Charakteristika des Werks

Die arabische Nacht

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Die arabische Nacht [ ↑ ]
In einem Mietshaus sucht der Hausmeister Hans Lomeier das Wasser, das er rauschen hört, das aber im siebten Stock versickert. Dort wohnen Fatima Mansur und Franziska Dehke in Appartement 32. Franziska kommt jeden Abend von der Arbeit nach Hause und kann sich nicht mehr an den Tag erinnern. „Was habe ich nur den ganzen Tag gemacht“ (S. 310), fragt sie sich immer wieder im Text. Sie ist so verwirrt, dass sie noch nicht einmal weiß, ob sie duschen gehen soll. Fatima hingegen wartet nur darauf, dass Franziska endlich duschen geht, so wie sie es jeden Abend tut und danach auf dem Sofa einschläft. Es wird erwartet, dass die täglichen Routinen eingehalten werden, wozu auch gehört, dass sie ihren Freund Kalil anruft, denn „[s]ie ruft jeden Abend an. Immer nach Sonnenuntergang“ (S. 311). Fatima und Kalil treffen sich jeden Abend in ihrer Wohnung. Franziska weiß nichts von ihm und kennt ihn nicht, weil sie, wenn er kommt, schon immer auf dem Sofa schläft.
Erst im Traum beginnt ihr Leben. Im Traumreich ist sie eine orientalische Prinzessin, die zuvor als Kind auf einem Basar entführt worden ist. Auf ihr lastet der Fluch ewiger Amnesie, weil die erste Frau des Sultans Kafra eifersüchtig auf Franziska ist, da sie die neue Frau an seiner Seite werden soll (vgl. S. 325). Beim Duschen wird Franziska vom Nachbarn Karpati im gegenüberliegenden Haus beobachtet. Er fühlt sich von ihr magisch angezogen und macht sich auf den Weg zu ihr. Nach und nach versuchen drei Männer sie wach zu küssen. Der erste ist Karpati aus dem gegenüberliegenden Haus. Er küsst sie und landet in einer Cognacflasche. Der zweite ist Fatimas Freund Kalil, der zuvor im Fahrstuhl stecken geblieben ist. Kurz vor dem Kuss, der eher von Franziska ausgeht, kommt Fatima in die Wohnung und überrascht die beiden. Sie jagt ihren Freund mit einem Messer durch das ganze Mietshaus und ersticht ihn am Ende. Lomeier ist der letzte, der Franziska küsst. Diesmal wacht sie auf und die beiden fühlen sich zueinander hingezogen. Sie machen an der Stelle weiter, wo sie in einem anderen Leben aufgehört haben: im Ehekrieg. Karpati in der Flasche wird vom Balkon gestoßen und stirbt.
Die beiden Ebenen Realität und Traum verschwimmen zum Ende des Stückes immer mehr, bis eine Unterscheidung fast unmöglich wird. Schimmelpfennig thematisiert in seinem Stück die Isoliertheit der Menschen. Es gibt kein Miteinander mehr, sondern das Leben der Einzelnen spielt sich in ihren Köpfen ab. Es ist eine Illusion. Das Stück besteht aus fünf ineinander montierten Monologen. Da die Figuren wenig miteinander und mehr übereinander reden, wirken sie sehr kontaktarm.

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Thematische Aspekte zu Die arabische Nacht [ ↑ ]

Traumwelt vs. Realität
Franziska ist die Schlüsselfigur des Stücks Die arabische Nacht. Sie ist die Verbindung zwischen der Realität und der Traumwelt. Sobald die anderen Figuren mit ihr in Berührung kommen, landen sie ebenfalls in Franziskas Traumwelt . Karpati findet sich nach dem Kuss als Flaschengeist in einer Cognacflasche wieder, Kalil ist auf einmal in einer Wüstenwelt, während seine Freundin Fatima ihn von einer Wohnung in die andere jagt, in denen Kalil von einem Harem im nächsten landet. Lomeier taumelt ebenfalls durch die Wüste auf der Suche nach dem Wasser in Stockwerk sieben. Er ist mit seiner früheren Frau am Bosporus und trifft die Eltern von Franziska, die auf einem Bazar entführt worden ist und die Geliebte des Scheichs wird. Zum Ende des Stücks  verschmelzen diese beiden Ebenen immer mehr miteinander und werden eins. Dies wird deutlich, wenn Lomeier in Franziskas Wohnung steht und eine Visitenkarte von ihrem Vater in seiner Kitteltasche verschwinden lässt, die er zuvor von ihm im fantastischen Orient bekommen hat.

