Charakteristika des Werks

Der Holocaust vor Gericht

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der Holocaust vor Gericht [ ↑ ]
Der Holocaust vor Gericht ist Eva Menasses erstes allein publiziertes Buch, in dem sie ihre Aufzeichnungen, Recherchen und Erfahrungen rund um den in London geführten Prozess des Holocaust-Leugners David Irving gegen die Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt dokumentiert. Um das Zentrum, die Schilderung des Prozesses, führt die Autorin viele ausführliche Informationen zur Besonderheit des britischen Rechts hinsichtlich Verleumdungsklagen an, erstellt eingangs ausführliche Kurzbiografien des Klägers Irving und der wegen Verleumdung angeklagten Deborah Lipstadt, berichtet über die Umstände der Vorgeschichte des Prozess und fügt ebenfalls schlaglichtartig Informationen zu angehörten Zeugen an. Die Verhandlung selbst wird zum einen sachlich anhand der Hauptargumente der streitenden Parteien geschildert, zum anderen aber mit launischen Details und zum Teil szenisch wirkenden Beschreibungen ausgeschmückt: „1. Februar 2000. Am 13. Tag wurde im Gerichtssaal wieder mit Leichen geschachert, bloß waren diesmal die Rollen anders verteilt. Es ging um ‚Der Untergang Dresdens‘, Irvings 1963 veröffentlichtes erstes Buch, das sofort zum Bestseller geworden war und ihm finanziell erlaubte, auf seinen Studienabschluss zu verzichten“ (Menasse 2000, S. 105).
In seinem Urteil hält der Richter fest, dass der Kläger „ein Rassist, ein Antisemit, ein Holocaust-Leugner und absichtlicher Fälscher historischer Fakten ist“ (ebd., S. 157). Menasse portraitiert David Irving als „Advocatus Diaboli“ (ebd., S. 20), der im Laufe des Verfahrens als Historiker, als Intellektueller und auch als Person demontiert wird. Dies geschieht nicht zuletzt auf einem hohen sprachlichen Niveau und einem Stil zwischen sachlichem Berichten und spannungsaufbauendem Erzählen, so dass hier bereits ihre oben angesprochene Doppelrolle als streitbare Grenzgängerin zwischen Journalismus und Autorenschaft zu erkennen ist.

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Vienna

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Vienna [ ↑ ]
Leseprobe
In ihrem 2005 erschienenen Debütroman Vienna umreißt Eva Menasse die Geschichten einer drei Generationen umfassenden Familie mit jüdisch-katholischen Wurzeln. Aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, die die jüngste Tochter ist und zunächst als „sachliche und selbst nicht involvierte Beobachterin“ (Prangel 2007, S. 190) dargestellt wird, sich jedoch zuletzt, in der Gegenwart der Erzählung angekommen, als Familienmitglied präsentiert und positioniert, wird die Geschichte der Wiener Familie vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bis hin zur Gegenwart rekonstruiert. Das Romangeschehen setzt mit der Geburt des Vaters ein, der gemeinsam mit seinem älteren Bruder 1938 von Wien aus nach London ins Exil geschickt wird, aufgrund dessen er seine Wurzeln zur Familie, zur heimischen Kultur und zur Religion verliert. Als er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurückkehren kann, hat er die deutsche Sprache beinahe verlernt, was gelegentlich an immer wiederkehrenden englischen Phrasen erkennbar ist. Nachdem sein fußballerisches Talent in England erkannt worden ist, etabliert sich der Vater in Österreich als ein erfolgreicher Fußballspieler. Sein älterer Bruder kämpfte bis zur Rückkehr in der britischen Armee in Burma, während die gemeinsame Schwester Katzi in Kanada an Tuberkulose stirbt. Ihr jüdischer Vater, der Großvater der Ich-Erzählerin, überlebt in Wien dank seiner deutsch-katholischen Frau. Das Besondere der Geschichtsrekonstruktion dieser Familie – in den 17 meistens chronologisch ablaufenden, jedoch mosaikartigen Kapiteln – ist der Versuch, diese anhand von einzelnen legendenhaft ausgeschmückten und immer wieder neuveränderten Anekdoten und Erfahrungen der Mitglieder und anderer Bekanntschaften, zu gestalten. Neben dem Vater und den anderen Überlebenden der ersten und zweiten Generation, spielt der Bruder der Erzählerin eine bedeutsame Rolle, der ebenfalls wie die Ich-Erzählerin im Namen der dritten Generation an der Aufklärung der Vergangenheit interessiert ist und sogar die NS behaftete Vergangenheit einer populären Figur im Roman enthüllt. Unter anderen mit diesen Themen greift der Roman die lange politische Diskussion der Vergangenheitsaufarbeitung Österreichs auf.

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Thematische Aspekte zu Vienna [ ↑ ]

Identität
Das übergeordnete Thema, welches konstant in allen ihren Romanen und Kurzgeschichten präsent ist und unter das sich alle anderen thematischen Schwerpunkte subsumieren lassen, ist das der Identität. Eva Menasse geht in ihren Texten den Fragen nach, inwiefern eine einheitliche und stabile Identität überhaupt möglich ist (Quasikristalle), welche Bedingungen an eine Identitätssuche geknüpft sind, d. h. welche Parameter maßgeblich diese Konstruktion bestimmen (Vienna), in welchen Kontexten sich kollektive Identitäten bilden, inwiefern diese die individuelle Konstruktion beeinflussen (Vienna) und was möglicherweise Gründe und Erscheinungsformen von Identitätskrisen sind (Lässliche Todsünden). Die ausschlaggebenden Einflüsse sind Kultur, Religion und Familie, die jeweils aus einer ganz bestimmten Vergangenheit erwachsen sind und aus denen sich unterschiedliche Erinnerungsformen entwickeln. Der Roman, der sich am umfangreichsten und intensivsten mit diesem Themenkomplex auseinandersetzt, ist ihr Debüt Vienna.  Dieses verhandelt ausführlich Grenzen und Möglichkeiten der Identitätsbildung; in erster Linie die jüdische Identitätsbildung der Mitglieder der dritten Generation, im Kontext der Vergangenheitsbewältigung/ -rekonstruktion der vorhergehenden Generationen. Erfahrungen und Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration werden nicht tradiert, sondern von diesen weitestgehend verdrängt oder zu Anekdoten und Legenden umformuliert, was dem gesellschaftlichen Phänomen der österreichischen Vergangenheitsbewältigung entspricht, welche sich in einem kollektiven Einverständnis des Verschweigens und Bagatellisierens äußert und zwar auch in der Gruppe des Holocaustopfers. Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit und die Wahrung einer schon längst verlorenen Familienidentität, führen zu persönlichen Konflikten in der Generation der Ich-Erzählerin. Diese zerstreitet sich in Vienna mit ihrer Familie an der identitätsstiftenden Frage nach der religiösen Zugehörigkeit, „denn in der dritten Nach-Holocaust Generation war ein eindeutiges Religionsbekenntnis wieder immens wichtig geworden“ (Menasse 2005, S. 371). Da nur der Großvater der Ich-Erzählerin jüdisch gewesen ist, jedoch nicht ihre Großmutter, weshalb sie nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, „keine Juden sein könnten […] Nicht einmal Halbjuden seien […], wenn der Vater schon keiner sei“ (ebd., S. 291), paraphrasiert die Ich-Erzählerin ihren aufgebrachten Bruder. Die Vettern hingegen sind Juden, da ihr Vater eine jüdische Frau heiratete. Wann also, so steht die Frage im Raum, ist man jüdisch? Entscheidet sich diese Frage nach der Matrilinearität – also dem jüdischen Gesetz – oder nach dem Verfolgtsein der Vorfahren zur Zeit des Zweiten Weltkrieges? Nach dem Tod des Großvaters kommt es zum Zerwürfnis zwischen den Geschwistern und Vettern; jene, die die jüdische Identität ihres Vaters, durch Einträge in der jüdischen Gemeinde verifiziert (ebd., S. 292), als rechtmäßig anerkennen und denen, die ihre Religionszugehörigkeit allein durch die Abstammung von ihrer jüdischen Mutter als gültig erachten. „[I]n der Tiefe dieses Problems schlummert die zwielichtige Idee vom Vollblutjuden, der bis heute dafür zu sorgen hat, sich und seine Identität ordentlich nachzuweisen“ (März 3.3.2005), unterstreicht Menasse in einem Gespräch mit Ursula März die Schwierigkeit der jüdischen Identitätsbildung, die in Vienna so weit geht, dass der Bruder einer Selbsthilfegruppe Namens „Mischlinge 2000“ (Menasse 2005, S. 307) beitritt. In dieser treffen sich Juden, die nach dem jüdischen Gesetz keine sind, sich jedoch als solche verstehen, um „über sich, über den Zwiespalt und die Zugehörigkeit [zu sprechen] oder darüber, ob man formell übertreten oder sich lieber mit den Gegebenheiten abfinden“ (ebd., S. 320) solle.

