» Werkverzeichnis
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Vienna [ ↑ ]
Leseprobe
In ihrem 2005 erschienenen Debütroman Vienna umreißt Eva Menasse die Geschichten einer drei Generationen umfassenden Familie mit jüdisch-katholischen Wurzeln. Aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, die die jüngste Tochter ist und zunächst als „sachliche und selbst nicht involvierte Beobachterin“ (Prangel 2007, S. 190) dargestellt wird, sich jedoch zuletzt, in der Gegenwart der Erzählung angekommen, als Familienmitglied präsentiert und positioniert, wird die Geschichte der Wiener Familie vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bis hin zur Gegenwart rekonstruiert. Das Romangeschehen setzt mit der Geburt des Vaters ein, der gemeinsam mit seinem älteren Bruder 1938 von Wien aus nach London ins Exil geschickt wird, aufgrund dessen er seine Wurzeln zur Familie, zur heimischen Kultur und zur Religion verliert. Als er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurückkehren kann, hat er die deutsche Sprache beinahe verlernt, was gelegentlich an immer wiederkehrenden englischen Phrasen erkennbar ist. Nachdem sein fußballerisches Talent in England erkannt worden ist, etabliert sich der Vater in Österreich als ein erfolgreicher Fußballspieler. Sein älterer Bruder kämpfte bis zur Rückkehr in der britischen Armee in Burma, während die gemeinsame Schwester Katzi in Kanada an Tuberkulose stirbt. Ihr jüdischer Vater, der Großvater der Ich-Erzählerin, überlebt in Wien dank seiner deutsch-katholischen Frau. Das Besondere der Geschichtsrekonstruktion dieser Familie – in den 17 meistens chronologisch ablaufenden, jedoch mosaikartigen Kapiteln – ist der Versuch, diese anhand von einzelnen legendenhaft ausgeschmückten und immer wieder neuveränderten Anekdoten und Erfahrungen der Mitglieder und anderer Bekanntschaften, zu gestalten. Neben dem Vater und den anderen Überlebenden der ersten und zweiten Generation, spielt der Bruder der Erzählerin eine bedeutsame Rolle, der ebenfalls wie die Ich-Erzählerin im Namen der dritten Generation an der Aufklärung der Vergangenheit interessiert ist und sogar die NS behaftete Vergangenheit einer populären Figur im Roman enthüllt. Unter anderen mit diesen Themen greift der Roman die lange politische Diskussion der Vergangenheitsaufarbeitung Österreichs auf.
» Autor*innenstartseite
Thematische Aspekte zu Vienna [ ↑ ]
Identität
Das übergeordnete Thema, welches konstant in allen ihren Romanen und Kurzgeschichten präsent ist und unter das sich alle anderen thematischen Schwerpunkte subsumieren lassen, ist das der Identität. Eva Menasse geht in ihren Texten den Fragen nach, inwiefern eine einheitliche und stabile Identität überhaupt möglich ist (Quasikristalle), welche Bedingungen an eine Identitätssuche geknüpft sind, d. h. welche Parameter maßgeblich diese Konstruktion bestimmen (Vienna), in welchen Kontexten sich kollektive Identitäten bilden, inwiefern diese die individuelle Konstruktion beeinflussen (Vienna) und was möglicherweise Gründe und Erscheinungsformen von Identitätskrisen sind (Lässliche Todsünden). Die ausschlaggebenden Einflüsse sind Kultur, Religion und Familie, die jeweils aus einer ganz bestimmten Vergangenheit erwachsen sind und aus denen sich unterschiedliche Erinnerungsformen entwickeln. Der Roman, der sich am umfangreichsten und intensivsten mit diesem Themenkomplex auseinandersetzt, ist ihr Debüt Vienna. Dieses verhandelt ausführlich Grenzen und Möglichkeiten der Identitätsbildung; in erster Linie die jüdische Identitätsbildung der Mitglieder der dritten Generation, im Kontext der Vergangenheitsbewältigung/ -rekonstruktion der vorhergehenden Generationen. Erfahrungen und Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration werden nicht tradiert, sondern von diesen weitestgehend verdrängt oder zu Anekdoten und Legenden umformuliert, was dem gesellschaftlichen Phänomen der österreichischen Vergangenheitsbewältigung entspricht, welche sich in einem kollektiven Einverständnis des Verschweigens und Bagatellisierens äußert und zwar auch in der Gruppe des Holocaustopfers. Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit und die Wahrung einer schon längst verlorenen Familienidentität, führen zu persönlichen Konflikten in der Generation der Ich-Erzählerin. Diese zerstreitet sich in Vienna mit ihrer Familie an der identitätsstiftenden Frage nach der religiösen Zugehörigkeit, „denn in der dritten Nach-Holocaust Generation war ein eindeutiges Religionsbekenntnis wieder immens wichtig geworden“ (Menasse 2005, S. 371). Da nur der Großvater der Ich-Erzählerin jüdisch gewesen ist, jedoch nicht ihre Großmutter, weshalb sie nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, „keine Juden sein könnten […] Nicht einmal Halbjuden seien […], wenn der Vater schon keiner sei“ (ebd., S. 291), paraphrasiert die Ich-Erzählerin ihren aufgebrachten Bruder. Die Vettern hingegen sind Juden, da ihr Vater eine jüdische Frau heiratete. Wann also, so steht die Frage im Raum, ist man jüdisch? Entscheidet sich diese Frage nach der Matrilinearität – also dem jüdischen Gesetz – oder nach dem Verfolgtsein der Vorfahren zur Zeit des Zweiten Weltkrieges? Nach dem Tod des Großvaters kommt es zum Zerwürfnis zwischen den Geschwistern und Vettern; jene, die die jüdische Identität ihres Vaters, durch Einträge in der jüdischen Gemeinde verifiziert (ebd., S. 292), als rechtmäßig anerkennen und denen, die ihre Religionszugehörigkeit allein durch die Abstammung von ihrer jüdischen Mutter als gültig erachten. „[I]n der Tiefe dieses Problems schlummert die zwielichtige Idee vom Vollblutjuden, der bis heute dafür zu sorgen hat, sich und seine Identität ordentlich nachzuweisen“ (März 3.3.2005), unterstreicht Menasse in einem Gespräch mit Ursula März die Schwierigkeit der jüdischen Identitätsbildung, die in Vienna so weit geht, dass der Bruder einer Selbsthilfegruppe Namens „Mischlinge 2000“ (Menasse 2005, S. 307) beitritt. In dieser treffen sich Juden, die nach dem jüdischen Gesetz keine sind, sich jedoch als solche verstehen, um „über sich, über den Zwiespalt und die Zugehörigkeit [zu sprechen] oder darüber, ob man formell übertreten oder sich lieber mit den Gegebenheiten abfinden“ (ebd., S. 320) solle.
Vergangenheit und Erinnerungsformen
Maßgeblich für die Identitätskonstruktion ist der Umgang mit der Vergangenheit und die Art und Weise des Sich-Erinnerns. In Vienna versucht die Ich-Erzählerin der Vergangenheit der beiden vorhergehenden Generationen auf die Spur zu kommen, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse verschweigen oder in Anekdoten und Legenden transformieren. Diese Handlung wird im Roman als „Em-Em“, als „manisches Mythologisieren“ (Menasse 2005, S. 371), bezeichnet, das einen familiären Zusammenhalt dank „einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit“ (ebd., S. 372) suggeriert. Hinter dieser Oberflächlichkeit der „geschönten Anekdoten“ einerseits und „so auffälligeren Lücken andererseits“ (ebd., S. 391), wie der Bruder bemerkt, steht ein langer Akt des Schweigens und Vergessens. Dieser beginnt schon zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, wenn z. B. über den Umgang der Großmutter mit den damaligen Problemen berichtet wird: „Sie verschloss davor [vor der Welt] die Augen, ging ins Kaffeehaus und spielte Bridge“ (ebd., S. 9). Oder wenn Tante Gustl sich mit dem deutschnationalen Faschisten Dolly Konigsberger verheiratet und von da an grußlos an allen Familienmitgliedern vorbei geht. Gleichsam vergisst der Vater als Kind im englischen Exil die deutsche Sprache und beinahe seine Familie: „[m]anchmal dachte er mit schlechtem Gewissen und nur kurz daran, daß er sich an die Gesichter seiner Eltern kaum mehr erinnern konnte“ (ebd., S. 56). Auch später vergisst ihr Vater das meiste für viele Jahrzehnte, „manches auch für immer, denn mein Vater pflegte die weniger geglückten Dinge im Leben blitzschnell zu vergessen, oder er machte daraus einen geistreichen Witz“ (ebd., S. 23). Der Tod der Schwester Katzi in Kanada und viele weitere traumatische Erfahrungen werden im Text nur beiläufig angedeutet. Diese geschichtsvergessene Haltung, die als typisch für die erste und teilweise zweite Generation, gemessen am Zweiten Weltkrieg, erachtet wird, behindert eine Vergangenheitsbewältigung und wird schließlich mit der dritten, die in Vienna durch die Ich-Erzählerin und ihren Bruder repräsentiert wird, gebrochen. Jedoch zieht sich das Schweigen und Vergessen weit bis in die Gegenwart der Ich-Erzählerin, in der sowohl beim Tennisclub der „Schneuzl-Platz“ (ebd., S. 202), als auch in den Kaffeehäusern, Opfer und Täter