Frauen, die mit makelloser Frisur ihre sorgsam angerichteten Teller präsentierten, machten Nora so aggressiv, dass sie lieber Unkraut jäten ging, in einem Furor, dem auch die eine oder andere Tulpe zum Opfer fiel“ (ebd.).
Die Aggression, die sie für diese makellos inszenierten Hausfrauen empfindet, zeigt die Ablehnung der glänzenden und unerreichbaren Idealbilder von Mütterlichkeit und Weiblichkeit. Ihre Reaktion kann als kritischer Blick zur Konstruiertheit von Geschlechterdynamiken in der Gesellschaft und der damit verbundene Druck diesen Idealen zu entsprechen, verstanden werden. Auch Noras Mutter trägt zu der Herausbildung und Festigung der Erwartungen an eine Tochter und Mutter bei, da sie diejenige ist, die „neben dem schweren alten Jahrhundertwendeleinen [Nora], auch eine Mangel“ (ebd.: 20) zum Einzug schenkt. Der Erhalt der Wäschemangel symbolisiert die Weitergabe eines traditionellen Weiblichkeitsbildes, das Nora ungern annimmt. Nora pendelt zwischen Rebellion, indem sie Frotteebettwäsche kauft, da „man sie nicht mangeln musste“ (ebd.), und Anpassung, hat sie doch jahrelang „zähneknirschend“ (ebd.) die Wäsche gemangelt. Außerdem spiegelt das Geschenk der Mutter, wie die gesellschaftlichen Erwartungen in der Bundesrepublik der 1980er Jahre an Frauen aussahen. Haushaltsgeräte werden als passende Geschenke angesehen; Frauen haben in diesem Verständnis ungefragt häusliche Aufgaben zu übernehmen, was wiederum den Druck und die Zwänge zur Folge hat, mit denen Kutschkes Nora-Figur zu kämpfen hat. Wie Ibsens Nora hadert auch Kutschkes Figur mit diesen Rollenerwartungen, denen sie zunächst jedoch nur autoaggressiv begegnen kann; sie verfällt wie ihre Mutter (und auch ihr Ehemann) dem Alkohol oder sie hat Gewaltfantasien, bei denen Nora ihre Finger zwischen die Heißplatten der Mangel klemmen will (vgl. Kutschke 2021: 20).
Diese Autoaggression geht zurück auf Noras problematische Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, die durch Distanz, Härte und Missbilligung geprägt ist. Dies wird besonders ersichtlich, als Nora ihr von ihrer ersten Schwangerschaft berichtet, worauf Noras Mutter lediglich antwortet, dass man „[s]o eine Geburt [nicht] vergisst […]. Das zerreißt einen. Aber dein Vater wollte unbedingt ein Kind“ (Kutschke 2021: 23). Dabei repräsentiert Noras Mutter eine Generation, die Schwanger- und Mutterschaft als schmerzhafte, jedoch selbstverständliche Aufgabe sehen. Zugleich trägt auch sie die Last ihrer Geschichte (wozu auch die blinden Flecken der NS-Geschichte gehören) auf den Schultern. Doch anstatt sie zu verarbeiten, greift sie meist stark alkoholisiert ihre Tochter am Telefon an. Nora lernt dadurch unbewusst ihre Rolle als Mutter, wobei das Muttersein sich als eine Art unumgängliche Last erweist, der sie nicht entgehen kann, da sie letztlich trotz jahrzehntelanger Verhütung schwanger wird. Die Geburt ihres Sohnes Hannes löst in Nora und Martin widersprüchliche Gefühle aus. Wo Martin vor Freude über die Schwangerschaft weint, bereitet Nora sich „zur Beruhigung ein paar Pumpernickel-Käsespieße mit Weintrauben zu“ (ebd.), wodurch ihre Reaktion eher nüchtern und reserviert wirkt. Diese Reaktion zeigt, dass ihre Erfahrungen mit Mutterschaft, die sie durch ihre Mutter übernommen hat, weit entfernt von den idyllischen Idealen liegen, die von der Gesellschaft propagiert werden. Insbesondere Noras Erkenntnisse, „dass sie lieber schwanger als Mutter“ (ebd.) und ihre Idee einer Familie eine sehr romantische gewesen ist, macht deutlich, dass hier Idealisierung und gesellschaftliche Rollenerwartung in Nora wirken, die dabei aber die eigene psychische Konstitution gar nicht mitreflektiert hat. Problematisch ist, dass Nora gesellschaftlich mit solch einer Einstellung nicht als „gute Mutter“ anerkannt wird, da sie keine bedingungslose Liebe für ihre Kinder empfindet. Was bei Kutschke über Mutterschaft deutlich wird, streift ein gesellschaftliches Tabuthema, nämlich die Unfähigkeit von Müttern zur Mutterliebe. In der Literatur tritt dabei zu Tage, dass, um Mutterliebe zu empfinden, es erforderlich zu sein scheint, selbst Mutterliebe erfahren zu haben (vgl. ebd.: 119).
Nora hat in ihrer Kindheit keine Liebe erfahren, sondern war emotionaler Belastung durch ihre eigene Mutter ausgesetzt:
„Nora konnte sich kaum an ihre Kindheit erinnern, und was sie erinnerte, hätte sie gern vergessen. Deswegen fiel es ihr manchmal schwer, die Emotionen ihrer Sprösslinge mit der gebotenen Dringlichkeit zu betrachten. Kinder waren widerstandsfähig, das wusste sie aus eigener Erfahrung“ (Kutschke 2021: 22).
Das Zitat deutet darauf hin, dass Noras schwierige Vergangenheit ihre Sichtweise auf die Bedürfnisse und Emotionen ihrer Kinder beeinflusst, weshalb es ihr schwerfällt, ihren Kindern gegenüber Emotionen zuzulassen. Darüber hinaus behauptet Nora, dass Kinder widerstandsfähig sind. Jedoch ist sie der Beweis dafür, dass Kinder dies nicht sind. Aufgrund Noras unverarbeiteter Kindheitswunden ist sie als Erwachsene nicht in der Lage, auf die Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung, die ihre beiden Kinder in der Schule machen, angemessen, irgendwie mitfühlend zu reagieren. Beispielhaft dafür ist die Stelle, an der Nora und Colin auf einen Exhibitionisten treffen. Diese Passage im Roman verdeutlicht, wie tief die Wunden durch ihre Mutter sind. Als sie auf den Exhibitionisten treffen, hört sie im Geist die Stimme ihrer Mutter, die sie dafür tadelt, allein im Wald unterwegs zu sein, anstatt sie in dieser Situation zu trösten. Darüber hinaus ist der Wald für Nora einst ein Rückzugsort gewesen und durch diese Begegnung wird er fortan bedrohlich und unsicher für sie. Dieses Echo aus der Vergangenheit zeigt die Unfähigkeit, die Nora hat, sich der Bedrohung zu entziehen und das damit verbundene Gefühl durch die Mutter im Stich gelassen worden zu sein. An dieser Stelle ist es Colin, die in einer Rollenumkehr ihrer Mutter Trost und Schutz spendet, wodurch Noras Schwierigkeiten, sich als Erwachsene gegenüber ihrer Tochter zu verhalten, veranschaulicht werden. Ferner verdeutlicht es ebenso, wie tief die traumatische Beziehung zu ihrer Mutter in ihrer Psyche verankert ist, zumal Nora mehrmals traumatische Erfahrungen durch die Suizidandrohungen ihrer Mutter erfahren hat:
„‚Da war ich jünger als du heute, da hat sie mir schon damit gedroht. Nachts auf dem Sofa, Zigarettenasche auf der Brust, konnte sich kaum bewegen, so betrunken war sie, aber den Strick wollte sie sich nehmen.‘ […]. ‚Das geht so nicht. Ich kann nicht einfach auflegen. Am Ende bin ich dann schuld!‘ Nora stand auf, lief zum Telefon, das Geräusch der Wählscheibe, sie verwählte sich, begann von vorn: ‚Entschuldige, Mama, wir wurden unterbrochen ... Ja, genau, weiß ich auch nicht - irgendwas mit der Leitung, vielleicht wegen des Gartens […]‘“ (Kutschke 2021: 97-98).