Vergangenheit und Erinnerungsformen
Maßgeblich für die Identitätskonstruktion ist der Umgang mit der Vergangenheit und die Art und Weise des Sich-Erinnerns. In Vienna versucht die Ich-Erzählerin der Vergangenheit der beiden vorhergehenden Generationen auf die Spur zu kommen, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse verschweigen oder in Anekdoten und Legenden transformieren. Diese Handlung wird im Roman als „Em-Em“, als „manisches Mythologisieren“ (Menasse 2005, S. 371), bezeichnet, das einen familiären Zusammenhalt dank „einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit“ (ebd., S. 372) suggeriert. Hinter dieser Oberflächlichkeit der „geschönten Anekdoten“ einerseits und „so auffälligeren Lücken andererseits“ (ebd., S. 391), wie der Bruder bemerkt, steht ein langer Akt des Schweigens und Vergessens. Dieser beginnt schon zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, wenn z. B. über den Umgang der Großmutter mit den damaligen Problemen berichtet wird: „Sie verschloss davor [vor der Welt] die Augen, ging ins Kaffeehaus und spielte Bridge“ (ebd., S. 9). Oder wenn Tante Gustl sich mit dem deutschnationalen Faschisten Dolly Konigsberger verheiratet und von da an grußlos an allen Familienmitgliedern vorbei geht. Gleichsam vergisst der Vater als Kind im englischen Exil die deutsche Sprache und beinahe seine Familie: „[m]anchmal dachte er mit schlechtem Gewissen und nur kurz daran, daß er sich an die Gesichter seiner Eltern kaum mehr erinnern konnte“ (ebd., S. 56). Auch später vergisst ihr Vater das meiste für viele Jahrzehnte, „manches auch für immer, denn mein Vater pflegte die weniger geglückten Dinge im Leben blitzschnell zu vergessen, oder er machte daraus einen geistreichen Witz“ (ebd., S. 23). Der Tod der Schwester Katzi in Kanada und viele weitere traumatische Erfahrungen werden im Text nur beiläufig angedeutet. Diese geschichtsvergessene Haltung, die als typisch für die erste und teilweise zweite Generation, gemessen am Zweiten Weltkrieg, erachtet wird, behindert eine Vergangenheitsbewältigung und wird schließlich mit der dritten, die in Vienna durch die Ich-Erzählerin und ihren Bruder repräsentiert wird,  gebrochen. Jedoch zieht sich das Schweigen und Vergessen weit bis in die Gegenwart der Ich-Erzählerin, in der sowohl beim Tennisclub der „Schneuzl-Platz“ (ebd., S. 202), als auch in den Kaffeehäusern, Opfer und Täter einträchtig beieinandersitzen: „Und nachher haben sie alle wieder Bridge gespielt, als wäre nichts gewesen“ (ebd., S. 408). Im Sinne der Theorien der Postmemory und der transgenerativen Traumata, werden durch Verdrängen und Vergessenen traumatischer Erlebnisse diese an die nachfolgenden Generationen unbewusst weitergegeben. Gerade durch dieses wird ein gegenteilig erhofftes Verhalten bei der jüngeren Generation hervorgerufen: Sie beginnen sich für die verschwiegene Vergangenheit zu interessieren, weil sie diese als Grundmauern ihrer eigenen Identität benötigen. „Je mehr uns fehlt, desto mehr laufen wir dem Ganzen hinterher. Es ist furchtbar für Menschen, wenn sie nicht wissen, woher sie kommen. […] Man ist abhängig von seinen Vorfahren, die man u. U. nie kennengelernt hat. Der Mensch will wissen, wo er herkommt. Wir definieren uns über die Reihe. Und wo die Reihe gebrochen wird oder wo aus der Reihe ein Schweigetor herausragt, ist es extrem unbefriedigend und macht Angst. Das ist, als würde man in ein dunkles Loch hineinschauen“ (zit. n. Waldow 2011, S. 90), fasst Eva Menasse in einem Interview mit Stephanie Waldow zusammen. In genau dieser Situation befinden sich gut 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Ich-Erzählerin und ihr Bruder. Insbesondere der Bruder nimmt eine herausragende Position ein, wenn er urteilt: „‚Was aber ist unsere sogenannte Familiengeschichte?‘ […] unsere Familiengeschichte bestehe doch nur aus geschönten Anekdoten einerseits, aus um so auffälligeren Lücken andererseits. ‚Das bildet doch keinen Zusammenhalt […] das ist doch nur blödes Gerede‘“ (Menasse 2005, S. 391). Darüber hinaus beginnt er als Historiker aktiv die Vergangenheit aufzuarbeiten: „In diese Watte aus Harmonie und kleinem Glück, aus bescheidenem Erfolg und Geschichtsvergessenheit gepackt, konnte mein Bruder gar nicht anders, als zu rebellieren und todunglücklich zu sein. […] [M]ein Bruder wälzte mit seinen Freunden politische Ideen, deren zentraler Gedanke die Veränderung von allem war“ (ebd., S. 189f.). In Vienna lässt der Bruder den hochgeschätzten Präsidenten des Skiverbandes posthum als Kriegsverbrecher auffliegen: „Der Großteil der Österreicher hatte zu diesem Zeitpunkt vergessen, daß es je einen Krieg gegeben hatte, von irgendwelchen Verbrechen ganz zu schweigen“ (ebd., S. 298f.). Die Ich-Erzählerin verknüpft mit ihrer Bewertung: „Es war das Präludium zu Waldheim“ (ebd., S. 296), das Romangeschehen mit der jüngeren Vergangenheit Österreichs als geschichtsvergessenes Volk, das durch die Waldheim-Affäre in seiner Opferrolle desillusioniert wurde. Die kollektiven Verdrängungsmechanismen werden an der Figur des Bruders sichtbar und damit der Prozess einer unverstellten Vergangenheitsbewältigung in Gang gesetzt. Die individuelle Problematik einer solchen Verdrängung wurde weiter oben bereits an dieser Figur näher erläutert. Die Ich-Erzählerin findet eine andere Form der Vergangenheitsrekonstruktion, die sie für ihre Identitätsbildung benötigt: das literarische Erzählen. Durch das kritische Sammeln und Aufschreiben, das Ergänzen durch Recherche und das Fiktionalisieren von Einzelheiten, gelangt sie zu einer Klarheit, die Menasse auf ihre eigene Romanproduktion überträgt: „und natürlich kommt man auf diese Weise zu übergeordneten Wahrheiten. […] Manche Dinge sind mir klarer geworden durch den Akt des Erfindens. Ich habe etwas weitergedacht, weiterfantasiert, wie es gewesen sein könnte, wo das eine Faktum hingeführt haben könnte – und komme dabei auf etwas, was für mehr Leute gilt als nur für meine Familie“ (zit. n. Waldow 2011, S. 87f.). Das Lückenschließen durch Fiktionalisierung, ist eine mögliche Erinnerungsform, die eine grundlegende Klarheit zur Identitätsbildung ermöglicht; für sich und auch für andere.   

Politisches Engagement
Die politische Dimension in Menasses literarischen Arbeiten wird insbesondere an der Figur des Bruders in Vienna deutlich, der als Historiker einen Artikel verfasst, der die Debatte um österreichische Kriegsverbrechen entfacht und das Land aus dem Versteck der Opferposition stößt. Nun steht die Frage im Raum, ob Österreich sich wirklich ausschließlich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands betrachten darf, oder ob dies nicht eine einseitige und verfälschte Sicht der österreichischen Vergangenheit ist.

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Formale Aspekte zu Vienna  [ ↑ ]

Autobiografische Elemente
Immer wieder stößt man auf Figurenkonstellationen, Ereignisse oder Handlungen in Eva Menasses Romanen und Erzählungen, die keiner großen Recherche bedürfen, um sie mit ihrer eigenen Biografie in Verbindung zu setzen. Insbesondere werden Vienna viele autobiografische Züge zugeschrieben. Zum einen mahnt die Autorin, den Roman nicht als Schlüsselroman zu lesen, zum anderen gibt sie in Interviews häufig an, dass sie die Grundkonstellation der eigenen Familie übertragen habe und darüber hinaus „viele markante Zitate und exotische Biographien […] authentisch [sind] und aus vielen Interviews, die ich mit meiner Familie und anderen Zeitzeugen gemacht habe“ (zit. n. Loch 10.3.2005) stammen, so Eva Menasse in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen. In der Tat ähneln insbesondere die Figuren des Vaters und des Bruders in ihrem Debütroman sehr stark ihrem realen Vater Hans und ihrem Stiefbruder Robert Menasse. Das könnte vor allem an ihrem zugrundeliegenden privaten Interesse liegen, der Geschichte ihrer Familie durch Sammeln von Fakten auf den Grund zu gehen und ihr erst später deutlich wurde, dass sie aus diesem Material keine Chronik, aber einen Roman schreiben könne (vgl. Prangel 2007, S. 186).

Assoziierendes Erzählen
Die äußerst komplexe Struktur der beiden Romane Vienna und Quasikristalle wird zum großen Teil durch eine nicht lineare und episodische Erzählweise generiert. Es wird zwar in Vienna ein zeitlicher Rahmen mit der Geburt des Vaters und der Beerdigung des Großvaters gesteckt, es findet jedoch kein chronologisches Erzählen statt. Die Handlung wird fragmentarisch erzählt, immer wieder durch Erinnerungen an eine Geschichte unterbrochen, die die Handlung assoziativ zunächst weit abtreiben lässt. Jedoch wird auf diese Weise eine komplexe Textwelt entworfen, in der auf der einen Seite einzelne Geschichten für sich stehen können, auf der anderen Seite in der Summe ein in diesem Rahmen mögliches Familienportrait bilden. Diese Vorgehensweise liegt in zweierlei begründet, zum einen in der Perspektive der Ich-Erzählerin, als jüngster Tochter, die zunächst als eine Beobachterin, intradiegetisch und extradiegetisch zugleich erscheint und sich erst ganz zum Schluss auf der Beerdigung des Großvaters handelnd einbringt. Die Handlungsstränge werden aus der Perspektive der Ich-Erzählerin gesponnen, die sich assoziativ, durch ihre Erinnerungen gelenkt, von einer Geschichte zur nächsten begibt. Sie ist durch ihre beobachtende Haltung zum einen Leerstelle und zum anderen ist sie der „[genealogische] Knotenpunkt“ (Prangel 2007, S. 189).
Als Exkurs sei an dieser Stelle, die besondere Rolle der Ich-Perspektive in Menasses Romanen und Erzählungen genannt, über die Menasse in einem Interview mit Matthias Prangel selber sagt, dass es das Schwierigste überhaupt sei aus dem Ich zu schreiben, „weil man, wo man ich [kursiv im Text] sagt, beim Schreiben dazu neigt, das Ich des Buches mit dem eigenen Ich zu verwechseln“ (ebd.). Zu Vienna im speziellen ergänzt sie: „Mich hat die Idee gereizt, einen Roman zu schreiben, in dem das Ich ganz anders als sonst funktioniert. Eben nicht als so eine Art selbstgespiegelte Instanz. Zweitens ist es auch, ganz pragmatisch gesehen, eine Methode, einen Familienroman zu fiktivieren“ (ebd.). Neben der Ich-Perspektive begründet sich die fragmentarische Romankonstruktion in einzelnen Geschichten im besonderen Umgang mit dem zentralen Thema der Geschichtsrekonstruktion, das in der Familie ausschließlich über das Erzählen von Legenden und Anekdoten funktioniert, denn immer „wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden“ (Menasse 2005, S. 371f.), entsteht ein kollektives aber prekäres Familiengedächtnis, ein „Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit“ (ebd.).