einträchtig beieinandersitzen: „Und nachher haben sie alle wieder Bridge gespielt, als wäre nichts gewesen“ (ebd., S. 408). Im Sinne der Theorien der Postmemory und der transgenerativen Traumata, werden durch Verdrängen und Vergessenen traumatischer Erlebnisse diese an die nachfolgenden Generationen unbewusst weitergegeben. Gerade durch dieses wird ein gegenteilig erhofftes Verhalten bei der jüngeren Generation hervorgerufen: Sie beginnen sich für die verschwiegene Vergangenheit zu interessieren, weil sie diese als Grundmauern ihrer eigenen Identität benötigen. „Je mehr uns fehlt, desto mehr laufen wir dem Ganzen hinterher. Es ist furchtbar für Menschen, wenn sie nicht wissen, woher sie kommen. […] Man ist abhängig von seinen Vorfahren, die man u. U. nie kennengelernt hat. Der Mensch will wissen, wo er herkommt. Wir definieren uns über die Reihe. Und wo die Reihe gebrochen wird oder wo aus der Reihe ein Schweigetor herausragt, ist es extrem unbefriedigend und macht Angst. Das ist, als würde man in ein dunkles Loch hineinschauen“ (zit. n. Waldow 2011, S. 90), fasst Eva Menasse in einem Interview mit Stephanie Waldow zusammen. In genau dieser Situation befinden sich gut 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Ich-Erzählerin und ihr Bruder. Insbesondere der Bruder nimmt eine herausragende Position ein, wenn er urteilt: „‚Was aber ist unsere sogenannte Familiengeschichte?‘ […] unsere Familiengeschichte bestehe doch nur aus geschönten Anekdoten einerseits, aus um so auffälligeren Lücken andererseits. ‚Das bildet doch keinen Zusammenhalt […] das ist doch nur blödes Gerede‘“ (Menasse 2005, S. 391). Darüber hinaus beginnt er als Historiker aktiv die Vergangenheit aufzuarbeiten: „In diese Watte aus Harmonie und kleinem Glück, aus bescheidenem Erfolg und Geschichtsvergessenheit gepackt, konnte mein Bruder gar nicht anders, als zu rebellieren und todunglücklich zu sein. […] [M]ein Bruder wälzte mit seinen Freunden politische Ideen, deren zentraler Gedanke die Veränderung von allem war“ (ebd., S. 189f.). In Vienna lässt der Bruder den hochgeschätzten Präsidenten des Skiverbandes posthum als Kriegsverbrecher auffliegen: „Der Großteil der Österreicher hatte zu diesem Zeitpunkt vergessen, daß es je einen Krieg gegeben hatte, von irgendwelchen Verbrechen ganz zu schweigen“ (ebd., S. 298f.). Die Ich-Erzählerin verknüpft mit ihrer Bewertung: „Es war das Präludium zu Waldheim“ (ebd., S. 296), das Romangeschehen mit der jüngeren Vergangenheit Österreichs als geschichtsvergessenes Volk, das durch die Waldheim-Affäre in seiner Opferrolle desillusioniert wurde. Die kollektiven Verdrängungsmechanismen werden an der Figur des Bruders sichtbar und damit der Prozess einer unverstellten Vergangenheitsbewältigung in Gang gesetzt. Die individuelle Problematik einer solchen Verdrängung wurde weiter oben bereits an dieser Figur näher erläutert. Die Ich-Erzählerin findet eine andere Form der Vergangenheitsrekonstruktion, die sie für ihre Identitätsbildung benötigt: das literarische Erzählen. Durch das kritische Sammeln und Aufschreiben, das Ergänzen durch Recherche und das Fiktionalisieren von Einzelheiten, gelangt sie zu einer Klarheit, die Menasse auf ihre eigene Romanproduktion überträgt: „und natürlich kommt man auf diese Weise zu übergeordneten Wahrheiten. […] Manche Dinge sind mir klarer geworden durch den Akt des Erfindens. Ich habe etwas weitergedacht, weiterfantasiert, wie es gewesen sein könnte, wo das eine Faktum hingeführt haben könnte – und komme dabei auf etwas, was für mehr Leute gilt als nur für meine Familie“ (zit. n. Waldow 2011, S. 87f.). Das Lückenschließen durch Fiktionalisierung, ist eine mögliche Erinnerungsform, die eine grundlegende Klarheit zur Identitätsbildung ermöglicht; für sich und auch für andere.
Politisches Engagement
Die politische Dimension in Menasses literarischen Arbeiten wird insbesondere an der Figur des Bruders in Vienna deutlich, der als Historiker einen Artikel verfasst, der die Debatte um österreichische Kriegsverbrechen entfacht und das Land aus dem Versteck der Opferposition stößt. Nun steht die Frage im Raum, ob Österreich sich wirklich ausschließlich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands betrachten darf, oder ob dies nicht eine einseitige und verfälschte Sicht der österreichischen Vergangenheit ist.