Es wird deutlich, dass Nora co-abhängig ist und sie die Telefonate mit ihrer Mutter emotional belasten. Nora hat in der Beziehung zu ihrer Mutter – stellvertretend für ihre Generation – nicht gelernt, sich abzugrenzen und den eigenen emotionalen Schmerz irgendwie geltend machen zu können. Dies hat zur Folge, dass Nora wie ihre Mutter letztlich egozentrisch agiert und psychologisch gesehen, nicht als Mutter/Erwachsene mit ihren Kindern interagiert, sondern als verletzte Tochter – so resümiert die Erzählinstanz: „Nora Becker [würde] niemals einen Schmerz anerkennen, der nicht ihr eigener war“ (ebd.: 36).
Statt sich ihren eigenen kindlichen Schädigungen zu stellen und ihre eigene Mutterrolle zu entwickeln, flieht Nora in den Alkoholismus. Diese Thematik wird besonders in der Szene deutlich, "[a]ls Nora später auf dem Weg ins Schlafzimmer betrunken über den Läufer stolperte und hinfiel, […] [und] sie wieder an ihre Mutter [dachte]" (Kutschke 2021: 100). An dieser Stelle erlebt sie eine Art Identifikation mit ihrer eigenen Mutter und denkt sich dabei betrunken auf den Boden liegend: "'Endlich habe ich meinen Platz gefunden, […], Trinkermutter, Trinkertochter'" (ebd.). Dadurch zieht sie den Schluss, dass sie das Schicksal ihrer Mutter geerbt und dieser Selbstzerstörung nicht entkommen kann. Sie reflektiert, dass "[e]s […] unausweichlich [war], jeder Schmerz wurde wiederholt, jedes Trauma re-inszeniert" (ebd.: 101), was bedeutet, dass sie die emotionalen und psychischen Belastungen ihrer Mutter fortwährend durchlebt und nachempfindet.
Interessanterweise bittet Nora trotz schmerzhafter Erfahrungen mit ihrer Mutter bei ihr um Rat und sucht nach Bestätigung durch sie, obwohl sie sich darüber bewusst ist, dass „sie von ihr keine guten Ratschläge erwarten konnte“ (ebd.: 113). Insbesondere die folgende Stelle: „Nora trat auf die Glut, trat sie aus, sie trug aber nur Socken, die Glut fraß sich bis in die Haut“ (ebd.: 114) ist bedeutsam. Die Glut, die sich in Noras Haut frisst, kann als symbolische Darstellung für das Wirken ihrer Mutter verstanden werden, denn ähnlich wie die Glut, hat auch das Verhalten der Mutter tiefgreifende Wunden in ihrer Seele hinterlassen, die irreparabel sind.
Als Nora zuletzt vom Tod ihrer Mutter erfahren hat, bricht sie in Gelächter aus (vgl. ebd.: 137). Dabei kann ihr Lachen als eine Mischung aus Schock und Befreiung interpretiert werden, da die Person nun gestorben ist, die ihr so viele seelische Wunden zugefügt hat. Jedoch kann sich Nora trotzdem noch nicht komplett frei fühlen. Als sie den Pelzmantel der Großmutter verbrennen, zieht sich Hannes eine Brandwunde zu, die sie an ihre Mutter erinnert (vgl. ebd.: 142) und Nora fragt sich, ob sie nicht endlich Frieden verdient hätte (vgl. ebd.). Aus diesem Grund fühlt sich Nora durch ihren suizidalen Sohn Hannes provoziert, da die Ähnlichkeiten zwischen ihrem Sohn und sich selbst mit ihrer eigenen Mutter groß sind. Die Traurigkeit und das Suchtverhalten von Hannes spiegeln ihre eigenen kindlichen Verwundungen wider, zugleich führen sie ihr vor Augen, dass sie ähnlich wie ihre eigene Mutter ihre erstrebte Mutterrolle nicht erfüllt hat, was ihre Beschreibung als die „verzweifelte Mutter“ (ebd.: 99) verstärkt. Wo Nora zunächst gefangen in ihren Traumata und den dazugehörigen unerreichbaren Idealen der Mutterrolle zu sein scheint, vollzieht sie nun zum Ende des Romans einen Transformationsprozess.
Selbstfindung inmitten des „Puppenheims“
Die Ehe zwischen Martin und Nora war bereits von Anfang an marode. Beide hatten von Beginn an differierende Vorstellungen einer Familie. Nora wollte keine Kinder, denn sonst hätte sie nicht „fast zehn Jahre lang heimlich verhütet“ (Kutschke 2021: 23) und würde nicht feststellen, „dass sie lieber schwanger als Mutter war“ (ebd.). Martin hingegen stellte sich eine Bilderbuch-Vaterschaft vor, bei dem die Kinder „über den Rasen vor dem Haus auf ihn zuliefen, wenn er von der Arbeit kam“ (ebd.: 24). Allerdings erfüllte sich dies nicht und er wurde stattdessen mit einer „[heulenden] Tochter […] in der Sandkiste“ (ebd.) und einen Sohn, der über seine eigenen Füße stolperte, konfrontiert (Für einen Einblick in Martins Figurenkonzeption lesen Sie gern den Abschnitt Bunker als persönlicher Schutzort von Luka Markovic).
Dies führt zu einer tiefen Spaltung und Isolation innerhalb der Ehe, was letztlich die Zerrüttung der Ehe vorantreibt. Diese Zerrüttung wird durch Martins Bunkerbau symbolisch verdeutlicht:
„Sie wusste nicht mehr, in welchem Jahr der Bauarbeiten Martin Becker die Terrasse aufgerissen hatte. Diese wenigen Quadratmeter, die Nora gegen den Abgrund zu schützen versucht hatte, der sich abrupt hinter dem letzten Gartenstuhl auftat. Nora, die jeden Abend in der Terrassentür saß, während das Abendlicht die herausgebrochenen Steinplatten auf den Erdhügeln in ein wohlwollendes Licht tauchte, eine Kulisse, die an Ruinen und Ausgrabungsstätten erinnerte. Sie saß in der Tür, ein Glas Wein in der Hand, ihre Beine baumelten an der Kellerfassade hinab wie an den Kacheln eines Pools, ihr Blick versonnen und ungewohnt friedlich“ (Kutschke 2021: 280).