Leichter, humorvoller Ton
In einem eher heiteren und ironischen Ton erzählt die Ich-Erzählerin in Vienna über ihre Familie und deren in Anekdoten und Legenden verpackte Vergangenheit. In ihrer Familie ist eine Erzählung nur etwas wert, „wenn man [sie] zu einer Geschichte mit einer Pointe machen konnte“ (Menasse 2005, S. 389). Auf diese Weise werden alle Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit humorvoll zugespitzt, obwohl es sich keineswegs um amüsante Erlebnisse handelt. Dieser Ton in Vienna verfolgt zweierlei Funktionen: Zum einen verdeutlicht es die Verdrängungsmechanismen, denn das Auslassen und humorvolle Überschreiben sind eine Art „Schutzmechanismus. Die Erzählerin, der Bruder und die Vettern kommen dahinter, dass das Wegwitzeln der schlimmen Vergangenheit dazu dienen kann, an die Wunden nicht zu rühren“ (Prangel 2007, S. 197). Aus diesem Verhalten sei auch der jüdische Humor entstanden, denn „[E]r ist das Resultat von jahrtausendelanger Verfolgung und Mord und Todschlag“ (ebd., S. 197f.). Zum anderen ist es eine ästhetische Strategie, die dazu dienen soll, die Ernsthaftigkeit von bestimmten Begebenheiten besonders hervorzuheben. Beispielhaft berichtet Eva Menasse in ihrem Interview mit Stephanie Waldow, dass, nachdem sie auf Lesungen den heiteren Beginn des Romans vorgelesen hatte, die Stimmung plötzlich ins Betroffene und Ernsthafte umschlug, wenn sie den Satz über den Großvater vorlas: „Mehr sagte er nicht, denn er sprach nicht gern über die Tante Gustl, nachdem sie in der Nazizeit einmal grußlos an ihm vorübergegangen war. Dabei soll das goldene Kreuz auf ihrer Brust gut sichtbar gewesen sein, hieß es in meiner Familie später“ (Menasse 2005, S. 16 vgl. Waldow 2011, S. 92).

Titelwahl
Es wäre nicht der Rede wert, wenn Eva Menasses Wahl der Titel den üblichen Kriterien entspräche, den Inhalt und das zentrale Thema kurz und prägnant wiederzugeben, da die Titelwahl ihrer Romane und Erzählungen über die reine Repräsentanz hinausgehen und darüber hinaus einen weiteren interpretatorischen Aspekt eröffnen. Der Titel Vienna ist dahingehend auffallend, dass die Stadt, in der die meiste Handlung spielt, nicht mit der schnell nachvollziehbaren deutschsprachigen, sondern mit der englischsprachigen Bezeichnung gewählt wurde. Selbstverständlich dient es zum einen als Marker des Handlungsortes, jedoch ermöglichst es durch die Wahl des englischen Begriffs gleichsam eine Referenz zum Exilaufenthalt des Vaters und Onkels. Durch diese traumatische Erfahrung wird der eigentliche Heimatort fremd und selbst die Muttersprache und die Erinnerung an die eigene Familie gehen dem Vater während der neun Jahre in England verloren. Dass Wien im Titel zu Vienna wird, markiert Distanz und Verlust der Heimat (vgl. dazu auch Freytag 2007, S. 122.)

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Pressespiegel zu Vienna [ ↑ ]
Menasses erster Roman Vienna wird überwiegend positiv in der deutschsprachigen Presselandschaft aufgenommen und häufig als „ein herausragendes literarisches Debüt“ bezeichnet, so zum Beispiel Ulrich Steinmetzger (NRZ, 8.3.2005). Jedoch gibt es auch eine Reihe zu bemängelnder Aspekte, wie später zu sehen sein wird. Die thematische Wahl betreffend, finden es die meisten Rezensenten bemerkenswert, dass Eva Menasse es schafft, die gewaltigen Umbrüche des 20. Jahrhunderts anhand einer Familie unterschiedlichster Figuren darzustellen. Dabei wird insbesondere ihre Erzählweise hervorgehoben, die als „gewandt und mit schöner Leichtigkeit“, unter anderem von Wolfgang Paterno (Profil, 14.2.2005), beschrieben wird. In der Süddeutschen Zeitung lobt Kristina Maidt-Zinke ebenfalls „ihre solide, durch den gehobenen Journalismus geprägte Erzähltechnik“, mit der sie „sich von einem Großteil der weiblichen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wohltuend“ (2.3.2005) abhebt. Zur Besonderheit des Erzählens gehört, dass Vienna schier platze „vor Schmäh und Pointen, vor Jargons und Redensarten“ (März, Die Zeit, 3.3.2005) und es genau genommen aus nichts anderem bestehe als Anekdoten. Gerade deswegen hebe sich das Tragische besonders durch die Kürze seiner Darstellung ab, was auch Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als eine herausragende Stärke des Romans beschreibt: „Das ist die Kunst der Erzählerin Eva Menasse. Das Schweigen im rechten Moment. Plötzlich ist eben einfach Schluß mit Anekdotenreigen“ (20.2.2005). Schlussendlich sieht er jedoch in der Aneinanderreihung der Anekdoten die Gefahr der Zusammenhangslosigkeit: „Sie wirft Anekdote an Anekdote in die Luft und läßt sie selig flattern. Das ist manchmal etwas zu viel. Und man fragt sich, was sie umkreisen, die Geschichten“, was auch einige andere Rezensenten bemängeln. Auch Wolfgang Paterno merkt im oben genannten Artikel im Profil an, dass die Ereignisse „sich nicht zum großen Ganzen“ (Profil, 14.2.2005) verdichten und kritisiert darüber hinaus das zu statische und gleichförmige Erzählen, denn die Erzählungen der Figuren folgen in immer wiederkehrender Reihenfolge. Wie auch die meisten anderen Rezensenten stellt Paterno ebenfalls die Frage nach den autobiografischen Zügen der Geschichte und beschreibt, ausgehend vom Entstehungsprozess, die Parallelen der Familie Menasse zu der des Romans.
Einen durchweg negativ kritisierenden Artikel verfasst Christoph Kletzer in Der Standard, in dem er ebenfalls die Zusammenhangslosigkeit des Geschehens anmerkt und die Figur des Bruder als „die einzige Figur, die wirklich am Leben zu sein scheint und nicht bloß hinerzählt“ (26.2.2005) beschreibt. Im Gegensatz zu den anderen Rezensenten empfindet er die Erzählposition als eine „[unaufmerksame] Übereiltheit“ und vermisst Menasses „kantigen, scharfsinnigen, bisweilen literarischen Stil“ ihres Feuilletons. Er schreibt dem Roman sogar sein großes Anliegen des Erinnerns durch Erzählen ab, wenn er sagt: „Es wird Vergangenes für Vergangene erzählt und über weite Strecken Erinnerung mit Sentimentalität verwechselt“.

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Forschungsspiegel zu Vienna [ ↑ ]
Die Forschungsliteratur zum bisherigen Werk Eva Menasses ist im Gegensatz zum Pressespiegel recht überschaubar. Alle erschienen Beiträge setzen sich mit ihrem Debütroman Vienna und seiner Themenvielfalt hinsichtlich der Möglichkeiten einer jüdischen Identitätsbildung und der Konstruktion eines kollektiven Familiengedächtnisses im Kontext transgenerativer Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur auseinander. Darüber hinaus gibt es zwei umfangreiche Interviews, die zusätzlich die Entstehung des Werkes und das literarische Selbstverständnis der Autorin beleuchten.

