Roland Schimmelpfennig

Forschungsspiegel
Zwischen Dramatik und Postdramatik
Wie schon der Titel von Tom Mustrophs Artikel (Der Vielseitige) sagt, ist Roland Schimmelpfennig sehr vielseitig. Seine Stücke lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Es gibt keine bestimmte Methode, Form oder einen wiederkehrenden Topos (vgl. Mustroph 2001, S. 137). Allerdings bezeichnet er Die arabische Nacht als ein „klassische[s] dramatische[s] Werk“ (S. 134). Nikolaus Frei hingegen ist der Meinung, dass „eine […] Einordnung des Stücks unter den Begriff Drama problematisch“ sei (Frei 2006, S. 165). Melanie Dreyer findet, dass gerade Schimmelpfennigs unkonventionelle Verwendung der dramatischen Form, sein Mix aus Komödie und Drama und die universalen Themen ihn so beliebt an den internationalen Theatern macht (Dreyer 2005, S. 17). Der goldene Drache beinhaltet Elemente des postdramatischen Theaters, beispielsweise dadurch, dass der Vorgang des Zeigens von Gezeigtem sehr stark betont werde (vgl. Hausbei 2008, S. 79). Laut Peter Michalzik ist Roland Schimmelpfennig der „Poet[…] unter den heutigen Dramatikern“ (Michalzik 2008, S. 37) und weniger ein Realist oder Rationalist.
Kritiker bezeichnen Schimmelpfennig einerseits als dramatischen und andererseits als antidramatischen Autor (vgl. Kapusta 2011, S. 80). Sein Stück Auf der Greifswalder Straße enthalte sowohl antidramatische wie auch surreale Elemente. Seine Stücke seien kein engagiertes Theater. Schimmelpfennig wolle die Welt nicht verändern, sondern lediglich abbilden (vgl. Kapusta 2011, S. 94).
Des Weiteren sei Schimmelpfennigs Stil eine Bandbreite von „folkloristisch angelegten Geschichten“ wie in Die ewige Maria oder Die Zwiefachen bis zu Werken, „die aus dadaistischen Situationen gebaut sind“ (Frei 2006, S. 164). Danijela Kapusta ordnet Schimmelpfennigs Stücke beispielsweise in drei Kategorien ein. Zum einen seien da die dramatischen Stücke mit konflikt- und spannungsgeladenen Situationen. Dazu zählen Die ewige Maria, Die Zwiefachen, Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte, Besuch bei dem Vater und Die Frau von früher. Stücke wie Die arabische Nacht, Push up 1-3 oder Hier und Jetzt seien Stücke, die die dramatische Form experimentell benutzen. Als dritte Kategorie nennt Kapusta Stücke, in denen die dramatische Handlung und die Personen kaum noch zu erkennen sind. Die Figurenzahl steigt und es werden mehrere parallel laufende Geschichten erzählt (ebd., S. 80). Die Mittel dafür kommen aus dem epischen und dem aristotelischen Theater. (ebd., S. 94). Christine Laudahn hat sich in ihrer Monographie Zwischen Postdramatik und Dramatik am ausführlichsten mit Schimmelpfennig und seinen Theaterstücken befasst. Sie ist bis heute die einzige, die in diesem Umfang Schimmelpfennigs Schaffen analysiert hat.
Schimmelpfennigs individuelle und aufgewertete Figuren würden das aristotelische Theater widerspiegeln (vgl. Laudahn 2012, S. 362). Allerdings sprechen sie auch dagegen, da er sie zu Erzählern in seinen Stücken macht. Aristoteles forderte die Nachahmung von Handlung, das heißt die Figuren sind auf der Bühne tätig und erzählen nicht nur was sie gerade tun (vgl. ebd., S. 360). Christine Laudahn meint die Besonderheit in Schimmelpfennigs Werken im neuen Realismus zu sehen. Mit diesem verknüpft sie Vereinbarkeit von Tradition und Experiment (vgl. ebd., S. 357). Daher liege sein Schaffen auch zwischen Dramatik und Postdramatik, weil er es schafft Tradition und Innovation miteinander zu kombinieren (vgl. ebd., S. 365). Elemente der Dramatik liegen im Raum, der als verknüpfender Rahmen dient. Die Orte in seinen Stücken wechseln kaum und wenn, dann liegen sie sehr nah beieinander. Auf der anderen Seite weisen die etlichen Erzählstränge und die Vielzahl an Erzählern auf die Postdramatik hin (vgl. ebd., S. 357). Schimmelpfennig schafft es diese gegensätzlichen Elemente miteinander zu vereinen, sodass sie ein Ganzes bilden. Seine Dramen ahmen gesellschaftliche Lebenswirklichkeit nach (vgl. ebd., S. 361) und gleichzeitig haben sie „Fragmentcharakter“ und eine „Zitatstruktur“ (ebd., S. 357). Ersteres gehört zur Dramatik, letzteres zur Postdramatik.