» Autor*innenstartseite
Formale Aspekte zu Vienna [ ↑ ]
Autobiografische Elemente
Immer wieder stößt man auf Figurenkonstellationen, Ereignisse oder Handlungen in Eva Menasses Romanen und Erzählungen, die keiner großen Recherche bedürfen, um sie mit ihrer eigenen Biografie in Verbindung zu setzen. Insbesondere werden Vienna viele autobiografische Züge zugeschrieben. Zum einen mahnt die Autorin, den Roman nicht als Schlüsselroman zu lesen, zum anderen gibt sie in Interviews häufig an, dass sie die Grundkonstellation der eigenen Familie übertragen habe und darüber hinaus „viele markante Zitate und exotische Biographien […] authentisch [sind] und aus vielen Interviews, die ich mit meiner Familie und anderen Zeitzeugen gemacht habe“ (zit. n. Loch 10.3.2005) stammen, so Eva Menasse in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen. In der Tat ähneln insbesondere die Figuren des Vaters und des Bruders in ihrem Debütroman sehr stark ihrem realen Vater Hans und ihrem Stiefbruder Robert Menasse. Das könnte vor allem an ihrem zugrundeliegenden privaten Interesse liegen, der Geschichte ihrer Familie durch Sammeln von Fakten auf den Grund zu gehen und ihr erst später deutlich wurde, dass sie aus diesem Material keine Chronik, aber einen Roman schreiben könne (vgl. Prangel 2007, S. 186).
Assoziierendes Erzählen
Die äußerst komplexe Struktur der beiden Romane Vienna und Quasikristalle wird zum großen Teil durch eine nicht lineare und episodische Erzählweise generiert. Es wird zwar in Vienna ein zeitlicher Rahmen mit der Geburt des Vaters und der Beerdigung des Großvaters gesteckt, es findet jedoch kein chronologisches Erzählen statt. Die Handlung wird fragmentarisch erzählt, immer wieder durch Erinnerungen an eine Geschichte unterbrochen, die die Handlung assoziativ zunächst weit abtreiben lässt. Jedoch wird auf diese Weise eine komplexe Textwelt entworfen, in der auf der einen Seite einzelne Geschichten für sich stehen können, auf der anderen Seite in der Summe ein in diesem Rahmen mögliches Familienportrait bilden. Diese Vorgehensweise liegt in zweierlei begründet, zum einen in der Perspektive der Ich-Erzählerin, als jüngster Tochter, die zunächst als eine Beobachterin, intradiegetisch und extradiegetisch zugleich erscheint und sich erst ganz zum Schluss auf der Beerdigung des Großvaters handelnd einbringt. Die Handlungsstränge werden aus der Perspektive der Ich-Erzählerin gesponnen, die sich assoziativ, durch ihre Erinnerungen gelenkt, von einer Geschichte zur nächsten begibt. Sie ist durch ihre beobachtende Haltung zum einen Leerstelle und zum anderen ist sie der „[genealogische] Knotenpunkt“ (Prangel 2007, S. 189).
Als Exkurs sei an dieser Stelle, die besondere Rolle der Ich-Perspektive in Menasses Romanen und Erzählungen genannt, über die Menasse in einem Interview mit Matthias Prangel selber sagt, dass es das Schwierigste überhaupt sei aus dem Ich zu schreiben, „weil man, wo man ich [kursiv im Text] sagt, beim Schreiben dazu neigt, das Ich des Buches mit dem eigenen Ich zu verwechseln“ (ebd.). Zu Vienna im speziellen ergänzt sie: „Mich hat die Idee gereizt, einen Roman zu schreiben, in dem das Ich ganz anders als sonst funktioniert. Eben nicht als so eine Art selbstgespiegelte Instanz. Zweitens ist es auch, ganz pragmatisch gesehen, eine Methode, einen Familienroman zu fiktivieren“ (ebd.). Neben der Ich-Perspektive begründet sich die fragmentarische Romankonstruktion in einzelnen Geschichten im besonderen Umgang mit dem zentralen Thema der Geschichtsrekonstruktion, das in der Familie ausschließlich über das Erzählen von Legenden und Anekdoten funktioniert, denn immer „wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden“ (Menasse 2005, S. 371f.), entsteht ein kollektives aber prekäres Familiengedächtnis, ein „Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit“ (ebd.).
Leichter, humorvoller Ton
In einem eher heiteren und ironischen Ton erzählt die Ich-Erzählerin in Vienna über ihre Familie und deren in Anekdoten und Legenden verpackte Vergangenheit. In ihrer Familie ist eine Erzählung nur etwas wert, „wenn man [sie] zu einer Geschichte mit einer Pointe machen konnte“ (Menasse 2005, S. 389). Auf diese Weise werden alle Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit humorvoll zugespitzt, obwohl es sich keineswegs um amüsante Erlebnisse handelt. Dieser Ton in Vienna verfolgt zweierlei Funktionen: Zum einen verdeutlicht es die Verdrängungsmechanismen, denn das Auslassen und humorvolle Überschreiben sind eine Art „Schutzmechanismus. Die Erzählerin, der Bruder und die Vettern kommen dahinter, dass das Wegwitzeln der schlimmen Vergangenheit dazu dienen kann, an die Wunden nicht zu rühren“ (Prangel 2007, S. 197). Aus diesem Verhalten sei auch der jüdische Humor entstanden, denn „[E]r ist das Resultat von jahrtausendelanger Verfolgung und Mord und Todschlag“ (ebd., S. 197f.). Zum anderen ist es eine ästhetische Strategie, die dazu dienen soll, die Ernsthaftigkeit von bestimmten Begebenheiten besonders hervorzuheben. Beispielhaft berichtet Eva Menasse in ihrem Interview mit Stephanie Waldow, dass, nachdem sie auf Lesungen den heiteren Beginn des Romans vorgelesen hatte, die Stimmung plötzlich ins Betroffene und Ernsthafte umschlug, wenn sie den Satz über den Großvater vorlas: „Mehr sagte er nicht, denn er sprach nicht gern über die Tante Gustl, nachdem sie in der Nazizeit einmal grußlos an ihm vorübergegangen war. Dabei soll das goldene Kreuz auf ihrer Brust gut sichtbar gewesen sein, hieß es in meiner Familie später“ (Menasse 2005, S. 16 vgl. Waldow 2011, S. 92).