Vergangenheitsbewältigung
Alle Artikel untersuchen die in Vienna behandelten Umgangsformen der Vergangenheitsbewältigung, die sich über die Generationen hinweg verändert. Dezidiert widmet sich Eva Bauer Lucca einer generationsabhängigen Darstellung der Formen der Vergangenheitsbewältigung. „Die Erste Generation hat […] wenig dazu geschrieben“ (Bauer Lucca 2008, S. 112). Im Zentrum stand einzig der Gedanke des „nie wieder“ (ebd.), das sich in einem stillen Wunsch äußerte und durch ein schweigendes Verdrängen gekennzeichnet ist. Ebenso übergeht die zweite Generation das Thema und durchbricht „innerfamiliäre Schweigebarriere“ (ebd. 113) nicht. Erst mit einem Umbruch der internationalen Politik ab den 1970er Jahren begann eine Kultur des Schuldeingeständnisses auf nationaler und gesellschaftlicher Ebene. Ein damit einhergehender Bruch zwischen der zweiten und dritten Generation führt zu einem Paradigmenwechsel in der Vergangenheitsbewältigung und richtet sich nun mehr an „den persönlichen Umkreis, an die Generation der eigenen Eltern und Großeltern“ (ebd.) und führt damit zu einer individuellen Schuldfrage. Die gegenwärtigen literarischen Arbeiten sind damit Ergebnisse einer individuellen Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit, die sich auf keine eigenen Erfahrungen stützen, sondern sich über Erzählungen und Dokumente zur eigenen Betroffenheit „durcharbeiten“ (ebd. S. 114) müssen.
Alle Aufsätze arbeiten den Prozess der Vergangenheitsbewältigung heraus. Dabei sind in Vienna nicht nur das Schweigen, sondern ebenfalls das Umdeuten und Beschönigen weitere Handlungen der Vergangenheitskonstruktion, wie z. B. Martina Hamidouche an der Diskussion der Geschwister mit den Eltern über den Verlust der Wohnung der Großeltern festhält. Der bekannte Hermann-Pepi annektierte als Nationalsozialist die Wohnung der Großeltern: „ ‚Ich verstehe das nicht‘, sagte meine Schwester […] ‚es war doch eure Wohnung.‘ […] Mein Vater sagte versonnen: ‚Der Opa hat den Hermann-Pepi so bewundert – und er war ja wirklich ein fabelhafter Spieler.‘ Meine Mutter sagte verständnisvoll: ‚Der Opa hat nicht gewußt, ob er sich die Wohnung noch leisten kann.‘ ‚Genau‘, ereiferte sich mein Vater, ‚was hat es für einen Sinn, eine Wohnung  zurückzufordern, die man sich dann gar nicht leisten kann?“ (Menasse 2005, S. 99f.), woraufhin der Bruder empört und verständnislos den Raum verlässt. Traumatische Erfahrungen werden also so umgedeutet, dass sie nachvollziehbar und damit nicht belastend erscheinen. Zusätzlich werden, wie oben ausführlich beschrieben, Erlebnisse in Legenden und Anekdoten formuliert, was wiederum als Schutzmechanismus gedeutet werden kann. Jedoch bewirkt das Verschweigen eine entgegengesetze Haltung: „The more the members of the first and second generation try to conceal the family’s past from their children and grandchildren, the more eagerly the latter want to find out about it” (Hamidouche 2011, S. 190). Unterstützt wird dieser Gedanke durch Marianne Hirschs Theorie der Postmemory, nach der Traumata der vorhergehenden Genration, die sich noch vor der Geburt der Kinder ereigneten, trotzdem die Entwicklung und Identitätskonstruktion der nachfolgenden Generationen beeinflussen. Diese können jedoch nur durch Erzählungen und Dokumente weitergegeben werden und werden daher zusätzlich durch einen kreativen Akt des Subjekts erschlossen (vgl. ebd. S. 195 und Seemann 2013, S. 37). Vergangenheitsrekonstruktion wird damit zum Teil zu einer kreativen Handlung, die die nicht erzählten oder unsagbaren Lücken zur Bildung der eigenen Identität zu schließen versuchen. Diesen Prozess beschreibt Menasse ebenfalls in einem Interview mit Stephanie Waldow: „Ich habe diese Recherche ursprünglich unternommen im Hinblick auf eine Klarheit über meine Familiengeschichte. Zu dieser Klarheit ist es nicht gekommen und also musste ich fiktionalisieren. Das war meine einzige Möglichkeit – und natürlich kommt man auf diese Weise zu übergeordneten Wahrheiten“ (Waldow 2011, S. 87).
Einen besonderen Aspekt der Erinnerungsform arbeitet Goran Lovric heraus, der die Orte und Räume in Vienna untersucht und diese als Mittel zur Vergangenheitsrekonstruktion analysiert. Zunächst beschreibt er die unterschiedlichen Funktionen des erzählten Raums, der immer im Akt der Bedeutungszuschreibung von Autor und Rezipienten entsteht und die Charaktereigenschaften einer Figur beeinflusst. Darüber hinaus hat die Raumdarstellung als bewusste Gestaltung ein Erinnerungspotential, das gleichzeitig zur Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses beiträgt. In seiner Analyse hält er fest: „Wien erscheint dabei als realer geschichtlicher Hintergrund in Form von symbolträchtigen Schauplätzen, die viel über die gesellschaftliche Stellung der Wiener Juden in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg aussagen“ (Lovric 2012, S. 132f.). Dies verdeutlicht er an den Wiener Institutionen (Kaffeehäusern) und insbesondere am fiktiven Tennisplatz Schneutzel-Platz, „der als Symbol für Wien und ganz Österreich dient“ (ebd. S. 135), weil in diesem die fehlende Vergangenheitsarbeit, deren Folgen der Untergang des Tennisvereins ist, verdeutlicht wird.

Identität
Ausgehend von der gerade dargestellten Vergangenheitsbewältigung in den verschiedenen Erinnerungsformen eröffnen die Aufsätze die Schwierigkeiten einer Identitätsbildung. Alle Aufsätze zu Vienna beschreiben die oben bereits ausführlich behandelte Problematik der religiösen Identitätsbildung der jüngsten Generation, die durch das Leugnen oder Verdrängen der jüdischen Identität der Elterngeneration schließlich in einem familienzerstörenden Streit auseinandergeht.
Darüber hinaus beschreibt Marja-Leena Hakkarainen in ihrem Aufsatz die Entstehung neuer Transnationalitäten, die durch die Zerstreuung der ersten und zweiten Generation und ihrer erneuten Zusammenkunft in Wien bedingt ist. Nicht nur, dass Vater und Onkel nach ihrem langen Aufenthalt in England ihre Wurzeln zum Judentum und zu ihrer Heimat verlieren, sondern nach dem Krieg auch mehrmals Frauen anderer Nationalitäten und Religionen heiraten: „In Menasse’s family saga several new patterns of ethnic mixing emerge after the war. The uncle and the father of the narrator marry and remarry English, Polish and Austrian women, so that there is soon a mixture of Jews, Catholics and Protestants in the family” (Hakkarainen 2011, S. 474). Darüber hinaus widmen sie sich Beschäftigungen mit transnationalem Charakter und begeben sich häufig, gezwungen oder ungezwungen, auf internationale Reisen. Dies kennzeichnet ihre multikulturelle Identität bei gleichzeitiger Isolation von der österreichischen Identität (vgl. ebd. S. 475f.).
Martina Hamidouche versucht die individuelle Identitätsproblematik auf ein allgemeingültigeres Niveau zu heben und sie repräsentativ für die Illusion einer österreichischen Identität zu betrachten: „Menasse shows in Vienna that Austrian identity – and this includes Austrian-Jewish-identity – is an imaginary, unstable construction“ (Hamidouche 2011, S. 196f.). Österreich ist ein zu komplexes Bild aus unterschiedlich konstituierten Gruppen verschiedener Nationalitäten und Religionen, die jeweils eine andere Perspektive, als Opfer, Täter oder Zuschauer auf die Vergangenheit haben. Damit ist eine eindeutige Zuschreibung einer nationalen Identität unmöglich: „Das Buch versucht auch zu erklären, dass das, was im 20. Jahrhundert passiert ist, dass der Holocaust nicht nur zwei Sorten von Menschen hervorgebracht hat, nämlich Opfer und Täter, sondern im Gegenteil zu einer fürchterlichen Verwirrung […] geführt hat“, beschreibt Eva Menasse ihre Intention (Prangel 2007, S. 192).

Gattungsdiskurs
Vienna reiht sich in das boomende Genre der deutschen Gegenwartsliteratur, der Familienromane, ein, so Daphne Seemann, was sie mit dem Generationsbruch der dritten von der zweiten begründet, die Erfahrungen und Erinnerungen der Vergangenheit in das kulturelle Gedächtnis übersetzen wollen (vgl. Seemann 2013, S. 36). Eva Menasse wird in diesem Zusammenhang häufig mit anderen Autoren/innen wie Arno Geiger (Es geht uns gut, vgl. ebd. S. 38 oder Freytag 2007) oder Viola Roggenkamp (Familienleben, vgl. Bauer-Lucca 2008) gelesen, die den gleichen Zugang über den Familienroman wählen, um thematisch verwandte Aspekte zu untersuchen. Die AutorInnen gehen in ihren Romanen der Herkunft und den Erinnerungen ihrer Vorfahren nach, wobei die signifikantesten Kriterien dieser Gattung die Vermischung der Grenzen von Fakten und Fiktion und dokumentarischem und erzählendem Stil sind (vgl. Seemann 2013, S. 36). Mittels des Begriffes der Postmemory (n. Marianne Hirsch) und der psychoanalytischen Bedeutung des Terminus Familienroman wäre es zu diskutieren, ob der Familienroman als ein Versuch der imaginierten Rückgewinnung verlorener Familientradition bezeichnet werden kann: „Arguably, the re-imagination of a lost family tradition in contemporary narratives can be characterised as an emphatic attempt of imaginative recuperation“ (ebd. S. 39). Die Ich-Erzählerin erfüllt alle notwendigen Voraussetzungen einer emotionalen Verwicklung und der zeitlichen Distanz zur traumatischen Vergangenheit.   Sie bleibt zudem nicht nur bei einer reinen Rekonstruktion stehen, sondern erkennt darüber hinaus die Notwendigkeit der Distanzierung zu den eigenen Familiengeschichten, um die traumatische Vergangenheit bewältigen zu können (vgl. ebd. S. 45).

Genderdiskurs
Einen kurzen Ausblick hinsichtlich des Genderdiskurses gibt Daphne Seemann in ihrem gerade erwähnten Aufsatz, in dem sie der Ich-Erzählerin eine zweifache Überwindung der belastenden Vergangenheit zuschreibt: Zum einen die bereits häufig angesprochenen traumatischen Erfahrungen der beiden vorhergehenden Generationen im Zweiten Weltkrieg zum anderen aber auch das sehr einseitig männerdominierte Rollenverständnis ihrer Familie. Vienna ist eine Geschichte, in der die Erfahrungen der Männerfiguren (Großvater, Vater und Onkel, Bruder und die beiden Vettern) mythisiert im Mittelpunkt der Handlung stehen. „Women’s experiences are mere sideanecdotes to these grand generational narratives” (Seemann 2013, S. 47). Dies beschreibt auch Marja-Leena Hakkarainen in ihrem Aufsatz, wenn sie den männlichen Figuren eine geschichtskonstruierende Funktion zuschreibt, wohingegen die Frauenfiguren die passive Rolle der Zuhörerinnen übernehmen: „The memorializing in Vienna is to a great extent gendered in so far it is the task of male members to tell stories and crack jokes, whereas the women are regarded as an audience“ (Hakkarainen 2011, S. 481). Darüber hinaus schreibt Daphne Seemann der Familie bis in die zweite Generation die typisch bürgerliche Rollenverteilung zu, die beinhaltet, dass die Männerfiguren dominant den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, mehr oder weniger um die finanzielle Sicherheit bemüht sind und die Familie insgesamt nach außen repräsentieren, wohingegen die Frauenfiguren die häusliche Sphäre umsorgen, sich um die Erziehung der Kinder und um die finanzielle Situation des Haushalts kümmern. Die Konsequenzen dieses Rollenbildes beschreibt sie folgendermaßen: „Menasse’s male characters generally display their light-hearted and carefree spirits while female characters turn into deeply frustrated, disappointed and betrayed wives“ (ebd. S. 48). Erst im letzten Kapitel, der Beerdigung des Großvaters, tritt die Ich-Erzählerin aus ihrer Rolle der objektiven Beobachterin heraus und involviert sich in die Handlung. Der Tod des Großvaters und die sich damit abschließende „übermächtige, weil unvollständige Lebensgeschichte“ (Menasse 2005, S. 388f.) befähigt sie, die traumatische Familiengeschichte und das damit einhergehende Rollenverständnis zu überwinden, ohne ihre Herkunft in einem schlechten Licht dastehen zulassen: „Her ultimate emancipation from a traumatically charged family narrative is not performed with bitter antagonism but with loving empathy“ (Seemann 2013, S. 49) schließt Seemann ihre Überlegungen ab.

