Im Bauch der Königin

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Inhaltsangabe und Interpretationsansätze zu Im Bauch der Königin von Karosh Taha. Ein Beitrag von Merve Uyar, Nora Schulte, Jana Frehn und Miriam Guerbi  [ ↑ ]

Der Roman Im Bauch der Königin von Karosh Taha aus dem Jahr 2020 setzt sich aus Lebensaus- und abschnitten mehrerer Figuren zusammen und ver- und behandelt eine Reihe von Themen wie Adoleszenz, Sexualität, Familie, Ehe, Migration und Identität. Es handelt sich um einen Doppelroman, der als Wendebuch angelegt ist, d.h. es liegen zwei in sich abgeschlossene Romane vor, deren Schlüsse sich in der Romanmitte treffen. Diese zwei voneinander unabhängig lesbaren Geschichten erweisen sich als Varianten einer parallelen Realität. Die Lesereihenfolge ist nicht vorgegeben. Beide Seiten des Buchs zeigen das gleiche Cover, doch bereits der Paratext weist auf gestalterische Unterschiede in den Erzählungen hin. Foto und Beschreibung der Autorin sowie auch die Klappentexte variieren, sodass Leser*innen auf unterschiedliche Art und Weise auf die nachfolgende Romanvariante vorbereitet werden. Taha erzählt zwei alternative Geschichten, die mit denselben Figuren mit ähnlichen Biografien in derselben Umgebung (irgendwo in einem nicht näher bestimmten Ort im Ruhrgebiet) spielen. Die Beziehungen der Personen zueinander unterscheiden sich in den alternativen Erzählungen voneinander, doch ähneln sich Themen und Motive sowie Handlungsmuster, die an identischen Handlungsorten angesiedelt sind. Es handelt sich nicht um eine Geschichte, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, sondern beide Romane erscheinen wie zwei Varianten möglicher Lebensläufe mit jeweils einer Ich-Erzählerfigur, die ebenfalls variierend aus männlicher bzw. weiblicher Erfahrungswelt ihre Geschichte(n) erzählen. Manche Figuren werden den Lesenden jeweils aus der Perspektive der beiden Erzähler*innen Amal und Raffiq vorgestellt, einige wenige nur von jeweils einem der beiden. Amal und Raffiqs Familien kommen aus dem kurdischen Teil des Iraks; die beiden Erzähler*innen leben also in der zweiten Generation in einer nicht genauer genannten Stadt im Ruhrgebiet.
Die Jugendlichen befinden sich auf der Schwelle zum Erwachsenwerden inmitten ihrer vielschichtig angelegten Identitätssuche, einem zentralen Thema beider Romanvarianten. Sie räumen auf dieser Suche nach Identität Zwängen von außen und innen unterschiedlich viel Macht in der Gestaltung ihres Lebens ein. So verschieden die einzelnen Figuren sind, so unterschiedlich sind auch ihre Umgangsweisen mit diesem komplexen Geflecht an Anforderungen. Komplex ist das Anforderungsgeflecht u.a. deshalb, weil die Identitätssuche mit konfliktreichen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Werte- und Normvorstellungen verknüpft ist. So sind die beiden Erzähler*innen Amal und Raffiq sowohl Kritiker*innen der gesellschaftlichen Zwänge als auch zugleich diesen unterworfen. Dies zeigt sich etwa an Amal. Diese misst die in beiden Romanvarianten zentrale Frauenfigur Shahira, die Mutter von Younes, dem gemeinsamen Freund von Amal und Raffiq, zu Anfang an den Maßstäben der irakisch-kurdischen Community, unter denen sie selbst leidet. Amal bemerkt jedoch ihren konfliktreichen Zwiespalt selbst, wenn sie einräumt: „und ich schäme mich, weil ich verwirrt bin wie die Leute, weil ich blöd bin wie die Leute“ (S. 47 – Romanvariante Amal als Erzählerin). Es ist der Prozess der Vergesellschaftung und der Individuation, die im Roman ständig in Konflikt geraten.
Vor dem Hintergrund ihrer familiären Verhältnisse zeichnen sich viele mögliche Zukunftsentwürfe ab, die auch Raffiq als überfordernd empfindet: „Ich habe so viele Möglichkeiten, dass ich nicht weiß, was der richtige Weg ist. Wenn man etwas Konkretes hat, dann kann man daran arbeiten; wenn du mir sagst, rechne diese Aufgabe aus, dann kann ich das machen“ (S. 67 – Romanvariante Raffiq als Erzähler). Shahira ist die Gegenfigur zu den übrigen Frauen beider Romanvarianten, die allesamt das Rollenbild Hausfrau/Mutter/Ehefrau vertreten. Von den Bewohner*innen des Viertels wird Shahira als Hure diskreditiert. Amal und Raffiq allerdings wissen ihre Wärme und Fürsorge zu schätzen. Diese beiden Merkmale lassen sich auch auf den Titel des Romans beziehen, der in der Handlung selbst nicht weiter erklärt wird. Während Shahira sich jedoch nicht um die Meinung anderer Menschen kümmert, leidet ihr Sohn Younes darunter, dass die Leute in ihm weniger ihn selbst, als vielmehr den Sohn der skandalisierten Frau sehen. Dies eröffnet eine weitere Dimension der Identitätssuche, aus der für Younes die Hoffnung resultiert, die Stadt zu verlassen und unabhängig von den auch ihn attackierenden Vorurteilen gegen seine Mutter bei seinem Vater ein neues Leben zu beginnen.
Dabei ist zu betonen, dass die Anforderungen, die von außen an die Figuren gerichtet werden, in hohem Maße von der Kategorie Geschlecht abhängig sind. Im Vordergrund des Romans steht konkret das Anforderungsgefüge an das Weiblichsein und die sich daraus ergebenden Verhältnisse. Generell thematisiert der Roman die Gesellschaft in ihrer Funktion als mächtige Bedeutungsgeberin: Sie entscheidet grundsätzlich, was wie wahrgenommen und bewertet wird. So heißt es an anderer Stelle: „[W]ir Frauen müssen uns zurückhalten, um die Männer zu zügeln“ (S. 121 – Romanvariante Amal als Erzählerin), dies sagt die neue Frau von Amals Vater und fasst pointiert die herrschende Haltung im Irak und in der irakischen Community im Ruhrgebiet zusammen. Das Zitat verweist auf die omnipräsente primär durch die Männer erfolgende sexuellen Objektifizierung. An Shahira zeigt sich dies stellvertretend; sie dient als Projektionsfläche für alle Bewohner*innen des Viertels. Für die Männer ist sie eine Projektionsfläche für Sexualität, da sie ihren Körper zeigt und körperliche Zuneigung zulässt. Die Männer begehren sie, würden sich aus Anpassung an religiöse und gesellschaftliche Normen jedoch nicht zu ihr bekennen. Die Frauen sehen in ihr ein Feindbild, weil Shahira ihre Werte nicht teilt und weiterführt; so wird Shahira mit der Metapher einer „läufigen Hündin […], deren Rock alles von ihr preisgebe“ (S. 45 – Romanvariante Amal als Erzählerin) beschrieben. Für die Jugendlichen ist Shahira jedoch eine Mutterfigur, zu der sie sich hingezogen fühlen, von der sie die Nähe und Zuwendung bekommen, die ihnen zu Hause fehlt. Shahira ist die Versinnbildlichung der Verneinung diskursiver Grenzen und Normen. Sie ist „keine Nachbarin, sie ist keine Frau, sie ist kein Mensch – sie ist eine Idee“ (S. 44 – Romanvariante Amal als Erzählerin). Die Frau ist Lustobjekt und als so wahrgenommenes haben ihre Körperteile rein sexuelle Bedeutungen. Es braucht erst eine betont nicht als weiblich wahrnehmbare Körpergestalt, um den männlichen Kassierer des Gemüseladens „abzukühlen“ (S. 42 – Romanvariante Amal als Erzählerin), als er lüstern Shahiras Hand festhält. Die Frage, ob nicht die Männer ihre Haltung zu weiblicher Sexualität ändern sollten, stellt sich in der Textwelt nicht; im Gegenteil, Mädchen müssen, repräsentiert an dem Ideal der Frauenfigur Sanya, brav, klug, asexuell und hilfsbereit sein (vgl. S. 27 – Romanvariante Amal als Erzählerin). Amal wird hingegen als das „Mogli-Mädchen“ (S. 10 – Romanvariante Amal als Erzählerin) bezeichnet. Sie bildet damit die Gegenfigur zu Sanya und stellt eine in der Schule und auch in ihrem kurdischen Umfeld im Ruhrgebiet negative Normabweichung und somit einen Störfaktor dar, der wie ein kaputter Gegenstand mittels Sanktionen zum Zweck der Rolleneinfügung auch unter Inkaufnahme von Schmerzen behoben werden muss.
Die Frauenfiguren des Romans gehen mit den so beschriebenen Verhältnissen auf verschiedene Weise um. Die Ansätze reichen von vollständiger Konformität mit den Erwartungen der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe bis hin zu einem weitgehenden Bruch mit diesen. Die Figuren, die diese zwei Extreme präsentieren, sind Amals Mutter und Younes Mutter Shahira: Während die eine sich angesichts der als selbstverständlich hingenommenen Zügellosigkeit der Männer verschleiert, geht die andere offensiv mit ihrem und dem Begehren der Männer um. Beide werden für ihre Umgangsweise kritisiert, weil sie mit Erwartungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen brechen. Amals Mutter entscheidet sich konkret für ein Kleidungsstück, das Kopftuch, das in einer Kultur Unterdrückung symbolisiert, in einer anderen als religiöses Keuschheitssymbol wie ein Schutzschild wirkt. Shahira entscheidet sich für kurze, enge Kleider, die in der irakisch-kurdischen Gesellschaft als Symbol sexueller Offenheit gelten. Es wird deutlich, dass Kleidungsstücken je nach Framing und je nach gesellschaftsspezifischer Perspektive eine andere Bedeutung beigemessen wird, diese also grundlegend willkürliche Festlegungen darstellen. Damit treten diese und auch andere Symbole als in dieser Weise konstruiert in Erscheinung. Sie sind vieldeutig und abhängig von der jeweilig angesetzten Perspektive, so wie viele andere Symbole und gar Motive des Romans: die Farbe Rot, der Bauch, der Nacken und der Schoß.
Diese diskursiven Praxen erkennt im späteren Verlauf des Romans auch Amal, als sie im Irak in der Gegend spazieren gehen will: „nur ungeduldige, nur ne-sakini würden ziellos durch die Gegend laufen: Ein kurzes Kleid verwandelt eine Frau in Shahira“ (S. 121 – Romanvariante Amal als Erzählerin). Schließlich setzt sie sich wie Shahira über diese gesellschaftlichen Vorgaben hinweg und definiert die Kleidung und das Handeln so um, wie sie es selbst für richtig befindet. „Du kennst mich nicht“ (S. 97 – Romanvariante Amal als Erzählerin), sagt Amal, als ihr Cousin auf die Symbolkraft des Rauchens im Irak verweist. Die mit der Individuation einhergehenden Widersetzungsprozesse sind stärker als die der Vergesellschaftung. Die Analogie zu Shahiras Geschichte legt nahe, dass sich die beiden Frauen über die Symbole und den darin immanenten Werten der jeweiligen Orte hinwegsetzen, weil sie ihnen keine Bedeutung für sich als Individuen beimessen. In den jeweiligen Gesellschaften werden sie so zu einer Idee. Sowohl die Anpassung an wie auch der Bruch mit den Regeln und Normen ihres sozialen Umfelds verwirren diejenigen, die mindestens nach außen in Konformität mit diesen Normvorstellungen leben. Beide Frauenfiguren provozieren gleichermaßen Bewunderung wie auch Ablehnung, beide Frauen werden von ihrer sozialen Umgebung isoliert.
Sowohl am Anfang von Amals Geschichte als auch am Anfang von Raffiqs Geschichte erfährt der/die Leser*in wenig über die/den Ich-Erzähler*in selbst. In Amals Geschichte bleibt zunächst unklar, wie sie heißt und ob sie ein Junge oder ein Mädchen ist; was aber gleich zu Beginn deutlich wird, ist, dass Amal ihre Geschichte unbedingt (selbst) erzählen will. Auch am Anfang von Raffiqs Geschichte erfährt der/die Leser*in wenig über das Ich, sondern mehr über die Figur Younes. Raffiq spricht durch seine Erzählungen Younes mehr Bedeutung als sich selbst zu. Darüber hinaus wird am Anfang ein Eindruck der Isolation der Figuren vermittelt. In Amals Geschichte wirkt Amal selbst isoliert. Dies wird vor allem mit Hilfe des wiederholten Pronomens „mein“ (S. 7 – Romanvariante Amal als Erzählerin) verdeutlicht, welches dem ‚die anderen‘ gegenübersteht, als gäbe es das Ich auf der einen Seite und die Welt auf der anderen Seite. In Raffiqs Geschichte beschreibt der Ich-Erzähler Younes als Isolierten: „Keiner möchte gegen Younes kämpfen“ (S. 7 – Romanvariante Raffiq als Erzähler). Raffiq verallgemeinert dies und spricht von einer Gruppenerfahrung, was sprachlich durch das Indefinitpronomen ‚man‘ deutlich wird: „Wenn er einen an der Schläfe trifft, schlägt er etwas aus dem Körper, man ist nur noch ein Schatten […], man rennt ins Bad und übergibt sich, und die Angst vor Younes wächst“ (S. 7 – Romanvariante Raffiq als Erzähler). Dies steht auch im Kontrast zum Anfang von Amals Geschichte, die vor allem von sich selbst erzählt und den Younes ihrer Romanwelt verprügelt hat: „Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentliche größer und stärker war, zu verprügeln“ (S. 7 – Romanvariante Amal als Erzählerin). In beiden Geschichten kommt anfänglich Younes vor, wobei Amal eher seine psychische Verfassung beschreibt und Raffiq eher Younes physische Stärke. Beide bestreiten einen Kampf, in welchem Amal Younes verprügelt und Raffiq gegen Younes boxt, was jeweils auch als Kampf der Identitätsfindung aller drei Figuren verstanden werden kann.
Am Ende von Amals Geschichte verbindet das Schweigen Amal mit ihrer Mutter. Dabei steht dieses Schweigen im Gegensatz zum anfänglichen Erzählen. Amals Schweigen kann als Resignation gedeutet werden, da ihre Geschichte von den Menschen ihrer Umgebung ohnehin anders gehört, überhört und mit Zuschreibungen versetzt wird, weshalb sie nichts mehr erzählt. Den letzten Abschnitt ihrer Geschichte erzählt Amal anders als für eine Erzählung charakteristisch, in der Ereignisse in einer sinnstiftenden und logischen Ordnung versprachlicht werden. Für Amal „gibt es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur ein und“ (S. 129 – Romanvariante Amal als Erzählerin, Hervorhebung durch die Verf.), mit dem sie die erzählten Ereignisse aneinanderreiht. So findet ihre Geschichte für den/die Leser*in keinen Abschluss, sondern bleibt offen. Folglich äußert Amal auf einer Metaebene im Erzählen ein Bekenntnis gegen das Erzählen im Sinne einer überindividuellen Logik. Stattdessen bietet der Roman zwei Varianten der Geschichte und damit ein ‚und‘ an. Die Geschichte von Raffiq fängt nicht nur mit Younes an, sondern endet auch mit Younes. Während in Amals Geschichte am Ende ein ‚Ich‘ steht, endet Raffiqs Geschichte mit dem Satz „wir stehen auf“ (S. 125 – Romanvariante Raffiq als Erzähler), womit sich die Hoffnung auf eine Veränderung für die beiden Freunde Raffiq und Younes andeutet.

Im Bauch der Königin

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Geschlechternarrative. Ein Beitrag von Julia Lenzgen. [ ↑ ]

Der Roman Im Bauch der Königin strukturiert sich über den Diskurs tradierter Geschlechternarrative in Abhängigkeit der Kultur und der Herausbildung der eigenen Identität. Spätestens seit Judith Butlers Buch Das Unbehagen der Geschlechter wird deutlich, dass sich Geschlechtsidentität durch die diskursive Praxis und Normierungen der Kultur ergibt. Solche Narrative stellen tradierte Normen und Werte innerhalb einer Gesellschaft bzw. Kultur dar (vgl. Butler 1991, S. 27). Soziale Geschlechterrollen (gender) stehen im Gegensatz zum anatomischen Geschlecht (sex) und stellen kulturell geprägte Verhaltensweisen, die innerhalb einer Gesellschaft verbindlich bestimmen, was für das jeweilige Geschlechternarrativ als angemessen gilt (vgl. Wrede 2008, S. 177). Dabei definiert sich in der sozialen Konstruktion der Geschlechternarrative Weiblichkeit und Männlichkeit in der binären Matrix über die Opposition von Mann und Frau. Durch performative und kulturelle Akte bestimmt sich Weiblichkeit darüber, was Männlichkeit ist und umgekehrt (vgl. Schößler 2008, S. 18). Taha versucht mit ihren Romanfiguren traditionelle Geschlechternarrative aufzubrechen und stellt die Frage danach, was einen Menschen ausmacht und kennzeichnet, wenn die Reaktionen und Fremdwahrnehmungen der Außenwelt wegfallen. Sie fragt danach, ob sich Menschen auch ohne diese Narrative als männlich oder weiblich definieren oder ob die binäre Matrix infolgedessen dekonstruiert wird (vgl. Literaturforum im Brecht-Haus 2020, 38:20-39:47).