Titelwahl
Es wäre nicht der Rede wert, wenn Eva Menasses Wahl der Titel den üblichen Kriterien entspräche, den Inhalt und das zentrale Thema kurz und prägnant wiederzugeben, da die Titelwahl ihrer Romane und Erzählungen über die reine Repräsentanz hinausgehen und darüber hinaus einen weiteren interpretatorischen Aspekt eröffnen. Der Titel Vienna ist dahingehend auffallend, dass die Stadt, in der die meiste Handlung spielt, nicht mit der schnell nachvollziehbaren deutschsprachigen, sondern mit der englischsprachigen Bezeichnung gewählt wurde. Selbstverständlich dient es zum einen als Marker des Handlungsortes, jedoch ermöglichst es durch die Wahl des englischen Begriffs gleichsam eine Referenz zum Exilaufenthalt des Vaters und Onkels. Durch diese traumatische Erfahrung wird der eigentliche Heimatort fremd und selbst die Muttersprache und die Erinnerung an die eigene Familie gehen dem Vater während der neun Jahre in England verloren. Dass Wien im Titel zu Vienna wird, markiert Distanz und Verlust der Heimat (vgl. dazu auch Freytag 2007, S. 122.)
» Autor*innenstartseite
Pressespiegel zu Vienna [ ↑ ]
Menasses erster Roman Vienna wird überwiegend positiv in der deutschsprachigen Presselandschaft aufgenommen und häufig als „ein herausragendes literarisches Debüt“ bezeichnet, so zum Beispiel Ulrich Steinmetzger (NRZ, 8.3.2005). Jedoch gibt es auch eine Reihe zu bemängelnder Aspekte, wie später zu sehen sein wird. Die thematische Wahl betreffend, finden es die meisten Rezensenten bemerkenswert, dass Eva Menasse es schafft, die gewaltigen Umbrüche des 20. Jahrhunderts anhand einer Familie unterschiedlichster Figuren darzustellen. Dabei wird insbesondere ihre Erzählweise hervorgehoben, die als „gewandt und mit schöner Leichtigkeit“, unter anderem von Wolfgang Paterno (Profil, 14.2.2005), beschrieben wird. In der Süddeutschen Zeitung lobt Kristina Maidt-Zinke ebenfalls „ihre solide, durch den gehobenen Journalismus geprägte Erzähltechnik“, mit der sie „sich von einem Großteil der weiblichen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wohltuend“ (2.3.2005) abhebt. Zur Besonderheit des Erzählens gehört, dass Vienna schier platze „vor Schmäh und Pointen, vor Jargons und Redensarten“ (März, Die Zeit, 3.3.2005) und es genau genommen aus nichts anderem bestehe als Anekdoten. Gerade deswegen hebe sich das Tragische besonders durch die Kürze seiner Darstellung ab, was auch Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als eine herausragende Stärke des Romans beschreibt: „Das ist die Kunst der Erzählerin Eva Menasse. Das Schweigen im rechten Moment. Plötzlich ist eben einfach Schluß mit Anekdotenreigen“ (20.2.2005). Schlussendlich sieht er jedoch in der Aneinanderreihung der Anekdoten die Gefahr der Zusammenhangslosigkeit: „Sie wirft Anekdote an Anekdote in die Luft und läßt sie selig flattern. Das ist manchmal etwas zu viel. Und man fragt sich, was sie umkreisen, die Geschichten“, was auch einige andere Rezensenten bemängeln. Auch Wolfgang Paterno merkt im oben genannten Artikel im Profil an, dass die Ereignisse „sich nicht zum großen Ganzen“ (Profil, 14.2.2005) verdichten und kritisiert darüber hinaus das zu statische und gleichförmige Erzählen, denn die Erzählungen der Figuren folgen in immer wiederkehrender Reihenfolge. Wie auch die meisten anderen Rezensenten stellt Paterno ebenfalls die Frage nach den autobiografischen Zügen der Geschichte und beschreibt, ausgehend vom Entstehungsprozess, die Parallelen der Familie Menasse zu der des Romans.