Beispiel: Auszug aus Die arabische Nacht (S. 336 und S. 340)
LOMEIER Der Mann neben der Frau an der Reling sagt: Aber vielleicht
war es auch gut so. Denk doch, was uns das Kind über die Jahre hin
an Geld gekostet hätte, die Ausbildung allein, wie vieles hätten wir
uns niemals leisten können. All die Reisen –
Und dann reicht er mir seine Karte: Helmut Dehke, Versicherungs-
kaufmann.
[…]
LOMEIER […]
Ich ziehe den Kittel aus und lasse dabei die Visitenkarte in der Au-
ßentasche verschwinden. Wie sollte ich ihr das erklären –

In Der goldene Drache gibt es eine ähnlich fantastische Szene. Nachdem dem kleinen Chinesen der Zahn gezogen worden ist, entdeckt einer der Küchenangestellten Menschen in der Zahnlücke. Es ist die Familie des Chinesen, die sich Sorgen um ihn macht und wissen möchte, wie es ihm geht. Der Chinese unterhält sich mit seiner Familie in der Zahnlücke.
Beispiel: Auszug aus Der goldene Drache (S. 240)
DER MANN ÜBER SECHZIG
Da ist jemand drin –
In der Zahnlücke des kleinen Chinesen sitzt eine
Gruppe von Leuten im Kreis.
[…]
DIE JUNGE FRAU In der Zahnlücke, die nicht aufhört zu bluten, sitzen
meine Mutter, mein Vater, meine Onkel, meine Tante,
und noch ein paar andere Leute.
Warum rufst du nie an. Ruf uns doch an.

Sehnsucht nach der Fremde
Schimmelpfennigs Figuren sehnen sich nach der Fremde. Franziska aus Die arabische Nacht träumt vom Orient und zieht alle anderen Figuren mit in ihre Traumwelt, sobald diese mit ihr in Kontakt treten. Ihr Traum von der Wüste, in dem sie an der Seite eines Scheichs lebt, symbolisiert die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Ein Leben außerhalb der Hochhaussiedlung, ohne einen ganz gewöhnlichen Job.

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Formale Aspekte zu Die arabische Nacht [ ↑ ]

Raum- und Zeitstruktur
Schimmelpfennig spielt in seinen Theaterstücken mit Raum und Zeit. Für seine beiden Stücke Der goldene Drache und Die arabische Nacht wählt er eine geschlossene Raumstruktur. In dem einen Stück ist es das Mehrfamilienhaus mit dem asiatischen Schnellimbiss im Erdgeschoss und in dem anderen ist es ein mehrstöckiges Mietshaus. Beide Räume erwecken das Gefühl von Enge und Eingeschlossenheit, was die Versuche des Ausbruchs und der Sehnsucht nach der Fremde erklärt (vgl. Laudahn 2012, S. 80; S. 95). Die Beschreibung des Wohnhauses, in dem Franziska und Fatima in Die arabische Nacht wohnen, zeugt von Anonymität: Die langen Flure und die Durchnummerierung der Wohnungen, geordnet nach Stockwerk und Anzahl der Wohnungstüren (vgl. ebd., S. 108). Dadurch wird auch das Feststecken der Figuren in den gegebenen Verhältnissen deutlich (vgl. ebd., S. 109).
Durch Repetitionen, wie sie in Die arabische Nacht häufig vorkommen, verlangsamt sich die Zeit (vgl. ebd., S. 137).
Beispiel: Auszug aus Die arabische Nacht (S. 307)
LOMEIER Sie läßt den Schlüssel fallen – besser als die Tüten
FATIMA Der Schlüssel fällt mir runter […].