Kleidung

Mode strukturiert soziale Kommunikation, denn sie bietet Projektionsfläche und Platz für die Auseinandersetzung mit Geschlechternarrativen, weshalb die Analyse von Kleidercodes von großer Bedeutung ist (vgl. Mentges 2004, S. 571). Der Roman adressiert die narrative Ausformung der jeweiligen gesellschaftlichen Wahrnehmung bestimmter Kleider- und Bewegungscodes und wie diese dadurch geprägt werden.
Es herrscht gesellschaftliche Ablehnung gegenüber Frauen, die sich promisk kleiden und einen freizügigen Lebensstil pflegen, da sie eine Abweichung der gesellschaftlich tradierten Genderperformance darstellen (vgl. Möller 2020, S. 108). So wird auch Shahira aufgrund ihres Kleidungsstils von Frauen der irakisch-kurdischen Community verurteilt. Sie trägt vorzugsweise enganliegende Blusen, Jeans-Hosen, kurze Röcke und hautenge Kleider. Sie stellt einen Typus Frau dar, der in der irakisch-kurdisch geprägten Gesellschaft Ablehnung erfährt, da ihr Lebens- und Bekleidungsstil als Zeichen der Hurerei gilt (vgl. Taha 2020, S. 47, Amal & Taha 2020, S. 123, Raffiq). Shahira lässt sich weder durch die Missachtung und Ablehnung der Frauen noch durch die sexuelle Objektifizierung der Männer in ihrer Kleidungs- und Verhaltensart einschränken oder gar fremdbestimmen: „[...] und vermutlich schaut der Libanese Shahira auf den Arsch, aber Shahira bleibt Shahira, sie zieht weiterhin enge Blusen und Jeans an, oft einen kurzen Rock, und wenn der Libanese sie länger berührt und Andeutungen macht dann lacht Shahira nur [...].“ (ebd., S. 42f., Amal). Sie entzieht sich der gesellschaftlich narrativierten Konvention und bricht mit dieser im Rahmen ihrer Individuation.
Einen Gegenentwurf zu Shahiras promiskem Kleidungsstil und ihrem offensiven Umgang ihrer sexuellen Anziehungskraft auf Männer stellt Amals Mutter dar. Sie beginnt nach der Trennung von ihrem Mann sich zu verschleiern, „und bindet das Kopftuch strenger, damit kein Mann sich in ihr Bett schleicht“ (ebd., S. 51, Amal). Sie entscheidet sich ein Kopftuch zu tragen, weil ihr Ehering als Symbol nicht ausreicht, um sich vor Avancen und sexuellen Annährungsversuchen zu schützen. Sie intendiert mit dieser Handlung, nicht mehr als Lustobjekt männlicher Begierde wahrgenommen zu werden (vgl. ebd., S. 41f., Amal). Das Kopftuch stellt in der hegemonialen Gesellschaft ein Symbol der kulturellen Alterität dar und impliziert häufig Stigmatisierungstendenzen der Unterdrückung, der Entwertung und der Abwertung der wahrgenommenen Kompetenzen (vgl. Kreutzer 2015, S. 23). So verbindet auch Amal das Tragen des Kopftuches ihrer Mutter mit Stigmatisierung: „[...] ich schäme mich noch, weil Mutter nicht Stoff trägt, sondern Schlagzeilen – plötzlich ist Mutter unterdrückt, Mutter ist ungebildet, Mutter ist fanatisch, Mutter ist abhängig, Mutter ist schwach, Mutter ist nicht ansprechbar, weil Mutter gebrochen Deutsch spricht, weil sie keine Sprache hat, sie ist keine Frau, sie ist ein Streitfall, sie ist eine Schlagzeile. Sie ist das Kopftuch“ (Taha 2020, S. 42, Amal).
Die Verschleierung macht die symbolische Handlung sichtbar und wird dabei zum religiösen Symbol. Kleidung macht den Körper erst kulturell kommunizierbar, weshalb Amals Mutter aufgrund des Kopftuches von anderen irakisch-kurdischen Frauen des Viertels mit religiösen Fragen konfrontiert wird, auf die sie zunächst keine Antworten kennt, da für sie „das Kopftuch doch eine Attrappe [ist]“ (ebd., S. 76, Amal). Aus Scham die Antworten auf die Fragen nicht zu kennen, beginnt Amals Mutter mit dem Quran-Studium und unter Widerstreben mit religiöser Exegese (vgl. ebd. 2020, S. 76f.). Sie verkörpert nun mehr ein Narrativ nach Maßgabe gesellschaftlichen Vorgaben in Bezug auf die Ausformung ihrer kulturellen Identität. Anhand des Kopftuches wird deutlich, dass ein und dasselbe Kleidungsstück innerhalb verschiedener Kulturen unterschiedlich wahrgenommen wird und es differente Bedeutungen trägt. Daran wird die Willkür der kulturell zugeschriebenen Geschlechternarrative deutlich. Sowohl Shahira als auch Amals Mutter stellen in ihrem Erscheinungsbild Störfaktoren der Narrative der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe dar.
Nicht nur Shahira und Amals Mutter weichen von der jeweiligen tradierten Genderperformance ab, sondern auch Amal. Sie entscheidet sich von weiblichen Identifikationsmerkmalen hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung abzuweichen, indem sie sich für weite T-Shirts und gegen langes Haar entscheidet (vgl. ebd., S. 42, Amal). Durch ihr Crossdressing bricht sie die geschlechtliche Binarität auf und dekonstruiert diese durch ihr burschikoses Erscheinungsbild (vgl. Mentges 2004, S. 572). Ihre Anomalie im Auftreten und Aussehen wird insbesondere von der irakisch-kurdischen Gesellschaft mit Skepsis betrachtet, worauf sie auch ihre Halbschwester in Kurdistan hinweist: „Shermin meint, alles an mir sei es, was sie anstarren: meinen Gang, meine Klamotten, meinen Körper, ganz fremd bin ich nicht, sie erkennen ihre Tochter, ihre Schwester, ihre Cousine in mir, wie eine Vorstellung sehe ich aus, glaube ich.“ (Taha 2020, S. 122, Amal). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Geschlechternarrative in Abhängigkeit zur Kultur durch performative Kleidercodes ergeben und diese maßgeblich für die Wahrnehmung und die Zuordnung des Geschlechtes in der binären Matrix sind.

 

Haare – Nägel – Lippen


Das Konzept der Geschlechterrollen bezieht sich stets auf sozial geteilte Verhaltenserwartungen und den jeweiligen Attribuierungen des tradierten Geschlechts (vgl. Eckes 2004, S. 165). So gilt Amal als Irritation gerade durch ihr äußeres Erscheinungsbild für die Menschen des Viertels: „[I]ch irritierte sie, weil meine Haare so kurz sind wie die von Younes“ (Taha 2020, S. 47, Amal). Die tradierte Norm innerhalb der Gesellschaft legt fest, welche Performation als weiblich und was als männlich beschrieben wird (vgl. Butler 1991, S. 27). Amal wird aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihres Verhaltens als Mannweib durch ihren Mitschüler Raffiq bezeichnet, der zudem versucht, ihre Mitschülerinnen dazu anzustiften zu behaupten, dass Amal einen Penis habe (vgl. Taha 2020, S. 32 f., Amal). Nicht nur die männlichen Jugendlichen artikulieren Amals Alterität, sondern beispielsweise auch der libanesische Gemüsehändler: „Er nennt mich Junge, weil er nicht versteht, wie ein Mädchen sich gegen langes Haar entscheiden kann, für weite T-Shirts und sich ungeschminkt aus dem Haus traut.“ (ebd., S. 42, Amal). Amals burschikoses Auftreten und Handeln erfährt nicht nur Ablehnung innerhalb der Gesellschaft, sondern auch bei ihrer Mutter selbst: „[...] und sie schämt sich, weil ich ein Mädchen bin, und sie schämt sich, dass ich kein Mädchen bin“ (ebd., S. 47, Amal). Hierdurch wird deutlich, dass das anatomische Geschlecht (sex) nicht immer mit dem sozialen Geschlecht (gender) übereinstimmt, da das soziale Geschlecht eine Konstruktion der Gesellschaft ist (vgl. Butler 1997, S. 53). Amal, die in anatomischer Hinsicht eine Frau ist, beansprucht durch ihr Erscheinungsbild und ihr Handeln als Mogli-Mädchen das narrativierte Rollenangebot eines Mannes (vgl. Taha 2020, S. 10 f., Amal). Auch für die irakisch-kurdische Gesellschaft stellt Amal eine Irritation dar, denn sie wird beim ersten Zusammentreffen mit der neuen Familie ihres Vaters von ihrer jüngsten Halbschwester als Bruder, den sie nie hatten, bezeichnet (vgl. ebd., S. 101, Amal). Amals Halbschwester Shermin ist fasziniert von Amals Eigensinnigkeit und ihrer Abweichung vom tradierten Weiblichkeitsnarrativ: „Shermin sagt, sie überlege, sich die Haare so kurz zu schneiden wie ich, andererseits mögen die Jungen in Kurdistan Mädchen mit langen Haaren lieber, und [fragt] ob das in Deutschland anders sei, ich antworte ihr nicht“ (ebd., S. 103, Amal). Hierdurch wird deutlich, dass Shermin stark von gesellschaftlichen Konventionen und Normen geprägt ist, die sich an den Strukturen und dem Narrativ von Weiblichkeit als männliche Projektion orientieren. Die männliche Weiblichkeitsvorstellung bestimmt als Konsequenz die Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition der Frau (vgl. Schößler 2008, S. 68).
Im Vergleich zur burschikosen, prügelnden Amal repräsentiert Sanye das gesamte tradierte Weiblichkeitsideal beider Kulturen. Sie ist nicht wie Amal emotional gestört, sondern ein liebes, kluges, braves und harmoniebedürftiges Mädchen, das seine langen und glatten schwarzen Haare offen trägt (vgl. Taha 2020, S. 27, Amal). Amal befindet sich in einem inneren Konflikt mit sich selbst und repräsentiert dabei, wie stark sich der Prozess der Individuation an den Geschlechternarrativen der Kultur orientiert. Amal versucht durch den gesellschaftlichen Druck ein Stück weit dem deskriptiven Weiblichkeitsnarrativ zu folgen, indem sie sich von Shahira schminken lässt, da sie von dem Rot ihrer Lippen fasziniert ist (vgl. ebd., S. 55, Amal). Sie kauft sich denselben sanyeroten Nagellack, um sich ihre Nägel zu lackieren. Allerdings sorgen ihre lackierten Fingernägel für Belustigung und Hohn bei ihren Mitschülerinnen, sodass Amal nach der Schule den Nagellack gewaltvoll abkratzt bis dieser entfernt ist und reflektiert: „[...] und [ich] hasse, was ich nicht bin“ (ebd., S. 74, Amal). Während Amal auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist, befindet sich also im Spannungsfeld zwischen Kulturen und Geschlechterstereotypen (vgl. Netz 2020, 1:30-1:44).

 

Sexualität/Erotik


Im Zentrum beider Erzählungen steht Shahira, die durch ihre Freizügigkeit das Viertel polarisiert. Für die Männer stellt sie ein Lustobjekt dar, da sie durch ihren als promisk wahrgenommenen Kleidungsstil ihre sekundären Geschlechtsmerkmale betont und die Männer durch ihre Freizügigkeit sowie Ungebundenheit fasziniert. Für Shahiras körperliche Ungezwungenheit verabscheut und verurteilt die Mehrheit der Frauen des Viertels sie (vgl. Netz 2020, 2:51-3:11). Raffiqs Mutter tadelt den Umgang ihres Sohnes mit Younes und untersagt Raffiq den Besuch bei ihm zu Hause (vgl. Taha 2020, S. 45, Raffiq). Die Frauen des Viertels diskreditieren Shahiras Verhalten beispielsweise, indem sie sich darüber mokieren, „wie diese dêhlik, diese Hündin, im Gemüseladen die Hand des Kassierers Ramsy länger berührte, als sie müsste“ (ebd., S. 15, Raffiq). Amals Mutter „fühlte sich entehrt, dass Vater mit dieser läufigen Hündin redete, wie sie es sagte, und fragte, ob er sich denn nicht schäme, mit einer Frau zu reden, deren Rock alles von ihr preisgebe“ (ebd., S. 15, Amal). Raffiq, der auf einer Metaebene des Erzählens die Handlung reflektiert, fasst pointiert zusammen: „In jedem Satz steckt nicht nur Hohn für Younes‘ Mutter, sondern auch Übertreibung, als würde die Wahrheit nicht ausreichen, um sie zu verachten.“ (ebd., S. 15, Raffiq). Frauen stehen im Gegensatz zu Männern gesellschaftlich viel stärker unter Beobachtung und werden, wenn sie nicht der tradierten Genderperformance entsprechen und von der Norm der monogamen Paarbeziehung abweichen, diskreditiert und diskriminiert (vgl. Möller 2020, S. 109). Das tradierte Geschlechternarrativ fordert perfider Weise die Zurückhaltung der Frauen, um die sexuelle Zügellosigkeit der Männer zu kompensieren. Die Ehre der Frau wird gleichgesetzt mit einer Enthaltsamkeit und Keuschheit sowie einer körperlichen Passivität (vgl. Wrede 2000, S. 37). So erhält Amal von ihrer Mutter vor dem Abflug nach Kurdistan den Rat keine Männer anzulächeln, da diese kleine Geste dort einer Aufforderung gleichkommt (vgl. Taha 2020, S. 95, Amal).
Sexualität und der Akt selbst werden als etwas Unerhörtes und Dreckiges beschrieben, bei dem sich insbesondere die Frau schuldig macht (vgl. ebd., S. 25, Raffiq). Es entspricht nicht dem Narrativ, dass eine Frau aus reiner Lust sexuell aktiv ist. Der sexuelle Akt geschieht in diesem Narrativ im Verborgenen, in der Dunkelheit, und es wird davon gesprochen, dass es im Dunkeln den Frauen sogar gefallen würde (vgl. ebd., S. 56, Amal). Zum tradierten Bild gehört es auch, dass sexuelles Verlangen stets vom Mann ausgeht. Es geht sogar so weit, dass die Frau sich in diesem Narrativ vor männlicher Penetration schützen muss: „Die Leute sagen, im Dunkeln stecken Männer ihre Finger in die Löcher der Frauen, als wären diese Löcher unbewacht. Im Dunkeln sind die unbewacht, wiederholen die Leute, und im Dunkeln kann die Frau nichts machen, und im Dunkeln gefällt es sogar der Frau.“ (ebd., S. 56, Amal). Shahira, die ihre Sexualität offen auslebt, wird dafür verurteilt und es wird durch die Gesellschaft als Ausnahme oder als eine Abweichung der sonst bestehenden Norm wahrgenommen. Shermin, Amals Halbschwester in Kurdistan, gibt genau wie Shahira ihrem sexuellen Verlangen nach, jedoch versucht sie ihre sexuelle Beziehung zu Ayaz geheim zu halten. Auf Amals Frage, ob sie ihn liebe, gibt Shermin unverhohlen zu, ihn nur zu wollen, dies aber haram sei (vgl. ebd., S. 118, Amal). Es zeigt sich, dass Frauen gesellschaftlich abgewertet und diskreditiert werden, wenn sie ihre Sexualität offen und freizügig ausleben, weshalb sich beispielsweise Shermin dafür entscheidet, ihre Sexualität und Lustbefriedigung im Verborgenden zu halten.
Shahira füllt als promisk geltende Frau eine Lücke, für die es innerhalb der Sprache bisher keinen Begriff gibt, der nicht zugleich negativ konnotiert und kompromittierend ist. Amal, die obwohl sie die sexuelle Freizügigkeit Shahiras differenziert und auch zum Teil fasziniert wahrnimmt, ist nicht in der Lage einen eigenen Begriff zu finden, der nicht negativ konnotiert ist und Shahiras Verhalten ausdrückt: „Dieser Hurensohn, sage ich, weil mir nichts anderes übrig bleibt als die Worte der Leute“ (ebd., S. 90, Amal). Sie selbst befindet sich im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Normierungen und Konventionen. Im Gegensatz dazu gibt es zahlreiche Begriffe für Männer, welche ihre Sexualität und Lust freizügig ausleben wie zum Beispiel Schürzenjäger, Lebemann, Weiberheld, Don Juan oder aus dem Englischen den Lady Killer, der wie der Schürzenjäger Gewalt impliziert. Weibliche Sexualität steht immer nur in Relation zum Mann, indem die Femme Fatal oder der Vamp die Sexualität instrumentalisiert, um den Mann zu manipulieren oder zu zerstören (vgl. Gerk 2020, 7:10-08:03). Zudem ist das Weiblichkeitsnarrativ durch eine Binarität im dualistischen Kontext geprägt: Es gibt entweder die Hure oder die Heilige (vgl. Schößler 2008, S. 74).
Taha beschreibt, dass ihr literarische Darstellungen von Frauen fehlen, die ihre Sexualität und Lust ausleben, ohne tragische Konsequenzen für sich selbst oder die Personen in ihrem Umfeld (vgl. Literaturforum im Brecht-Haus 2020, 9:50-11:23). Mit der Shahira-Figur entwickelt Taha eine weibliche Figur, die ein tradiertes Geschlechternarrativ sprengt, indem sie zügellos ihre sexuelle Lust befriedigt und das Ziel allein die sexuelle Befriedigung darstellt. Sexualität und das Sprechen über sie ist zumeist Produkt einer zivilisatorischen und sozialisierenden Instanz (vgl. Schößler 2008, S. 12). Dementsprechend wird der Gesellschaft abverlangt, weibliche Sexualität, Erotik und Lustbefriedigung in einem neuen Kontext zu definieren. Raffiq stellt pointiert heraus: „Wir nennen es solange Rumhuren, bis wir verstanden haben, dass Shahira eine andere Spezies ist; ein neuartiges Wesen, ein Mutant vielleicht“ (Taha 2020, S. 82f., Raffiq). Auch Amal reflektiert Shahira und ihr Verhalten auf einer Metaebene, indem sie feststellt: „Shahira ist keine Nachbarin, sie ist keine Frau, sie ist kein Mensch – sie ist eine Idee“ (ebd., S. 44, Amal), eine Idee von Selbstbestimmung und diskursiver Subversion.

 

Mutterschaft


Es besteht ein begrenztes Repertoire an Stereotypen der Weiblichkeit: Hure, Heilige, Mutter oder Engel (vgl. Schößler 2008, S. 64). Literarische Texte arbeiten eben mit diesen tradierten Bildern und es ist schwer diese stigmatisierenden Attribuierungen aufzulösen, da sie sich häufig keinem Wandel unterziehen und somit ein zeitloses Narrativ entsteht. Grundsätzlich gilt, dass sich Weiblichkeit historisch gesehen über das Narrativ der Mutterschaft definiert hat und nicht über sexuelle Bedürfnisse der Frau (vgl. Wrede 2000, S. 37). Die weibliche Sexualität ist im Narrativ dementsprechend auf die Fruchtbarkeit und auf das Gebären von Kindern ausgelegt. Es besteht somit ein Narrativ der reinen Jungfrau und heiligen Mutter, ein Frauenbild, das nicht nur dem Islam, sondern auch Juden- und Christentum zu Grunde liegt. „Mit der Ehefrau werden aus männlicher Sicht Familie, Pflichten und die Ehre verbunden. Für die sexuelle Befriedigung scheint die Hure zuständig zu sein.“ (Haghighi 2008, S. 103). Es wird deutlich, dass die binären Weiblichkeitsrepräsentationen durch klare Oppositionen geprägt sind. Sexualität und Lust erscheint unvereinbar mit der Rolle der Mutter (vgl. Schößler 2008, S. 72f.).
Taha wirft die Frage auf, warum von einer Frau stets gesellschaftlich erwartet wird, dass es ihr höchstes Ziel im Leben ist, Mutter zu werden bzw. Mutter zu sein und das gesamte Leben auf die Erfüllung der Rolle der Mutter auszulegen (vgl. Literaturforum im Brecht-Haus 2020, 11:38-11-50). Mit der Shahira Figur entwirft Taha eine Frau, die mehrere stereotype Rollen beansprucht, die im kulturell narrativierten Konsens nicht miteinander zu vereinbaren sind. Shahiras promisker Lebensstil ist nicht konform mit der Rolle der Mutter und ihre Sexualität entspricht dem Narrativ der Hurerei (vgl. Taha 2020, S. 47, Amal). Lediglich Shahiras Körper mit dem Bauch und den weißen Dehnungsstreifen erinnert an die Folge ihrer Schwangerschaft: An ihre Mutterschaft (vgl. ebd., S. 46, Amal). Ihr Verhalten im Umgang mit ihrem Sohn Younes entspricht jedoch nicht dem tradierten Narrativ der Mutter. Raffiq beobachtet und fasst über die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Shahira und Younes zusammen: „[...] und Shahira schimpft, neckt ihn eher, als würde sie ihr Muttersein nur spielen, [...].“ (ebd., S. 21f., Raffiq). Shahira entspricht weder in ihrem Lebensstil noch in ihrem Erziehungsstil dem tradierten Narrativ.
Mutterschaft wird auch immer mit der Institution der Ehe und des familiären Zusammenlebens verknüpft. Amals Mutter, die von ihrem Mann verlassen wurde, weil er zurück nach Kurdistan gegangen ist, ist nun eine alleinerziehende Mutter (vgl. ebd., S. 32 Amal). Sie entscheidet sich jeden Tag dafür zu bleiben und nicht ihrem Mann nach Kurdistan zu folgen. Ihre bewusste Entscheidung des Bleibens kann als emanzipatorischer und feministischer Akt gesehen werden, da sie sich unabhängig von ihrem Mann entschieden hat zu bleiben, um ihren Kindern eine bessere Zukunft in Deutschland zu bieten (vgl. Literaturforum im Brecht-Haus 2020, 25:56-27:49). Amals Mutter ist es zudem wichtig, dass sie nicht als eine verlassene Frau wahrgenommen wird (vgl. Taha 2020, S. 79, Amal). Dies spiegelt sich in den Gesprächen mit Amal wider, in denen sie erklärt, dass sie eine freie Frau sei und kein Mitleid von den Personen des Viertels bekommen will (vgl. ebd., S. 79 & 32, Amal).