Der Versuch, die Terrasse zu schützen, kann für Noras Bestrebungen stehen, Stabilität und Sicherheit in ihrem Leben zu finden. Allerdings werden diese Bemühungen durch beispielsweise ihre Mutter und auch auf direkter Weise durch ihren Ehemann gestört, da dieser den Garten, ihren Rückzugsort, mit seinem Bunkerprojekt zerstört hat.
Dabei vermittelt Nora, die mit einem Glas Wein baumelnd in der Terrassentür sitzt, eine trügerische Leichtigkeit. Der Wein in ihrer Hand und ihr versonnener Blick könnten zwar als entspannte Gelassenheit interpretiert werden, jedoch ist dieser Moment des ‚Friedens‘ auch eine Flucht in den Alkoholismus, um die Unordnung und den Schmerz in ihrem Leben zu betäuben. Dabei trägt die Beschreibung „das Abendlicht die herausgebrochenen Steinplatten auf den Erdhügeln in ein wohlwollendes Licht tauchte“ (ebd.: 280) dazu bei, eine scheinbare Atmosphäre von Frieden und Akzeptanz zu erzeugen, jedoch täuscht diese friedliche Kulisse über die tieferliegenden Probleme hinweg, die Nora durch ihren Alkoholkonsum zu verdrängen vermag. Dabei trägt die Formulierung dazu bei, dass eine Atmosphäre von Frieden und Akzeptanz entsteht. Es wird der Anschein erweckt, dass Nora das Chaos der Baustelle präziser zur Beschreibung ihrer Ehe findet als die bürgerlich perfekte Fassade, nach der die Hausfrauen der Nachbarschaft leben. Eine weitere Textstelle unterstützt diese Annahme:
„Es war entspannender, als an einem Pool zu sitzen, dachte Nora manchmal, dieses Chaos um sie herum, diese Zerstörung, die keiner Konstruktion zu weichen schien, hatte etwas Befriedigendes. Diese kaputte Landschaft, in der sie hauste, schien ihr wahrhaftiger als die Idylle, die sie vorher umgeben hatte. Es gab einen Widerhall in ihr auf die aufgeworfene Brache, die einmal ihr Garten gewesen war“ (ebd.: 120).
Die Befriedigung, die Nora aus der zerstörten Landschaft um sie herumzieht, reflektiert wiederholt ihre innere Zerrissenheit und zeigt, dass sie sich zunehmend mit dem Chaos und der Zerstörung um sie herum identifiziert. Es fungiert als Erleichterung, dass das Bild der perfekten Familienidylle in Chaos getaucht ist und somit nun auch ihre äußere Umgebung ihre inneren Kämpfe widerspiegeln. Der Garten, das Trümmerfeld der Ehe plus in der Literatur auch locus amoenus, wird dabei zum Symbol der Entfremdung zwischen ihnen.
Während sich Nora innerhalb der Ehe an eine von Martin, Paula und der Gesellschaft idealisierte natürliche Mütterlichkeit klammert, zeigt sie nun Bemühungen, Mütterlichkeit in ihrem Sinne neu zu erfinden. Dies zeigt sich darin, wenn sie plötzlich Nähe zu ihren Kindern sucht.
„Nora hatte immer gelacht über die Mütter, die ihren Kindern die T-Shirts bügelten, aber sie litt wahnsinnig darunter, wenn ihr etwas entglitt. […] Nora hatte stets mit ihrer Rolle gerungen, plötzlich aber schien sie sich an die letzten Reste von Mütterlichkeit zu klammern, kommentierte besorgt Colins Husten“ (ebd.: 296).
Hierbei ist erkenntlich, dass Noras früheres Lachen über stereotype Vorstellungen von Mütterlichkeit nun einer tieferen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Emotionen des Mutterseins weicht. Gerade die unerwartete Umarmung gegenüber Colin „[i]mpulsiv und unbeholfen, aber ehrlich“ (ebd.), zeigt ihre neu gefundene Bereitschaft zu spontanen und bedingungslosen Gesten der Zuneigung. Diese Geste steht im starken Kontrast zu Noras früherem Verhalten, denn „Umarmungen waren immer zweckgebunden gewesen. Begrüßung, Abschied, Geburtstag. Impulsive, grundlose Herzlichkeit kannte sie bei Nora nicht“ (ebd., Hervorhebung im Original). Die Kursivsetzung stellt dabei Colins Schock über die unerwartete neue Art der Zuneigung dar. Es zeigt sich, dass Nora einen Wendepunkt erreicht hat und sich bemüht, eine persönliche Art des Mutterseins zu finden, die über stereotype Erwartungen hinausgeht.
Eine weitere bedeutsame Textstelle, die ihren Selbstfindungsprozess darstellt, findet sich, als Colin und Nora sich noch einmal über Noras Mutter unterhalten. Üblicherweise würde Nora Colin an dieser Stelle belastend damit auffordern, die Mutterrolle für sie einzunehmen und ihr Trost zu spenden.
„[Jedoch schaute] Colin […] auf den Waldboden, […] [d]as war eigentlich ihr Einsatz. Die Einsilbigkeit zu beenden. Die Mutter zu umsorgen. Aber sie schwieg. […] Normalerweise waren Noras Erzählungen über ihre gewalttätige Mutter der pure Albdruck, zugleich hilflose Appelle an Colin, Nora zu retten. Dieses Mal aber war die kurze Erzählung ihrer Mutter nur mehr das, was sie war: ein Teil ihrer Geschichte. Ein Teil, der so lange zurücklag, dass er möglicherweise ihre Wahrnehmung von Beziehungen noch beeinflusste, nicht mehr aber ihre Erwartungen an die Tochter. Ihre Mutter war mit Ende sechzig tatsächlich erwachsen geworden.“ (ebd.: 303)
Dies zeigt, dass es für Nora nun an der Zeit ist, die Erlebnisse mit ihrer gewalttätigen Mutter als ein Teil ihrer Geschichte anzusehen und Colin nicht länger mit ihren ungelösten Problemen zu belasten. Letztlich ist es Nora möglich, sich selbst von ihren Kindheitsdämonen nach der Scheidung und dem Tod ihrer Mutter zu distanzieren.
Wie eingangs erläutert, kann Svealena Kutschkes Nora als intertextuelle Referenz zu Henrik Ibsens Nora gelesen werden. Sowohl Ibsens Nora als auch Nora aus Gewittertiere brechen am Ende aus den Zwängen aus, die ihr Leben bestimmt haben. Auch Ibsens Nora definiert sich stark über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter. Dabei wird sie von ihrem Vater in eine Rolle gedrängt, in der er sie als „sein Puppenkind [bezeichnete] und [mit ihr spielte]“ (Ibsen 2023: 95). Diese Bezeichnung und das Spiel verdeutlichen die Kontrolle und Dominanz ihres Vaters über Noras Leben und Entscheidungen. Sie musste gemäß seinen Vorstellungen handeln und seine Ansichten übernehmen: „Als ich noch zu Hause bei Papa war, teilte er mir alle seine Ansichten mit, und so hatte ich dieselben Ansichten; hatte ich andere, so verheimlichte ich sie, denn eigene Meinungen hätte er nicht geschätzt“ (ebd.). Diese Abhängigkeit und Unterordnung prägen folglich auch ihre Ehe mit Torvald Helmer, an dem sie als zu funktionierende Ehefrau und Mutter von ihrem Vater an ihren Ehemann weitergereicht wird. Diese Abhängigkeit und Unterordnung äußert sich in der Aussage Torvalds: "Ein Singvögelchen muss den Schnabel rein halten, darf nie falsche Töne lassen" (ebd.: 41) Hiermit drückt Torvald aus, dass Nora ihm gehorchen muss und verkindlicht sie zusätzlich mit dem Kosenamen „Singvögelchen“. Ebenso zwingt er ihr Rollen auf:
„Du richtest alles nach deinem Geschmack ein, und so bekam ich denselben Geschmack wie du; oder ich tat nur so; ich weiß nicht recht; - ich glaube, es war beides, bald das eine und bald das andere. Wenn ich jetzt zurückblicke, so wird mir bewusst, dass ich hier wie ein anderer Mensch gelebt habe - von der Hand in den Mund […] Du und Papa, ihr begingt eine große Sünde gegen mich. Ihr seid schuld, dass nichts aus mir geworden war.“ (ebd.: 95).