Einen durchweg negativ kritisierenden Artikel verfasst Christoph Kletzer in Der Standard, in dem er ebenfalls die Zusammenhangslosigkeit des Geschehens anmerkt und die Figur des Bruder als „die einzige Figur, die wirklich am Leben zu sein scheint und nicht bloß hinerzählt“ (26.2.2005) beschreibt. Im Gegensatz zu den anderen Rezensenten empfindet er die Erzählposition als eine „[unaufmerksame] Übereiltheit“ und vermisst Menasses „kantigen, scharfsinnigen, bisweilen literarischen Stil“ ihres Feuilletons. Er schreibt dem Roman sogar sein großes Anliegen des Erinnerns durch Erzählen ab, wenn er sagt: „Es wird Vergangenes für Vergangene erzählt und über weite Strecken Erinnerung mit Sentimentalität verwechselt“.
» Autor*innenstartseite
Forschungsspiegel zu Vienna [ ↑ ]
Die Forschungsliteratur zum bisherigen Werk Eva Menasses ist im Gegensatz zum Pressespiegel recht überschaubar. Alle erschienen Beiträge setzen sich mit ihrem Debütroman Vienna und seiner Themenvielfalt hinsichtlich der Möglichkeiten einer jüdischen Identitätsbildung und der Konstruktion eines kollektiven Familiengedächtnisses im Kontext transgenerativer Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur auseinander. Darüber hinaus gibt es zwei umfangreiche Interviews, die zusätzlich die Entstehung des Werkes und das literarische Selbstverständnis der Autorin beleuchten.
Vergangenheitsbewältigung
Alle Artikel untersuchen die in Vienna behandelten Umgangsformen der Vergangenheitsbewältigung, die sich über die Generationen hinweg verändert. Dezidiert widmet sich Eva Bauer Lucca einer generationsabhängigen Darstellung der Formen der Vergangenheitsbewältigung. „Die Erste Generation hat […] wenig dazu geschrieben“ (Bauer Lucca 2008, S. 112). Im Zentrum stand einzig der Gedanke des „nie wieder“ (ebd.), das sich in einem stillen Wunsch äußerte und durch ein schweigendes Verdrängen gekennzeichnet ist. Ebenso übergeht die zweite Generation das Thema und durchbricht „innerfamiliäre Schweigebarriere“ (ebd. 113) nicht. Erst mit einem Umbruch der internationalen Politik ab den 1970er Jahren begann eine Kultur des Schuldeingeständnisses auf nationaler und gesellschaftlicher Ebene. Ein damit einhergehender Bruch zwischen der zweiten und dritten Generation führt zu einem Paradigmenwechsel in der Vergangenheitsbewältigung und richtet sich nun mehr an „den persönlichen Umkreis, an die Generation der eigenen Eltern und Großeltern“ (ebd.) und führt damit zu einer individuellen Schuldfrage. Die gegenwärtigen literarischen Arbeiten sind damit Ergebnisse einer individuellen Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit, die sich auf keine eigenen Erfahrungen stützen, sondern sich über Erzählungen und Dokumente zur eigenen Betroffenheit „durcharbeiten“ (ebd. S. 114) müssen.
Alle Aufsätze arbeiten den Prozess der Vergangenheitsbewältigung heraus. Dabei sind in Vienna nicht nur das Schweigen, sondern ebenfalls das Umdeuten und Beschönigen weitere Handlungen der Vergangenheitskonstruktion, wie z. B. Martina Hamidouche an der Diskussion der Geschwister mit den Eltern über den Verlust der Wohnung der Großeltern festhält. Der bekannte Hermann-Pepi annektierte als Nationalsozialist die Wohnung der Großeltern: „ ‚Ich verstehe das nicht‘, sagte meine Schwester […] ‚es war doch eure Wohnung.‘ […] Mein Vater sagte versonnen: ‚Der Opa hat den Hermann-Pepi so bewundert – und er war ja wirklich ein fabelhafter Spieler.‘ Meine Mutter sagte verständnisvoll: ‚Der Opa hat nicht gewußt, ob er sich die Wohnung noch leisten kann.‘ ‚Genau‘, ereiferte sich mein Vater, ‚was hat es für einen Sinn, eine Wohnung zurückzufordern, die man sich dann gar nicht leisten kann?“ (Menasse 2005, S. 99f.), woraufhin der Bruder empört und verständnislos den Raum verlässt. Traumatische Erfahrungen werden also so umgedeutet, dass sie nachvollziehbar und damit nicht belastend erscheinen. Zusätzlich werden, wie oben ausführlich beschrieben, Erlebnisse in Legenden und Anekdoten formuliert, was wiederum als Schutzmechanismus gedeutet werden kann. Jedoch bewirkt das Verschweigen eine entgegengesetze Haltung: „The more the members of the first and second generation try to conceal the family’s past from their children and grandchildren, the more eagerly the latter want to find out about it” (Hamidouche 2011, S. 190). Unterstützt wird dieser Gedanke durch Marianne Hirschs Theorie der Postmemory, nach der Traumata der vorhergehenden Genration, die sich noch vor der Geburt der Kinder ereigneten, trotzdem die Entwicklung und Identitätskonstruktion der nachfolgenden Generationen beeinflussen. Diese können jedoch nur durch Erzählungen und Dokumente weitergegeben werden und werden daher zusätzlich durch einen kreativen Akt des Subjekts erschlossen (vgl. ebd. S. 195 und Seemann 2013, S. 37). Vergangenheitsrekonstruktion wird damit zum Teil zu einer kreativen Handlung, die die nicht erzählten oder unsagbaren Lücken zur Bildung der eigenen Identität zu schließen versuchen. Diesen Prozess beschreibt Menasse ebenfalls in einem Interview mit Stephanie Waldow: „Ich habe diese Recherche ursprünglich unternommen im Hinblick auf eine Klarheit über meine Familiengeschichte. Zu dieser Klarheit ist es nicht gekommen und also musste ich fiktionalisieren. Das war meine einzige Möglichkeit – und natürlich kommt man auf diese Weise zu übergeordneten Wahrheiten“ (Waldow 2011, S. 87).