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Pressespiegel zu Die arabische Nacht [ ↑ ]
Die Inszenierung von Die arabische Nacht ist laut Marcus Erb-Szymanski von LeipzigAlmanach (15.03.2001) eine „rundum gelungene Premiere“. Die Inszenierung bringe den Kern des Stückes, dass sich das Leben nur noch in den Köpfen abspielt und der Mensch in seinen Gedanken gefangen bleibt, gut zur Geltung. Auf der anderen Seite redet Christopher Schmidt von der Zeit (15.02.2001) von einer „mäßig gute[n] Aufführung“ unter der Regie von Samuel Weiss. Allerdings müsse das Stück sehr gut sein, wenn die Theater immer wieder zu diesem Stück greifen (ebd.). Andreas Schäfer von der Berliner Zeitung (12.05.2001) bezeichnet Die arabische Nacht als „das Stück des Jahres“.

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Forschungsspiegel zu Die arabische Nacht [ ↑ ]

Zwischen Dramatik und Postdramatik
Wie schon der Titel von Tom Mustrophs Artikel (Der Vielseitige) sagt, ist Roland Schimmelpfennig sehr vielseitig. Seine Stücke lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Es gibt keine bestimmte Methode, Form oder einen wiederkehrenden Topos (vgl. Mustroph 2001, S. 137). Allerdings bezeichnet er Die arabische Nacht als ein „klassische[s] dramatische[s] Werk“ (S. 134). Nikolaus Frei hingegen ist der Meinung, dass „eine […] Einordnung des Stücks unter den Begriff Drama problematisch“ sei (Frei 2006, S. 165). Melanie Dreyer findet, dass gerade Schimmelpfennigs unkonventionelle Verwendung der dramatischen Form, sein Mix aus Komödie und Drama und die universalen Themen ihn so beliebt an den internationalen Theatern macht (Dreyer 2005, S. 17).