Nora erkennt zuletzt, dass sie sich in einem „Puppenheim“ befindet, wo sie die Rolle der gehorsamen Ehefrau und Mutter spielen darf und befreit sich selbst von diesen Zwängen, um sich selbst als Mensch zu finden: „Vor allem bin ich ein Mensch […]" (vgl. ebd.: 95).
Ibsens Werk kritisiert die bürgerliche Gesellschaft und deren Geschlechterrollen. „Eine Frau kann nicht sie selbst sein in der Gesellschaft der Gegenwart, einer ausschließlich männlichen Gesellschaft, mit von Männern geschriebenen Gesetzen und Anklägern und Richtern, die über das weibliche Verhalten vom männlichen Standpunkt aus urteilen“ (ebd.: 103). Die Unterdrückung und die Suche nach persönlicher Identität in einer patriarchalen Gesellschaft sind Themen, die auch noch in einer Gesellschaft im Jahr 1980 relevant sind. In ähnlicher Weise thematisiert Kutschkes Nora in einem zeitgenössischen Kontext die Suche nach einer persönlichen Identität einer Frau inmitten einer patriarchalen Struktur.
In Gewittertiere ist Nora zunächst die Puppe ihrer Mutter, die Nora in eine Rolle der ewigen Tochter sowie ein traditionelles Bild von Weiblichkeit, wozu auch ein bestimmtes Verständnis von Mütterlichkeit gehört, gedrängt worden. Die Adressierung als Tochter fügt ihr zusätzlich emotionale Belastungen zu; Nora lernt also durch ihre eigene Mutter, dass Mütter über ihre Töchter verfügen und nicht, dass sie sie umsorgen. Diese Prägung durch ihre Mutter setzt sich fort in Noras Beziehung zu Martin. Nora steht nun in einer von ihrem Ehemann dominierten Beziehung, die ihre Rolle auf die der Mutter beschränkt. Dabei wird zunehmend deutlich, dass Martin sich zwar einerseits kindlich an Nora klammert und sie mit Kosenamen wie „Sternchen“ (ebd.: 56) versieht, andererseits aber seine eigenen Pläne rücksichtslos und ohne Einbezug ihrer Bedürfnisse verfolgt:
„‚Das ist mein Garten, Martin. Du lässt meinen Rasen schön in Ruhe […].‘ Nora stand noch immer mitten auf dem Rasen, als könnte allein ihre Präsenz Martin Becker daran hindern, den nächsten Spatenstich zu setzen. […] Er setzte den Spaten an und trieb ihn mit dem Fuß tief in die Erde. […] Das war der Moment, in dem Noah begriff, dass kein Missverständnis vorlag, dass ihr Mann sein Vorhaben in die Tat umsetzen, es zumindest versuchen würde“ (ebd.: 56-57).
Hierbei wird deutlich, wie Martin seine Entscheidungen eigenständig und unabhängig von Noras Wünschen trifft. Dieses Verhalten signalisiert seine Dominanz und Kontrolle innerhalb der Beziehung. Dadurch wird Nora damit konfrontiert, dass sie in ihrer Beziehung mit Martin nicht auf Augenhöhe agiert und das zeigt, dass Martins vermeintliche kindliche Zärtlichkeit mit einer starken Dominanz und einem Machtanspruch einhergeht, was letztlich den Anschein erweckt, dass Martin, wie ein Kind von ihr umsorgt werden will, aber auch über Nora verfügen will.
Der Wendepunkt in Noras Leben ist schließlich der Tod ihrer Mutter und die Scheidung von ihrem Mann. Der Tod ihrer Mutter befreit sie von ihren negativen Einflüssen und gibt ihr die Möglichkeit, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Scheidung markiert für Nora den Beginn eines neuen Kapitels, von dem sie nun die Autorin ist. Ebenfalls wird deutlich, dass Mutterschaft für Nora schließlich eine höhere Bedeutung hat, als ihre Ehe, denn tatsächlich kritisiert sie die Mutterschaft zwar, jedoch wird ebenso deutlich, dass sie eigentlich die Annahmen und Vorstellungen von Mütterlichkeit, die sie von ihrer Mutter und der Gesellschaft übernommen hat, ablehnt und kritisiert. Diese Annahme unterstützend fungiert das veränderte Verhalten, das sie ihren Kindern gegenüberbringt. Sie versucht aktiv die Distanz zwischen ihr und ihren Kindern zu verringern (vgl. ebd.: 295). Zuletzt durchbricht sowohl Kutschkes als auch Ibsens Nora die gesellschaftlichen und familiären Erwartungen, die sie in ihrem „Puppenheim“ gefangen halten und entscheiden sich für ein selbstbestimmtes Leben.
Abschließend kann gesagt werden, dass Nora aus Gewittertiere als eine bundesrepublikanische Frau der Nachkriegsgeneration in den 1980er Jahren dargestellt wird, die in einem Geflecht aus einer traditionellen Mutterrolle und ihren persönlichen Versehrungen verstrickt ist. Dabei ist Nora nicht als Individualschicksal konzipiert, sondern sie steht mit ihrer Problematik und ihrem Emanzipationsweg wie Ibsens Nora stellvertretend für eine bundesrepublikanische weibliche Entwicklungsgeschichte. Auf diese Weise dekonstruiert der Romans auch das kulturelle Narrativ der „natürlichen Mutterliebe“, denn Kutschke zeigt die Konflikte auf, mit denen Frauen konfrontiert werden, wenn sie versuchen, ihre eigene Identität als Mutter und Frau jenseits der traditionellen Rollenbilder zu finden.
Formale Aspekte
(Luka Markovic)
Erzählperspektive und Zeitstruktur
Der narrative Fokus der Handlung liegt vor allem auf Colin und ihrem Bruder Hannes. Dabei stehen die Geschwister nicht in allen Kapiteln gemeinsam im Fokus. Es gibt demnach bestimmte Kapitel, in denen ausschließlich Colins Gedanken und Erlebnisse beschrieben werden, während in anderen Kapiteln bzw. Abschnitten Hannes im Mittelpunkt steht, was zu einem regelmäßigen Wechsel des erzählerischen Fokus führt. In diesen Wechsel wird ein Einblick in das Leben des jeweils anderen gewährt, insbesondere wenn die beiden Geschwister im Erwachsenenalter sind und zeitweise eher distanziert voneinander leben.