 

Kommunikationsverhalten


Das Kommunikationsverhalten der Personen im Roman ist durch verschiedene Motive geprägt wie zum Beispiel durch die Motive des Schweigens oder des Erzählens. Es stecken differente Intentionen hinter einem Schweigen, da es eine zwischenmenschlicher Interaktion in der Kommunikation gleichkommt (vgl. Itten 2018, S. 27). Schweigen impliziert keinesfalls Passivität oder Desinteresse. Es kann auch Zustimmung, Ablehnung oder gar ein Moment der Intimität sein. So schildert Amal, dass Schweigen intimer ist als nur Worte hin und herzuschieben (vgl. Taha 2020, S. 43, Amal). Kommunikation geschieht nicht nur auf der Ebene der gesprochenen Worte, sondern auch auf Ebene der Körpersprache. Shahira benötigt nicht unbedingt Wörter zur Verständigung. Sie kommuniziert über Berührungen und Bewegungen, „und diese Sprache ist die ehrlichste“ (ebd., S. 54, Amal). Sowohl Amals Mutter als auch Raffiqs Mutter nutzen das Schweigen als Mittel der Kommunikation. Raffiq eröffnet seiner Mutter, dass er ausziehen wolle und sie reagiert mit vorwurfsvollem Schweigen, sodass „jedes Wort von ihrem Schweigen verschluckt [wird]“ (ebd., S. 88, Raffiq).
Während der zahlreichen Streitigkeiten zwischen Amals Mutter und ihrem Vater, versucht Amals Mutter die Außenwelt aus ihrer privaten Konversation auszuschließen, indem sie sämtliche Fenster und Türen schließt (vgl. ebd., S. 15, Amal). Das Kommunikationsverhalten bestimmt sich im Roman über ein privates und ein öffentliches Erzählen. Es wird deutlich, dass die Frauen eher diejenigen sind, die eine private Konversation pflegen und es im Narrativ des Erzählens so angelegt ist, dass es die Männer sind, denen ein öffentliches Kommunikationsverhalten zugeschrieben wird (vgl. ebd., S. 12, Amal). Das Narrativ des Erzählens steht in Abhängigkeit von den männlichen Figuren und insbesondere von Amals Vater, der zuvor seine Tochter dazu animierte Geschichten zu erzählen. Mit dem Verlassen der Familie hinterlässt der Vater nicht nur eine Lücke im familiären Gefüge, sondern bringt auch Amals Geschichtenerzählen zum Verstummen (vgl. ebd., S. 26 & 131, Amal).
Verstummen und Schweigen sind auch für Amals Mutter signifikant, die nach der Aufforderung ihres Mannes, den Mund zu halten, beschließt zu schweigen (vgl. ebd., S. 11, Amal). Das Schweigen strukturiert und charakterisiert die Beziehung zwischen Amal und ihrer Mutter weiterhin, als dass die beiden kaum miteinander sprechen und zumeist schweigen. Das wenige Miteinandersprechen zwischen Amal und ihrer Mutter strukturiert sich dann auch darüber, auf welcher Sprache kommuniziert wird: „Deutsch, damit sie es auch lernt, oder kurdisch, damit ich es nicht verlerne.“ (ebd., S. 39, Amal). Raum und Zeit bestimmen sich bei Amal über die Sprache, wobei sie und ihre Mutter nicht die gleiche Sprache sprechen. Nicht weil Amal und ihre Mutter sich nicht wirklich verständigen könnten, da ihnen die Lexeme fehlen, sondern auf einer Gefühlsebene des Verstehens und des Ausdrückens. Die Sehnsucht des Verstandenwerdens drückt sich bei Amal aus, als sie Sanye und ihre Mutter beobachtet, wie sie sich unterhalten, „als hätten sie ihre eigene Sprache“ (ebd., S. 48, Amal). Aber auch Amals Mutter weiß nicht, wie sie ihrer Tochter näher kommen kann, was sich auch metaphorisch an folgender Stelle zeigt: „Meine Mutter steht hinter der abgeschlossenen Tür, [...] und sie weiß vor allem nicht, welche Worte sie sprechen muss, um die Tür zu öffnen.“ (ebd., S. 74, Amal). Weil sich die Wahrhaftigkeit von Gefühlen häufig erst im Verbalisieren ausdrückt, ist auch das Schweigen eine bewusste Entscheidung (vgl. Itten 2018, S. 20). Das Nicht-Sprechen und die Abwesenheit einer gleich gefühlten Sprache führt zu einer Apathie zwischen Mutter und Tochter, die sich dann aber auflöst, als Amal reflektiert, dass es kein Kur-Deutsch oder eine Sprache erfordert, um sich zu verständigen, sondern sie lediglich ihre Hände und Körper benötigen (vgl. Taha 2020, S. 51, Amal).

 

Literatur

 

Primärliteratur

Taha, Karosh: Im Bauch der Königin. Köln: Dumont 2020.

[Hinweis: Da der Roman als Wenderoman mit jeweils unterschiedlichen autodiegetischen Erzählstimmen angelegt ist, wird bei den Zitaten in Klammern der Figurenname angegeben, auf deren Erzählung rekurriert wird.]

Sekundärliteratur

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

Butler, Judith: Körper von Gewicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

Eckes, Thomas: Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In: Becker Ruth & Kortendiek Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. S. 165-176.

Haghighi, Shanli Anwar: Crossing the Bridge? – Frauen- und Männerbilder in Fatih Akins Filmen Gegen die Wand und Auf der anderen Seite vor dem Hintergrund des Migrationsaspekts. In: Corinna Schlicht (Hrsg.): Geschlechterkonstruktionen II. Literatur-, sprach- und kommunikationswissenschaftliche Analysen. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2008. S. 96-118.

Itten, Theodor: Schweigen. Von der Kunst der Stille bis zur befohlenen Ruhe. Berlin, Heidelberg: Springer 2018.

Kreutzer, Florian: Stigma „Kopftuch“: Zur rassistischen Produktion von Andersheit. Bielefeld: Transcript 2015.

Mentges, Gabriele: Mode: Modellierung und Medialisierung der Geschlechterkörper in der Kleidung. In: Ruth Becker & Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. S. 570-576.

Möller, Kurt: Pauschalablehnungen – Verständnisse, Erscheinungsweisen, Begünstigungsfaktoren und Gegenstrategien. In: Bernhard Bogerts, Jochim Häfele & Benny Schmitd (Hrsg.): Verschwörung, Ablehnung, Gewalt. Transdisziplinäre Perspektiven auf gruppenbezogene Aggression und Intoleranz. Wiesbaden:. Springer VS 2020. S. 91-118.

Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies. Berlin: Akademie Verlag 2008.

Wrede, Brigitta: Sexualität als Natur, als Kultur und als Diskursprodukt. In: Christiane Schmerl, Stefanie Soine, Marlene Stein-Hilbers & Brigitta Wrede (Hrsg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2000. S. 25-43.

Wrede, Julia: Ist (DOING) GENDER durch Sprache determiniert oder nur in Sprache reflektiert? – Eine sprachanalytische Untersuchung. In: Corinna Schlicht (Hrsg.): Geschlechterkonstruktionen II. Literatur-, sprach- und kommunikationswissenschaftliche Analysen. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2008. S. 173-192.

Rezensionen

Gerk, Andrea: Von prügelnden und promisken Frauen. Karosh Taha im Gespräch mit Andrea Gerk [Podcast], veröffentlicht am 24.04.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/karosh-taha-ueber-im-bauch-der-koenigin-von-pruegelnden-und.1270.de.html?dram:article_id=4753637. Letzter Aufruf am: 10.03.2020, 11:52 Uhr.

Netz, Dina: Minirock oder Kopftuch als Provokation [Podcast], veröffentlicht am 20.05.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/karosh-taha-im-bauch-der-koenigin-minirock-oder-kopftuch.1270.de.html?dram:article_id=477027. Letzter Aufruf am: 10.03.2020, 11:57 Uhr.

Autorengespräch

Literaturforum im Brecht-Haus: Shut down? Read on! Karosh Taha & Rasha Khayat: Im Bauch der Königin, veröffentlicht am 12.05.2020, https://www.youtube.com/watch?v=RdOidmJbT60&t=736s. Letzter Aufruf am: 10.03.2020, 11:50 Uhr.

Im Bauch der Königin

» Werkverzeichnis

Karosh Taha: Im Bauch der Königin. Von verlassenen Ehefrauen, Huren und ,Mogli-Mädchen‘ – Die subjektkonstituierende Wirkung diskursiver Geschlechternormen. Ein Beitrag von Tatienne Teichwart. [ ↑ ]

„Wir verhandeln nicht mit Normen oder mit Anderen, nachdem wir auf die Welt gekommen sind. Wir kommen unter der Bedingung auf die Welt, dass die soziale Welt bereits da ist, dass sie die Fundamente für uns legt. […] Ich kann nicht sein, wer ich bin, ohne aus der Sozialität der Normen zu schöpfen, die mir vorhergehen und mich übersteigen“ (Butler 2009: 58).

Wer wir sind und werden können, ist, wenn wir dem hier skizzierten poststrukturalistischen Subjektverständnis folgen, wesentlich von Normen abhängig, die uns vorhergehen und denen wir uns unterwerfen müssen, um in die (soziale) Existenz zu kommen. Damit sind Fragen nach der Handlungsfähigkeit des Einzelnen, den Möglichkeiten zur Kritik und Veränderung bestehender normativer Ordnungen bzw. in einem ganz grundlegenden Sinn die Frage nach der Freiheit oder Determination der eigenen Identität aufgeworfen. Als eine literarische Ver- und Bearbeitung dieses Fragenkomplexes lässt sich Karosh Tahas jüngster Roman Im Bauch der Königin (2020) lesen, der sich in diesem Rahmen v.a. mit Geschlechternormen als subjektkonstituierenden symbolischen Ordnungen auseinandersetzt. Bevor das Werk selbst unter dieser Perspektive beleuchtet wird, gilt es, die angelegte Deutungsfolie einer poststrukturalistischen Subjekt- und Geschlechtstheorie zu umreißen.

 

Diskurs und Subjekt: Foucault


Der Mensch wird verschwinden, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1974: 462). Es ist diese als ,Verabschiedung des Subjekts‘ gelesene und als solche vielfach vehement bestrittene These, die Foucaults Werk in den 1960er Jahren populär machte. Übersehen wurde dabei häufig, dass sich Foucaults Kritik auf das Konzept eines transzendentalen Subjekts bezieht, d.h. auf die Annahme einer „irreduzible[n] Instanz der Reflexion, des Handelns und des Ausdrucks, welche ihre Grundlage nicht in den kontingenten äußeren Bedingungen, sondern in sich selbst findet“ (Reckwitz 2010: 12). Essentialistischen Vorstellungen von dem Subjekt als einer ahistorischen Universalie hält Foucault die Analyse gegenüber, dass sich die Konstitutionsweisen von Individuen im Kontext epistemischer Umbrüche verändern und damit Subjektentwürfe historisch kontingent sind (vgl. Frietsch 2008: 38f.). Sein Werk legt Foucault in dieser Linie aus als den Entwurf einer „Geschichte der verschiedenen Verfahren […], durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault 1994: 243). Mit einiger Plausibilität kann also davon gesprochen werden, dass „das Subjekt das Thema von Foucaults machthistorischen Analysen gewesen [sei]“ (Bublitz 2008: 293).
Die Fragen, inwiefern das Verständnis des Subjekts als Effekt historischer Wissensordnungen mit der Annahme seiner Handlungsfähigkeit vereinbar ist und Möglichkeiten der Transformation von Wissensordnungen bestehen, werden bis heute kontrovers diskutiert und verschieden ausgelegt – dass Foucault auch die im Denkgebäude zentralen Begriffe verschieden akzentuierte, trägt dabei erheblich zur Deutungsvielfalt bei. Das umrissene Spannungsfeld soll hier ausgehend vom Diskursbegriff, wie er in der Archäologie des Wissens gefasst wird, differenzierter beleuchtet werden: Ein Diskurs bezeichnet eine Menge von Aussagen, die einem historisch variablen Regeln gehorchenden Formationssystem angehören (vgl. Foucault 1973: 156). Als materiale sprachliche Ereignisse transportieren Aussagen weder Bedeutung noch verweisen sie auf etwas außerhalb ihrer selbst. Im Vordergrund steht daher die Forderung, Diskurse nicht „als Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (ebd.: 74). In diesem Sinn stellen Diskurse „materielle Produktionsinstrumente“ (Parr 2008: 234) dar, die die Gegenstände, über die im Diskurszusammenhang in je spezifischer Weise gesprochen wird, regelgeleitet erst hervorbringen. Sie bieten damit die Horizonte, vor denen Objekte wahrgenommen, gedacht und benannt werden können. Dieser Konzeption von Diskursen als wirklichkeitskonstituierenden Praxen entspricht Foucaults „produktivistisches Machtkonzept“, das Macht in erster Linie nicht als Unterdrückungsinstanz, sondern als „‚pouvoir‘ ein Macht-Können [denkt], das neue Wirklichkeiten herstellt“ (Reckwitz 2010: 31).
Gemäß der Grundannahme, dass es keine intelligiblen Positionen vor und außerhalb der Macht-/Wissensformation des Diskurses gibt, geht auch das Subjekt als ein Effekt desselben hervor. Es konstituiert sich im Rahmen diskursiver Ordnungen, die historisch spezifische ,Subjektpositionen‘ beinhalten, d.h. „Klassifikationsraster, nach denen Subjekte vorgestellt, unterschieden und produziert werden [können]“ (ebd.: 25). Die zugrundeliegenden Wissensordnungen materialisieren sich sowohl in institutionellen Disziplinartechniken als auch in ,Selbsttechnologien‘, mittels derer das Individuum auf sich selbst einwirkt (vgl. Bublitz 2008: 294). In spezifischen Verfahren lernt der Einzelne so, „sich und seine Existenz auf eine bestimmte Weise zu verstehen und in seinen alltäglichen Praktiken mikrologisch ein dementsprechendes Verhältnis zu sich selber herzustellen“ (Reckwitz 2010: 38). Das in dieser Weise konstituierte Subjekt steht entsprechend in einer paradoxen Spannung: „[V]ermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen zu sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht (Foucault 1994: 246f.). Subjektwerdung bedeutet also allen voran, zu ,jemandes Subjekt‘ gemacht zu werden bzw. sich selbst zu machen – auch dann, wenn das Individuum lernt, sich entsprechend des diskursiven Denkrahmens als originelles und autonomes Selbst zu begreifen.
Obschon deutlich wird, dass der Macht-/Wissenskomplex dem Subjekt nicht gegenübersteht, es vielmehr aus diesem hervorgeht und an seiner Produktion teilhat, bleibt in der Schwebe, wie Quellen der Veränderung absolut gesetzter Ordnungen begründet werden können. Während Foucault die Existenz von Widerständigkeiten als Selbstverständlichkeit begriffen und vorausgesetzt zu haben scheint (vgl. Keller et. al. 2012: 13), fokussiert Butler in Anschluss an Foucaults diskurs- und sprachtheoretisches Programm auf die theoretische Begründung der Instabilität und Veränderbarkeit von Diskursformationen.

 

Die Instabilität von Diskursen: Butler


Butler verweist über das in Anlehnung an Austins Sprechakttheorie entwickelte Performativitätskonzept darauf, dass Diskurse nur insofern und solange wirklichkeitskonstituierende Kraft entfalten, als dass die diskursiven Normen stetig rezitiert und darin aktualisiert werden. Die Normen selbst sind wiederum Produkte einer unendlichen, regelgeleiteten und regelmäßigen Wiederholung performativer Akte (vgl. Butler 1993: 124). In dieser Angewiesenheit auf Wiederholung liegt zugleich die Instabilität und Veränderbarkeit diskursiver Ordnungen begründet. Mit Derrida begreift Butler performative Wiederholungen per se als Geschehen von Resignifikationen und Bedeutungsverschiebungen, die Chancen zur Subversion etablierter Konventionen bieten (vgl. Meißner 2012: 38). Dass die Möglichkeiten zur Veränderung von Normen damit nicht auf willkürliche Bedeutungsverschiebungen in der Zitierpraxis reduziert sind, sondern das Subjekt – auch wenn es als ,Diskurseffekt‘ gedacht wird – das Zentrum und die Antriebskraft von Widerstand bildet, plausibilisiert Butler über ihre Theorie psychischer Prozesse der Subjektivation (vgl. Bublitz 2013: 83). Mit Althusser geht Butler davon aus, dass das Individuum in seiner ,Umwendung‘ auf die wiederholte Anrufung als Subjekt einen intelligiblen Platz in der symbolischen Ordnung erhält. Sie erweitert das Modell der Anrufung allerdings um die Voraussetzung einer psychischen Prädisposition des Individuums zur Unterwerfung, die erklärbar machen soll, was seine ,Umwendung‘ auf die Anrufung als Subjekt motiviert (vgl. Meißner 2012: 44f.). Butler sieht die psychischen Dynamiken, die die Bindung des Individuums an die Normen und damit das Funktionieren der Subjektbildung im Sinne der Anrufung garantieren, in der primären Abhängigkeit des Kindes von der anerkennenden Zuwendung seiner Bezugspersonen fundiert. In seinem Begehren, für andere jemand zu sein, unterwirft sich das Kind den diskursiven Machtstrukturen, die sein Subjekt-Sein bedingen (vgl. Butler 2001: 11f.). Im Verlauf des performativen Anrufungsgeschehens verinnerlicht es diese Ordnungen in Form der gesetzgeberischen Instanz des Gewissens und verdrängt sie damit als ihm auferlegte Gesetze. Als Effekt und zugleich Funktionsweise der Macht leitet das Gewissen die performative Formung des Körpers, Verhaltens und Begehrens des Individuum entsprechend der Normen intelligiblen menschlichen Lebens (vgl. Bublitz 2013: S. 85-89).
Dass im Zuge von Subjektivationsprozessen so zwangsläufig Existenz- und Begehrensformen verworfen werden, die über das Subjekt hinausweisen, spiegelt sich in Butlers analytischer Unterscheidung zwischen Individuum und Subjekt und Gewissen und Psyche (vgl. Meißner 2012: 53). Auch wenn Individuen sich und anderen nur verständlich werden, indem sie „den Ort des Subjekts besetzen“ (Butler 2001: 15) und entsprechend die regulierende Instanz des Gewissens ausbilden, bleiben die verworfenen Möglichkeiten in der Psyche des Subjekts verankert. Die Psyche bildet in diesem Sinne all das, „was über die diskursive Forderung, ein kohärentes Subjekt zu werden, hinausreicht“ (ebd.: 83). Verworfene Lüste und Affekte können als Beschränkungen erfahren werden und in eine Dynamik des Zorns münden, die zwar nicht die Einforderung konkreter anderer (undenkbarer) Formen ermöglicht, die Subjekte allerdings in eine kritische Distanz zu etablierten Ordnungen treten lässt. Dies kommt keiner Befreiung von Macht gleich, sondern einer Reflexion ihrer Wirkungen in der Sozialität, der jede/r Einzelne unweigerlich verhaftet ist (vgl. Meißner 2012: 59f.). Sich daraus ergebende Möglichkeiten zur Subversion diskursiver Ordnungen bleiben dabei stets von der kollektiven Wiederholung verschobener Bedeutung abhängig (s.o.).

 

Subjekt-Sein als Geschlecht-Sein!?


Es ist kein Zufall, dass Butlers Subjekttheorie ihren Ausgang in der Analyse und Problematisierung des Zusammenhangs von Geschlecht, Körper und Macht nimmt; vielmehr beruht die Verwobenheit ihrer Subjekt- und Geschlechtstheorie auf der Annahme, dass die Norm der Zweigeschlechtlichkeit die grundlegende Bedingung der Intelligibilität von Subjekten darstellt. Um als Subjekt kulturell lesbar zu sein, muss das Individuum einem der beiden Geschlechter zuordenbar sein, d.h. die Subjektposition ,des Mannes‘ oder ,der Frau‘ einnehmen (vgl. Meißner 2012: 9). Diese Norm wirkt in verschiedenen Formen „gendermotiverter Gewalt“ (Butler 2009: 17) gegenüber von als trans, bi- oder homosexuell gedeuteten Personen ebenso gut wie in den medizinischen Praxen der Geschlechtsangleichung bei Säuglingen sowie der Pathologisierung von Transsexualität (vgl. Ebd.: 14f.). Butlers Analysen zielen darauf, die diesen Praxen zugrundeliegende ,heterosexuelle Matrix‘, d.h. die symbolische Ordnung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, die in Zusammenhang mit binären Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Begehrensformen steht (vgl. Butler 1991: 45f.), als performative Diskurspraxis zu erweisen.
Dass sich ihre These der diskursiven Konstruiertheit von Geschlecht nicht allein auf das gender, sondern ebenso auf das sex selbst bezieht, brachte Butler auch aus Reihen feministischer Bewegungen erhebliche Kritik ein, die den Verlust ihrer zentralen Bezugskategorie ,Frau‘ befürchteten (vgl. Bublitz 2013: 49f.). Sich affirmativ auf die Gruppenidentität ,Frau‘ beziehenden Programmen hält Butler einen anti-naturalistischen Ansatz gegenüber, der Geschlechtlichkeit (gender und sex) als historisch-kulturelle Kategorie begreift, die „[…] Verfahren zur kulturellen Konfiguration eines Körpers“, beinhaltet, was bedeutet, dass auch „[…] »Anatomie« oder »anatomisches Geschlecht« nicht ohne kulturelle Prägung sind“ (Butler 2009: 22). Der Geschlechtskörper ist als Produkt einer kulturellen Morphogenese zu verstehen, in deren Vollzug diskontinuierliche, ungeordnete Materie in distinkte Attribute aufgeteilt, reduziert, geordnet und zu einer kohärenten Einheit zusammengeführt wird. Er ist damit ein Effekt „sexuell differenzierte[r] Normen körperlicher Integrität, die diktieren, was einen Körper als einen sexuell bestimmten »vereinigt« und ihm seine Kohärenz verleiht“ (Butler 1991: 171) und eben keine vordiskursive, natürliche Gegebenheit. Geschlechtlichkeit erscheint vor diesem Hintergrund als ein Tun, das in der regulierenden Wiederholung symbolischer Ordnungen in sprachlichen und körperlichen Praxen geschlechtliche Subjekte hervorbringt (vgl. Ebd.: 57f., 206f.). Ein Kind wird entsprechend erst über die wiederholte performative Anrufung als Junge oder Mädchen in seinem Mädchen- oder Jungen-Sein hervorgebracht:

„Das Mädchen-Sein ist nicht in irgendwelchen inneren oder natürlichen Eigenschaften des Kindes begründet, sondern wird durch das performative Zitieren der Matrix hervorgebracht, die festlegt, dass Menschen mit bestimmten körperlichen Merkmalen nur Mädchen sein können und dass dies mit bestimmten Eigenschaften, Verhaltensweisen und Begehrensstrukturen einhergeht“ (Meißner 2012: 37).