Der Goldene Drache

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der Goldene Drache [ ↑ ]
Mittelpunkt des Theaterstücks ist ein Thai-China-Vietnam-Restaurant mit dem Namen Zum Goldenen Drachen. Dort wird einem illegal eingewanderten jungen Chinesen, der auf der Suche nach seiner Schwester ist, in der Küche ein Zahn gezogen, welcher dann in der Suppe einer Stewardess und schließlich in ihrem Mund landet. Der Chinese verblutet und wird in einen Drachenteppich eingewickelt und in den Fluss geworfen. Er schwimmt wieder zurück nach Hause, tot und ohne seine Schwester. Über dem Restaurant wohnt ein Greis mit seiner Enkelin. „[Er] wäre so gerne wieder, wie [er] einmal war. Jung.“ (S. 216). Ein junger Mann ist von seiner Freundin wegen eines anderen verlassen worden und wünscht sich, sie hätte den Neuen nie kennengelernt. Ein junges Paar entfernt sich voneinander wegen einer ungewollten Schwangerschaft. Alle Figuren sind in irgendeiner Weise unzufrieden mit ihrem Leben und wünschen sich, es würde wieder wie früher.
Neben diesen Einzelepisoden wird noch eine Fabel von Jean de La Fontaine erzählt: Die Ameise und die Grille. Die Grille kümmert sich den ganzen Sommer lang nicht um den bevorstehenden Winter, sondern singt. Als sie im Winter nichts zu essen hat, sucht sie bei der fleißigen Ameise Unterschlupf. Als Gegenleistung soll die Grille die Ameisen unterhalten und letztendlich wird bei Schimmelpfennig die Ameise zum Zuhälter der Grille.
Diese Fabel spiegelt das Schicksal der jungen Frau, der Schwester des toten Chinesen wider. Sie lebt bei einem alten Lebensmittelhändler und muss sich auch prostituieren. Der Greis versucht durch sie wieder jung zu werden, allerdings ohne Erfolg. Der betrunkene Kumpel des Lebensmittelhändlers misshandelt die junge Chinesin und dabei geht sie – wie es im Text heißt „kaputt“ (S. 258), als sei sie ein Spielzeug und kein Mensch. Auch dies ist eine Parallele zur Grille in der Fabel.
Das Stück Der goldene Drache besteht aus 48 Szenen. Es gibt 18 Rollen, die aber von nur 5 Akteuren gespielt werden. Die Regieanweisungen werden von den Schauspielern mitgesprochen. Die einzelnen Szenen hängen nicht unbedingt zusammen, sondern sind lose aneinander gereiht. Erst am Ende werden Zusammenhänge klar, wie die Übertragung der Fabel auf das Schicksal der jungen Asiatin oder der Name des Restaurants in Verbindung mit dem Chinesen eingewickelt in einen Drachenteppich. Das Stück ist formal in einen Mikrokosmos eingebettet. Jeder ist mit jedem verbunden. Die Verbindung entsteht beispielsweise durch den kariösen Zahn des Chinesen im Mund der Flugbegleiterin. Das Stück ist wie ein Szenenmosaik, das sich um Parallelwelten dreht. Die Szenen sind sehr kurz und werden an den spannenden Stellen abgebrochen. Diese Cliffhanger sorgen dafür, dass der Leser oder Zuschauer dabei bleibt.
In dem Stück werden die Männerrollen von Frauen gespielt und die Frauenrollen von Männern. Zusätzlich spielen die jungen Schauspieler die Rollen der alten Figuren und umgekehrt. Anstatt miteinander zu sprechen, wird mehr das Publikum adressiert. Dadurch wird eine Verfremdung im Sinne Brechts erreicht. Das Stück handelt von den negativen Seiten der Globalisierung. Es geht um sexuelle und ökonomische Ausbeutung der Schwachen, d.h. die Ausbeutung der (illegalen) Fremden, die versuchen in Europa ihre Existenz zu sichern. Schimmelpfennig fokussiert genau die Schicksale und Haltungen, mit denen die Menschen in Europa nichts zu tun haben wollen: Illegalität, Zwangsprostitution und eine Wohlstandsgesellschaft, die die Notlagen der Menschen, die nach Europa flüchten, ausnutzt, werden verdrängt. Zentral ist hierfür die Szene, in der zwei Stewardessen auf der Höhe Westafrikas aus dem Fenster des Flugzeugs schauen und die eine ihre Kollegin Eva fragt: „Ist das nicht ein Boot?“ (S. 232); als die Angesprochene skeptisch abwinkt, betont die erste: „Ja, ein Boot! Ein Boot voll mit Leuten, siehst du es nicht?“ (ebd.) Beide entschließen sich im Gespräch darüber, nichts gesehen zu haben – Verdrängung ist also die europäische Wohlstandsperspektive, die Schimmelpfennig in seinem Stück kritisch reflektiert.

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Thematische Aspekte zu Der goldene Drache [ ↑ ]

Globalisierung
In Der goldene Drache werden die ungleichen Machtverhältnisse deutlich. Vor allem am Beispiel der Ameise und der Grille beziehungsweise des Lebensmittelhändlers und der Asiatin. Für die Ameise ist die Grille minderwertig und nimmt sich somit die Freiheit heraus, über sie bestimmen und verfügen zu können, wie es ihr gefällt. Zudem wird die Differenziertheit der Welt durch die Globalisierung angesprochen. Verschiedene Lebensformen treffen aufeinander. So steht das asiatische Schnellrestaurant in Deutschland und die Flugbegleiterinnen erfahren auf ihren Flügen immer neue Kulturen.