Deutsche Gegenwartsdramatik
Kerstin Hausbei erläutert in ihrem Aufsatz Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform? drei Modelle der zeitgenössischen Dramaturgie am Beispiel des im Titel genannten Theaterstücks. Sie spricht von einer Zapping-Ästhetik, einer Revueform und dem Woyzeck-Modell (vgl. Hausbei 2008, S. 44). Unter der Zapping-Ästhetik wird eine Fragmentarisierung verstanden. Es geht um „die parataktische Reihung von Fragmenten aus voneinander zunächst unabhängigen Sinneinheiten“ (Hausbei 2008, S. 45). Die Revueform beruht auf einem Gerüst, welches durch eine Aufhebung der Struktur ersetzt wird (vgl. ebd., S. 50). An die Stelle der „Willkür des Zappens tritt […] die Zufälligkeit der räumlichen Nähe“ (ebd., S. 50). Das Woyzeck-Modell ist das Gegenteil von der Revueform. Es liegt eine argumentative Montage vor. Formal und thematisch heterogene Szenen sind klar strukturiert (vgl. ebd., S. 51). Kerstin Hausbei kommt zu dem Schluss, dass das Stück Vorher/Nachher der Revueform ähnlicher ist als der Zapping-Ästhetik, auch wenn es einige Züge dieser aufweist, wie beispielsweise die strukturelle Veränderung des Dramentextes oder der veränderte Rhythmus aufgrund der parataktischen Reihung der Szenen (vgl. Hausbei 2008, S. 45). Doch zwischen den einzelnen Szenen bestehen neben den zufälligen auch andere Interferenzen, bewusst platzierte, die für die Revueform sprechen (vgl. ebd., S. 49f.). Das Woyzeck-Modell kann ebenfalls auf das Stück angewendet werden. Manche Szenen aus Vorher/Nachher sind den Buden-/Lichter- und Volk-Szenen aus Woyzeck ähnlich (vgl. ebd., S. 51). Sie spiegeln auch den Wunsch nach Veränderung, einem Ausweg aus dem Alltag, wider. Für Kerstin Hausbei ist Schimmelpfennigs Stück Vorher/Nachher „ein Revival der Revueform“ (vgl. ebd., S. 52). Der goldene Drache habe eine Textform, die dem epischen Theater zuzuordnen sei aufgrund der 18 Rollen, die auf nur fünf Schauspieler verteilt sind (vgl. Meyer 2015, S. 78) oder wegen des Mittels des Verfremdungseffekts (vgl. Hausbei 2008, S. 80).
Ein weiteres Merkmal von Schimmelpfennigs Dramen sind laut Christine Laudahn der kompakte Bau und die Konzentration auf ein zentrales Thema. Zudem gebe es klare Spannungsbögen (vgl. Laudahn 2012, S. 48). Durch seine Collagetechnik sind die einzelnen Redebeiträge und Gedanken der Figuren „mit Sinn gefüllt“ (ebd. S. 50). Sie sind die logischen Bausteine der Geschichte, die erzählt werden soll (ebd., S. 50).
Viele der Stücke von Schimmelpfennig beziehen sich stark auf die Realität, was zur Folge hat, dass aus einer übersichtlichen Zahl an Figuren Autoren wie er „einen Querschnitt durch die zeitgenössische Gesellschaft“ ziehen und somit dem Roman thematisch nahe stehen (Kapusta 2011, S. 79). Danijela Kapusta spricht in diesem Zusammenhang von einem fotografischen Theater. Dahinter verbergen sich Momentaufnahmen aus dem Alltag, die kausal nicht zusammenhängen. Auf der Greifswalder Straße sei ein Beispiel für diese Art von Theater (ebd., S. 79f.).
Bedeutung des dramatischen Textes
Das gegenwärtige Theater bekommt seine ästhetischen Impulse nicht vom Text selbst (vgl. Michalzik 2008, S. 32). Er wurde durch die Regie abgelöst. Das Drama reagierte darauf mit einer Spezialisierung der Autoren auf Sprache, Ton und Milieu (ebd., S. 32). Peter Michalzik sieht in Schimmelpfennigs Stücken eine Gegenbewegung zur Postdramatik (ebd., S. 32). Seine Texte basieren in der Regel auf einem oder auf mehreren dramatischen Konflikten (vgl. Kapusta 2011, S. 96). Bei den Theaterstücken von Schimmelpfennig und auch von anderen Autoren wie Dea Loher, Lukas Bärfuss oder auch Moritz Rinke, steht der Dramentext wieder im Vordergrund (vgl. Meyer 2015, S. 76). Für Schimmelpfennig sei der dramatische Text die Grundlage jeder Aufführung (ebd., S. 76). Mit dieser Meinung distanziert er sich von dem Regietheater aus den 70er und 80er Jahren (vgl. Laudahn 2012, S. 49). Er setzt verstärkt auf Mimesis und die dramatische Situation, das Erzählen von Geschichten ist für ihn interessant (ebd., S. 356). Schimmelpfennig stellt den Inhalt über die Form (ebd., S. 361).