Diese wechselnde Erzählperspektive ermöglicht es, die verschiedenen Facetten der Figuren detailliert anzusprechen. Von einer nullfokalisierten extradiegetischen Erzähldistanz aus werden Ereignisse, Gedanken uns Zusammenhänge benannt und kommentiert. Damit erfüllt die Erzähldistanz quasi die Rolle eines spiegelnden Dritten, der meist bildhaft die Familienproblematik der Beckers reflektiert.
Die Handlung erstreckt sich von der Kindheit der beiden bis zu ihrem Erwachsenenalter, wodurch eine chronologische Erzählung erkennbar ist. Das erste Kapitel bildet eine Ausnahme, indem es sich proleptisch auf das zukünftige Leben der beiden Figuren bezieht. Hier werden Einblicke in das Erwachsenenleben von Colin und Hannes gegeben. Es wird unmittelbar auf die Beziehung von Colin zu Eda vorausgegriffen, ebenso auf Hannes’ Suizidversuch und dass dadurch die ,,sporadischen Telefonate mit der Familie […] häufiger geworden sind" (S. 8). Gleichzeitig wird in diesem Kapitel gezeigt, dass Colin sich um ihren Bruder kümmert, auch wenn sie phasenweise sichtlich genervt davon ist. Auf diese Weise wird bereits in diesem Kapitel antizipiert und verdeutlicht, wie teils ungewöhnlich bzw. problematisch an Colins Verhältnis zu ihrer Familie ist.
Pressespiegel
Der Familienroman Gewittertiere, für den Svealena Kutschke 2022 den Friedrich-Hebbel-Preis erhielt, wird von der Presse überwiegend gelobt. Oliver Pfohlmann hebt in seinem Beitrag für Literaturkritik.de hervor, dass Kutschkes allwissende Erzählerin geschickt die Perspektiven wechselt und die Protagonisten bis ins heutige Berlin begleitet, wo Colin und Hannes im Erwachsenenalter immer mehr die Verhaltensweisen ihres Vaters übernehmen. Während Kutschke in berührenden Szenen einer queeren Liebe sprachlich überzeugt, bemängelt Pfohlmann allerdings eine wiederholende Schwäche in dem Text. Aus seiner Sicht neigt Gewittertiere nämlich zu sehr zur psychologischen Kommentierung anstatt zum Erzählen.
Jan Wiele schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass der Roman die schwierigen Verhältnisse der Familie Becker thematisiert. Denn ,,zwischen den Generationen liegt tiefes Unverständnis‘‘, Die Eltern sind nämlich geprägt von ihrer Kindheit aus der Nachkriegszeit und können nicht nachvollziehen, dass ihre eigenen Kinder ähnliche Schmerzen erleben können. Colin und Hannes sind aus diesem Grund emotional abgeschottet und tragen somit ihre ganz persönlichen Bunker in sich.
In ihrem Artikel für Deutschlandfunk vertritt Miriam Zeh ebenfalls die Ansicht, dass der Roman ein unkonventionelles Familienleben beleuchtet, das von den unerfüllten Erwartungen der Eltern an ihre Kinder geprägt ist. Sie betont zudem, dass es sich bei Gewittertiere nicht nur um ein Familiendrama und einer Coming-of-Age-Geschichte handelt, sondern ebenso um ,,ein entfaltetes Gesellschaftspanorama des wiedervereinigten Deutschlands‘‘. Dabei wirken die Beckers ,,wie der westdeutsches Prototypus einer Familie, in der Gewalt verschwiegen und über Generationen weitervererbt wird‘‘.
Literatur
Primärliteratur
Kutschke, Svealena: Gewittertiere. Berlin: Ullstein 2021.
Ibsen, Henrik: Nora: Ein Puppenheim. Stuttgart: Reclam 2023.
Sekundärliteratur
Berner, N.: Zerrissene Mütter: Eine Diskursanalyse über die Konstruktion von Mutterschaft in den Medien. In: H. Krüger-Kirn, H.; Wolf, L. (Hrsg.): Mutterschaft zwischen Konstruktion und Erfahrung: Aktuelle Studien und Standpunkte. o.O.: Verlag Barbara Budrich 2018, S. 43–60, https://doi.org/10.2307/j.ctvddztb3.6.
Gildemeister, R.: Doing Gender. Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In: Becker, R.; Kortendiek, B. (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. o.O.: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 137 – 145, https://doi.org/10.1007/978-3-531-92041-2_17.
Hungerland, B.: „Mutterliebe kann Berge versetzen.“: Konzepte von Mutterschaft in (west-)deutschen Elternratgebern des 20. Jahrhunderts. In: Krüger-Kirn, H.; Wolf, L. (Hrsg.): Mutterschaft zwischen Konstruktion und Erfahrung: Aktuelle Studien und Standpunkte. o.O.: Verlag Barbara Budrich 2018, S. 28–42, https://doi.org/10.2307/j.ctvddztb3.5.
Krüger-Kirn, H., & Wolf, L.: Einleitung. In: Krüger-Kirn, H.; Wolf, L. (Hrsg.): Mutterschaft zwischen Konstruktion und Erfahrung: Aktuelle Studien und Standpunkte. o.O.: Verlag Barbara Budrich 2018, S. 7–12, https://doi.org/10.2307/j.ctvddztb3.3.
Krüger-Kirn, H.: Mütterlichkeit braucht kein Geschlecht. In: Krüger-Kirn, H.; Tichy, L.Z. (Hrsg.): Elternschaft und Gender Trouble. Geschlechterkritische Perspektiven auf den Wandel der Familie. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021, S. 97 – 119.
Schlicht, C.: Das Narrativ "natürlicher" Mutterliebe und Mütterlichkeit in Literatur und Film. In: GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 8/1 (2016), S. 108-123, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-46629-4.
Schön, B.: Geschlechterrollen: Mutter - Vater - Sohn – Tochter. In: Mertens, G.; Böhm, W.; Frost, U.; Ladenthin, V. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. Leiden: Brill & Schöningh 2015, S. 217 – 238, https://doi.org/10.30965/9783657784691_161.
Thiessen, B.: Mutterschaft: zwischen (Re-)Naturalisierung und Diskursivierung von Gender und Care. In: Kortendiek, B.; Riegraf, B.; Sabisch, K. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 1 – 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12500-4_64-1.
Rezensionen
Pfohlmann, Oliver: Zwischen Scham und Bunker. Westdeutsche Familienhölle: Svealena Kutschkes Roman ,,Gewittertiere‘‘. In: Literaturkritik.de, 06.04.2022.
Wiele, Jan: Der Bunker im Garten. In: Frankfurter Allgemeine, 21.01.2022.
Zeh, Miriam: Mein Haus, mein Bunker, mein Hass. In: Deutschlandfunk, 10.08.2021.
Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden
Inhaltsangabe
(Marisa Linß)
2019 wird das erste Theaterstück Svealena Kutschkes im Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt. Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden inszeniert das Zusammenleben von sechs Personen, die in Berlin in den Wohnungen eines Vorderhauses mit zwei Seitenflügeln und einem Innenhof wohnen. Das Theaterstück ist in vier Teile unterteilt, in denen die Ereignisse aus den je unterschiedlichen Perspektiven der Figuren geschildert werden. Die jeweiligen Figurenreden sind zum Teil dialogisch, häufiger jedoch monologisch konzipiert. Mitunter reden die Figuren aneinander vorbei, so dass der Eindruck entsteht, die Figuren kommentieren die Handlungen der jeweils anderen.