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Lässliche Todsünden

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Lässliche Todsünden [ ↑ ]
Leseprobe
In Lässliche Todsünde, ein Paradoxon aus den Kategorien der katholischen Sündenlehre, nach der eine Sünde entweder eine Todsünde ist und damit zum Heilsausschluss führt, oder lässlich und somit schnell gebüßt oder gar vernachlässigt werden kann, werden in sieben locker miteinander verbundenen Erzählungen, die jeweils mit einer der nach katholischer Lehre sieben Todsünden – Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust, Zorn, Hochmut, Neid und Habgier – überschrieben sind, grundlegende menschliche Verfehlungen in ihrem alltäglichen Kontext beschrieben. Die Protagonisten sind weitestgehend gut situierte und gebildete Bürger der Wiener Mittelschicht, die sich neben der überschriebenen Todsünde auch anderer Vergehen schuldig machen und sich so durch ihre belastende, fast tragische Einförmigkeit ihres Lebens ins Unglück begeben. So z. B. Fritz, der Protagonist der ersten Erzählung Trägheit, der sein Leben nicht mehr zu führen weiß, nachdem sich seine Frau von ihm scheiden ließ. Er bezeichnet sich selbst als „berechenbar“, „er verließ ungern seine gewohnten Bahnen“ (Menasse 2009, S. 11) und stürzt sich in eine Affäre, in der insbesondere auch Wollust, Zorn und Hochmut eine große Rolle spielen. So wird schnell klar, dass es in dieser, wie auch in allen anderen Geschichten, um weit mehr als bloß die überschriebene Todsünde geht und jedes Schicksal dieses Bandes von Sünden, die fein im Alltag verwoben sind, geprägt ist. Dabei treten die Figuren selbstreflektiert auf („[N]atürlich hielt Fritz sich für einen reflektierten Menschen“, ebd., S. 13), wie die Lehrerin Fiona, die Protagonistin der Erzählung Gefräßigkeit, die eine Schülerin mit auf ihren Italienurlaub nimmt und Leute verabscheut, „die sich gehen ließen […]. Und sie konnte aus tiefsten Herzen hassen und strafen, auch sich selbst, wenn sie sich einer dieser Todsünden überführt zu haben glaubte“ (ebd., S. 35). Wie in dieser Geschichte legt die Autorin auch in anderen ein besonderes Augenmerk auf das Außergewöhnliche und Belastende zwischenmenschlicher Beziehungen. So auch in Wollust, in der Rument seine sexuellen Bedürfnisse, z. B. mit einer kalten Dusche, unterdrücken muss, weil er seine hypochondrische Frau Johana pflegen muss oder Ilka und Leo, die in der Erzählung Zorn dauerhaft an die Grenze ihrer Nervenstärke kommen und ständig unter Strom vor Wut auf den anderen stehen: „ ‚Frau Professor Harder-Grant‘ […] ‚heute mal wieder einen Krampf im Kontrollmuskel?‘“ (ebd., S. 93), so Leo zu seiner Frau. Die Erzählungen sind durch Überschneidungen der Handlungsräume, der Zeit oder der auftretenden Figuren, wenn sie sich zufällig in einer Kneipe oder auf einer Beerdigung begegnen, miteinander verbunden.

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Thematische Aspekte zu Lässliche Todsünden [ ↑ ]

Identität
Ein Aspekt der Identitätsproblematik liegt in den Krisen der Lebensentwürfe der Protagonisten/innen aus Menasses Erzählband Lässliche Todsünden. Alle sind gebildete und gut integrierte Wiener Bürger, die fest im Leben stehen und sich in einer Krise befinden, die sich in unterschiedlicher Weise äußert, jedoch immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lebensstil steht. Die Krisen werden ausgelöst durch äußere Eingriffe, die zu kompensieren versucht werden, wie in Gefräßigkeit, in der die Lehrerin Fiona eine Schülerin auf ihre Italienreise mitnimmt, obwohl es eigentlich nicht zu ihr passe, denn „[s]ie war eine Pedantin, auf ihren tadellosen Ruf bedacht und darauf, sich niemanden auszuliefern. Aber in diesem Frühjahr, da war einiges anders als sonst“ (Menasse 2009, S. 34). Später erfährt der Leser durch die Ich-Perspektive der Schülerin Martine, die einen „kurze[n] Blick auf ein bisschen Mull und Leukoplast in Fionas Leistengegend“ (ebd., S. 48) werfen kann, dass es sich um eine „Frauengeschichte“ (ebd.) handelt, also um operative Eingriffe, die das Zeugen oder Gebären von Kindern betreffen und „Verheerungen […] in den Seelen der Frauen anrichten“ (ebd.). Diese versucht Fiona durch ein Verhalten zu kompensieren, das „eigentlich nicht zur ihr [passte]“ (ebd., S. 34). Eva Menasse setzt sich auch in anderen Texten mit weiblicher Fortpflanzung und medizinischen Behandlungsmethoden auseinander, die nicht nur ein Eingriff in die Person darstellen, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung deutlich beeinflussen. Des Weiteren ist Fritz, der Protagonist der ersten Erzählung Trägheit, eine scheiternde Figur, die an der Ehescheidung zugrunde geht. Er steckt in einer Krise, die an den Grundfesten seiner Identität nagt, denn seine Trägheit, sein wehrloses Hinnehmen von Begebenheiten lässt ihn scheitern: „Dass ihm einiges über sich selbst entging, hätte er vehement bestritten. Wenn er manche Dinge so nahm, wie sie kamen, dann deswegen, weil er im Widerstand keinen Sinn sah. Also betrachtete er seinen Nicht-Widerstand im Endeffekt als bewusste Entscheidung“ (ebd., S. 13). Als Reaktion stürzt er sich in eine Affäre mit einer Frau, die „gar nicht in sein Leben gepasst hatte“ (ebd., S. 11). Schließlich kehrt er zu seiner Tochter zurück und beendet den Kontakt zu dieser Frau. Damit bleibt der Ausgang der Krise, wie in fast allen anderen Geschichten, offen.

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Formale Aspekte zu Lässliche Todsünden  [ ↑ ]

Autobiografische Elemente
Wie bereits oben besprochen, gibt es auch eine biografische Verbindung zum Thema der Präimplantationsdiagnostik und ebenfalls könnte die letzte Erzählung Habgier, des Bandes Lässliche Todsünden, als Selbstportrait der Autorin gelesen werden, da die Protagonistin eine freiberufliche und kritische Filmemacherin ist, die sich in einer politisch motivierten Recherche in einem Themenkomplex aus Austrofaschismus, Antisemitismus gesellschaftlichen Engagement verstrickt und sich hinterher selbst nicht mehr ihres eigenen Standpunktes sicher ist.

Nüchterner, lakonischer Stil
Besonders ihr Erzählband Lässliche Todsünden ist von einem ausgeprägt nüchternen und lakonischen Sprachstil durchzogen, der vor allem in der Geschichte Zorn zu erkennen ist. Diese Erzählung über das Ehepaar Ilka und Leo, die mit ihren Kindern an ihr Seehaus fahren, um dort Urlaub zu machen, ist geprägt von einem unterschwelligen, dauerhaft präsentem Ton der Wut Ilkas, aus deren Perspektive erzählt wird, gegenüber ihrem Mann, sich selbst und ihrem Umgang mit den Kindern. Ihre Voraussagen des Widerwillens ihrer Kinder werden nüchtern und abgeklärt beschrieben, obwohl sie bereits im Vorfeld genervt von der Diskussionen scheint. Nur an wenigen Stellen entlädt sich ihr Gemütszustand, wie in dem Augenblick, als ihr Mann das zu reparierende Türschloss zerstört: „ ‚Leo!‘ schreit Ilka, ‚jetzt lass das doch, verdammte scheiße‘, und sie bückt sich, packt das Schloss, in dem es scheppert wie in einer Kinderrassel und rennt einfach aus dem Garten in Richtung Schilf“ (Menasse 2009, S. 107f.). An anderen Stellen wird ein Gefühlsausbruch mit den Worten beschrieben: „Ilka flutet ihr Gefühlschaos mit wohlfeilem Zorn“ (ebd. S. 116), wobei hier das überraschend Nüchterne im Paradoxon der Formulierung des „wohlfeile[n] Zorns“ liegt. In einer anderen Erzählung, Wollust, muss der Protagonist Rument jegliche sexuelle Begierde nach seiner hypochondrischen Frau unterdrücken. So heißt es an einer Stelle: „Er könnte die Decke noch einmal heben und zu ihr schlüpfen. Aber dann wäre alles klar, sie würde es spüren, an der Rückseite ihrer Oberschenkel, und das mochte sie nicht. Er hatte ja keine Unterhose an. Sie mochte keine klaren Absichten, überall sonst, nur nicht auf diesem Gebiet, das hatte sie ihm einmal lange erklärt“ (ebd. S. 72). Auch er scheint abgeklärt, indem er seine Frau mehr paraphrasiert, als dass er sie verstünde. An diesen lakonisch kurzen Aufzählungen und der penibel genauen Einhaltung der Ge- und Verbote seiner Frau ist Ruments Schwierigkeit zu erkennen, seine Triebe und Sehnsüchte zu unterdrücken.