Einen besonderen Aspekt der Erinnerungsform arbeitet Goran Lovric heraus, der die Orte und Räume in Vienna untersucht und diese als Mittel zur Vergangenheitsrekonstruktion analysiert. Zunächst beschreibt er die unterschiedlichen Funktionen des erzählten Raums, der immer im Akt der Bedeutungszuschreibung von Autor und Rezipienten entsteht und die Charaktereigenschaften einer Figur beeinflusst. Darüber hinaus hat die Raumdarstellung als bewusste Gestaltung ein Erinnerungspotential, das gleichzeitig zur Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses beiträgt. In seiner Analyse hält er fest: „Wien erscheint dabei als realer geschichtlicher Hintergrund in Form von symbolträchtigen Schauplätzen, die viel über die gesellschaftliche Stellung der Wiener Juden in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg aussagen“ (Lovric 2012, S. 132f.). Dies verdeutlicht er an den Wiener Institutionen (Kaffeehäusern) und insbesondere am fiktiven Tennisplatz Schneutzel-Platz, „der als Symbol für Wien und ganz Österreich dient“ (ebd. S. 135), weil in diesem die fehlende Vergangenheitsarbeit, deren Folgen der Untergang des Tennisvereins ist, verdeutlicht wird.
Identität
Ausgehend von der gerade dargestellten Vergangenheitsbewältigung in den verschiedenen Erinnerungsformen eröffnen die Aufsätze die Schwierigkeiten einer Identitätsbildung. Alle Aufsätze zu Vienna beschreiben die oben bereits ausführlich behandelte Problematik der religiösen Identitätsbildung der jüngsten Generation, die durch das Leugnen oder Verdrängen der jüdischen Identität der Elterngeneration schließlich in einem familienzerstörenden Streit auseinandergeht.
Darüber hinaus beschreibt Marja-Leena Hakkarainen in ihrem Aufsatz die Entstehung neuer Transnationalitäten, die durch die Zerstreuung der ersten und zweiten Generation und ihrer erneuten Zusammenkunft in Wien bedingt ist. Nicht nur, dass Vater und Onkel nach ihrem langen Aufenthalt in England ihre Wurzeln zum Judentum und zu ihrer Heimat verlieren, sondern nach dem Krieg auch mehrmals Frauen anderer Nationalitäten und Religionen heiraten: „In Menasse’s family saga several new patterns of ethnic mixing emerge after the war. The uncle and the father of the narrator marry and remarry English, Polish and Austrian women, so that there is soon a mixture of Jews, Catholics and Protestants in the family” (Hakkarainen 2011, S. 474). Darüber hinaus widmen sie sich Beschäftigungen mit transnationalem Charakter und begeben sich häufig, gezwungen oder ungezwungen, auf internationale Reisen. Dies kennzeichnet ihre multikulturelle Identität bei gleichzeitiger Isolation von der österreichischen Identität (vgl. ebd. S. 475f.).
Martina Hamidouche versucht die individuelle Identitätsproblematik auf ein allgemeingültigeres Niveau zu heben und sie repräsentativ für die Illusion einer österreichischen Identität zu betrachten: „Menasse shows in Vienna that Austrian identity – and this includes Austrian-Jewish-identity – is an imaginary, unstable construction“ (Hamidouche 2011, S. 196f.). Österreich ist ein zu komplexes Bild aus unterschiedlich konstituierten Gruppen verschiedener Nationalitäten und Religionen, die jeweils eine andere Perspektive, als Opfer, Täter oder Zuschauer auf die Vergangenheit haben. Damit ist eine eindeutige Zuschreibung einer nationalen Identität unmöglich: „Das Buch versucht auch zu erklären, dass das, was im 20. Jahrhundert passiert ist, dass der Holocaust nicht nur zwei Sorten von Menschen hervorgebracht hat, nämlich Opfer und Täter, sondern im Gegenteil zu einer fürchterlichen Verwirrung […] geführt hat“, beschreibt Eva Menasse ihre Intention (Prangel 2007, S. 192).