Mit diesem Verständnis von Geschlechtlichkeit ist zugleich auf die Notwendigkeit zur Wiederholung von Geschlechtercodes und die diesen Prozessen inhärenten Möglichkeiten zur Subversion und Umdeutung verwiesen. Die Distanzierung bzw. Nicht-Erfüllung von Geschlechternormen geht für den/die Einzelne/n jedoch stets mit der Gefahr einher, seinen/ihren Subjektstatus einzubüßen: Dem ,Ich‘ droht „die Lebensunfähigkeit, die komplette Auflösung, […] wenn es die Norm nicht mehr in einer Form inkorporiert, die dieses »Ich« voll und ganz anerkennbar machen“ (Butler 2009: 12f.).

 

Die Be- und Verarbeitung von Geschlechtertheorien in der Literatur


Literatur wird im Sinne des New Historicism als kulturelle Praktik verstanden, die aus den Zeichen- und Symbolbeständen des umfassenden kulturellen Gesamtsystems schöpft. Das literarische Kunstwerk bildet demnach keine autonome Größe, sondern geht „als kontingentes Resultat historischer sozialer, und psychischer Faktoren“ hervor und ist „[a]ls solches […] eng an die Realität [seiner] Zeit gebunden“ (Köppe/Winko 2008: 226). Zugleich wird Literatur unter dieser Perspektive nicht nur als Materialisierung eines ,kulturellen Programms‘ relevant, sondern interessiert v.a. aufgrund ihrer sie von anderen Kommunikationsformen unterscheidenden Repräsentationsmodi, denen gestalterische Kraft zugesprochen wird (vgl. Ebd.: 227). Anklänge einer solchen Doppelbestimmung finden sich bereits bei Foucault, der Literatur einerseits als in das historische Diskurssystem eingebunden und von diesem geprägt beschreibt, sie aufgrund ihrer Selbstreferenzialität andererseits in der Funktion eines ,Gegendiskurses‘ sieht (vgl. Ebd.: 102f.). Link begründet dieses Potential von Literatur spezifischer damit, dass in ihr interdiskursive Elemente in ihren diskursspezifischen Bedeutungs- und Wertdimensionen aufgenommen und in einer Weise verarbeitet werden, „die die Ambivalenz wahrt und häufig künstlich steigert“ (Link 1988: 301). Dadurch dass Bedeutungen unter Ausnutzung dieser Ambivalenzen neu montiert, kombiniert und verschoben werden, kann Literatur selbst zum diskursiven Ereignis werden (vgl. Ebd.: 300). Literatur ist, pointiert gefasst, sowohl Spiegel kultureller Diskursformationen als auch Medium ihrer Bearbeitung.
Demgemäß reagierte und reagiert Literatur auf die Umwälzung der Auffassung von Geschlecht und Sexualität, wie sie sich angeregt v.a. von Butlers Theorie seit den 1990er Jahren vollzieht. Entsprechend identifizieren Hermann und Hostkotte die Themen- und Fragekreise poststrukturalistischer Subjekt- und Geschlechtstheorien als vielfach aufgegriffene und bearbeitete Bezugspunkte der Gegenwartsliteratur (vgl. Herrmann/Horstkotte 2016: 108). Als literarische Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Weiblichkeit im Rahmen einer männlichen Bedeutungsökonomie und den damit verbundenen sexuellen Herrschaftsverhältnissen sind exemplarisch die Werke Jelineks und Bergs zu verstehen (vgl. Ebd.: 109f.). In der Inszenierung „pornographischen Splatter-Sex“ (ebd.: 112), der Frauen als auf Köper reduzierte Sexualobjekte und Männer als brutale Sex-Konsumenten entwirft, werden Vorstellungen weiblicher und männlicher Sexualität in ihrem Konstruktionscharakter demaskiert. Ähnliches gilt für die Vorstellung, dass Individuen qua ihres Geschlechts spezifische Charaktereigenschaften und Verhaltensmuster zukommen. Schlicht zeichnet dies exemplarisch für die Bearbeitung des Narratives ,natürlicher Mutterliebe‘ nach. Indem Literatur und Film aufzeigen, dass „ […] Liebe gerade kein biologsicher Reflex ist“ und Mütterlichkeit „unter bestimmten psychosozialen Bedingungen […] u.U. gar nicht entstehen und gelebt werden [kann]“, wird in Frage gestellt, dass die „zärtliche, aufopferungsvolle Fürsorge an das eigene Kind […] exklusiv mit ‚Weiblichkeit‘ konnotiert ist“ (Schlicht 206: 109). Irritiert wird auch die Voraussetzung einer natürlichen biologischen Zweigeschlechtlichkeit, wenn die Lebensentwürfe und -welten von Individuen, die vor dieser Normalitätsannahme die Positionen des Bizarren bzw. Entmenschlichten einnehmen, inszeniert werden (vgl. Herrmann/Hostkotte 2016: 112f.). Gleichzeitig werden die Realisierungsmöglichkeiten geschlechtsfreier Subjektentwürfe kritisch hinterfragt, entsprechende Theorieimplikationen mitunter abgewiesen, was Hermann und Horstkotte als einen „Abschied vom Theorie-Hype der Postmoderne“ (ebd.: 113) deuten. Ungeachtet ihrer Beobachtung, dass performative Geschlechtertheorien in der Literatur seit einiger Zeit an Resonanz verlieren, bieten diese eine fruchtbare Folie zur Interpretation der im Roman Im Bauch der Königin aufgeworfenen Frage nach den Bedingungen der Identitätsbildung.

 

Im Bauch der Königin – eine Reflexion der Bedingungen der Selbstbildung


In der Tradition des Coming-of-Age-Romans setzen sich die autodiegetischen Erzähler*innen Amal und Raffig zum Zeitpunkt einer bedeutenden biografischen Zäsur – sie stehen unmittelbar vor ihren Abiturprüfungen – mit Fragen der Identität, der Selbstbestimmung und damit zusammenhängend der Wirkmächtigkeit sozialer Normen auseinander. In beiden Romanvarianten bilden die Themenkreise Geschlecht und Sexualität dabei zentrale Fluchtpunkte der Beobachtungen und Reflexionen der Protagonist*innen. Verarbeitetet werden so nicht nur kulturell etablierte, stereotype Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbilder, sondern auch, welchen Einfluss solche als Normalitätserwartungen an die Jugendlichen herangetragenen ,Identitätsfolien‘ auf ihre Selbstbildungsprozesse nehmen. Die Anlage als Doppelroman, der zwei zwar exemplarisch über das Personal verbundene, aber dennoch eigenständige Erzählungen präsentiert, bietet die Möglichkeit, die Teile (auch) unabhängig voneinander zu rezipieren, sodass an dieser Stelle auf die Erzählung Amals fokussiert wird.

 

Die Hure und die Ehefrau – Oppositionelle Angebote des Weiblich-Seins


Geschlechternormen begegnen Amal u.a. in Form von positiv oder negativ besetzten Rollenmodellen, die das denkbare Kontinuum geschlechtlicher Subjektpositionen abstecken. Amals Mutter und Shahira, die Mutter ihres besten Freundes Younes, verkörpern unter dieser Perspektive oppositionell angelegte ,Weiblichkeits-Entwürfe‘, denen unterschiedliche Strategien des Umgangs mit geschlechtsbezogenen Identitätserwartungen entsprechen.

 

Shahira


Als von ihrem Ehemann verlassene, promisk lebende Mutter bricht Shahira in gleich mehrerlei Hinsicht mit den im Viertel gültigen Geschlechternormen. Dass ihr auch die ächtenden Blicke und Worte der anderen Frauen oder das lüsterne, anzügliche Verhalten der Männer keinen Anlass zur Scham oder Reue bieten, macht sie zu einer Aussässigen, einer Ausgestoßenen, einer „läufigen Hündin“ (Taha 2020: 15). Sie kehrt die der hierarchischen Geschlechterordnung inhärente Logik, der zufolge Frauen – mit Ausnahme des ehelichen Beischlafs – sexuell enthaltsam leben müssen sowie dafür Sorge zu tragen haben, Männer in ihrer leicht reizbaren sexuellen Natur nicht herauszufordern, in provozierendem Gestus um. Sie inszeniert sich hyperfeminin, trägt mit Vorliebe kurze Röcke, enge Blusen, hohe Schuhe sowie roten Lippenstift und empfängt ungeachtet der stetigen Überwachung durch ihre Nachbar*innen regelmäßig wechselnde Liebhaber in ihrer Wohnung. Auch profitiert sie vom Wohlwollen ihrer männlichen Bewunderer, ohne sich bedrängen zu lassen: „[W]enn der Libanese sie länger berührt und Andeutungen macht, dann lacht Shahira nur und wenn er vor ihrer Tür steht mit Tüten voller Lebensmittel, lässt sie ihn sogar rein und wenn er sie anfasst, begleitet sie ihn einfach raus“ (ebd.: 43). Für Amal ist es gerade diese Eigenart Shahiras „mit Selbstverständlichkeit Fehler [zu] begehen und mit Unschuld die Fehler um[zu]kehr[en]“ (ebd.), die den Hass der anderen Frauen im Viertel schürt. Vor der Folie Butlers Subjekttheorie wird dieser Hass als sich aus Erfahrungen der Beschränkung eigener Seinsmöglichkeiten (s.o.) entwickelter Zorn lesbar. In diesem Sinne verkörpert Shahira die in der Übernahme positiver Weiblichkeitsmodelle verworfenen Lüste und Begehren, die nun stellvertretend in der Ablehnung ihres Lebensentwurfes und dem Ausschluss aus der ,Frauengemeinschaft‘ bekämpft werden.
Shahira selbst deutet ihr Heraustreten aus dem sozialen Normgefüge als eine Geschichte der Emanzipation und Befreiung, was sie metaphorisch im Bild des abhängigen, schwachen Vogeljungen, der das Nest verlässt und fliegen lernt, zum Ausdruck bringt. Auch die Geschichte, „wie sie das Laufen lernte“ (ebd.: 44) bringt (vordergründig) ein romantisches Bild zum Ausdruck:

„Shahira wollte sich nur die Beine bräunen und lernte zufällig das Laufen, sie zeigt zum ersten Mal Haut, und am Anfang glaubte sie, von jedem angestarrt zu werden, bis sie sich erinnerte, dass niemand sie kannte und dass sie doch in der Fremde war […]. [U]nd Shahira ist ganz allein, obwohl so viele Menschen im Park sind. Sie ist allein, sie ist mit sich, sie ist für sich, sie ist sich, sie ist nicht Shahira Shafiq, die Tochter von Anisa und Ramazan, sie ist nicht Frau, sie ist nicht Mensch, sie ist vielmehr und sie ist nichts“ (ebd.: 45).

Gleichzeitig deutet sich hier der Preis ihres Austritts aus symbolischen Ordnungen an: Die Figur verliert ihren Status als intelligibles Subjekt und ist damit in ihrem Sein zwar nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Form, z.B. das Frau-Sein, beschränkt, sich selbst und anderen zugleich aber nicht verständlich. Sie ist ,nichts‘ und gleichzeitig ,vielmehr‘ als sich vor etablierten Klassifikationsschemata wahrnehmen und benennen lässt; „[S]ie ist eine Idee“ (ebd.: 44), eine nicht näher bestimmbare Möglichkeit im Sinne Butlers. Ihre unmögliche Position außerhalb des Diskurses spiegelt sich in der Metapher des „Puppenhaus[es]“ (ebd.: 45), mit der Shahira die sich ihr eröffnenden Möglichkeiten im fremden Land beschreibt. Sie ist außerhalb der sozialen Wirklichkeit positioniert, die nach Butler und Foucault ausschließlich als diskursive Praxis besteht, und imaginiert eine Welt, in der sie unbeschränkt, d.h. frei von allen diskursiven Zwängen spielen kann. Die Konsequenzen ihres Verhaltens trägt demnach auch nicht Shahira selbst, sondern ihr Sohn Younes, der seiner Identität als vom Vater verlassener ,Hurensohn‘ in der diskursiven Ordnung des Viertels nicht entkommen kann. Amal, die selbst in einem ambivalenten Verhälts zu den etablierten Normen und Denkweisen steht (s.u.), ist zugleich angezogen und abgestoßen vom Lebensentwurf Shahiras. Ihre Eingebundenheit in den diskursiven Denkrahmen verunmöglichen ihr die Übernahme des Identitätsangebotes, zugleich tritt sie nicht unreflektiert hinter die Meinung ,der Leute‘ zurück: „[I]ch weiß, dass es stimmt, dass Younes ein Hurensohn ist, dass Shahira rumhurt und es anders nennt, […] und [ich] fange an, Shahira zu hassen, weil Younes wehgetan wird, um sie zu bestrafen, und ich schäme mich, weil ich verwirrt bin wie die Leute, weil ich blöd bin wie die Leute“ (ebd.: 47).

 

Amals Mutter


Auch Amals Mutter wurde von ihrem Mann verlassen, was sie vor der Geschlechterordnung zu einer ,unvollständigen‘ Frau macht. Von den Bewohnern des Viertels wird sie über die sich stets wiederholenden Fragen nach der Rückkehr ihres Mannes aus Kurdistan ausschließlich als ,Verlassene‘ adressiert und damit implizit gedrängt, ihrem Mann zu folgen. Ungeachtet des Umstands, dass viertelweit bekannt ist, dass ihr Mann in Zaxo bereits eine neue Familie gegründet hat, besteht Amals Mutter darauf, dass dieser bald zurückkehrt und wehrt damit die Anklagen ab. In dieser Leugnung, so reflektiert Amal, grenzt sie sich von Shahira als einem negativen Gegenhorizont ab: „Und sie gibt vor, niemals verlassen worden zu sein, nur Frauen wie Younes Mutter werden verlassen, aber nicht sie, die aus gutem Hause stammt, die meinem Vater nie Schande gemacht hat, die ihre Karriere für ihren Mann aufgegeben hat“ (ebd.: 35). Den Verlust gesellschaftlichen Ansehens befürchtend, konzentriert sie sich darauf, das Verschwinden ihres Mannes symbolisch zu verbergen. So schiebt sie ihren Einkaufswagen erhobenen Hauptes „durch die Supermarktgänge, […] als wäre ihr Mann als Märtyrer an der Seite des Propheten gestorben“ (ebd., 32) und lässt ihre Kinder nach außen hin Wohlstand präsentieren, sodass es für „jeden ersichtlich ist, dass es [ihnen] an nichts mangelt“ (ebd.: 31).
Sie bleibt ganz dem Ideal der enthaltsamen Frau verpflichtet und legt die Annäherungsversuche des Supermarktbesitzer Ramsy entsprechend als eigenes Vergehen aus, in dessen Folge sie sich mit einem Kopftuch verhüllt, um den Männern im Viertel keine Attraktionsfläche zu bieten. Amal, die die ,Sprache ihrer Mutter nicht spricht‘ und ,nicht in ihrer Zeit lebt‘, schämt sich für das Kopftuch, „weil Mutter nicht Stoff trägt, sondern Schlagzeilen – plötzlich ist Mutter unterdrückt, Mutter ist ungebildet, Mutter ist fanatisch, Mutter ist abhängig, Mutter ist schwach“ (ebd.: 42). Vor der Wissensordnung des Diskurses, die das Kopftuch-Tragen mit eben jenen Attributen verbindet, wird Amals Mutter als die Beschriebene konstituiert – „Sie ist das Kopftuch“ (ebd., Herv. T.T.), wie Amal reflektiert. Auch ihre Nachbarinnen sprechen Amals Mutter in Reaktion auf dieses Praxis wiederholt als ,religiös Kundige‘ an, woraufhin sie sich auf diese ,Anrufung‘ umwendet, beginnt den Quran sowie die Hadithe zu lesen und zu beten, um den mit der Adressierung verbundenen Erwartungen gerecht zu werden. Das Kopftuch, ursprünglich eine „Attrappe“, wurde so „irgendwann ein Teil von ihr“ (ebd.: 76). Erst nach ihrem desillusionierenden Aufenthalt in Zaxo entwickelt Amal ein Verständnis für das Verhalten ihrer Mutter, in der sie eine Strategie der Resistenz und Selbstbehauptung ausmacht:

„Und Mutter entscheidet jeden aufs Neue zu bleiben, nicht dem Mann zu folgen; wenn sie aufsteht und die Bettseite leer neben sich findet, bleibt sie weiterhin auf ihrer Seite, weil es ihre Seite ist. Und mit jedem Schritt im Viertel entscheidet sie sich gegen das Gehen und für das Bleiben und bestätigt allen im Viertel ihre Präsenz“ (ebd.: 130).

 

Amal, das Mogli-Mädchen – Entmenschlichte Lebensform


Amals Erzählung lässt sich als Versuch eines Selbstentwurfes lesen, in welchem sie den Geschehnissen der erzählerischen Vergangenheit und Gegenwart Bedeutung zuweist, sie sortiert, in einen Sinnzusammenhang bringt und sich vor diesem zu konturieren versucht. Den Ausgangspunkt ihrer Erzählung bildet die – schicksalsbestimmende, wie sich herausstellt – Geschichte, wie sie den wesentlich größeren und stärkeren Younes verprügelte. Über die Reaktionen ihrer sozialen Umwelt sieht Amal sich erstmals mit den dichotomen Verhaltensanforderungen an die Geschlechter konfrontiert und tritt – auch für den Leser, dem das Geschlecht der Erzählinstanz bis dahin unklar war – als weibliches Wesen hervor: „Und einer von den Jungen fragte mich, ob ich ihnen meinen Bizeps zeigen könne […] und ein anderer fragte, ob ich ihnen meinen Schwanz zeigen könne, und da lachten wieder alle“ (ebd.: 8). In dieser Äußerung wird die Logik der heterosexuellen Matrix, dass ein Subjekt einem der beiden anatomischen Geschlechter zuordenbar sein und eine dem körperlichen Geschlecht entsprechende Geschlechtsidentität haben muss, gewendet; von ,geschlechtstypischen‘ Verhaltensweisen wird auf das Vorhandensein distinktiver Geschlechtsteile geschlossen. Indem ,Mädchen-Sein‘, körperliche Kraft und Aggressivität so als unvereinbar markiert werden, wird Amal als ,Verkehrte‘ adressiert. Auch ihrer Direktorin scheint Amal aufgrund ihres ,burschenhaften‘ Verhaltens ,vollkommen außer Kontrolle‘ geraten zu sein, was sie in der Bezeichnung als „Mogli-Mädchen“ (ebd.: 11) versinnbildlicht. Der Intertext ,Mogli‘ verweist dabei auf die Sphäre vor- oder außersozialen, d.h. nicht als menschlich (an-)erkennbaren Lebens, in der Amal aufgrund ihres nicht genderkonformen Verhaltens verortet wird. Als ,Wolfskind‘ bedarf sie einer umfassenden „Resozialisierung“ (ebd.), um die Position eines intelligiblen Subjekts einnehmen zu können. Die Zurückweisung, die Amal in der Folge ihres Verhaltens von ihrer Mutter erfährt, motiviert sie, am Programm ihrer ,Resozialisierung‘ mitzuwirken:

„[I]rgendwann bot ich ihr an, mein Haar kämmen zu dürfen, ohne Worte, weil ich doch ein Mogli-Mädchen war. Ich ging zu Mutter und reichte ihr ein Haargummi und einen Kamm, damit sie mein Haar, das sie schon immer geärgert hatte, bändigen konnte. Ich setzte mich ihr zu Füßen, und sie konnte auf der Couch mit der Arbeit anfangen“ (ebd.: 12f.).