Titelwahl
Mit dem Titel Lässliche Todsünden werden systematische Kategorien der katholischen Sündenlehre auf paradoxe Weise verknüpft. Zum einen lässliche bzw. leichte Sünden, die als ungewolltes Abweichen vom richtigen Lebensweg erachtet werden wohingegen zum anderen Todsünden bzw. schwere Sünden als eine bewusste Entscheidung gegen Gott und sein Gesetz erachtet werden. Dabei ist zu beachten, dass eine ungesühnte Todsünde den prinzipiellen Ausschluss aus dem Paradies bedeutet. Doch wie kann eine Todsünde lässlich also vernachlässigbar sein? Die einzelnen Erzählungen, jeweils überschrieben mit einer Todsünde, behandeln mehrere Verfehlungen gleichzeitig, die jedoch in ihrer alltäglichen Form unsichtbar und scheinbar wirkungslos erscheinen. So wird Zorn zu einem dauerhaften und unterschwelligen Angespannt- und Genervtsein, das sich bei kleinen Konflikten entlädt, jedoch auch genauso schnell wieder unter Kontrolle ist; oder Gefräßigkeit wird zu einem kleinen Vergehen, die Reserven für das kommende Frühstück für ein abendliches Picknick bereits aufgebraucht zu haben. Das Lässliche einer Sünde wird durch das im Alltag Eingewobensein derselben zum Ausdruck gebracht, wobei sich die jeweilige Schwere nur im Kontext der Geschichte ergibt und zu anderen Zeitpunkten bedeutungslos erscheint.

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Pressespiegel zu Lässliche Todsünden  [ ↑ ]
Die Pressestimmen zu Eva Menasses zweiter Veröffentlichung als Autorin sind durchweg einheitlich und kritiklos. Dabei äußern sich die Rezensenten weder übermäßig lobend noch abwertend gegenüber dem Erzählband und gehen in ihren Artikeln über eine Zusammenfassung der Kurzgeschichten kaum hinaus. Diese werden als „Momentaufnahmen“, die zu einem „Netz aus Querverbindungen“ (Delius, FAS, 16.8.2009) zusammengefügt sind, beschrieben, die vor allem für ihre „feine, scharfe, gefeilte“ Wortwahl gelobt werden. An andere Stelle hebt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Menasses „unterkühlten, fast hochmütigen Ton“ (14.11.2009) und sarkastischen Erzählstil hervor. Zur Besonderheit gehören, so Jörg Plath, ihre harten Schnitte, Auslassungen und das Rätselhafte (vgl. Frankfurter Rundschau, 4.1.2010), was an anderer Stelle als ein Bruch der Erwartungshaltung beschrieben wird: „Dann aber, einen Moment und eine halbe Seite später, stolpert man über etwas, das alle Achjas in den Gedankengängen zurückschleudert […] ein Wort, wie eine Wurzel im Weg, zack, und alles ist anders“ (Delius, FAS, 16.8.2009). Auch Elmar Krekeler reiht sich mit seiner Beschreibung Menasses Geschichten seien konzentrierte „Charakter- und Fallstudien“ (Die Welt, 10.10.2009) in die Beschreibung der anderen Rezensionen ein und bleibt ebenfalls unspezifisch, wenn er ihren Stil umschreibt: „Es weht ein ausgesprochen feiner, angenehmer Hauch austriakische Nostalgie durch die Seiten. Es ist ein schöner Ton, man kann es fast nicht anders sagen“.

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Wien, Küss die Hand, Moderne

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Wien, Küss die Hand, Moderne [ ↑ ]
Wien, Küss die Hand, Moderne ist ein literarischer Reiseführer, der 2011 im Corso Verlag erscheint und eine Ansammlung von literarischen und dokumentarischen Texten, Fotografien und Zeichnungen verschiedener Autoren und Künstler umfasst. Eva Menasse ist die Initiatorin und Gastgeberin dieses Bandes, der sich nicht als nutzbringende Informationsquelle für Touristen versteht, sondern die „andere Seite von Wien“ (Menasse 2011, S. 1) beleuchtet. Gleichsam erscheint dieses Portfolio, so der Herausgeber Rainer Groothius, „für Wiener und für Piefkes gleichermaßen“ und „natürlich auch für alle Restösterreicher und für – alle“ (ebd.). Aus unterschiedlichen Perspektiven werden verschiedene Aspekte der Geschichte, Kultur und Architektur Wiens und ebenso das alltägliche Leben seiner Bewohner in den Straßen und Kaffeehäusern beschrieben. So lassen sich neben einem Text Eva Menasse auch andere von Hans Menasse, Elfriede Jelinek, zudem ein Gedicht von Oskar Pastior, Fotografien des Wiener Alltags in den 60er und 70er Jahren von Nikolaus Walter und vieles mehr entdecken.

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Quasikristalle

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Quasikristalle [ ↑ ]
Leseprobe, Hörprobe
Roxane Molin ist die Protagonistin von Eva Menasses preisgekröntem Roman Quasikristalle, in dem die Lebensgeschichte jener Molin von der Kindheit bis ins hohe Alter in 13 Kapiteln nachgezeichnet wird. Dabei ist dies keine herkömmliche, stringent erzählte Biografie, sondern eine mosaikartige Ansammlung von Stationen ihres Lebens, aus immer wechselnden Perspektiven erzählt. Nur im siebten Kapitel, gleichsam formale und inhaltliche Mitte des Romans, kommt die Protagonistin selbst zu Wort. In allen anderen Kapiteln erhält der Leser direkt oder indirekt Informationen über Roxane mittels Figuren, die mit ihr befreundet sind, mit ihr beruflich zusammenarbeiten oder ihr ganz zufällig begegnen. So wird sie vielperspektivisch u. a. aus der Sicht ihrer Freundin, ihres Vermieters, eines Touristenführers, einer Ärztin, ihres Chefs oder ihrer eigenen Tochter konstruiert, so dass die Leserin ein äußerst fragmentarisches Bild der Protagonistin erhält.  Menasse entwirft das facettenreiche Leben einer modernen, aufstrebenden Akademikerin, die nach ihrem Studium in Berlin lebt, einen Professor heiratet und schließlich erfolgreich eine Patchwork-Familie und eine eigene aufstrebende Werbeagentur leitet. „Ich lebe so, wie ich es immer wollte. […] Es geht uns gut. Die Lebensmitte ist sicher und berechenbar wie eine ungestaffelte Warmmiete. […] Und trotzdem genügt das alles manchmal nicht. Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig“ (Menasse 2013, S. 238ff.), gesteht sich Roxane im siebten, dem aus ihrer Perspektive verfassten Kapitel ein. Dieses Kapitel könnte eines aus Lässliche Todsünden sein, da hier ebenfalls privater und beruflicher Erfolg nicht vor den Ängsten und Überforderungen des Alltäglichen bewahrt. Jedoch ist Roxane eine starke Persönlichkeit, kann sich auf ihre eigenen Fähigkeiten und auf ihren Mann verlassen, um diesen krisenbehafteten Lebensabschnitt zu überwinden. Im Laufe der Jahre bekommen ihre Kinder ebenfalls Kinder, ihr Mann stirbt und sie beschließt einen letzten Neuanfang und kehrt nach Wien zurück. Die Kapitel sind häufig mit politischen Implikationen versehen, die sich mit der Vergangenheit und ihrer Aufarbeitung und den gegenwärtigen Krisen auseinandersetzen. So wird z. B. das gesamte zweite Kapitel den Möglichkeiten und den Grenzen der Holocaustaufarbeitung gewidmet.

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Thematische Aspekte zu Quasikristalle [ ↑ ]

Identität
Roxane Molin, die Protagonistin aus Quasikristalle, befindet sich zur Lebensmitte, welche im siebten von 13 Kapitel, als einziges aus ihrer Perspektive erzählt, thematisiert wird, in einer Lebenskrise, die den gerade erwähnten Erzählungen und insbesondere der Situation von Leo und Ilka aus Zorn (Lässliche Todsünden) ähnelt. Zur erzählten Zeit ist Roxane glücklich verheiratet, lebt in Berlin und kann ihre Patchwork-Familie und ihre eigene Werbeagentur erfolgreich organisieren. „Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig“ (Menasse 2013, S. 240). Sie leidet unter ihrer neuen Mutterschaft und dem unerträglichen Alltag, sehnt sich nach einem Geheimnis, hat aber Angst, dass es zur Wirklichkeit wird. Manchmal erinnert sie sich sehnsüchtig an die Zuneigung des jungen ausländischen Politikers Nelson, aus dessen Perspektive das sechste Kapitel verfasst ist. Diese Krise kann Roxane jedoch überwinden und lebt mit ihrem Ehemann glücklich weiter, bis er im hohen Alter vor ihr verstirbt. Neben dieser identitätsstörenden Überlastung kann man den gesamten Roman gleichsam aus einer Metaperspektive als Zeugnis der Unabschließbarkeit einer Identitätskonstruktion betrachten, da die Struktur und die damit gegebene Perspektivvielfalt keine eindeutige Identitätszuschreibung zulässt. Jedes Kapitel präsentiert die Protagonistin auf eine andere Weise, eröffnet zukünftige Handlungsmöglichkeiten, die erfüllt oder missachtet werden oder zu einer Umdeutung der vergangenen Handlung zwingen. Zudem macht die Polyperspektivität deutlich, wie sehr die Identität von der Bestätigung durch die Umgebung abhängig ist. Gleichsam wie der Titel des Buches durch das Bild des Quasikristalls darauf hinweist, der im Gegensatz zu anderen Kristallen keine regelmäßige Struktur aufweist und so aus jeder neuen Perspektive anders aufgebaut zu sein scheint, erweist sich die Identitätskonstruktion als ein mosaikartiges, nichtlineares und instabiles Unterfangen. 