Verdrängung
Die Figuren in dem Stück Der goldene Drache versuchen ihre Probleme zu verdrängen, allerdings erfolglos. Der Großvater möchte noch einmal wieder jung sein und versucht es bei der Asiatin, die für den Lebensmittelhändler als Prostituierte arbeitet. Der junge Chinese verdrängt seine Schwester und die Suche nach ihr sowie seine Heimat, wird aber unter Zahnschmerzen wieder daran erinnert. Auf der Ebene der Parabel kümmert sich die Grille nicht um die Beschaffung von Futter für den Winter und muss sich letztendlich für die Ameisen prostituieren um zu überleben. Am Ende stirbt sie dennoch wegen ‚Abnutzung‘. Auch die Flugbegleiterinnen verdrängen ein Problem: die Flüchtlingsthematik. Die eine von ihnen sieht aus dem Flugzeug ein Boot auf dem Wasser, die andere nicht. Das Problem ist zu weit weg und betrifft sie nicht direkt, um Bedeutung für sie zu haben. Auch der Zahn in der Suppe der Stewardess Inga ist ein Zeichen der Verdrängung und vielleicht auch der Überforderung. Statt den Zahn zu entsorgen, behält sie ihn erst einmal und weiß nicht, was sie mit ihm machen soll. „Wohin damit, ich kann ihn nicht wegschmeißen, aber ich kann ihn auch nicht behalten“ (S. 245). Genauso wird mit den Flüchtlingen umgegangen, die auch niemand haben möchte, aber auch niemand einfach wieder wegschicken kann. Am Ende wirft sie ihn von der Brücke in den Fluss, wo zuvor auch die Leiche des Chinesen entsorgt worden ist. „Der Zahn ist weg. Als ob er nie dagewesen wäre“ (S. 260). Die Menschen wollen sich nicht um das Problem mit den Flüchtlingen kümmern, also wird so getan, als ob es keines gibt.

Sehnsucht nach der Fremde
Die beiden asiatischen Geschwister in Der goldene Drache suchen die Fremde. Beide verlassen ihre Heimat mit der Aussicht auf ein besseres Leben in Europa. Am Ende bezahlen sie ihr Abenteuer mit dem Tod.

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Formale Aspekte zu Der goldene Drache [ ↑ ]

Haupt- und Nebentext
In Der goldene Drache wie auch in Die arabische Nacht führen die Figuren Selbstgespräche. Sie sprechen nicht nur das aus, was sie mitteilen wollen, sondern sie bringen auch ihre Gefühle, ihre Beobachtungen und Handlungen zum Ausdruck. Jeder ist die Kamera eines anderen, es herrscht völlige Transparenz vor. Jede Regieanweisung und Beschreibung aus dem Nebentext wird in den Haupttext mit eingegliedert (vgl. Meyer 2015, S. 79).
Beispiel: Auszug aus Der goldene Drache (S. 205)
DER MANN Nicht schreien, aber er schreit; er schreit, und wie er
schreit –
Die junge Frau schreit vor Schmerz.
Die Frau über Sechzig brät Nudeln im Wok. Es zischt.

Raum- und Zeitstruktur
In Der goldene Drache versucht Schimmelpfennig den Fortlauf der Zeit aufzuhalten. Beispielsweise durch den Einschub fantastischer Elemente (vgl. Laudahn 2012, S. 138), wie das Gespräch des Chinesen mit seiner Familie zeigt, die in seiner Zahnlücke sitzt (vgl. Der golden Drache, S. 240f.).
In Schimmelpfennigs Theatertexten herrscht „kein vorwärtsdrängendes Nacheinander, sondern ein simultanes Nebeneinander“ (Laudahn 2012, S. 151) vor. Die einzelnen Szenen in Der goldene Drache laufen parallel ab und auch in Die arabische Nacht gibt es parallele Handlungsstränge.

Verfremdungseffekt
Nicht nur das Gender- und Age-Crossing im Stück Der goldene Drache ist Teil des Verfremdungseffekts. Die Tierfabel von der Ameise und der Grille verfremdet das Thema Zwangsprostitution. Sie mildert das Mitleid und „schützt vor dem Schrecken über die dahinter verborgene Gewalt“ (Meyer 2015, S. 83f.).