Dieser Versuch der ,Bändigung‘ ihres Äußeren ist für Amal mit erheblichen körperlichen Schmerzen verbunden, die sie als Preis der Anerkennung ihrer Mutter jedoch anzunehmen und auszuhalten versucht. Unter der Perspektive Butlers Subjekttheorie wird dieser physische als psychischer Schmerz lesbar, der sich über den Verlust verworfener Lebensentwürfe, Lüste und Begehrensformen einstellt. In Amals Fall kehren diese an die Oberfläche zurück und gewinnen die Oberhand, sodass sich Amal den zu streng gebundenen – sie beschränkenden – Zopf in einem Befreiungsakt vor versammelter Klasse abschneidet. Viele weitere Rückblenden bieten Einblicke in die tiefe innere Zerrissenheit der Erzählerin zwischen dem Wunsch nach sozialer Anerkennung und ihrem Gefühl, „dass die Bedingungen nach denen [sie] anerkannt [wird], das Leben unerträglich machen“ (Butler 2009: 13). Alle darauffolgenden Versuche der Anpassung an und performativen Ausführung von Geschlechtercodes scheitern und münden in auf andere oder die eigene Person gerichtete Gewalt. Noch in der Erzählgegenwart schabt Amal den kurz zuvor aufgetragenen roten Nagellack mit den Zähnen ab und „fr[isst] die Haut und schmeck[t] Blut, bis der Lack ab ist und [sie] mit pochenden Fingern dalieg[t] und hass[t], was [sie] nicht [ist]“ (Taha 2020: 74).
In der Diskursgemeinschaft des Viertels gelingt es Amal nicht, einen Selbstentwurf zu bilden, auf dem sie ,beharren‘ kann, was bildlichen Ausdruck in ihrem ruhelosen Umherstreifen im Viertel findet. Mit ihrer Reise nach Kurdistan verbindet sie daher die Hoffnung, dem Zugriff der sie beschränkenden Normen zu entkommen, um sein zu können, „wer ich bin, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich bin“ (ebd.: 97). In der Fremde wird sie dabei selbst zu einer Shahira, einer „Ne-sakini“ (ebd.), d.h. einer ,ungehaltenen‘ Frau, die in ihrer Lösung von der hier gültigen symbolischen Ordnung für andere nicht fassbar ist: „[W]ie eine Vorstellung sehe ich aus, glaube ich“ (ebd.: 122). Im Gegensatz zu Shahira löst sich Amal jedoch nicht von ihrem Begehren nach Anerkennung und dem damit verbundenen Zorn über die erfahrene Ablehnung und Beschränkung, sodass sie desillusioniert ins Viertel zurückkehrt. Ihre Resignation vor der Wirkmächtigkeit diskursiver Geschlechternormen findet Ausdruck in der Weigerung des Weitererzählens, mit der die Erzählung schließt: „[U]nd immer wieder fragen sie mich, wie es bei meinem Vater in Kurdistan war […] und ich bleibe stehen, und ich erzähle nichts“ (ebd.: 131).

 

Metareflexion – Die (Un-)Möglichkeit des Erzählens einer eigenen Geschichte


Gemäß des Verständnisses, dass Identitätsentwürfe über das ,Erzählen der eigenen Geschichte‘ gebildet werden, begegnet die Reflexion von Bedingungen der Identitätsbildung auch auf einer metanarrativen Ebene.

Schon zu Beginn des Romans thematisiert Amal sich ausdrücklich als Erzählerin und inszeniert den Erzählvorgang, wobei sie einen wahrgenommenen Erzählzwang betont:

„Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Besonderes vollbracht zu haben“ (ebd.: 7).

Dieser Zusammenhang zwischen Erzählen und dem Hervorgehen als jemand stiftet eine innere Zwangsdynamik, die Amal immer und immer wieder erzählen lässt. Der hypotaktische Satzbau, die Verbindung der Satzbestandteile über den nebenordnenden Konjunktor ,und‘ sowie die Repetition der Phrasen ,immer wieder fragen sie mich‘ und ,und ich erzählte‘ erzeugen dabei auch auf stilistischer Ebene den Eindruck eines getriebenen, atemlosen Erzählens. Dieser Erzählstil spiegelt das rahmengebende Erzählkonzept eines ,Erzählens gegen den Tod‘, auf das über den häufig – v.a. im Rahmen von Selbstreflexionen des Erzählens – referierten Intertext ,Tausendundeine Nacht‘ verwiesen wird. Eine Wendung findet dieser Topos dadurch, dass Amals Erzählen nicht über den drohenden Tod, sondern gegenteilig darüber motiviert ist, als Selbst ins Leben zukommen. Ihre Unternehmung eines erzählenden Selbstentwurfes steht allerdings schon zu Beginn in Gefahr, wenn die intradiegetischen Zuhörer Amal die Geschichte ,aus dem Mund nehmen‘ und umdeuten, „als wäre sie eine seiner [des Vaters, T.T] Anekdoten, als wäre ich seine Handpuppe“ (ebd.: 7). Die Erkenntnis, nicht Urheberin der eigenen Geschichte, sondern vielmehr Produkt eines historisch-kulturellen (Be-)Deutungsraums zu sein, lässt Amal schließlich resignativ verstummen (s.o.), was ihrem Tod (als autonomen Selbst) gleichzusetzen ist.
Im gleichen Zug – und widersprüchlich zum Bekenntnis gegen das (Weiter-)Erzählen – deutet die Erzählerin auf metanarrativer Ebene einen Möglichkeitsraum für Entwicklungen und den Fortgang ihrer Geschichte an: „Und wenn etwas anfängt, dann hat etwas geendet, und das, was geendet hat, hatte einen Anfang, der etwas beendet hat, und deswegen gibt es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur ein und“ (ebd.: 129). Reflektiert wird an dieser Stelle die prinzipielle Unabschließbarkeit und Offenheit literarischen Erzählens, sodass auch das Ende der vorliegenden Erzählung den Anfang daran anknüpfender Erzählungen bildet. Dass sich die Entwicklungsperspektive in Reflexion auf das Erzählen selbst ergibt, verweist auf das Potential von Literatur, auf diskursive Sinngebungsprozesse einzuwirken (s.o.). Diese Eigenschaft von Literatur, Wirklichkeit über ihre ästhetisierende Verarbeitung zu verändern und neue Bedeutungsräume zu schaffen, wird auch im Bild ,verschobener Folien‘ auf Wirklichkeit reflektiert, das Amal im Rahmen der Reflektion der Wirkungsweisen von Filmen aufwirft:

„Die Reflexionen im Fenster werfen die Gegenstände im Zimmer nach draußen, das Sofa, den Fernseher, Younes – ein ganzes Leben da draußen, wie eine Folie auf unsere Wirklichkeit gelegt, […] und was würde passieren, wenn man die Folie verschieben würde, was würde passieren, wenn Younes, nein, wenn ich aus dem Bild verschwinde?“ (ebd.: 57)

Unter dieser Doppelperspektive betrachtet, bleibt Amal der symbolischen Ordnung des Diskurses unterworfen und damit auf Ebene der Narration das ,Mogli-Mädchen‘. Mit ihrer Erzählung bietet sie den Leser*innen zugleich eine solche ,verschobene Folie auf Wirklichkeit‘, die über die Reflexion der identitätskonstituierenden Wirkungen von Geschlechternomen an deren Dekonstruktion mitwirkt und den Leser*innen einen ,und‘ zur Weitererzählung anbietet.

 

Literatur

 

Primärliteratur

Taha, Karosh: Im Bauch der Königin. Köln: DuMont 2020.

[Hinweis: Der Roman ist als Wenderoman mit jeweils unterschiedlichen autodiegetischen Erzählstimmen angelegt, die Zitate in Klammern beziehen sich auf die Romanvariante mit der Erzählerin Amal.]

Sekundärliteratur

Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung (4. erw. Aufl.). Hamburg: Junius Verlag 2013.

Bublitz, Hannelore: Subjekt. In: Clemens Kammler/Rolf Parr/ Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2008. S. 293-298.

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991.

Butler, Judith: Für ein sorgfältiges Lesen. In:  S. Benhabib, J. Butler, D. Cornell, Drucilla & N. Fraser (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993. S. 122-132.

Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001.

Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974.

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1973.

Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (2. Aufl.). Weinheim: Beltz Athenäum Verlag 1994.

Frietsch, Ulrike: Die Ordnung der Dinge. In: Clemens Kammler/ Rolf Parr/ Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzlers 2008. S. 38-50.

Herrmann Leonhard/Horstkotte, Silke: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016.

Keller, Reiner/Schneider, Werner/Viehöver, Willy: Theorie und Empirie der Subjektivierung in der Diskursforschung. In: Reiner Keller/ Werner Schneider/ Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012. S. 7-20.

Köppe, Tillmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2008.

Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/ Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 284-307.

Meißner, Hanna: Butler. Stuttgart: Phillip Reclam 2012.

Parr, Rolf. Diskurs. In: Clemens Kammler/Rolf Parr & Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzlers 2008. S. 233-237.

Reckwitz, Andreas: Subjekt (2. unv. Aufl.). Bielefeld: transcript Verlag 2010.

Schlicht, Corinna: Das Narrativ ,natürlicher‘ Mutterliebe und Mütterlichkeit in Literatur und Film. In: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1 (2016). H. 8. S. 108–123.

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Im Bauch der Königin

» Werkverzeichnis

Die Zwischenwelten des Doppelromanes: Erzählen, um zu leben. Ein Beitrag von Ben Raith. [ ↑ ]

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Diese Frage verweist auf die Unvorhersehbarkeit langfristiger Auswirkungen kleiner Veränderungen in dynamischen Systemen, bekannt als Schmetterlingseffekt (vgl. Lorenz 1972: 431ff.). Nicht nur beim Klima oder der Umlaufbahn von Planeten können kleinste Veränderungen der Ausgangssituation zu drastischen, nichtvorhersagbaren Änderungen führen, auch für das soziale System menschlicher Gesellschaften oder die Biographie eines einzelnen Menschen können solche ‚Schmetterlingsmomente‘ gedacht werden. Bekannte Beispiele des Spiels mit solchen Dominoeffekten kleiner Veränderungen sind die Filme Butterfly Effect (2004) oder Lola rennt (1998). Die Konstruktion des Doppelromanes Im Bauch der Königin als Wendebuch ermöglicht durch sein Format ein Spiel mit parallelen Erzählungen, mit zwei Möglichkeiten, mit alternativen Realitäten, die von solchen Schmetterlingsmomenten im Leben der Protagonisten ausgehen. So ist die Figur der Amal in einer Geschichte, in der sie auch die Ich-Erzählerin ist, eng mit Shahiras Sohn Younes befreundet, während es diese Freundschaft in der anderen Erzählung nicht gibt. Die Möglichkeit einer solchen anderen, parallelen Realität wird von Amal auch innerhalb der Erzählung angedeutet:

„Und ich schaue nach draußen, die Sonne ist untergegangen. Die Reflexionen im Fenster werfen die Gegenstände im Zimmer nach draußen, das Sofa, den Fernseher, Younes – ein ganzes Leben da draußen, wie eine Folie auf unsere Wirklichkeit gelegt, und wer kann uns versichern, dass das dort draußen nicht echt ist, dass nicht wir die Reflexionen sind, nur eine Folie, gelegt über das eigentliche Bild, und was würde passieren, wenn man die Folie verschieben würde, was würde passieren, wenn Younes, nein, wenn ich aus dem Bild verschwinde?“ (Taha 2020, S. 56f., Amal)

Was passieren könnte, wenn Amal aus dem Bild verschwände, wenn es die Freundschaft zu Younes nicht gäbe, können die Leser*innen erfahren, wenn sie das Buch wenden und die alternative Erzählung lesen. Somit ist das Buch nicht nur von zwei verschiedenen Seiten aus lesbar, sondern die Leser*innen können beliebig zwischen den Welten der beiden Erzählungen wechseln und sich z.B. anhand der Figur der Amal die Frage stellen: Was wäre, wenn Amals Vater nicht früh seine Familie verlassen hätte, um als Architekt in Kurdistan zu arbeiten? Welche Auswirkungen hätte dieser Umstand auf die individuelle Selbstbestimmung des jungen Mädchens gehabt? Wäre sie vielleicht die selbstsichere junge Frau geworden, die nach dem Abitur ein Auslandsjahr in Chicago plant, wie es die Amal der anderen Romanerzählung macht?

Die Parallelität beider Geschichten birgt das Potential solche Spekulationen über die Lebensläufe seiner Protagonisten zu evozieren und damit über die Dynamik und Determiniertheit sozialer Ereignisse. Entsprechende Denkangebote liefert der Roman immer wieder dadurch, dass beide Erzählungen durch ihre Figuren, Topoi, Orte und konkrete Ereignisse miteinander verwoben sind. So berichten die Erzählfiguren beider Versionen davon, wie sie im Kindesalter den introvertierten Younes verprügelt haben. In beiden Erzählungen kommt es nach der Prügelei zur Konfrontation der Mütter beider Kinder, die jeweils mit den gleichen Worten ausgetragen wird:

„Dein Sohn hat dieses Verhalten von dir und deinem Mann gelernt. Ein Verhalten wie vom Tiere, wie die Tiere!, schrie sie weiter“ (Taha 2020, S. 17, Raffiq).

„Ein Mädchen, das Jungen verprügele, könne nicht normal sein, ich sei verzogen, und Mutter sei daran schuld, das sagte sie alles. Wie die Tiere, sagte sie und wiederholte den Satz, …“ (ebd., S. 9, Amal).

An einigen Textstellen, wie der hier zitierten, wird die Konstruiertheit des Textes deutlich. Sie fungiert als Einladung für eine nicht-lineare, sondern multiperspektivische Rezeption der Geschichten.

Die kleine Episode hat für beide Erzählfiguren dann völlig unterschiedliche Konsequenzen. Während die Angelegenheit für den Jungen Raffiq schnell erledigt ist, nimmt das Ereignis im Leben von Amal deutlich mehr Raum ein. Die Behandlung klassischer Themen von Coming-of-Age-Erzählungen, wie Identitätssuche und Sexualität, variiert hier anhand des Geschlechtes der Erzählfiguren. Ein Mädchen, das einen Jungen verprügelt, die Unkonventionalität dieses Ereignisses reicht für einen kleinen Skandal. Traditionelle Geschlechternarrative greifen schon bei kleinen Mädchen und Amal hat durch ihren performativ männlichen Akt eine Grenze überschritten. So muss Amal wieder und wieder die Geschichte erzählen, wie sie den Jungen verprügelte und wird von ihrem Vater, den anderen Kindern und der Lehrerin dafür mit Aufmerksamkeit bedacht. 

„Meine Mutter verbot mir, die Geschichte zu erzählen, aber ich konnte nicht aufhören, weil alle mich danach fragten“ (ebd., S. 9, Amal)

Ihre Umgebung brandmarkt Amal von nun an als Mannweib, als Mogli-Mädchen (vgl. Taha 2020, S. 10, Amal). Wie sehr internalisiert das junge Mädchen diese Außenwahrnehmung? Was bedeutet es für die Identitätssuche einer Heranwachsenden, wenn sie gezwungen wird, eine Geschichte wieder und wieder zu erzählen? Handelt es sich hier um einen Dominoeffekt in Amals Leben, der sich so weit fortsetzt, dass sie noch als junge Frau das Mogli-Mädchen bleibt, das weite T-Shirts trägt und bei dem es absurd wirkt, wenn es Nagellack trägt, weil ihre Fingernägel doch zum Kratzen da sind? (vgl. ebd., S. 71, Amal).

Die Lebensläufe beider Erzählfiguren werden durch das Verprügeln von Shahiras Sohn Younes in unterschiedlicher Weise geprägt. Hier schafft die durch beide Erzählungen des Wenderomans mögliche kontrastive bzw. multiperspektivische Sichtweise einen Mehrwert gegenüber einer eindimensionalen Erzählform. Das Zusammenspiel aus Form und Inhalt, das Vorhandensein mehrerer Möglichkeiten, erschwert die Rezeption des Textes, da die Leser*innen sich nicht entlang des konventionellen Aufbaus einer Geschichte mit klar definiertem Anfang und Ende orientieren können. Dies mag unbequem sein und zu der Erkenntnis führen, dass es nicht die eine und einzige Wahrheit einer Geschichte und eines Lebens gibt. Im Bauch der Königin erzählt zwei Möglichkeiten, zwei Geschichten, die stellvertretend sind für eine unendliche Anzahl möglicher Geschichten und Perspektiven im Chaos menschlichen Lebens. Sicher ist nur die Tatsache, dass sich die Vergangenheit in die Zukunft fortpflanzt, Erlebnisse eine Dynamik entwickeln.

Neben einzelnen Ereignissen sind beide Romanvarianten auch durch den Ort verknüpft. Ein etwas trostloses, namenloses Viertel irgendwo im Ruhrgebiet. In Amals Erzählung malt ihr Vater mit einem Edding ein Tor an eine Hauswand, damit die Kinder dort Fußball spielen können (ebd., S. 19, Amal). Auf eben dieses gemalte Tor wird auch in Raffiqs Parallelerzählung Fußball gespielt (ebd., S. 47, Raffiq). Es ist ein Tor zwischen den Welten. Einer der Anker- oder Referenzpunkte, die beide Realitäten miteinander verbinden. Neben Orten und Ereignissen sind es aber vor allem die Figuren, die dafür sorgen, dass die Leser*innen nicht vor zwei völlig unabhängigen Geschichten stehen, die einfach in der Mitte des Buches zusammenlaufen. Würde man Im Bauch der Königin wie eine Klecksographie à la Rorschach lesen, gäbe es an der Stelle, wo das Papier gefaltet wird einen Punkt, es gäbe eine Figur, von der aus die Symmetrieanteile beider Romanvarianten ausgehen, diese Figur ist Shahira. Ihre Charakterisierung ist in beiden Romanvarianten durchgängig, ebenso ist traurigerweise das gesellschaftliche Stigma eine Konstante, welches dieser promisken Frauenfigur anhaftet. Es ist ihre sexuelle Freizügigkeit, ihr selbstermächtigter Ausbruch aus den normkonformen Verhaltensweisen der irakisch-kurdischen Community in der sie sich bewegt, der ihr eine Omnipräsenz im Viertel verleiht (was nicht bedeutet, dass die Sexualität promisker Frauen innerhalb westlicher Mehrheitsgesellschaften nicht ebenso pathologisiert und sanktioniert würde). Shahira ist der Fixpunkt beider Romanvarianten, es ist ihr Bauch, der Bauch der Königin, der namensgebend ist für beide Erzählungen.  

„Shahira hat ihn verschluckt, und auch er ist dazu verdammt, in ihrem Bauch zu verharren – wir alle werden sie niemals vergessen, ihr huldigen und jede Frau neben sie stellen und schauen und erkennen: Shahira ist kein Mensch. Sie gehört niemanden, wir sollten dankbar sein für ihre Anwesenheit“ (ebd., S. 100, Raffiq).

„Shahira ist keine Nachbarin, sie ist keine Frau, sie ist kein Mensch – sie ist eine Idee …“ (ebd., S. 44, Amal).

Wenn die Figur der Shahira eine Idee verkörpert, welche Idee ist dann gemeint? Ist es die Idee einer alleinerziehenden Frau, die sich sozialer und kultureller Rollenzuschreibungen entledigt hat, um ein sinnlich erfülltes Leben zu leben? Warum sind Shahira und ihr Sohn Younes der Festpunkt zwischen den Welten beider Erzählungen? Die Figur der Shahira bietet eine Projektionsfläche, die auch mit der metaphorischen Ausgestaltung der Figurenbeschreibung zusammenhängt.