Vergangenheit und Erinnerungsformen
In Quasikristalle widmet sich Eva Menasse in einem kompletten Kapitel der Möglichkeit und den Grenzen der Vergangenheitsbewältigung bezüglich der Shoah.  Im zweiten Kapitel reist die Protagonistin Roxane Molin als junge Geschichtsstudentin mit einer Reisegruppe nach Auschwitz, angeführt durch den Reiseleiter Bernays, aus dessen Perspektive die Ereignisse geschildert werden. Den größeren und offeneren Drang der Aufarbeitung haben, ähnlich wie in Vienna, auch hier die StudentInnen, also die jüngere Generation, denn „sie ließen es wirken, diese jungen Menschen, sie schafften es besser, sich auszusetzen. Sie brauchten weniger Worte, sie gebrauchten ihre Instinkte. Sie hatten noch welche, waren nicht, wie die Älteren, in den wechselnden Moden der Gedenkpropaganda verheddert. Bernays war beleibe nicht der Meinung, dass das oberflächlich war, es war nur anders. Er wusste selbst genau, wie man sich mit Fakten, Zahlen, Kausalketten und Fußnotengeschwadern polstern konnte gegen das Grauen“ (Menasse 2013, S. 80). Einerseits wird hier eine Kritik am Umgang bezüglich des Holocaustgedenkens eröffnet, andererseits ein Umbruch desselben durch die jüngere Generation geschildert, die scheinbar auf der Suche nach eigenen Spuren, eigenen Erfahrungen ist. Der Wunsch nach einem individuellen Umgang wird auch an einer weiteren medienkritischen Passage deutlich, in der es um eine Filmvorführung über die Bedingungen im Konzentrationslager geht: „Warum zeigen sie das überhaupt, flüsterte sie später, als die Leichen mit dem Bagger zusammengeschoben wurden. Weil sie glauben, dass es dazugehört. Man kann nicht mehr glauben, dass es Menschen sind, wimmerte sie […] Eigentlich ist das Nazipropaganda. Mach die Augen zu, befahl er, und sie bockte: Das ist keine Lösung!“ (ebd., S. 77). Das, was einst durch den Film als unverfälschte Wahrheit angenommen wurde und transportiert werden sollte, erscheint nun als nicht mehr glaubwürdig und wird sogar ins Gegenteil verkehrt, indem es als „Nazipropaganda“ bezeichnet wird. Aber welches Material, welche Erinnerungsform eigenen sich dann, um in das kollektive Gedächtnis aufgenommen zu werden? Die Frage gehört zum gegenwärtigen Diskurs der Notwendigkeit des Erinnerns bei gleichzeitiger Unmöglichkeit desselben, da es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird. Diese Frage bleibt auch in Quasikristalle offen.

Politisches Engagement
Auch Menasses anfänglich journalistisches Thema der Holocaustleugner, welches sie umfangreich in Der Holocaust vor Gericht schildert, erhält immer wieder Einzug in ihre Romane, wie z. B. im 13 Jahre später erschienenen Roman Quasikristalle.  Im zweiten Kapitel berichtet die Protagonistin, hier als junge Studentin, während einer Führung durch das Konzentrationslager in Auschwitz von den Theorien der Holocaustleugner, die in diesen Arbeitslagern eher Ferienanlagen für freiwillige Arbeiter gesehen haben: „Zeigen Sie mir die Löcher, und ich lasse die Klage sofort fallen, flüsterte er in ihr Ohr, ein Zitat aus dem Irving-Prozess. Es ging um die Einwurflöcher für die Zyklon-B-Dosen, eine widerliche Geschichte. Daher hatte sie auch das andere Gerede von den gutgenährten Juden, die bloß als Arbeitskräfte in den Osten geschickt worden waren, wo sie manchmal leider an Typhus verstarben“ (Menasse 2013, S. 83).

Präimplantationsdiagnostik
In Quasikristalle hingegen widmet sie ein ganzes Kapitel der Präimplantationsdiagnostik, jedoch nicht aus der Sicht einer betroffenen Person, sondern aus der einer Ärztin und damit aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Das fünfte Kapitel wird aus der Sicht der Gynäkologin Heike Guttmann erzählt, deren Patientin die eigentliche Protagonistin Roxane Molin ist. Dass das emotionale und persönliche Thema der PID durch die Perspektive der Ärztin wissenschaftlich nüchtern und abgeklärt verhandelt wird, ist dahingehend interessant und geschickt gewählt, weil auf diese Weise eine ernstzunehmende und scheinbar objektive Stimme generiert wird, mittels der die Pro- und Contra-Argumente der aktuellen Diskussion und politischen Position dargestellt und zugunsten einer Befürwortung gewertet werden können. So werden an unterschiedlichen Stellen Kritikpunkte beiläufig eingestreut: „Die deutschen Gesetze! Rigide bis dort hinaus, das Embryonengesetzschutz, man darf fast gar nichts, im internationalen Vergleich […] In Deutschland wirkt der Holocaust fort und fort, ethisch jedenfalls […] alles Tun muss sich vom Tun der Nazis maximal unterscheiden. Deshalb dürfen Gynäkologen zwar künstlich befruchten, aber gewissermaßen blindlings, mit einer Augenbinde, damit auf keinen Fall ein Eindruck von Selektion entsteht“ (Menasse 2013, S. 191). Auch Menasse führt in ihrem oben genannten Essay Nicht christlich, sondern krank die deutsche Argumentation, PID ermögliche Designerbabys durch genetische Manipulation, auf den empfindlichen Umgang mit dem Holocaust zurück: „Und von da ist es logischerweise nicht mehr weit bis zur nächsten Euthanasieaktion in der NS-Tötungsanstalt Hartheim“ (Menasse 2015, S. 32).

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Formale Aspekte zu Quasikristalle  [ ↑ ]

Assoziierendes Erzählen
In ihrem zweiten Roman Quasikristalle gibt es zwar eine zeitliche Linearität, jedoch liegt das Besondere in der wechselnden Perspektive der einzelnen Erzählungen, in die die eigentliche Protagonistin nur zufällig, mal mehr und mal weniger in die Handlung eingewoben ist. Ihr Gesamtbild entsteht durch die Polyphonie der Ich-Perspektiven, die in ganz unterschiedlichen Verbindungen zur Hauptfigur stehen und dadurch eine jeweils andere Nähe und einen anderen Erzählfokus haben. Durch die einzelnen Episoden entsteht ein fragmentarisches und mosaikartiges Bild einer Person.

Titelwahl
Bei Quasikristalle verweist der Titel auf die außergewöhnliche strukturelle Komposition, die im übertragenen Sinn dem Ordnungsprinzip der Quasikristalle entsprechen soll. Ein Quasikristall unterscheidet sich gegenüber normalen Kristallen in der Struktur seines Aufbaus. Diese haben eine regelmäßige Struktur, wohingegen jener zunächst ungleichmäßig erscheint und aus jeder Perspektive den Eindruck erweckt, anders aufgebaut zu sein. Die Andersartigkeit durch den Perspektivwechsel wird durch die Vielfalt der Sichtweisen auf die Protagonistin übertragen, so dass keine eindeutig erkennbare Hauptfigur generiert wird, sondern ein Mosaik von subjektiven Fremdeindrücken entsteht. Im übertragenden Sinne stellt dieses Vorgehen das Prinzip einer eindeutigen und linearen Identitätsbildung gänzlich in Frage, denn Identität formuliert sich vielmehr durch die Interaktion und durch den Kontext immer neu.

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Pressespiegel zu Quasikristalle [ ↑ ]
Für ihren zweiten Roman Quasikristalle, für den Eva Menasse drei Literaturpreise erhält, finden die RezensentInnen überwiegend positive Worte. Ausgehend von einer Erklärung und Deutung des Titels wird ihre außergewöhnliche vielperspektivische Erzähltechnik gelobt, deren Konsequenzen jedoch kontrovers betrachtet werden. Einerseits entwirft Eva Menasse dadurch „eine vielschichtige Heldin“, wie Claudia Voigt im Spiegel (8.4.2013) schreibt, die jedoch auch zum Ende „weiterhin ein Rätsel bleibt“ (Obermüller, Die Welt, 23.3.2013). Auch Elke Schröder meint, dass diese Herangehensweise den Roman teilweise überfrachte (Neue Osnabrücker Zeitung, 15.2.2013), wohingegen Sandra Kegel in ihrer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung festhält, dass die unscharfen und teilweise sich widersprechenden Perspektiven gerade den Reiz des Romans ausmachen (9.2.2013). Auch sind die Aussagen hinsichtlich der Gestaltung der Nebenfiguren kontrovers, denn zum einen, so Karen Krüger, „treten die Konturen ihres Tun und Denkens dabei so scharf hervor, dass man versteht, warum jeder von ihnen etwas anderen in ihr zu erkennen glaubt“ (FAS, 10.2.2013), wohingegen andere Rezensenten anmerken, dass vieles im Dunkeln bleibe (Obermüller, Die Welt, 23.3.2013) und „eine Vielzahl von Schauplätzen und Nebenfiguren […] in dem Roman oft seltsam leblos“ (Voigt, Spiegel, 8.4.2013) erscheinen. Diese Kritik bildet jedoch in der Mehrzahl der durchweg positiven Artikel eine Ausnahme. Neben ihrer methodischen Entscheidung wird Eva Menasse gleichsam für ihren Stil und ihre Sprache gelobt, da sie „virtuos, unverbraucht und von zeitgemäßer Schönheit, heiter und ernst, introspektiv und losgehend, lapidar, bissig und von Bonmots durchzogen“ ist, schreibt Ulrich Steinmetzger in der Berliner Zeitung (28.2.2013). Zwei Rezensentinnen bezeichnen Menasses Werk als einen Frauenroman: „Was am Ende herauskommt, ist ein geschliffener Frauenroman“, so Catharina Koller (Literaturen, Frühjahr 2013), und: „Auf das größte Interesse dürfte dieser Roman bei Leserinnen treffen, die heute um die vierzig sind, denn er spiegelt die Themen ihres Lebens“ (Voigt, Spiegel, 8.4.2013). Dahingegen wird in den meisten Artikeln das Themenspektrum nicht geschlechterspezifisch eingeschränkt, denn „Eva Menasse stellt große Fragen in diesem Buch: Was bedeutet man anderen Menschen? […] Welche Begegnungen bleiben haften und verändern uns?“ (Krüger, FAS, 120.2.2013) oder: „Wer sind wir, und was macht unser Leben aus? Sind wir die, die wir zu behaupten sein?“ (Obermüller, Die Welt, 23.3.2013).