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Pressespiegel zu Der goldene Drache [ ↑ ]
Der goldene Drache ist 2010 als Stück des Jahres ausgezeichnet worden. Cathrin Elss-Seringhaus von der Saarbrücker Zeitung (07.09.2012) ist der Meinung, es sei Schimmelpfennigs erfolgreichstes Stück. Seine „hohe Bühnentauglichkeit“ (ebd.) beweist Der goldene Drache mit seiner einfachen Sprache in den Dialogen, die erst auf der Bühne ihre Kraft unter Beweis stellen. Trotz des Minimalismus bei der Inszenierung am Burgtheater in Wien, der als Mangel gesehen wird, glänzt das Stück laut Ulrich Weinzierl von Die Welt (07.09.2009) mit einer inhaltlichen Fülle. Wenige Requisiten reichen aus, um klare Bilder zu erzeugen. Der Verfremdungseffekt sei „vorzüglich“ aufgrund der Leistung der fünf Schauspieler. Auch Stefan Bläske hebt auf Nachtkritik (05.09.2009) die schauspielerische Leistung der Darsteller hervor. Diese nehmen ihre Rolle ernst, doch sie sind gleichzeitig „lustvoll-verspielt“. Kritisiert wird die Machart der Inszenierung. Schimmelpfennig, der auch Regie geführt hat, sei zu sehr Autor. Trotzdem sei die Inszenierung gut verlaufen. Petra Hallmayer (Die Süddeutsche Zeitung, 15.05.2015) lobt die Inszenierung des Stückes von Jochen Schölch. Sie sei „antiillusionistisch“ und strikt nach Forderung des Autors gestaltet, indem Schölch das im Text angedeutete Gender- und Age-Crossing anwendet. Der Text sei „wunderbares Spielmaterial“ und Schölch habe ihn „liebevoll und gewitzt“ auf der Bühne umgesetzt. Auch die Inszenierung am Akademietheater in Wien sei gelungen. Sie sei Verwandlung und Verzauberung“ zugleich laut Gerhard Stadelmaier von Die Frankfurter Allgemeine (07.09.2009). 

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Forschungsspiegel zu Der goldene Drache [ ↑ ]

Zwischen Dramatik und Postdramatik
Der goldene Drache beinhaltet Elemente des postdramatischen Theaters, beispielsweise dadurch, dass der Vorgang des Zeigens von Gezeigtem sehr stark betont werde (vgl. Hausbei 2008, S. 79). Laut Peter Michalzik ist Roland Schimmelpfennig der „Poet[…] unter den heutigen Dramatikern“ (Michalzik 2008, S. 37) und weniger ein Realist oder Rationalist.

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An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts [ ↑ ]
Ein polnischer Bauarbeiter sieht 80 Kilometer vor Berlin einen Wolf und fotografiert ihn. Die Spuren des Wolfs reichen bis nach Berlin und verbinden die einzelnen Schicksale der Figuren: Ein Jäger erfriert im Wald auf der Suche nach dem Wolf. Ein Mädchen namens Elisabeth wird zu Hause von seiner Mutter geschlagen. Sie läuft mit ihrem Freund Micha weg und irrt mit ihm durch Berlin, während eine junge Frau die Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter verbrennt. Der Vater des Jungen, ein trockener Alkoholiker, sucht die Kinder, trifft sich mit seinem Bruder Udo in Berlin und fängt wieder an zu trinken. Am Ende fällt er seinem Sohn vor die Füße, der ihm helfen möchte und dabei von einem Auto angefahren wird und erst im Krankenhaus wieder aufwacht. Die Mutter des Mädchens, eine depressive Künstlerin, trifft eine alte Freundin wieder. Die beiden reden über die Vergangenheit und haben Spaß wie schon lange nicht mehr. Ein Paar, Charlie und Jackie, haben einen Kiosk und Beziehungsprobleme, weil der umherschleichende Wolf Charlie zunehmend nervös macht. Er will ihn finden und erschießen, schafft dies aber nicht, noch nicht einmal in seinem Traum, in dem er dem Wolf nur in die Pfote schießt. Agnieszka betrügt ihren Freund Tomasz, den polnischen Bauarbeiter, mit einem Deutschen. Sie wird schwanger und will Tomasz verlassen, aber der Vater des Kindes will nichts von ihr wissen. Also bleibt sie bei Tomasz. Am Ende verliert sie das Kind allerdings..
Der Roman handelt von Orientierungslosigkeit und sozialer Kälte. Es geht um Suche und Flucht und um Gefühle, über die keiner offen spricht. Tomasz redet mit seiner Freundin und seiner Familie in seinem Kopf, denn dort „sagt[…] er all das, was er nicht sagen k[ann]“ (S. 237). Der Erzähler schildert die einzelnen Schicksale nüchtern und emotionslos. Er bleibt distanziert, sodass die LeserInnen keine Beziehung zu den einzelnen Figuren aufbauen können, sondern wie die Figuren nur BeobachterInnen des Lebens bleiben. Der Roman zeigt eine Gesellschaft, die vor dem Abgrund steht und allmählich die Kontrolle verliert. „Wir sind das Auge“, sagt Charly und macht deutlich, dass der Wolf diese Rolle des Menschen in Frage stellt, indem er die Aufmerksamkeit auf sich zieht und dem Menschen anscheinend immer einen Schritt voraus und nicht zu fassen ist. „Wir müssen aufpassen, sonst sind wir nicht mehr das Auge“ (S. 39)
Die einzelnen Figuren sind unentschlossen und haben resigniert. Der einstige Erfolg aus ihrer Vergangenheit, wie etwa eine bekannte Künstlerin zu sein, ist verschwunden und die Figuren leben nur noch vor sich hin, jeder für sich, ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Der Roman besteht aus 103 Kapiteln. Diese sind aber nicht durchnummeriert. Manche von ihnen sind sehr kurz und noch nicht einmal eine Seite lang. Sie enden offen. Der Aufbau des Romans ähnelt einem Drehbuch, da die Kapitel teilweise nur aus Dialogen bestehen. Außerdem werden die Figuren trotz eines Erzählers nicht beschrieben, sondern sie charakterisieren sich selbst durch ihr eigenes Handeln.