Was das Titelmotiv betrifft, so lässt sich dieses auch als Anspielung auf die biblische Geschichte von Jona (arabisch Yunus oder Younes) und dem Wal, die in ähnlicher Form auch im Koran vorkommt. lesen. Im Buch Jona des Alten Testamentes erteilt Gott Jona den Auftrag der Stadt Ninive (im heutigen Nordirak) den Untergang zu verkünden (vgl. Jona 1, 1 bis 4, 11, LU). Jona flieht vor der ihm aufgetragenen Aufgabe auf ein Schiff, Gott schickt daraufhin einen Sturm, um Jona zur Umkehr zu bewegen. Als das Schiff in Seenot gerät, wird Jona über Bord geworfen und von einem großen Fisch verschlungen. Er überlebt drei Tage im Bauch des Fisches und verkündet anschließend der Stadt Ninive die göttliche Botschaft. Für den biblischen Jona ist der Bauch des Fisches zugleich Bedrohung und Gefängnis wie auch Schutz und Rettung vor dem sicheren Tod. Zumindest die Ambivalenz dieser Situation ließe sich auf Shahiras Sohn Younes übertragen, der ‚Bauch der Königin‘ ist für ihn gleichzeitig Schutz und Mutterliebe, aber auch Stigma und Gefängnis:

„Jede Bewegung, jeder Blick, jede Eigenschaft ist wohlüberlegt, aber immer nur in die entgegengesetzte Richtung zu seiner Mutter. Er verbietet sich Sachen, die er unter anderen Umständen getan hätte. Dafür hasse ich Shahira, dass sie so viel Macht über Younes hat, indem sie einfach nur so ist, wie sie ist, und dafür sorgt, dass Younes nicht sein kann, wie er gern wäre“ (Taha 2020, S. 33 Raffiq).

Younes kann sich die Rolle, die er innerhalb seiner sozialen Umgebung einnimmt, nicht aussuchen. Seine Selbstwerdung findet statt, unter den Bedingungen der Stigmatisierung als ‚Hurensohn‘. Dies ist der Bauch, das Gefängnis, in dem der Konstruktionsprozess seiner Identität stattfindet. Wenn Menschen das Produkt ihrer Erlebnisse und ihrer Vergangenheit sind, dann pflanzt sich dieses Moment auch in die Zukunft des jungen Mannes fort. In mehrerlei Hinsicht ist Younes dadurch zwischen Welten gefangen, zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein, zwischen Abitur und Berufsleben, zwischen äußeren Zuschreibungen und dem Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung.

„Wenn Younes nach Frankfurt zieht, dann bleibt er Younes, weil es immer noch Shahira gibt, weil das, was passiert ist, passiert ist. In Younes steckt seine Vergangenheit, sie hat Younes zu dem gemacht, was er heute ist“ (ebd., S. 74, Raffiq).

Obgleich die beiden Erzählfiguren der Romanvarianten und auch Younes ein für ihr Alter  erstaunliches Reflexionsvermögen entwickeln, bleibt von ihren Überlegungen unangetastet, mit welcher Berechtigung und Selbstverständlichkeit Shahira das Opfer gesellschaftlicher Anfeindungen wird.

Ein Weg zur Unabhängigkeit von Vorurteilen und vorgeprägten Lebensmustern, eine Möglichkeit den individuellen Wandlungsprozess der Adoleszenz autonomer zu gestalten, zeigt sich für die Protagonisten von Im Bauch der Königin durch das Erzählen und Erfinden eigener Geschichten. In dieser Hinsicht ist das Erzählen von Geschichten ein wichtiger Topos beider Romanvarianten.

 

Erzählen, um zu leben

 

Raffiq hört eine rätselhafte Geschichte, die sein Vater ihm erzählte, eine Geschichte über einen exotischen Vogel, der bei einem Geschäftsmann lebte und dessen Artgenossen sich an einem entfernten Ort befinden (vgl. Taha 2020, S. 116, Raffiq). Die Erzählung des Vaters endet offen und hinterlässt so mehr Fragen als Antworten:

„Ich wollte so sehr, dass mein Vater weitererzählte, wie der Vogel seine Freunde erreichte, mir versicherte, dass sie ihren Tod vorgetäuscht hatten, nur in seiner Erzählung konnten sie weiterleben“ (Taha 2020, S. 118, Raffiq).

Das Verwehren eines fixen Endes der Geschichte über den exotischen Vogel hinterlässt Ungewissheit bei Raffiq. Eine Ungewissheit, die sich nahtlos in sein Lebensgefühl einfügt und die vielleicht kennzeichnend ist für die Übergangsphase nach der Schulzeit und für die vielschichtige Identitätssuche in der Adoleszenz. Offene Enden bedeuten immer auch ein Spiel mit den Möglichkeiten, den vielfach möglichen Varianten von (Lebens-) Geschichten. So ist nicht die Pointe, die Lektion einer Geschichte, zum Zweck derselben, sondern das Erzählen selbst. Der Prozess des Erzählens und die Wandlungen und Wunder, die das Geschichtenerzählen vollbringen kann, bilden den Kern des Romans. Erzählen, um zu leben, so könnte das Leitmotiv beider Romanversionen lauten. Für Raffiq und seinen Freund Younes bedeutet dies, die Autorenschaft der eigenen Geschichte zu übernehmen. Und dies tun die beiden am Ende dieser Romanversion auch, als sie beim Einwohnermeldeamt in Frankfurt sitzen, um eine Wohngemeinschaft zu gründen:

„Ich erzähle Younes die Geschichte von dem Geschäftsmann und seinem Vogel, und ich erzähle ihm, wie mich das Ende immer aufgewühlt hat, weil man nicht weiß, ob die Vögel nicht doch gestorben sind. […] Es gibt ein Ende, sagt Younes, aber das, was dir dein Vater erzählt hat, das ist nicht das Ende“ (Taha 2020, S. 125, Raffiq).

Daraufhin stehen die beiden auf und die Romanversion mit Raffiq als Erzähler endet mit einem Aufbruch, mit einem Neuanfang. Würden die beiden Jungs die Geschichte des exotischen Vogels zu einem eigenen Ende bringen, wäre es wohl ein glücklicher Ausgang. Vermutlich würde der Vogel nicht plattgefahren und tot am Straßenrand in Kurdistan enden. Möglich wäre aber auch solch ein trauriges Ende der Vogelgeschichte, dies suggerieren jedenfalls Amals Begegnungen mit einer exotischen Vogelleiche im anderen Teil des Doppelromans:

„Am Straßenrand liegt ein toter Vogel mit bunten Federn, er ist plattgefahren, sein Kopf ist nicht mehr zu identifizieren. Ich frage mich, ob alle Vögel hier so ein buntes Federkleid haben oder ob das ein exotischer Vogel ist, der von weit hergeflogen ist, hier eine Zwischenstation eingelegt hat und platt gefahren wurde. Wer hätte gedacht, dass eine Zwischenstation tödlich sein kann“ (ebd., S. 95, Amal).

„Am Straßenrand sehe ich die platt gefahrene Vogelleiche wieder, die nur noch die Hälfte von dem ist, was sie vor einer Woche war, und bald wird nichts mehr da sein, und bald wird es den Vogel nicht gegeben haben, und es wird egal sein, wie der Vogel sein Ende gefunden hat. Und wenn etwas anfängt, dann hat etwas geendet, und das, was geendet hat, hatte einen Anfang, der etwas beendet hat, und deswegen gibt es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur ein und“ (ebd., S. 129, Amal).

Auch für Amal ist das Erzählen die Grundlage für das Leben und ein Weg, ihr Leben zu begreifen und zu ordnen. Ihre Erzählweise, ihr Ton und der Wechsel ins Futur II unterscheidet sich von der Erzählform im anderen Teil des Doppelromans. Wenn Amal erzählt, dann reihen nebenordnende Konjunktionen vielfach Sätze aneinander, wie im obigen Zitat. Dabei wird der Wahrheitswert der Sätze nicht miteinander verrechnet, sie werden nicht nach Bedeutung skaliert, Amal erzählt assoziativ. Es ist der Versuch Ordnung in ein Chaos aus Empfindungen und Erinnerungen zu bringen, keine chronologische Ordnung, sondern eine emotionale. Zwischen den beiden Begegnungen mit der Vogelleiche liegt Amals Zwischenstation bei ihrem Vater in Zaxo. Amal muss erkennen, dass der Vater ein Leben führt, in dem kein Platz für sie ist. Sie ist Teil eines früheren Lebens, einer anderen Geschichte.

Es gibt nicht die eine Geschichte, den einzigen Anfang und sein dazugehöriges Ende. Die sprachliche Umsetzung ihres Erzählens ist synchron mit dieser Erkenntnis, wenn Amal die Erlebnisse ihrer Zwischenstation in Zaxo kombinativ aneinanderreiht und sich anschließend für das Schweigen entscheidet (vgl. Taha 2020, S. 131, Amal). Kehrt man das Motiv ‚Erzählen, um zu leben‘ in sein Gegenteil, bedeutet das Schweigen den Tod. So wie für Shahrasad (auch Scheherazade oder Shahira), der Figur aus der Rahmenhandlung der Märchensammlung 1001 Nacht, auf die in beiden Romanversionen mehrfach verwiesen wird (z.B. Taha 2020, S. 25 Raffiq oder S. 16, S. 66, Amal). Scheherazade ist die Erzählerin der 1001 Nächte. Sie wird zur Frau des rachsüchtigen Königs, der alle seine Frauen nach der Hochzeitsnacht ermorden lässt. Um dem Tod zu entgehen, erzählt Sheherazade 1001 Nächte lang Geschichten, die sie immer im Morgengrauen unterbricht (siehe die Märchensammlung aus 1001 bei Weil 2017). Sie erzählt um ihr Leben. Sie überlebt dank ihrer Erzählungen. Wie bei der Ur-Erzählerin Sheherazade wirkt es bei Amal, als habe sie Angst, ihr würde der Erzählstoff ausgehen, als müsste sie dann Schweigen und damit einen Tod der Bedeutungslosigkeit, der Sinnlosigkeit sterben.

Erzählt Amal, reihen sich Gedanken und Gefühle aneinander, wichtig scheint dabei nicht eine klare Struktur oder Chronologie zu sein, sondern der Versuch die Erinnerungen durch das Erzählen vor dem Vergessen zu bewahren. Nur in der Ordnung einer Erzählung bildet sich so etwas wie Identität aus.

Einmal sucht Amal ein Fotoalbum, um die verblassende Erinnerung an ihren Vater zu bewahren, sie findet das Fotoalbum im Kleiderschrank unter Wintermänteln vergraben. „Vater ist vergessen, verkommen, verstecken, verwunden, versprechen, vergraben“ (Taha 2020, S. 69, Amal). Die sprachliche Verwendung von Alliterationen und Parataxen verstärkt den assoziativen Charakter von Amals Erzählweise. Das Erzählen ist gleichzeitig ein Ordnen und ein Wiederbeleben von Empfindungen, hier von der Erinnerung an die Gestalt ihres Vaters, um sie vor dem Tod des Vergessens zu schützen.

Das Erinnern kann Sinn stiften, vermag der eigenen Geschichte und der eigenen Perspektive Gewissheit verschaffen. So ist das Fotoalbum der Mutter auch nicht eines zum Einkleben von Fotos, denn die Mutter wollte die Fotos nicht kleben und damit innerhalb einer Dramaturgie festlegen.  Ihr war es hingegen vertraut, Fotos hin und her zu schieben und somit die Abfolge der Vergangenheit immer wieder neu zu arrangieren, anstatt die Fotographien an Seiten zu fixieren und dadurch eine einzige Abfolge zu behaupten wie die Wahrheit Gottes (vgl. ebd., S. 69, Amal). Amals Vater bemerkt dazu, dass man früher Fotos gemacht habe, um später eine Geschichte zu erzählen (vgl. ebd., S.70, Amal). Es erinnert etwas an den Leitsatz aus der Autobiographie des großen Erzählers Gabriel Garcia Marquez: „Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen“ (Garcia Marquez 2014: S. 5). Erst in ihrem Erzählen entsteht für Amal der Sinnzusammenhang ihrer Erlebnisse, ihre Identität nimmt im narrativen Modus Gestalt an.

Shahira daneben, so berichtet Amal an anderer Stelle, erzähle Geschichten nicht, um zu überleben, sondern um sich zu verzeihen (vgl. Taha 2020, S. 66, Amal). Shahira bittet Amal, zur Erzählerin ihrer eigenen Erinnerungen zu werden: „Erzähl es so, als wäre ich nicht da“ (ebd., S. 67, Amal). Ob erzählen, um zu verzeihen, oder erzählen, um zu leben, es ist der Prozess der Selbstvergewisserung, der Konstruktion narrativer Identität, den uns die Figuren von Im Bauch der Königin eindrucksvoll vor Augen führen. Das Selbst ist nicht in festem Besitz einer einzigen Wahrheit, vielmehr ist es als Konstrukt ein Ergebnis von Erzählungen.

Den Erzählfiguren von Im Bauch der Königin fällt es schwer, die mannigfaltigen Ansprüche ihrer Umgebung, der Schule, ihrer Eltern, der kurdisch-deutschen-Community in ihre Erzählwelt zu integrieren und  die richtige Sprache für die Selbsterzählung zu finden. Für Amal ist diese Suche nach der richtigen Sprache auch eine Suche nach Heilung und nach Versöhnung mit den Brüchen in ihrer Biografie, die sie auf Kurdisch und auf Deutsch denkt und spricht:

 „Ich denke in letzter Zeit viel auf Kurdisch, auf Deutsch denke ich es zu Ende, aber auf Kurdisch fange ich an. Ich sehe Kurdisch, ich denke Deutsch, ich spreche manche Sätze in beiden Sprachen aus, ganz leise, dass nur Gott es hören könnte, wenn Gott keine Frage wäre. […] Wenn ein deutsches Wort in einem kurdischen Satz auftaucht, hat es keine Auswirkung auf die kurdische Aussprache, ich weiß nicht, wieso, wahrscheinlich, weil das Deutsche und das Kurdische noch keine Aussprache hatten, kein Kur-Deutsch, das geheilte Deutsch“ (ebd., S. 123, Amal).

Doch das Erzählen der eigenen Geschichte ist nicht nur auf die richtige Sprache angewiesen, sondern auch auf Verständnis, auf Empathie, auf Bestätigung. Amal erhält diese Bestätigung nicht. Sie beschließt daher, dem Vater nichts mehr zu erzählen, „es gibt keinen Grund mehr zu erzählen“ (ebd., S.129, Amal). Ihr Schweigen legt eine Resignation nahe, das Ende des Erzählens sowie der Suche nach Bedeutung. Weil es nicht ihre eigene Geschichte ist, die Gehör findet, weil Amal nicht auf die Bereitschaft trifft, sie verstehen zu wollen, entscheidet sie sich auch gegenüber den Leuten im Viertel für das Schweigen:

„Und sie bleiben stehen, die Leute, und immer fragen sie mich, wie es bei meinem Vater in Kurdistan war, als hätten sie meine Antwort vergessen, und immer wieder werden sie fragen, als hätten sie vergessen, dass sie gefragt haben, und immer wieder fragen sie mich, wie es bei meinem Vater in Kurdistan war, und ich bleibe stehen, und ich erzähle nichts“ (ebd., S.131, Amal).

 

Literatur

 

Taha, Karosh: Im Bauch der Königin. Köln: Dumont 2020.

[Hinweis: Da der Roman als Wenderoman mit jeweils unterschiedlichen autodiegetischen Erzählstimmen angelegt ist, wird bei den Zitaten in Klammern der Figurenname angegeben, auf deren Erzählung rekurriert wird.]

Arndt, Stefan (Produzent) & Tykwer, Tom (Regisseur). 1998: Lola rennt (Film). Deutschland.

Bender, Chris (Produzent) & Bress, Eric (Regisseur). 2004: Butterfly Effect (Film). USA.

Die Bibel in der Einheitsübersetzung (von 1980). Onlinequelle der Universität Innsbruck, 2009. Abrufbar unter: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/; letzter Zugriff: 05.07.2021.

Garcia Marquez, Gabriel: Leben, um davon zu erzählen. Köln : Kiepenheuer & Witsch 2014.

Lorenz, Edward: Predictability: Does the flap of a butterfly's wings in Brazil set off a tornado in Texas? 139th Meeting of the American Association for the Advancement of Science 1972, in Science 320, 2008 (1), S. 431.

Weil, Gustav (Hrsg.): Die Märchen aus 1001 Nacht - Vollständige Ausgabe (2 Bände). Anaconda Verlag : München 2017.

Im Bauch der Königin

» Werkverzeichnis

Das Verhältnis von Natur und Kultur in Karosh Tahas Roman Im Bauch der Königin.

Ein Beitrag von Julia-Marie Franken. [ ↑ ]

Karosh Tahas Wenderoman Im Bauch der Königin erzählt von Aus- und Aufbrüchen und berührt universelle Themen, er stellt die Frage: „Wer will ich sein und wie will ich leben?“ (Schürmanns, 22.09.2020). Die jungen Protagonist*innen suchen nach ihrem Weg in der modernen, postmigrantischen Gesellschaft. Dabei verhandeln sie ihre Existenz im Angesicht „Lauter Zwischenwelten“ (Deistler, 25.06.2020). Zwischen Individuation und Vergesellschaftung, zwischen Emanzipation und Tradition, zwischen Natur und Kultur konstituiert sich die eine zentrale Frage des Seins. Anhand der Romanvariante, in der Raffiq als Erzähler auftritt, wird untersucht, wie Taha diesen zentralen Diskurs aufgreift und ihn selbst zum problematischen Gegenstand ihrer Erzählung macht. Neben den Aspekten Individuum und Gesellschaft sowie Selbstermächtigung und Tradierung wird auch auf die Rolle von Körper und Körperlichkeit im Kontext von Natur-Kultur eingegangen.

 

Natur und Kultur

 

Die „Auseinandersetzung mit dem Natur-Kultur-Verhältnis ist zweifellos ein wichtiges Thema nicht allein für die Literatur, sondern auch für jeden, der sich mit der Gesellschaft der Gegenwart befasst“ (Schierbaum 2015, S. 33). Koschorke (2009, S. 20) bezeichnet menschliche Gesellschaften als „ein Hybrid aus Natur und Kultur“, betont gleichzeitig, „dass die Differenzlinie zwischen Natur und Kultur kein harmloser Trennstrich ist, sondern die Front in einem epistemischen Kampfgebiet“ (Koschorke 2009, S. 25). Im Bauch der Königin problematisiert, dass „was ‚natürlich‘ ist, wie auch das, was als ‚normal‘ angesehen wird, […] in der heutigen Gesellschaft ein Gegenstand der kulturellen Aushandlung“ (Schierbaum 2015, S. 34) ist. Dabei führt der Roman dem*der Leser*in vor Augen, wie der Mensch inmitten dieses „Kampfgebietes“ steht. Karosh Taha hält der Gegenwartsgesellschaft den Spiegel vor. Anhand der vielschichten Figuren bietet der Roman Projektionsflächen, mit denen sich Leser*innen auseinandersetzen müssen. Literatur tritt dabei als die „universale Vermittlungsinstanz“ (Schierbaum 2015, S. 38) ein.

 

Individuum und Gesellschaft

 

Im Roman treten die Prozesse von Vergesellschaftung und Individuation in ständigen Konflikt miteinander. Nach Vester (2009, S. 59) bedingen sich Sozialisation und Individualität gegenseitig: die Sozialisation ermöglicht überhaupt erst ein Selbst, eine Identität des Individuums. Im Bauch der Königin verhandelt die Auswirkungen dieser Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft im multikulturellen Setting der Gegenwartsgesellschaft. Kultur kann für eine Anzahl an Menschen identitätsstiftend sein (vgl. Vester 2009, S. 40). Der Mensch als soziales Wesen entwickelt Individualität nicht gegen die Gesellschaft, sondern im Rahmen natürlicher, gemeinschaftlicher und kultureller Bezüge (vgl. Vester 2009, S. 42). Im Bauch der Königin zeigt, wie Heranwachsende inmitten einer Vielzahl an unterschiedlichen Werten, Normen und Perspektiven stehen und nach Zugehörigkeit suchen. Dabei wird der moderne Pluralismus von verschiedenen Seiten reflektiert. Während Younes die ihm vorliegende Vielfalt an Möglichkeiten als Chance sieht (vgl. Im Bauch der Königin, S. 77), werden die vielen Zukunftsoptionen für Raffiq zum Hindernis: „Ich habe so viele Möglichkeiten, dass ich nicht weiß, was der richtige Weg ist“ (Im Bauch der Königin, S. 67). Im Laufe der Erzählung versucht Raffiq seine Erwartungen und Lebensziele zu formulieren: „Amal sagt immer, es sei wichtig herauszufinden, was man vom Leben will; Erwartungen zu formulieren und sie mit den Zielen abzugleichen, um keine Enttäuschungen zu erfahren. […] Amal empfahl mir eine Tabelle zu zeichnen mit Lebenszielen und Erwartungen. In dem Moment lachte ich sie aus, aber zu Hause erstellte ich diese Tabelle und dachte lange nach, trotzdem blieb meine Tabelle wochenlang leer, weil ich nicht imstande bin, Erwartungen an das Leben zu formulieren“ (Im Bauch der Königin, S.36). An Raffiq wird deutlich, „wie die Nachmoderne das Individuum [aufgrund der zunehmenden Flexibilisierung] überfordert“ (Schlicht 2020, S. 113). Statt des kontinuierlichen Planen und Handelns (vgl. Schlicht 2020, S. 113) verharrt das Individuum in passiver Haltung:

„Ich habe wieder lange auf das Blatt mit der leeren Tabelle geschaut, lange nachgedacht, was meine Ziele im Leben sind, was meine Erwartungen sind. Das kann gar nicht so schwer sein. Vielleicht sind das auch die falschen Fragen, von Amal gestellt, nicht von mir. Aber dann müsste ich mir auch noch eigene überlegen, und dabei kenne ich noch nicht einmal die Antwort auf die simplen Fragen der anderen.“ (Im Bauch der Königin, S. 53f.)