Zu den sprechenden Rollen gehört der Mittfünfziger Holm, „früher Gerichtsvollzieher, jetzt Trinker“ (Kutschke 2019: 3). Ahmed (Anfang 50) und Kathrin (Mitte 40) leben in gegenüberliegenden Seitenflügeln. Sie waren früher ein Paar, Ahmed arbeitet in einer Anwaltskanzlei, Kathrin hat erst kürzlich eine Depression überstanden und schreibt an ihrer Doktorarbeit. Das lesbische Liebespaar Darija und Kim lebt im rechten Seitenflügel. Die beiden Frauen sind Mitte 30, Darija arbeitet in einer Psychiatrie und Kim in einem Berliner Späti. Nabil ist Anfang 20 und zuvor von Syrien nach Deutschland geflüchtet. Er ist die einzige Figur, die nicht spricht und die nur durch die anderen Sprecher*innen explizit figural charakterisiert wird. In den dramatis personae wird Nabil als „die prinzipielle Leerstelle des Stücks“ (ebd.) ausgewiesen, die es dementsprechend nicht zu besetzen gilt.
Kutschkes Stück behandelt die Perspektivenvielfalt und voneinander abweichenden Wahrnehmungen der Figuren in einem durch die Zeit des Nationalsozialismus, des Mauerbaus und Mauerfalls geprägten Land. Die Individuen können allegorisch für zeitgenössische Diskurse und Konflikte betrachtet werden, in denen Nabil als Mittelpunkt und „Projektionsfläche“ (ebd.) für die Interpretationen, Bedürfnisse, Ängste und Emotionen der anderen Bewohner*innen des Vorderhauses dient.
Themen, die über die monologartigen Kommentare der Figuren jeweils unterschiedlich ver- und behandelt werden, sind die Position Deutschlands bezüglich der Flüchtlingsbewegungen, die wechselseitige Beziehung zwischen Fremdartigkeit und Vertrautheit, das eigene individuelle Schicksal innerhalb eines historisch vorstrukturierten gesellschaftlichen Systems, der Umgang mit Schmerz und die Relationen des eigenen Schmerzes zu dem eines anderen Menschen, Sexualität und die mitunter politische Rolle des eigenen Körpers, der stets in einem Spannungsfeld zwischen Bedrohung und (fragiler) Geborgenheit existiert.
Obwohl es sich um ein Theaterstück handelt, sprechen die Figuren der Inszenierung nur sehr selten miteinander und die Handlung wird lediglich anhand ihrer konnotativen Kommentare deutlich, was als Sinnbild für die Verhandlung gesellschaftlicher Probleme in Deutschland gelesen werden kann. Trotz der scheinbaren Unmittelbarkeit, die durch das überwiegend verwendete Präsens erzielt wird, wirkt es, als würde man die Geschehnisse im Innenhof nur über den Botenbericht der jeweiligen Figur übermittelt bekommen. Jedes Individuum nimmt dabei seine Deutung gegebener Konflikte vor, stellt eigene Zusammenhänge her und bildet sich Vorurteile, die im Kontext der je eigenen Biographie zu verstehen sind: „Es überlebt, wer Zusammenhänge herstellt, insbesondere, wer Gefahren sieht, wo keine sind“ (Monolog von Darija, ebd. 36).
Die monologische Erzählweise bewirkt Distanz zu den Ereignissen rund um das Vorderhaus und verdeutlicht zudem die Fragilität einer Gesellschaft, die sich überwiegend über die Konstruktion von Innen und Außen, von Fremdem und Vertrautem definiert. Das ‚verschwundene Gold zu unseren Füßen‘ im Titel des Stückes steht für die Stolpersteine, die vor dem Wohnhaus der Figuren aus der Straße gerissen worden sind. Wie Nabil sind sie die Leerstelle im kollektiven Gedächtnis der Figuren. Das heißt es geht auch um neurechte Entwicklungen der BRD.
Literaturverzeichnis
Kutschke, Svealena: Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2019.
No Shame in Hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal)
Inhaltsangabe
(Marisa Linß)
2023 wird Svealena Kutschkes Theaterstück No Shame in Hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) im Theater Oberhausen uraufgeführt. Körperpolitik, die Rolle von psychischen Erkrankungen und individuellem Schmerz in einer leistungsorientierten Gesellschaft und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der „ewig leicht betrunkene[n] BRD“ (S. 4) sind wiederkehrende Themen im Stück. Die drei Frauen Luca, Carla und Linn kommen aus einer mehrwöchigen (über die genaue Dauer sind sich die Figuren uneins; vgl. S. 9) Gruppentherapie in einer psychiatrischen Klinik und warten nun gemeinsam in einem Imbiss auf einen Bus, der sie in ihre neu gewonnene Freiheit bringen soll.
Während der Wartezeit unterhalten sie sich mit der Imbissverkäuferin, die laut eigenen Angaben seit bereits 90 Jahren hinter dem Tresen steht und Pommes und verstaubte Bierdosen verkauft. Der zunächst trivial und auch ein wenig unbeholfen wirkende Small Talk der Figuren in einem „WAHNSINNIG romantisch[en]“ (S. 4) Imbiss entwickelt sich nach und nach zu einem mehrdimensionalen Gefüge, in dem die Verschränkung individueller Vergangenheit mit der Geschichte der BRD vor Augen geführt wird.
Erzählt Luca beispielsweise zu Beginn noch vom ersten Kuss mit ihrem Ex-Mann in einem vergleichbaren Imbiss, flattern im Verlauf des Stücks immer mehr Briefe in den vermeintlich geschlossenen (Deutungs-)Raum des Imbisses.
„Luca: Jetzt sind es schon drei. Drei Briefe auf dem Boden. Habt ihr was gesehen? Ich meine, da ist zwar ein Briefschlitz in der Tür, aber da draußen ist doch kein Mensch! Das hätte ich doch gesehen“ (S. 30).
Die Briefe stellen sich als Denunziationsbriefe aus der NS-Zeit heraus. Immer mehr davon fallen von oben in den Imbiss hinein und was von Luca im Dialog als eindeutig ungewöhnlich markiert wird, verdeutlicht nach und nach auch dem Publikum die Mehrdimensionalität, die Kutschke in ihrem Stück konstruiert.
Derartige Surreale Motive und Erzählmomente durchziehen die Handlung und führen immer wieder zu Irritationen in dem vermeintlich geschlossenen Setting. Neben den Briefen fungieren auch die sich widersprechenden Aussagen über die Umwelt außerhalb des Imbisses (vgl. S. 17), die Uneinigkeit darüber, ob draußen vor dem Imbiss nun ein Reh oder doch ein Nazi am Asphalt schnuppert (vgl. S. 15, 37) oder der in immer kürzeren Abständen auftretende Chor, der von den Protagonistinnen Luca, Carla und Linn gesprochen wird und der laut der Imbissverkäuferin immer auch „etwas leicht Faschistisches“ (S. 36) hat, als irritierende Elemente, die Deutung und Handlung auf eine zweite Ebene heben.