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Thematische Aspekte zu An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts [ ↑ ]

Suche und Flucht
In Roland Schimmelpfennigs erstem Roman An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind im Prinzip alle Figuren auf der Suche oder auf der Flucht. Charlie, der Kioskbesitzer ist auf der Suche nach dem Wolf, genauso wie die junge türkischstämmige Journalistin. Die Frau, die die Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter verbrennt, ist auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit. Die beiden Jugendlichen fliehen von zu Hause und werden von ihren Eltern gesucht. Und auch der polnische Bauarbeiter sucht am Ende seine Freundin.

Aufbruch
Einige Figuren in dem Roman brechen auf oder versuchen es zumindest. Der Wolf macht den Anfang. Er ist auf dem Weg von der deutsch-polnischen Grenze nach Berlin, um dort am Ende spurlos zu verschwinden. Der Vater des Jungen ist trockener Alkoholiker, macht sich auf den Weg seinen Sohn zu suchen und erleidet bei seinem Bruder einen Rückfall. Jackie und Charlie haben einen Kiosk eröffnet und somit einen neuen Lebensabschnitt begonnen, der durch den Wolf, welcher Charlie wahnsinnig macht, gestört wird.

Der Wolf
Der Wolf ist eine Art roter Faden, der sich durch den Roman zieht. Zuerst wird er vom polnischen Bauarbeiter Tomasz auf der Autobahn entdeckt und fotografiert. Das Foto landet bei der Presse und die Nachricht vom Wolf verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ab diesem Zeitpunkt ist der Wolf in aller Munde und macht den einen wahnsinnig ( wie Charlie) oder verhilft einer jungen Journalistin vielleicht zu ihrer ersten großen Story. Im Wald, durch den die Kinder Elisabeth und Micha irren, tauchen Spuren im Schnee von ihm auf, bis er schließlich in Berlin auf den Bahngleisen verschwindet. Er schleicht sich in das Leben der Figuren, ohne wirklich eine Rolle in dem Roman zu spielen. Der Wolf spiegelt das Leben der Figuren wider. Wölfe sind eigentlich Rudeltiere, so wie Menschen in der Regel in einer Gesellschaft leben. Im Roman streift der Wolf alleine umher, vielleicht auf der Suche nach einem neuen Rudel. Die Figuren sind ebenfalls auf der Suche, nach sich selbst, nach anderen und auch nach einem anderen Leben in einer anderen Gesellschaft, in der die Menschen wieder erfolgreich sind, in der es wieder so wie früher ist.