Schließlich wird die Tabelle von Raffiqs kleiner Schwester übermalt:

„Ich schaue auf Newroz’ Zeichnung. Sie hat einfach auf meine Tabelle gemalt, die Worte ‚Lebensziel‘ und ‚Erwartungen‘ schweben über der Zeichnung: eine Familie vor einem Haus. Newroz hat all ihre Erwartungen und Ziele in einem simplen Bild zusammengefasst.“ (Im Bauch der Königin, S. 79)

Die Frage nach der Familie ist im Roman zentral. Als kleinste Einheit im Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv wird das Modell der Familie hinterfragt. Inwiefern ist Familie der Rahmen für Sicherheit, für Identitätsbildung? Welche Formen von Glück, welche Möglichkeiten für Zufriedenheit werden geboten? Und welche Macht hat die Familie im Rahmen der Identitätsbildung? Wie verhält sich das Individuum im „Spannungsfeld zwischen Freiheit und Familie“ (Dönges und Freudel, 28.05.2020)?  Raffiq reflektiert die Rolle, die der Familie im Rahmen von Sozialisation zukommt: „So sind wir erzogen, wir tun, was man uns sagt. Wir tun, was Vater und Mutter uns befehlen. Und Vater kann sogar Mutter überstimmen, das Gegenteil ist selten der Fall“ (Im Bauch der Königin, S. 78f.). Younes sieht das anders und versucht Rafiq von der Autonomie des heranwachsenden Individuums zu überzeugen: „Raffiq, das ist nicht die Entscheidung unserer Eltern. Zum ersten Mal dürfen wir entschieden. Wieso verstehst du das nicht?“ (Im Bauch der Königin, S. 77). Aber auch Younes Identität(-sbildung) steht in Abhängigkeit zur Familie:

„Er will anständig sein, nicht auf religiöse Art, sondern auf kurdisch-moralische Art. Er hat Angst, dass man sagt, der Apfel falle nicht weit vom Stamm. […] Younes hat nicht verstanden, wie viel Macht er damit seiner Mutter gibt. Jede Bewegung, jeder Blick, jede Eigenschaft ist wohl überlegt, aber nur in die entgegengesetzte Richtung seiner Mutter. […] Dafür hasse ich Shahira, dass sie so viel Macht über Younes hat, indem sie einfach nur so ist wie sie ist, und dafür sorgt, dass er nicht sein kann, wie er gern wäre. […] Er wird es komisch finden, dass ich darüber nachdenke, dass er so ist, wie er ist, weil seine Mutter Shahira ist.“ (Im Bauch der Königin, S. 33)

Im Roman werden alle Seiten des Spannungsfeldes Individuum und Gesellschaft aufgeworfen und kritisch hinterfragt. Antworten auf diese Fragen wird der*die Leser*in nicht finden. Stattdessen stellt der Roman das Konzept Familie in Frage. So erweist sich Younes Vater am Ende des Romans (Raffiq als Erzähler) als Fremder. Es spielt keine Rolle mehr, dass dieser Mann Younes leiblicher Vater ist: „Er lächelt nicht, er hat keine Falten, weder um die Augen noch auf der Stirn, sein Gesicht ist ohne Ausdruck. Der Mann ist so fremd, dass mir ganz kalt wird“ (Im Bauch der Königin, S. 120). Unterstützt wird dies auf körperlicher Ebene, denn Younes hat keine Ähnlichkeit mit seinem Vater:

„[E]gal, wie lange man starrt und versucht, ein Detail zu finden, wie winzig das Detail auch sein mag, aber in seinem Gesicht hat Younes kein einziges Merkmal, das er von seinem Vater geerbt hat, weder die Nase noch den Mund, alles ist von der Mutter, sie hat ihr Gesicht an ihn vererbt, um zu verkünden, dass Younes nur ihr gehört, ein Stück Fleisch aus ihrem Körper ist. In seinem Gesicht suchte ich manchmal nach irgendeinem Merkmal, um es als das seines Vaters zu identifizieren, aber ich fand nichts. Als hätte Gott seine Mutter so schön gefunden und beschlossen, eine Kopie von ihr zu schaffen.“ (Im Bauch der Königin, S. 119)

Younes Mutter Shahira wird als „Urmutter“ inszeniert, in ihr fließen Wärme und Zuneigung zusammen:

„Es stimmt, dass man im Winter keine Heizung braucht, wenn Shahira sich um einen kümmert. Younes hat nie gefroren, weil Shahira ihn in mehrere beigefarbene Wolldecken einrollte und mich rollte sie auch ein […] und sie nannte uns die Eingehüllten, die Verhüllten, die Zitternden, und sie wurde immer leiser, und ich hörte nur noch ein Berühren ihrer Lippen“ (Im Bauch der Königin, S. 67)

Kontrastierend zu Shahira steht Raffiqs Mutter. Als ein namenloses Abbild von Kultur zeigt sie, wie feste Prägungen und Normen das Verhalten bestimmen können (vgl. Dönges und Freudel, 28.05.2020). Sie tritt stets im Kontext von traditionellen Werten und Praktiken auf (vgl. Im Bauch der Königin, S. 56 sowie S. 78). Im Gegensatz zu Shahira wird Raffiqs Mutter nicht mit (mütterlicher) Liebe und Wärme assoziiert. Das Verhältnis von Sohn und Mutter ist distanziert und kühl: „Ich erinnere mich nicht, ob sie mich je umarmt hat, weil ich traurig war. Aber ich möchte auch nicht von ihr angefasst werden, ihre Hände sind immer nass, weil sie ständig was spült“ (Im Bauch der Königin, S. 80). Die Kommunikation zwischen Raffiq und seiner Mutter schlägt fehl:

„Mutter schaut mich an, fragt, was los sei, und widmet sich gleichzeitig dem Essen; sie glaubt, mit ihrer Frage in mir rühren zu können, aber das kann sie nicht, dafür müsste sie mich länger anschauen, mir mindestens so viel Aufmerksamkeit schenken wie Jamals Frau. Ich stehe auf und verlasse die Wohnung.“ (Im Bauch der Königin, S. 19f.)

Für Diana Netz setht fest: „Und so ringen die Figuren […] hart mit sich, ihren Familien und ihrer Umgebung“ (Netz, 25.05.2020). Stereotype als die Werte, Normen und Rollen in einer Community werden projiziert und aus allen Richtungen hinterfragt. „Im weit aufgespannten Raum von Natur, Kultur, Gemeinschaft und Gesellschaft spielt sich das Verhalten und Handeln der Individuen ab“ (Vester 2009, S. 42). Im Bauch der Königin betrachtet dabei kritisch, wie die Gesellschaft ihren Mitgliedern Kategorien zuschreibt und und entlarvt diese, indem fast alle Figuren  nicht in die ihnen zugewiesenen Kategorien passen. Taha „skizziert ihre Figuren mit deutlichen Strichen“ (FR, 03.06.2020) und zeigt, wie der Mensch hinter den von der Gesellschaft auferlegten sozialen Kategorien hervortritt. Das ist es auch, was Karosh Taha sich für den Umgang miteinander wünscht, einander zuallererst als Menschen zu betrachten (vgl. Werth, 13.12.2019). Der Roman verdeutlicht, dass die aufgeworfenen Fragen „Wer will ich sein? Und wie will ich leben?“ nicht leicht zu beantworten sind. Identitäten und Identitätsbildung sind in einem steten sich zueinander und in Abhängigkeit aller äußeren Bedingungen konstituierenden Zusammenhang verbunden. Schlicht (2020, S. 157) beschreibt dies folgendermaßen:

„Der Mensch ist als ein soziales Wesen zu verstehen, deshalb hängen […] Selbstentwürfe von den sozialen Rahmungen des Individuums ab. Das eigene Selbst zu entwerfen, vollzieht sich in der Reibung inneren Wollens mit den von außen angebotenen bzw. im sozialen Umfeld vorfindlichen Beschreibungen des Selbst. Jeder Selbstentwurf gerät also in einen kritischen Dialog mit kulturellen, politischen, ethnischen, geschlechtlichen wie auch familiären Narrativen, die das Individuum prägen. […] Das Individuum bildet und formt einen Selbstentwurf, der sich zu den kulturellen Narrativen über die Selbstbildung verhalten muss.“

 

Migrationsgesellschaft und Migrationsliteratur(?)

 

Auch durch das Setting in der „Migrationsgesellschaft“, in der die Charaktere ihren Weg als Individuen suchen, problematisiert Taha die Bedeutung von Kultur in der Gegenwartsgesellschaft. Taha erzählt „aus der Perspektive einer Generation, deren Eltern um die Jahrtausendwende als junge Paare aus dem Irak nach Deutschland kamen, vom konfliktreichen (Familien-)Leben in einem Westdeutschen Wohnblockkosmos“ (Hlwatsch, 04.08.2020). Die Erzählperspektive aus der zweiten Einwanderergeneration entspricht dem von Hermann und Horstkotte (2016, S. 125) charakterisiertem Verständnis von „Migrationsliteratur“, in der die „Heterogenitätserfahrungen von Angehörigen der zweiten und dritten Einwanderergeneration im Zentrum stehen.“ In diesem Zusammenhang prägen sie den Begriff der „postmigrantischen Gesellschaft“ (Hermann und Horstkotte 2016, S. 125). Das Thema Sprach- und Kulturwechsel und der damit verbundene Perspektivwechsel sind nach Thüne (2017, S. 532) ein „unverzichtbarer Bestandteil der Gegenwartsliteratur“, denn die Texte entziehen sich vereinfachenden kulturellen Zuschreibungen beziehungsweise spielen damit.

Im Bauch der Königin spielt in der irakisch-kurdisch stämmigen Community einer Ruhrgebietsstadt (vgl. Netz, 25.05.2020). Im Zentrum stehen Figuren mit „Migrationshintergrund“, die „deutsche Sicht“ fehle mit Absicht (vgl. Dönges und Freudel, 28.05.2020). Lediglich „ein Tobi (Im Bauch der Königin, S. 96) oder „die Almans“ (Im Bauch der Königin, S. 18) tauchen gesichtslos und am Rande der Geschichte auf. Generationsübergreifend reflektiert Raffiq die Community:

„Ich kenne hier jeden: ihre Eltern und manchmal sogar ihre Großeltern, ich weiß, ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben oder eine Duldung, ich weiß, aus welcher Stadt sie gekommen sind und warum sie in Deutschland sind, ich weiß, wie sie in der Grundschule aussahen und später auf der weiterführenden Schule, ich weiß, wie ihre Mütter sie nennen, ich weiß, wie ihre Väter sie nennen, ich weiß, wie sie auf der Straße genannt werden, weil ich sie taufe, ich weiß, wovor sie Angst haben und was sie lieben, ich weiß, was sie später machen wollen und was sie machen werden.“ (Im Bauch der Königin, S. 28)

Für Raffiq ist das Viertel sein „vertraut[es]“ (Im Bauch der Königin, S. 64) Zuhause, es ist Teil seiner Identität: „[D]ie Stadt projiziert ihren Plan auf mein Gehirn, dahin, wo Orte ein Teil der geistigen DNA werden. Wenn man mir die Augen verbinden würde, käme ich an meinem Ziel an, weil mein Körper die Stadt kennt, und auch wenn ich mir vornehme, ziellos durch die Gegend zu fahren, komme ich an meinem Ziel an“ (Im Bauch der Königin, S. 64).

In seinem Zuhause, dort, wo er aufgewachsen und von seinen Freunden angesehen ist, fühlt Raffiq sich wohl, weil er ein Teil des sozialen Gefüges ist:

„‚Du genießt das richtig, oder?‘, fragt Younes, und zum ersten Mal habe ich keine Ahnung, was er meint. ‚Was denn?‘ ‚Wie sie dir zuhören, über deine Witze lachen, nach deiner Meinung fragen.‘ ‚Klingt ja fast nach einem Vorwurf, Mann.‘ ‚Nein, kein Vorwurf, ich habe das nur bemerkt. Du passt hier gut rein.‘“ (Im Bauch der Königin, S. 31)

Das Verständnis von ‚Zuhause‘ sowie die Frage nach Heimat werden von Younes und Raffiq unterschiedlich reflektiert:

„‚So funktioniert das einfach nicht, Younes, du kannst nicht einfach irgendwohin gehen und ein neues Leben anfangen und so tun, als wäre vorher nichts gewesen. Wir gehören hierher, hier ist unser Zuhause.‘ Er lacht. ‚Du hast Angst.‘ ‚So läuft das nicht.‘ ‚Doch genauso läuft es.‘“ (Im Bauch der Königin, S. 56).

Im Gegensatz zu Raffiq kann sich Younes nicht im Viertel wohlfühlen, da er wegen der Promiskuität seiner Mutter verurteil und ausgegrenzt wird. Er sehnt sich nach einem neuen Leben, in dem ihm die Menschen ohne Vorurteile begegnen und indem er eine autonome und unabhängige Identität ausbilden kann: „Für Younes bedeutet jeder Fremde die Möglichkeit jemand zu werden, der er in dem Moment sein möchte. Es bedeutet, er kann hundert Mal Younes sein, ohne ein einziges Mal der Younes zu sein, den ich kenne“ (Im Bauch der Königin, S. 57). Zur Heimat seines Vaters, der in den Irak zurückkehren will, hat Raffiq keinen Bezug:

„Den Irak und Vaters Kurdistan kenne ich nur aus dem Fernsehen, und selbst da interessiert es mich nicht. Es ist ein Begriff ohne Körper, und alles in mir wehrt sich, dort zu leben. […] Seine Rückkehr hätte er sich früher überlegen sollen, vor meiner Geburt, er kann nicht einfach sein Leben umkrempeln und damit unseres durcheinander bringen, weil ihm der Ausgang nicht gefällt.“ (Im Bauch der Königin, S. 64)

„In Kurdistan werde ich das, was du hier bist“ (S. 93), sagt er zu seinem Vater und reflektiert dabei dessen gescheiterte Bildungsgeschichte in Deutschland. „Als Architekt im Irak war er (Raffiqs Vater) ein angesehener Mann, hier ist er ein gewöhnlicher Arbeiter bei einer Speditionsfirma.“ (Im Bauch der Königin, S. 37). Dabei wird ihm bewusst: „Das ist keine Arbeit für die Ewigkeit. Es gibt keine Aufstiegsmöglichkeiten für mich“ (Im Bauch der Königin, S. 61). Der Traum des Vaters, in Deutschland als Architekt zu arbeiten, ist gescheitert. Raffiq reflektiert die Integration seiner Eltern, die

„diese komischen Integrationskurse [besuchten] und […] irgendwann die deutsche Staatsbürgerschaft [bekamen]. [Sein] Vater besuchte später das Abendgymnasium, um an der Uni seinen deutschen Abschluss in Architektur zu machen, denn in Deutschland war [des] Vaters Vergangenheit wie ausradiert, so ungültig wie ein abgelaufener Pass, als könnte man die eigenen Fähigkeiten verlieren, wenn man eine Landesgrenze überschreitet. Er versuchte es und scheiterte, ob an der Disziplin, der Motivation oder der Überforderung kann niemand so genau sagen.“ (Im Bauch der Königin, S. 61)

„In der Begegnung mit einer neuen Sprache, Kultur und sozialen Lebenswelt können tiefgreifende Identitätsfragen ausgelöst werden“ (Thüne 2017, S. 536), dies iluustriert und reflektiert Taha in ihrem Roman.

Im Bauch der Königin thematisiert nicht (nur) eine Identitätskrise und fehlgeschlagene Integration, sondern zeigt vielschichtige Geschichten über das Erwachsenwerden zwischen den Kulturen und das „Aufbegehren gegen Stereotype“ (Schürmanns, 22.09.2020). „Gerade weil sie ihrerseits, jeweils in der Außensicht (und der Sicht der Leser[:innen]), geradezu Abziehbilder junger Stadtbewohner mit Migrationshintergrund darstellen, wischt die Innensicht die Stereotype so nachdrücklich weg“ (FR, 03.06.2020). In diesem Sinne versteht sich Taha auch nicht als Autorin einer Migrant*innenliteratur (vgl. Gerk, 24.04.2020). Sie hasse dieses „Etikett“, da es eine Lesart vorfertige (Schürmanns, 22.09.2020). Laut Thüne (2017, S. 547) verwundere es nicht, dass der Begriff „Migrationsliteratur“ von Autor*innen nicht positiv bewertet werde, „solange kulturelle Ethnizitätskonzepte und monolingulae Paradigmen“ vorherrschen. Im Kontext von Migration reflektiert Literatur Prozesse nicht allein auf der Ebene des Dargestellten, sondern auch durch die eigene Sprachlichkeit, die vom Ineinander verschiedener Sprachen und Kulturen geprägt ist (vgl. Hermann und Horstkotte 2016, S. 125). Im Bauch der Königin zeigt, wie Sprache als Teil des kulturellen Ensembles (vgl. Vester 2009, S. 40) gesellschaftliche Macht ausübt. Thematisiert wird die „Kränkung gebildeter und gut ausgebildeter Menschen, die in ihrer neuen Heimat ihre Berufe nicht ausüben können oder dürfen, weil sich die deutsche Sprache gegen sie verschworen hat – während ihre Kinder sich darin längst mehr zuhause fühlen als in der Sprache der Eltern“ (Deistler, 25.06.2020) (vgl. Im Bauch der Königin, S. 63 sowie S. 65).

 

Körper und Körperlichkeit

 

Der Körper als „natürliche/biologische Komponente von Menschen als Lebewesen“ (Meuter 2006, S. 19) reiht sich in das Spannungsfeld von Natur und Kultur ein. Körper und Körperlichkeit sind im Roman zentrale Motive, die sich bildlich und sprachlich durch die gesamte Erzählung ziehen. Bereits die ersten Worte des Romans (Raffiq als Erzähler) lenken den Fokus auf Körper, Kraft und Kampf in dessen Zentrum Younes steht: „Keiner möchte gegen Younes kämpfen. Wenn er einen an der Schläfe trifft, schlägt er etwas aus dem Körper“ (Im Bauch der Königin, S. 7). „Während er als schüchterner Junge von seinen Mitschülern misshandelt wurde, ist er als Jugendlicher, den anderen Jugendlichen körperlich überlegen, gleichermaßen respektiert wie begehrt“ (Hlwatsch, 04.08.2020). Raffiq erkennt in Younes das geschlagene Kind: „Trotz seiner Körpermasse ist er vorsichtig, hat früher zu viele Schläge kassiert. Die Angst ist in seinen Knochen mitgewachsen“ (Im Bauch der Königin, S. 8). Obwohl er körperlich groß und mächtig (geworden) ist, ist Younes auch als Jugendlicher introvertiert und wirkt traurig. An ihm konstituiert sich ein Spannungsfeld von innen und außen, seine starke Körperlichkeit steht einer labilen Emotionalität gegenüber. Sein Körper, seine breiten Schultern, sein Rücken, auf dem „man eine Weltkarte ausbreiten [könnte], und da wäre noch Platz für ein zweites Asien“ (Im Bauch der Königin, S. 7) stehen im Kontrast zur Verletzlichkeit seines Inneren und dem Leid, das er durch die Diskreditierung seiner promisken Mutter Shahira in der kurdischen Community und den frühen Weggang des Vaters ertragen muss: „Younes hasst das Viertel, weil er immer mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern durch die Straßen läuft. Egal, wie groß und breit er sich trainiert, ein flüchtiger Blick oder ein vielsagendes Grinsen drücken ihn zu Boden“ (Im Bauch der Königin, S. 13). Younesʼ gigantischer Körper erscheint sowohl als Kontrast wie als Konsequenz, der ihm auferlegten Last. Raffiq reflektiert dies, wenn er Younes als „Riese[n] mit gebrochenem Rücken“ (Im Bauch der Königin, S. 14) bezeichnet, auf dessen Schultern die Worte und Blicke der anderen lasten (vgl. Im Bauch der Königin, S. 23).