Schlagworte wie „Trauma“ (S. 8), „Burnout“ (S. 6), „Schlussstrichdebatten“ (S. 34), „Schmerz“ (S. 16), „Fehlermanagement“ (S. 38), „Verantwortung“ (S. 24) oder „Privatnazis“ (S. 39) sprechen gleichermaßen die individuelle Ebene der Figuren wie auch die gesamtgesellschaftliche Perspektive der BRD an. No Shame in Hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) lenkt den Blick der Zuschauer*innen auf die Geschichte und Gegenwart des Nationalsozialismus und verweist durch die Figurenrede auf die Notwendigkeit, sich auf die Suche nach den „Spuren [der Nazis, Anmerkung d. Verf.] in sich selbst“ (S. 39) zu machen. Mithilfe surrealer Stilmittel und verstörender Elemente stellt das Stück eine Verbindung zwischen der Geschichte eines ganzen Landes und seinen Individuen her.
„Es ist leicht, auf die Gräber der Nazis zu zeigen. Sehr viel schwieriger, ihre Spuren in sich selbst zu finden“ (ebd.).
Durch die Positionierung des ‚Nazi-Rehs‘ in der Inszenierung im Theater Oberhausen, das auf einer Parkbank direkt vor dem Publikum biertrinkend in einen Fernseher starrt, ganz so, als würde es mit den Zuschauer*innen eine Einheit bilden, wird, wie schon mithilfe des Chores, die entscheidende Rolle des Kollektivismus in faschistischen Regimen verdeutlicht und reflektiert.
Kutschkes Theaterstück zeigt, wie komplex und mehrschichtig die Problematik des Rechtsextremismus in Deutschland mit dem eigenen ‚Schicksal‘ verwoben ist: „Das Vergessene schreibt sich stärker ein als die Erinnerung“ (S.51) – genau deshalb werden die Briefe aus der Vergangenheit häufiger und eine Depression ist laut der Imbissverkäuferin „‚eine sehr angemessene Reaktion auf die komplexe Beschissenheit der Dinge‘“ (S. 27). Die Bedeutung der je individuellen Vergangenheit und die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen „Privatnazis“ (ebd.) ist für die Reflexion der gesamtgesellschaftlichen Vergangenheit ebenso wichtig wie für die Zukunft, die in Kutschkes Stück eher apokalyptisch als hoffnungsvoll erscheint.
Literaturverzeichnis
Kutschke, Svealena: No Shame in Hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal). Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2022.
Gefährliche Arten
Der Schock der Beiläufigkeit (Inhalt)
(Lisanne Hilterhaus)
Gefährliche Arten ist ein Roman von Svealena Kutschke aus dem Jahr 2013, dessen Inhalt sich aufgrund seiner Vielschichtigkeit nur schwer in kurzer Form zusammenfassen lässt. Versuche, wie in Online-Kritiken oder sogar dem Klappentext des Buches zeigen, dass es nicht reicht, den Roman zu überfliegen, um den Inhalt fassen zu können. In den Aussagen von Kritiker*innen und Rezensent*innen spiegelt sich oft Ratlosigkeit – was bezweckt dieser Roman? Inhalt und Protagonistin werden verklärt oder der Roman wird absichtlich als provozierendes Konstrukt abgetan, das lediglich Aufmerksamkeit generieren und eine Autorenmarke konstruieren soll. Doch beides ist zu kurz gegriffen, denn die Hauptfigur ist im Grunde weder eine rebellische Künstlerin, die freie Liebe im szenigen Berlin lebt, noch ist der Inhalt des Buches platt und provokativ. Vielmehr werden wichtige gesellschaftliche Themen verhandelt. Es handelt sich um das Psychogramm einer Frau (und weniger ein Generationenportrait, wie es Catharina Koller beschreibt), die nicht in gesellschaftliche Normen passt, um ihre grenzüberschreitende Kunst, ihren pathologischen Gemütszustand, um zwischenmenschlichen Beziehungen und das Scheitern an diesen, aber es geht auch um Gewalt, Depressionen und Mutterschaft.
Im Zentrum der Handlung steht Sasha, eine Künstlerin aus Berlin, mit einem besonderen Blick auf die Welt: Zwischenmenschliche Kontakte fallen ihr schwer und die Reaktionen von anderen Menschen, gerade auch auf ihr eigenes Verhalten, kann sie nur langsam begreifen.
„Deine Mutter hat versucht, in den Freitod zu gehen, sagte mein Vater“ (S. 9). Ein Satz, den Sasha in variierender Form immer wieder von Ihrem Vater hört. Ihre Mutter ist suizidal und Sasha übernimmt häufig die Pflege der depressiven Frau. Mit den Emotionen und den psychischen Folgen, die diese Erfahrungen bei ihr auslösen, völlig allein gelassen, beginnt sie schließlich, nach einem weiteren Suizidversuch ihrer Mutter, ihre Haustiere zu töten. Bis ins Erwachsenenalter hinein, entwickelt sie einen Hang zur Gewalttätigkeit, der darin mündet, dass sie beginnt Obdachlose zu töten. Ein konstitutiver Faktor dieser Entwicklung ist, dass es nicht die Mutter ist, die durch Selbstmord verstirbt, sondern Saschas Vater.
Doch zunächst wird Sasha Künstlerin und findet in ihrer Arbeit eine weitere Möglichkeit, die Selbstmordversuche ihrer Mutter zu verarbeiten. Almost an Orphan nennt sie ihr fotografisches Werk, bei dem sie den Gesichtsausdruck ihres jeweiligen Gegenübers einfängt, direkt nachdem sie, wie aus dem Nichts, von dem versuchten Freitod der Mutter erzählt hat.
In ihrer Beziehung zu Mo scheint sie zunächst ihr Glück zu finden, doch die Beziehung geht in die Brüche, nachdem er von ihrem neusten Kunstprojekt mit dem Namen Loveboutique erfährt: Sie filmt sich beim Sex mit fremden Männern, lädt anschließend deren Freundinnen zu sich ein und sendet den Männern dann das Videomaterial zu. Nach der Trennung versucht Sasha bei einem Aufenthalt auf dem Land, den sie durch ein Stipendium verwirklichen kann, neuen Halt zu finden. Dort verliebt sie sich in den Bühnenautor Jannis, der allerdings mit der Schauspielerin Sophia liiert ist, die wiederum mit Tim, einem Galeristen und guten Freund von Sasha schläft. Es kommt dennoch zu einem Kuss zwischen Jannis und Sasha. Dadurch entsteht ein kompliziertes Viereck aus Affären, das durch Anspannung, unterdrückte Gefühle, mangelnde Kommunikation, Drogen und zum Teil auch Gewalt geprägt ist.
Als Sasha während ihrer holprigen und wenig romantischen Affäre schwanger wird, gehen sowohl Janis und Sasha als auch Tim und Sophia eine feste Beziehung ein und ziehen in übereinander gelegene Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus in Berlin. Die Beziehung von Sasha und Jannis, die mehr aus einem Verantwortungsgefühl heraus als aus Zuneigung von den beiden aufgenommen wird steht von Beginn an unter einem schlechten Stern. Die einzige Verbindung, die die beiden haben, ist die Liebe zu ihrer Tochter. Doch so sehr sie ihre Tochter auch liebt, Sasha ist mit der Situation und ironischerweise mit dem Glück, das ihr Kind in ihr auslöst überfordert. Sie versucht, sich mit Drogen und durchfeierten Nächten abzulenken.