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Formale Aspekte zu An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts [ ↑ ]

Drehbuch-Charakter
Die 103 Kapitel des Romans An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ähneln einem Drehbuch.. Die Schicksale der einzelnen Figuren werden in kurzen Szenen dargestellt und setzen sich wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammen. Dabei geht es um ihre Beziehungen untereinander wie auch um sie selbst. Die eigene Identität spielt eine große Rolle. Wie bei einem Theaterstück sind die Dialoge nicht in den Text eingebettet, sondern separat untereinander geschrieben. Die einzelnen Szenen sind sehr kurz, wie auch in dem Stück Der goldene Drache, und hören an den spannenden Stellen auf. Diese lose miteinander verbundenen Szenen bilden einen Reigen.

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Pressespiegel zu An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts [ ↑ ]
Der erste Roman von Roland Schimmelpfennig wird in der Presse mit geteilter Meinung diskutiert. Die Nominierung des Romans für den Leipziger Buchpreis stößt bei manchem auf Unverständnis. Alexander Solloch von NDRkultur (23.02.2016) wertet Schimmelpfennigs virtuose Montage-Kunst eher als „erzählerisches Phlegma“. In Die Welt (22.02.2016) gilt der Roman laut Richard Kämmerlings als „klischeehaft“ und „einfältig“. Schimmelpfennig würde auf alle Mittel verzichten, die einem Roman Leben einhauchten. Es gebe weder interessante Figuren noch Spannung; keine Überraschungsmomente oder Humor. Und auch die Sprache sei wenig originell. Kämmerlings betitelt den Roman als einen „Roman ohne Seele“.
David Hugendick von Zeit (17.03.2016) sieht in Schimmelpfennigs Theaterstücken „sozialkritische, menschheitsparabelhafte Texte“. Doch er empfindet den Roman sprachlich als „pathetisches Geraune“, auch wenn der Stil der Kälte die Lakonie sei. Die kalte und wortkarge Sprache sei zu gewollt und wirke nicht gekonnt. Schimmelpfennig schreibe zu umständlich, wenn er die Mutter des Mädchens immer nur „die Mutter des Mädchens“ nenne, genauso beim Vater des Jungen. Hugendick ist der Meinung, dass Schimmelpfennig mit seinem Roman nur zeigen will, dass der Mensch der eigentliche Wolf und die Großstadt die eigentliche Wildnis ist. Es gehöre viel Fantasie dazu, um zu verstehen, warum dieser Roman preiswürdig sein soll. Schimmelpfennig überzeuge nämlich beispielsweise nicht mit seinem Versuch, Dramen der Alltäglichkeit abzubilden. Zudem vereine der Roman all die Aspekte der deutschen Gegenwartsliteratur, die nervend seien: Schimmelpfennig verwechsle Fantasielosigkeit mit Subtilität und verweigere jeglichen Humor und Witz.
Auf der anderen Seite findet Herbert Pfarrhofer von focus (27.02.2016), dass der Roman verdient auf der Liste der nominierten Preisträger stehe. Er bezeichnet Schimmelpfennig als „Meister der Lücke und des Minimalismus“. Sein Roman sei unterdessen nicht so weit vom Theater entfernt. Einerseits bestehen manche Kapitel nur aus Dialogen und andererseits werden die einzelnen Figuren weniger beschrieben, sie charakterisieren sich durch ihr Handeln. Auch Tobias Lehmkuhl von SWR2 (29.02.2016) lobt den Roman. Die Sprache sei in ihrer Einfachheit genauso poetisch wie in Schimmelpfennigs Theaterstücken. Er wisse genau, was er erzählen möchte. Der Titel des Buches sei ernsthaft und vielversprechend. Björn Hayer von Spiegel spricht ebenfalls über die nackte Sprache und bezeichnet Schimmelpfennigs Romandebüt als wortkarg im positiven Sinn. Diese würde nur noch „die bloße Existenz“ preisgeben. Der Roman zeige eine Gesellschaft, in der Visionen und Wünsche aufgegeben worden seien. Die Zeiten sind kalt und hoffnungslos. Die Neutralität des Erzählers täte sein Übriges. Die Darlegung der Schicksale der einzelnen Figuren lassen uns schaudern und frösteln. Carsten Hueck bezeichnet den Roman auf Deutschlandradio Kultur (22.02.2016) als ein „berührendes Buch“, welches gekonnt die Stimmung der Orientierungslosigkeit und der sozialen Kälte darlege.

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