Gattungsdiskurs
Vienna reiht sich in das boomende Genre der deutschen Gegenwartsliteratur, der Familienromane, ein, so Daphne Seemann, was sie mit dem Generationsbruch der dritten von der zweiten begründet, die Erfahrungen und Erinnerungen der Vergangenheit in das kulturelle Gedächtnis übersetzen wollen (vgl. Seemann 2013, S. 36). Eva Menasse wird in diesem Zusammenhang häufig mit anderen Autoren/innen wie Arno Geiger (Es geht uns gut, vgl. ebd. S. 38 oder Freytag 2007) oder Viola Roggenkamp (Familienleben, vgl. Bauer-Lucca 2008) gelesen, die den gleichen Zugang über den Familienroman wählen, um thematisch verwandte Aspekte zu untersuchen. Die AutorInnen gehen in ihren Romanen der Herkunft und den Erinnerungen ihrer Vorfahren nach, wobei die signifikantesten Kriterien dieser Gattung die Vermischung der Grenzen von Fakten und Fiktion und dokumentarischem und erzählendem Stil sind (vgl. Seemann 2013, S. 36). Mittels des Begriffes der Postmemory (n. Marianne Hirsch) und der psychoanalytischen Bedeutung des Terminus Familienroman wäre es zu diskutieren, ob der Familienroman als ein Versuch der imaginierten Rückgewinnung verlorener Familientradition bezeichnet werden kann: „Arguably, the re-imagination of a lost family tradition in contemporary narratives can be characterised as an emphatic attempt of imaginative recuperation“ (ebd. S. 39). Die Ich-Erzählerin erfüllt alle notwendigen Voraussetzungen einer emotionalen Verwicklung und der zeitlichen Distanz zur traumatischen Vergangenheit. Sie bleibt zudem nicht nur bei einer reinen Rekonstruktion stehen, sondern erkennt darüber hinaus die Notwendigkeit der Distanzierung zu den eigenen Familiengeschichten, um die traumatische Vergangenheit bewältigen zu können (vgl. ebd. S. 45).
Genderdiskurs
Einen kurzen Ausblick hinsichtlich des Genderdiskurses gibt Daphne Seemann in ihrem gerade erwähnten Aufsatz, in dem sie der Ich-Erzählerin eine zweifache Überwindung der belastenden Vergangenheit zuschreibt: Zum einen die bereits häufig angesprochenen traumatischen Erfahrungen der beiden vorhergehenden Generationen im Zweiten Weltkrieg zum anderen aber auch das sehr einseitig männerdominierte Rollenverständnis ihrer Familie. Vienna ist eine Geschichte, in der die Erfahrungen der Männerfiguren (Großvater, Vater und Onkel, Bruder und die beiden Vettern) mythisiert im Mittelpunkt der Handlung stehen. „Women’s experiences are mere sideanecdotes to these grand generational narratives” (Seemann 2013, S. 47). Dies beschreibt auch Marja-Leena Hakkarainen in ihrem Aufsatz, wenn sie den männlichen Figuren eine geschichtskonstruierende Funktion zuschreibt, wohingegen die Frauenfiguren die passive Rolle der Zuhörerinnen übernehmen: „The memorializing in Vienna is to a great extent gendered in so far it is the task of male members to tell stories and crack jokes, whereas the women are regarded as an audience“ (Hakkarainen 2011, S. 481). Darüber hinaus schreibt Daphne Seemann der Familie bis in die zweite Generation die typisch bürgerliche Rollenverteilung zu, die beinhaltet, dass die Männerfiguren dominant den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, mehr oder weniger um die finanzielle Sicherheit bemüht sind und die Familie insgesamt nach außen repräsentieren, wohingegen die Frauenfiguren die häusliche Sphäre umsorgen, sich um die Erziehung der Kinder und um die finanzielle Situation des Haushalts kümmern. Die Konsequenzen dieses Rollenbildes beschreibt sie folgendermaßen: „Menasse’s male characters generally display their light-hearted and carefree spirits while female characters turn into deeply frustrated, disappointed and betrayed wives“ (ebd. S. 48). Erst im letzten Kapitel, der Beerdigung des Großvaters, tritt die Ich-Erzählerin aus ihrer Rolle der objektiven Beobachterin heraus und involviert sich in die Handlung. Der Tod des Großvaters und die sich damit abschließende „übermächtige, weil unvollständige Lebensgeschichte“ (Menasse 2005, S. 388f.) befähigt sie, die traumatische Familiengeschichte und das damit einhergehende Rollenverständnis zu überwinden, ohne ihre Herkunft in einem schlechten Licht dastehen zulassen: „Her ultimate emancipation from a traumatically charged family narrative is not performed with bitter antagonism but with loving empathy“ (Seemann 2013, S. 49) schließt Seemann ihre Überlegungen ab.
» Autor*innenstartseite