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Lieber Aufgeregt als abgeklärt

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Lieber Aufgeregt als abgeklärt [ ↑ ]
Lesung
Lieber aufgeregt als abgeklärt ist der Zusatztitel ihrer Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln, den sie für ihren Roman Quasikristalle erhalten hatte und mit dem sie nun ihren zuletzt erschienen Essayband überschreibt. In diesem klagt Menasse im Sinne des politischen Vermächtnisses Bölls vor allem die Politikverdrossenheit der intellektuellen Schicht an, kritisiert die passive Haltung, das Wegschauen und sich Nicht-Einmischen. Ebenso sehr wie Böll ist Günter Grass ein Beispiel des engagierten Bürgers und des politisch wirksamen Autors. Die beiden Essays Aus enttäuschter Liebe und Wer den Mund aufmacht, macht sich angreifbar, die sie über Grass Israel Gedicht und anlässlich seines 85. Geburtstages verfasst hatte, setzen sich kritisch mit Grass Position hinsichtlich Israel auseinander, heben aber gleichzeitig seine Verdienste im Nachkriegsdeutschland als einen engagierten, sich einmischenden Sozialdemokraten hervor. Diese und weitere Schriften sammelt Menasse in ihrem Essayband unter der Rubrik „Politisch-Feuilletonistisches“, der umfangreichsten von vier Kategorien neben „Literarisches“, „Autobiographisches“ und „Zwei Erzählungen“, in der sie besonders auf die politische Relevanz des Autors und der Literatur aufmerksam macht. In dem Essay Dünne Haut und Konsensschrott geht sie insbesondere auf das Verhältnis zwischen Autor und Presse ein und plädiert für eine Doppelrolle eines kritischen Autors und eines kritikfähigen Journalisten. In der zweiten umfangreichen Rubrik „Literarisches“ setzt sie sich mit ihrem Selbstverständnis als Autorin und der Funktion von Literatur im Spiegel einiger großer Vorbilder u. a. wie Richard Yates (Zart, klar und unbarmherzig), Virginia Woolf (Mehr Herz als Verstand auf Papier) und Alice Munro (Jubeltag für Schriftsteller) auseinander. Aber auch ihre autobiografischen und literarischen Texte weisen politische Implikationen auf oder reflektieren ihr journalistisches und literarisches Verständnis (Bürohunde und Zickenkriege).

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Thematische Aspekte zu Lieber aufgeregt als abgeklärt  [ ↑ ]

Politisches Engagement
Eva Menasses älterer Halbbruder Robert Menasse ist ein namhafter Historiker und Journalist, der insbesondere für seine direkten und polemischen Essays zur jüngsten Geschichte und Geschichtsaufarbeitung Österreichs bekannt ist. In neueren Essays widmet er sich verstärkt außenpolitischen und globalisierungskritischen Themen. Eva Menasse beginnt gleichzeitig mit ihrem Studium ihre journalistische Karriere, in der schnell deutlich wird, dass sie Stellung beziehen will zu sozialpolitischen Themen ihrer Zeit. Obwohl sie die anfängliche Frage, ob sie sich für eine Schriftstellerin halte (vgl. Menasse 2015, Bürohunde und Zickenkriege), als grob beleidigend empfindet, entdeckt sie später in der Literatur und in der Funktion des Autors eine gesellschaftlich relevante Dimension, die ihr entspricht. Mittels des Entstehungsprozesses von Vienna erklärt sie ihren Weg zur Schriftstellerei damit, dass sie anfänglich eine journalistische Faktensammlung betreiben wollte, um die Geschichte ihrer Familie rekonstruieren zu können, jedoch „je weiter ich gekommen bin, um so weiter bin ich von meiner wirklichen Familiengeschichte weggegangen, ins Allgemeine hinein. Bis mir klar wurde, ich werde keine Familienchronik aus diesem Material schreiben […] daraus machst du jetzt einen Roman“ (zit. n. Prangel 2007, S. 186). Ihr politisches Engagement wird sowohl in ihren fiktiven Erzählungen als auch in ihren Reden und Essays deutlich. Letztere, in ihrem Essayband Lieber aufgeregt als abgeklärt erschienen, verhandeln intensiv die Rolle des Künstlers am Beispiel Böll und Grass, die „ihr Land mit der Kraft ihrer Worte zu einem anderen, besseren Land zu machen“ (Menasse 2015, S.16) versuchten. Diesen kämpferischen Ton, den selbstaufopfernden Einsatz der Person und des Rufes vermisse sie heute (ebd. S. 17f.), dabei komme dem Autor eine ganz besondere Position zu: „Denn wir sind allein, wir haben keinen Zeitungsverlag, keinen Konzern und keine Partei hinter uns. Die einzige Kraft, die wir haben, ist unsere Stimme und unsere Verletzlichkeit. […] Wir haben und brauchen Abstand. Genau das ist unsere Expertise, die Voraussetzung für einen anderen, hoffentlich freieren Blick. Vielleicht ist ja der Künstler, der sich politisch äußert, die einzige authentische politische Figur“ (ebd. S. 19). Diese Zitate aus der Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis stehen neben vielen weiteren Reden und Aufsätzen zur Rolle des Autors und zu seinem Verhältnis zur Gesellschaft, zur Politik und zu seinen Kritikern (s. vor allem die Aufsätze Wer den Mund aufmacht, macht sich angreifbar. Günter Grass zum 85. Geburtstag, Dünne Haut und Konsensschrott. Schriftsteller und ihre Kritiker und Mut zur Wut. Sibylle Lewitscharoff und die Meinungsfreiheit). Selbstverständlich müsse sich die politische Dimension des Autors ebenfalls in der Literatur ausdrücken, denn in ihr sieht Menasse die einzige Chance, bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsdiskurse zu unterlaufen und aufzulösen, weil sie „ambivalent sein darf und muss. Unambivalente Literatur ist Unterhaltungsliteratur, ist banal“ (zit. n. Waldow 2001, S. 86). Nur in der Literatur findet das Unausgesprochene einen Platz; sie kann die Kompliziertheit der Welt „auffangen“ (ebd. S. 87) und bearbeiten. Darüber hinaus hat, wie oben bereits beschrieben, Literatur die Funktion des Erinnerns, indem das Erzählen selbst zum Ort des Erinnerns und damit zu einem wesentlichen Moment der Identitätsbildung wird (vgl. ebd. S. 89).

Präimplantationsdiagnostik
„Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war in den vergangenen sieben Jahren sechs Mal schwanger und habe zum Glück ein gesundes Kind. Die anderen fünf Male endeten, nackt unter dünnem Hemd, auf gynäkologischen Operationstischen. Eileiterschwangerschaften, Fehlgeburten, schwarze Löcher, Tränen, Depressionen“ (Menasse 2015, S. 33). Mit diesen Worten offenbart sich Eva Menasse mutig in ihrem Essay zur Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) Nicht christlich, sondern krank, in dem sie die leichtfertig abgetane Diskussion um die künstliche Befruchtung und Frühdiagnose heftig kritisiert. Im Gegensatz zu den verwerflichen Praktiken der Spätabtreibung ist eine PID nur in seltenen Fällen gesetzlich erlaubt, obwohl sie die Zahl der Spätabtreibungen und das Leid der „von ihren Genen verdammten Paaren“ (ebd. S. 31) deutlich verringernd würde. Sie beendet ihren Essay mit einem eindeutigen Appell für eine zugänglichere PID, weil der „Schutz eines Zellhaufens [nicht] über die körperliche und seelische Gesundheit von lebenden und fühlenden Menschen“ (ebd. S. 34) gestellt werden dürfe.
Dieses Thema findet sich häufig in Menasses literarischen Texten verarbeitet, wie z. B. in der Kurzgeschichte Gefräßigkeit in ihrem Erzählband Lässliche Todsünden, in der – wie es heißt – Martine einen „kurze[n] Blick auf ein bisschen Mull und Leukoplast in Fionas Leistengegend“ (Menasse 2009, S. 48) erhaschen konnte. Sie schließt auf etwas, das ihr als „Frauengeschichten“ (ebd.) bekannt ist, verbindet damit aber nur vage Vorstellungen von „Abtreibungen und Fehlgeburten, Zysten, Geschwulsten, geplatzten Eileitern und den Verheerungen, die sie in der Seelen der Frauen anrichten“ (ebd.). Das Thema bleibt jedoch die gesamte Erzählung über unangesprochen, sodass zu keinem Zeitpunkt Fionas Handeln auf diese Erfahrung zurückgeführt werden kann.

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Pressespiegel zu Lieber aufgeregt als abgeklärt [ ↑ ]
Zu ihrem 2015 erschienenen Essayband Lieber aufgeregt als abgeklärt gibt es bisher kaum Rezensionen, jedoch schon einige Radiointerviews, deren Verlinkungen unter diesem Abschnitt zu finden sind. Besonderes Interesse gilt ihren politischen Essays, die sich vor allem für einen politisch engagierten Schriftsteller und gegen eine politikverdrossene Haltung aussprechen. Im ORF Interview mit Peter Zimmermann (8.2.2015) hebt Eva Menasse die offeneren Haltung Österreichs hervor, da es dort viel selbstverständlicher sei, dass sich Schriftsteller ins tagespolitische Geschehen einmischen als in Deutschland, in dem es hinsichtlich der Schriftstellerei „ein komisches Elfenbeinturm-Getue“, so Menasse, gebe. Jedoch gehen die Interviews und die wenigen erschienenen online Rezensionen kaum über den Inhalt hinaus.  In einer Rezension des Radiosenders Deutschlandradio Kultur (12.2.2015) beginnt Helmut Böttinger damit, den Band in „die gute alte Gesellschaftskritik, wie wir sie von Heinrich Böll oder Grass aus den 60er, 70er Jahren“ her kennen, einzusortieren. Er geht über eine Wiedergabe des Inhaltes hinaus, wenn er in der gegensätzlichen Typisierung des Schriftstellers und Journalisten zu erkennen glaubt, dass Eva Menasse zu Pauschalisierungen neige. Ebenso in ihren oft amüsanten Gegenüberstellungen zwischen Österreichern und Deutschen beschreibt sie ein Bild, das eher dem „preußisch geprägten Norddeutschen und vor allem den Berlinern“ entspreche und lässt z. B. die Nähe der süddeutschen Mentalität zu Österreich außer Acht. Abschließend merkt er an, dass „wie immer […] auch einige Fragen offen“ bleiben, wie z. B. eine Untersuchung der möglichen Gründe des gegenwärtigen Verständnisses des Journalisten und des Schriftstellers. 

Rezension und Lesung bei BR Bayern 2.
Peter Zimmer Interview mit Eva Menasse (ORF am 8.2.2015).
Annet Mautner Interview mit Eva Menasse auf der Leipziger Buchmesse (mdr Figaro am 13.3.2015).
Helmut Böttiger Rezension (Deutschlandradio Kultur am 12.2.2015).

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