Währenddessen arbeitet Sasha weiter an ihren Kunstprojekten. Ihr Kunstmarkt, den sie in Tims Galerie eröffnen darf, besteht aus Attrappen von Alltagsgeschäften, in denen Sie Patenschaften für Obdachlose[1], ausgestopfte Tiere, selbstgeschriebene Briefe und Sterbeurkunden verkauft. Das Makabre und Provozierende, dass Sashas Projekten anhaftet, durchzieht nicht nur ihre Kunst. Die Grenzen zwischen ihrer künstlerischen Arbeit und ihrem Privatleben verschwimmen immer mehr. Das zeigt sich besonders, als der Kunstmarkt von Tim geschlossen wird und Sasha beginnt, die Kostüme, die sie dort getragen hat, auch zu Hause anzuziehen. Sie rutscht in eine anhaltende Depression. Nachdem Sie bemerkt, dass Ihre Tochter sich zwar nicht vor Ungeheuern oder den Löwen im Zoo, wohl aber vor den Verkleidungen ihrer Mutter – unter anderem eine blinde alte und eine junge krebskranke Frau – fürchtet, sticht sie mit einer Nagelfeile auf eine Frau ein, die in der Bahn neben ihr sitzt.
Als Sasha ein zweites Mal schwanger ist, versucht Jannis darin eine Chance zu sehen, doch sie selbst sieht es anders und geht ohne das Wissen von Jannis in eine Klinik und lässt eine Abtreibung vornehmen. Dazu kommt ein Schwimmunfall, durch den ihre Tochter ins Krankenhaus muss. Sasha leidet sehr darunter, dass sie sie nicht retten konnte und besucht sie nicht im Krankenhaus.
Erneut folgen der emotionalen Überforderung Gewaltausbrüche: Sascha sticht mit einer Nagelfeile auf Jannis ein und verübt nach der Abtreibung und dem Schwimmunfall ihren ersten Mord, indem sie eine obdachlose Frau vor einen Zug schubst: „Zuerst erfasste die Bahn den seidigen Stoff, der um ihren Oberkörper flatterte. Eine der Taschen flog hoch, prallte gegen die Scheibe und die ganzen Pet- Gasflaschen prasselten auf den Bahnsteig“ (S. 170).
Ihr mentaler Zustand alarmiert auch ihr Umfeld zunehmend. Obwohl sie sich zunächst dagegen wehrt, nimmt sie, noch bevor sie zu der Abtreibung in die Klinik geht, ein Aufenthaltsstipendium in China an. Während Jannis die Hoffnung äußert, dass der Auslandsaufenthalt ihr gut tun wird, tritt das Gegenteil ein – sie verwahrlost in dem für sie fremden Land weiter und setzt ihre Gewalttaten gegenüber Obdachlosen fort. Zwischendurch scheint es, als hätte sie ihren schlechten physischen und psychischen Zustand überwunden. Sasha beobachtet sich selbst, wie sie sich aufrafft und duschen geht, sie findet eine Katze und hat nicht das Bedürfnis diese zu töten, was sie als unweigerliches Zeichen sieht, dass sie genesen ist. Aber der Moment der Klarheit reicht lediglich aus, um die Heimreise anzutreten. Als sie vor dem Wohnhaus ihrer Familie in Berlin ankommt, schafft sie es nichthineinzugehen. sie steht vor den Klingelschildern, drückt zunächst den falschen Klingelknopf, versucht dann aber auch nicht den richtigen zu drücken. Sie fällt zurück in alte Verhaltensmuster und steigt in das Taxi, das sie gerade erst abgesetzt hatte. Sie lässt sich herumfahren, bis ihr eine Obdachlose ins Auge fällt, die droht zu stürzen. Daraufhin bittet sie den Taxifahrer, sie aussteigen zu lassen.
Sashas Geschichte wird nur bis zu einem gewissen Punkt linear erzählt: Der Roman beginnt mit einem Prolog, in dem Sascha eine Obdachlose in China tötet, während sie mit ihrer Tochter telefoniert.
„Ein dünnes, dunkles Rinnsal lief bis vor ihren gekrümmten Körper, der Geruch nach Kot, meine nackten Füße auf dem Asphalt, Dreck, Kaugummis, Scherben, und ein jähes Zurückweichen der feuchten Wärme: ein freier tiefer Atemzug, der erste seit Monaten. Ein Schwindel, als hätte ich mich überfressen an dem lauen Wind, der aufgekommen war.“ (S. 8)
Ein Prolog, der direkt zu Beginn verdeutlicht, welche Extreme in dem Roman vorkommen und der eine irritierende Wirkung erzeugt. Nach der Prolepse beginnt die Handlung 2001 in Berlin, in der Zeit, in der Sasha noch mit Mo liiert ist. Der Erzählstrang folgt zwar den Ereignissen, bis zum Jahr 2011, in dem Sascha nach China aufbricht, er wird jedoch durch Einblendungen der gewaltsamen und psychotischen Episoden während der Zeit in China durchbrochen, in denen sich der Zustand der Protagonistin laufend verschlechtert, und die ihren dunklen Schatten auch auf die vorhergegangenen Ereignisse werfen. Die Ereignisse zwischen 2001 bis 2011 werden parallel zu den Ereignissen in China beschrieben, bis Sasha 2012 nach Berlin zurückkehrt und das Buch endet.
Drastische Szenen wie im Prolog tauchen immer wieder im Roman auf. Je drastischer die beschriebenen Szenen, desto unaufgeregter scheint die Erzählweise Kutschkes. Auf detaillierte Beschreibungen brutaler Handlungen wird verzichtet, stattdessen regen Leerstellen die Fantasie der Leser*innen an. Durch die Beiläufigkeit der Formulierungen einerseits und die klare, in keiner Weise beschönigende Ausdrucksweise andererseits, schockiert das Gelesene umso mehr. Was wohl die Reaktion der Kritiker hervorruft, die dem Roman Effekthascherei und provokante Inszenierung zu Vermarktungszwecken vorwerfen. Ein solches Urteil übersieht jedoch die poetische Schichtung dieses Psychogramms, dessen lakonische Formulierungen die groteske Wirkung der entworfenen Bilder noch verstärken.
Diese grotesken Bilder sind es jedoch, die Svealena Kutschkes zweiten Roman zu einem Buch machen, das Themen wie Depressionen, das Nichthineinpassen in die Gesellschaft und das Scheitern an zwischenmenschlichen Beziehungen auf unverhohlene und unverblümte Weise verhandelt.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Kutschke, Svealena: Gefährliche Arten. Köln: Eichborn 2013.
Rezensionen
Koller, Catharina: Kein Entkommen aus der Ironie. In: www.zeit.de, 24.10.2013. [zu Gefährliche Arten]
[1] Sasha bezeichnet die Berliner Obdachlosen als „endangered Species“ (S. 38) und vergleicht Sie mit den Tieren im Zoo. Durch diesen Zusammenhang wird das Wortspiel im Titel des Romans noch deutlicher. Er lässt sich auf verschiedene Aspekte beziehen. Zum einen auf Sasha, die im Gegensatz zu einer gefährdeten Art eine gefährliche Art ist (sie bringt schließlich Obdachlose um), zum anderen lässt sich der Titel auf die Verhaltensweisen von Sasha und ihrer Mutter und den erwachsenen Figuren im Allgemeinen beziehen, die gefährliche (weil sowohl sich selbst als auch andere gefährdende) Arten an den Tag legen.