Der Körper eignet sich in so besonderer Weise als Schauplatz des „Kampfgebietes“ von Natur und Kultur, da er „in seiner sowohl individuellen als auch sozialen Dimension, […] sich fast ohne Rest kulturell überschreiben oder aber als letztes Reservat einer widerstandsfähigen Authentizität adeln lässt“ (Koschorke 2009, S. 25). Das Entdecken seiner körperlichen Kraft ist für Younes ein Neustart, ferner seine entdeckte Art von Widerstand: „Jeder Junge im Viertel erinnert sich daran, als Younes das erste Mal zurückschlug und danach nie wieder einen Kampf verlor, egal, wer ihn herausforderte.“ (Im Bauch der Königin, S. 104). Younesʼ natürliche Körperlichkeit ist zentral für sein Dasein:

„Er hat mir einmal verraten, er denke am besten, wenn er boxt, wenn jeder Muskel zuckt, wenn dieser große Körper dazu gebracht wird, sich zu bewegen […] – wie ein Tier, sagte er, ein Tier ist in meinem Körper, und dieses Tier mag es, wenn der Wind seine schweißnasse Haut berührt und ihn jede Hautfaser spüren lässt. Younes will einen Schwebezustand erreichen, sich von jedem Muskel verabschieden, seinen Körper verlassen, in Trance geraten.“ (Im Bauch der Königin, S. 100f.)

Younes ist also erfüllt von der Sehnsucht durch den körperlichen Kraftakt, der bis zur Trance führt, seine desolate Ich-Identität zu überwinden. Der Körper dient als Vehikel, um den seelischen Druck loszuwerden – zumindest für die Daier eines Boxkampfes.. Körperlich scheint Younes unantastbar zu sein, wobei seine körperliche Unerreichbarkeit wie ein Schutzschild wirkt, sie kapselt ihn aber auch emotional ab:

„Es soll niemand auf die Idee kommen, Younes würde sich nach dem Lob eines erwachsenen Mannes sehnen […]. Younes ist an einen Punkt gelangt, an dem, er sich gleichermaßen gegen Lob wie gegen Schläge wehrt. Keiner soll denken, Younes sei irgendwie vernachlässigt worden, Younes sei auf der Suche nach Bestätigung. Younes steht da wie ein Denkmal.“ (Im Bauch der Königin, S. 9f.).

Der kämpfende Körper ist auch zentral, als sich Jamal und Ramsy wegen Shahira prügeln:

„[Z]wei Körper, die aufeinander einschlagen, unpräzise, aber hart. Wir hören nicht, wie Fäuste auf das Fleisch treffen, die Haut am Gesicht aufreißt – wir spüren bloß unsere Gedärme sich winden. […] Schließlich sind die zwei Körper voneinander getrennt, beide können sich kaum auf den Beinen halten“ (Im Bauch der Königin, S. 80f.)

Der kraft- und gewaltvolle Körper steht dem sexuellen Körper gegenüber. Dabei ist besonders weibliche Sexualität ein zentrales Thema im Roman, das Taha vor allem anhand von Shahira reflektiert. Laut der Frankfurter Rundschau sind „sie und ihr stiller, körperlich irgendwie gigantischer Sohn Younes die originellsten Projektionsflächen des Romans“ (FR, 03.06.2020). Shahiras Auftreten in der Erzählung Raffiqs ist immer mit der Beschreibung von erotisierter Körperlichkeit verknüpft:

„Wenn sie die Arme bewegt, sehe ich ihre rasierten Achselhöhlen, sie sind gräulich, an einer Stelle sieht man die Stoppeln nach unten wachsen, und ein einzelnes schwarzes Haar ist der Klinge entwischt, ihre Achselhöhle erinnert an eine Muschi.“ (Im Bauch der Königin, S. 111)

Dabei ist Shahiras Körper nicht nur Projektionsfläche für Sexualität, in Shahira fließen Körper und Sexualität als Lebensquelle zusammen:

„Shahira berührt ihren Hals, berührt die Haut leicht, und sie hat vielleicht den schönsten Hals, lang und zierlich mit einer Kuhle, aus der man Wasser trinken möchte. Und beim Sprechen fasst sie sich immer wie zufällig an den Hals, und ihre Finger reiben die Haut, manchmal wandern sie unter das Ohr, dahin, wo die Schlagader ist, und sie befühlt ihren Puls, um sicherzugehen, dass sie noch lebt. Und wenn sie lacht, dann entblößt sie die senkrechten Linien am Hals, ganz schamlos. Sie könnte auch ihre Brüste zeigen, so auffordernd lacht sie und macht auf diesen Hals aufmerksam, an dem man gerne die Nase halten möchte.“ (Im Bauch der Königin, S. 46)

Kontrastierend zur Beschreibung des Körpers im Kontext von Kraft und Gewalt, die mit (männlicher) Stärke und Härte zusammenfällt, tritt die Beschreibung weiblicher Körperlichkeit stets in Verbindung mit Weichheit auf: „Shahiras Oberschenkel sind zum Anfassen geformt, rund und weich, ohne zu wabbeln, man will sie berühren, zwischen ihre Beine greifen“ (Im Bauch der Königin, S. 82). An anderer Stelle heißt es: „Am liebsten hätte ich den ganzen Tag mein Gesicht an ihre Brust gelegt, meine Nase in ihre Achselhöhle, meine Finger in ihren weichen Bauch gedrückt. Die Weichheit von Shahira hält Younes davon ab, sie zu verlassen“ (Im Bauch der Königin, S. 35). Auch über Amal finden sich solche Beschreibungen: „an Amal ist alles weich, ihre Lippen, ihre Brüste, ihr Bauch, sie fühlt sich an wie Shahira, dürfte ich Shahira berühren“ (Im Bauch der Königin, S. 35). Darüber hinaus problematisiert Taha, wie der weibliche Körper aus männlicher Perspektive (Raffiq als Erzähler) objektiviert und bewertet wird:

„Und weil Amal nicht in unserem Team ist, traut sich Walid, die Mädchenkörper zu kommentieren. Er sagt, dass Jenny eine Verschwendung von Körper sei, so sagt er das ‚Verschwendung von Körper‘, wenn es nach ihm ginge, müsste man den Körper neu zusammensetzen, um etwas Besseres daraus zu machen, etwas Fleisch von den Oberschenkeln an den Hintern packen und Weichheit des Bauches in die Brust fließen lassen, die Armhaare an die Wimpern kleben“ (Im Bauch der Königin, S. 76f.).

Dabei schätzt Raffiq Jenny: „So unattraktiv sie auch ist, so ehrlich ist sie. […] Jenny hat Prinzipien, keine Titten, aber Prinzipien“ (Im Bauch der Königin, S. 32). Selbst der Körper Sanyes, die das Idealbild des braven, vertrauensvollen und erwachsenen Mädchens widerspiegelt, wird von den Jungen im Roman wie selbstverständlich klassifiziert:

„Sanye bekommt seit Jahren zehn Punkte von den Jungs, weil sie auch den perfekten Arsch hat – weder zu groß noch zu klein, fest, aber trotzdem weich, glaube ich zumindest, denn Sanye lässt niemanden an sich ran, und das macht sie noch krasser“ (Im Bauch der Königin, S. 30).

Jenny und Sanye können als weibliche Gegenfiguren zu Shahira gelesen werden. Im Kontrast der Frauenfiguren zeigt Taha die Doppelmoral, mit der der weibliche Körper in der Gesellschaft – vornehmlich aus männlicher Perspektive – gelesen wird. Einerseits dienen Frauen als Projektionsfläche für Sexualität, anderseits kann das moralisch-tugendhafte Bild einer Frau nicht mit körperlicher Attraktivität oder dem Ausleben von Sexualität vereint werden: „Feminismus und die Gender-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, wie weit und tiefgreifend kulturelle und soziale Formen sich in den scheinbar natürlichen Körper des Menschen einprägen können“ (Meuter 2006, S. 20).

 

Selbstermächtigung und Tradierung

 

Kultur integriert eine Gesellschaft in Form von gemeinsamen Werten, Überzeugungen, Glaubensinhalten und Orientierungen (vgl. Vester 2009, S. 37). Dadurch steht Kultur im Zusammenhang mit dem, was die Verbindung von Menschen in einer Gemeinschaft herstellt. So kann Kultur als „Bindemittel der sozialen Einheiten“ (Vester 2009, S. 38) verstanden werden. Menschen halten beispielsweise die tradierten Wertmaßstäbe und Ehrbegriffe ihres Herkunftslandes aufrecht. Im Bauch der Königin zeigt, was es heißt, dem Bild, das die Gesellschaft aufgrund dieser Wertmaßstäbe von einem hat, zu widersprechen und welche Konflikte das hervorbringen kann (vgl. Schürmanns, 22.09.2020). Die Macht der Tradierung von Normen und Werten zeigt sich im Roman an der Ausgrenzung von Shahira und Younes im Kontrast zum Zusammenhalt der restlichen Community: „In jedem Satz steckt nicht nur Hohn für Younes’ Mutter, sondern auch Übertreibung, als würde die Wahrheit nicht ausreichen, um sie zu verachten“ (Im Bauch der Königin, S. 15). Shahira stellt eine Provokation dar, da sie mit ihrer offen ausgelebten Sexualität gegen das konservative Modell der übrigen Bewohner*innen im Viertel opponiert und sich gleichsam von den traditionellen Werten emanzipiert. Der Roman thematisiert und reflektiert darüber hinaus die Rolle von Frauen in einer traditionellen Minderheitenkultur. Ferner zeigt er, „wie wir auf weibliche Sexualität schauen, auf den weiblich gelesenen Körper und wie wir darüber sprechen“ (Dönges und Freudel, 28.05.2020). Dabei stilisiert Taha Shahira zur titelgebenden „Königin“ und macht sie zur „Repräsentationsfigur für all jene kurdischen Frauen des Viertels, die mit dem angeblichen Widerspruch von Mutterschaft und (sexueller) Autonomie konfrontiert sind“ (Hlwatsch, 04.08.2020). Laut und bildlich wirft der Roman den Diskurs über weibliche Selbstbestimmung auf. Deuber-Mankowski (2019, S. 14) setzt den Natur-Kultur-Dualismus ins Forschungsfeld der Gender- und Queer-Studies und fordert nicht nur das gleiche Recht auf Selbstbestimmung, sondern die radikale Infragestellung von Identität und Dualismen, einschließlich des von Natur und Kultur. Sie bezeichnet die Geschlechterdifferenz als „schwankende Grenze, die eine immer erneute Artikulation der Begriffe Natur und Kultur und ihres Verhältnisses zueinander verlangt“ (Deuber-Mankowski 2019, S. 20).

Die Frage danach, wie promiske Frauen wie Shahira von der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden, führt in das Spannungsfeld der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Mütterlichkeit und sexueller Aktivität. Raffiqs Sicht auf Shahira spiegelt dies wider, indem er sie in zwei gedanklich getrennte Klassen einteilt: „Shahira breitet sich bei mir im Mund aus wie Öl. Wenn ich von ihr als Shahira denke, muss ich mich zusammenreißen. Nur, wenn ich von ihr als Younes Mutter denke, kann ich über sie reden“ (Im Bauch der Königin, S. 16). Raffiq ist fasziniert von Shahiras Kompromisslosigkeit und dem freien Umgang mit ihrer Sexualität.  Gleichzeitig nimmt er ihr dieses freie Leben übel, da Younes darunter leidet. Er ist „abgestoßen, weil sie mit ihrem unangepassten Verhalten Feindseligkeit auf sich und damit ihren Sohn in Mitleidenschaft zieht“ (Netz, 25.05.2020):

„Und ich hasse Younes Mutter noch ein bisschen mehr […] Ich tue es schon seit der Grundschule, seit ich Younes das erste Mal gesehen habe und er sich hinter seiner Mutter versteckte und sich am liebsten an ihrem Rockzipfel festgehalten hätte, wenn der Rock nicht so kurz und eng gewesen wäre.“ (Im Bauch der Königin, S. 16)

Raffiqs Blick auf Shahira ist eingeschränkt, da er die Perspektive seiner eigenen Projektion widerspiegelt. Shahiras „Kompromisslosigkeit konfrontiert die jungen Männer mit ihren eigenen Vorurteilen und Sehnsüchten“ (Dönges und Freudel, 28.05.2020). Younes hingegen schämt sich für seine Mutter und meidet es, mit ihr gesehen zu werden (vgl. Hlwatsch, 04.08.2020):

„Younes passt gut darauf auf, nicht mit seiner Mutter in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Shahira ist ein Geist, der Younes umspielt und ständig bei ihm ist, ohne dabei zu sein, als wären wir gefangen in ihrem Bauch. Irgendwann wird Younes ihrem Bauch entwachsen, und keiner weiß, was dann passiert, und das macht uns alle nervös.“ (Im Bauch der Königin, S. 22)

Die Frage, ob Younes im Bauch Shahiras gefangen ist oder ob sie ihn beschützt, bleibt offen.

Shahira bildet demnach „das Gravitationszentrum des Romans“ (Hlwatsch, 04.08.2020). Netz (25.02.2020) bezeichnet sie ganz ähnlich als das „heimliche Kraftzentrum“ des Viertels und des Romans. Dort heißt es: „Irgendwann wird die Welt stillstehen, wenn Shahira es nur will“ (Im Bauch der Königin, S. 79) und vorher: „Sie ist ein Planet und wir zwei Monde, die überall mit ihr hinziehen würden, wenn sie ihre Runden dreht“ (Im Bauch der Königin, S. 59). Deistler fasst Shahiras Funktion wie folgt zusammen: „[A]lle stehen in ihrem Bann, alle zieht sie in ihr Gravitationsfeld, sie ist eine Projektionsfläche, eine Leerstelle, aber auch Fixstern in dieser Welt“ (Deistler, 25.06.2020). Karosh Taha zeigt über die verschiedenen Figurenkonzeptionen vermittelt unterschiedliche Versuche auf, den Wunsch nach einem selbstständigen Leben mit der Realität der sozialen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. An diesem Versuch scheitern alle Charaktere. Entweder sie bleiben im alten Wertesystem verhaftet oder sie versuchen ihre Bedürfnisse zu leben, verletzen dabei aber andere: isoliert sind sie so oder so. Die Beobachtung von Selbstermächtigung und Tradierung ist folglich durch eine doppelte Perspektive geprägt und beide Seiten sind problematisch.

Die doppelte Sicht zeigt sich nicht zuletzt in der Gestalt des Wenderoman: „Die räumliche Organisation des Textes spiegelt dessen narrative Struktur sowie die Entwicklung der Protagonisten, an deren Ende vor allem die Emanzipation vom eigenen Vater steht.“ (Hlwatsch, 04.08.2020). Über seinen Vater bemerkt Younes:

„‚Ich hasse ihn‘, sagt Younes. Zum ersten Mal höre ich ihn diesen Satz sagen. ‚Ich wünschte, es hätte ihn nicht gegeben.‘ Younes spricht diesen Satz aus und ist erleichtert. Er setzt seinen Vater von seinem Rücken ab und wir gehen weiter. Es gibt seinen Vater nicht, nicht jetzt, nicht damals, nicht in Younesʼ Gesicht. Shahira hat Younes erschaffen. Sie musste nur alle glauben lassen, sie hätte einen Mann gebraucht, aber er wuchs in ihrem Bauch auf, weil sie sich so sehr einen Sohn wünschte, und sie nannte ihn Younes.“ (Im Bauch der Königin, S. 123)

Anfang und Ende der Erzählung Raffiqs bilden mit Younes die Erzählklammer dieser Romanversion, indem Younes sich schließlich selbst von der Last, die anfangs auf seinem „gebrochene[n] Rücken“ (Im Bauch der Königin, S. 14) lag, befreit. Auch Raffiqs Selbstermächtigung wird am Ende der Erzählung deutlich, er hat verstanden, dass er „auch eigene Entscheidungen treffen [muss]“ (Im Bauch der Königin, S. 69). Und so starten er und Younes in Frankfurt ihren neuen Lebensweg. Die aufgeworfenen Fragen: „Wer will ich sein? Und wie will ich leben?“ bleiben ungeklärt. Anstelle einer Antwort endet der Roman mit der Entscheidung zum Aufbruch: „und wir stehen auf“ (Im Bauch der Königin, S. 125).

 

Fazit

 

Mit „grandioser Sprache zwischen Humor und Härte, Poesie und Jugendjargon lotet Taha die Konfliktlinien zwischen den Generationen aus“ (Schürmanns, 22.09.2020). Es sind die existenziellen Fragen an das Leben und dessen Verstrickungen, die zeigen, „dass es nicht nur eine Wahrheit geben kann“ (Dönges und Freudel, 28.05.2020). In „Im Bauch der Königin ist Platz für viele und für vieles, aber nichts rundet sich“ (FR, 03.06.2020). Der Roman wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Er wird selbst zur Projektionsfläche der dargestellten Projektionen, wird zum Metadiskurs. Wie zentral die aufgeworfenen Fragen und Diskurse sind, stellt der Roman wiederum selbst fest: „Younes Geschichte sollte abiturrelevant werden, weil sie uns alle trifft“ (Im Bauch der Königin, S. 43).

 

Literatur

 

Primärliteratur

Taha, Karosh: Im Bauch der Königin. Köln 2020.

Sekundärliteratur
Rezensionen

Anonym: Karosh Taha „Im Bauch der Königin“: Einerseits und andererseits In: Frankfurter Rundschau, 03.06.2020.

Deistler, Antje: Karosh Taha: „Im Bauch der Königin“. Lauter Zwischenwelten In: Deutschlankfunk, 25.06.2020.

Dönges, Torsten/Freudel, Natasha: Karosh Taha liest "Im Bauch der Königin". Das Literarische Colloquium Berlin zieht zu rbbKultur ins Radio und ins Internet In: rbb kultur, 28.05.2020.

Gerk, Andrea: Karosh Taha über „Im Bauch der Königin. Von prügelnden und promisken Frauen. In: Deutschlandfunk Kultur, 24.04.2020.

Hlawatsch, Simon (2020): Die Ungehaltenen In: literaturundfeuilleton, 04.08.2020.

Netz, Diana: Karosh Taha: Im Bauch der Königin In: SWR2 Lesenswert Kritik, 25.05.2020.

Schürmanns, Susanne: Zwischenwelten: Karosh Tahas Roman "Im Bauch der Königin" In: WDR-Mediathek, 22.09.2020.

Werth, Nina: Textland-Video mit Karosh Taha. In: YouTube, 13.12.2019.

Forschungsliteratur

Deuber-Mankowsky, Astrid: Natur – Kultur: ein Dualismus als Schibboleth der Gender- und Queer Studies? In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden 2019. S. 13-21.

Hermann, Leonhard und Horstkotte, Silke: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 2016.

Koschorke, Albert: Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 83, Nr. 1, 2009. S. 9-25.

Meuter, Norbert: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006.

Schierbaum, Martin: Neue Naturverhältnisse in der Gegenwartsliteratur? Vorüberlegungen einer Bestandsaufnahme. In: Kramer, Sven/Schierbaum, Martin (Hrsg.): Neue Naturverhältnisse in der Gegenwartsliteratur? Berlin 2015. S. 17-42.

Schlicht, Corinna: Selbstentwürfe. Kulturelle Narrative des Selbst in der deutschsprachigen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 2020.

Thüne, Eva-Maria: Der Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur. In: Betten, Anne/Fix, Ulla/Wanning, Berbeli (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin 2017. S. 531-549.

Vester, Heinz-Günter: Kompendium der Soziologie I: Grundbegriffe. Wiesbaden 2009.

Im Bauch der Königin

» Werkverzeichnis

Narratologische Aspekte in Karosh Tahas Roman Im Bauch der Königin

Ein Beitrag von Anne Vosselmann [ ↑ ]

 

Vorbemerkungen

In Karosh Tahas Adoleszenzroman Im Bauch der Königin befinden sich die beiden autodiegetischen Erzähler*innen Amal und Raffiq im Prozess der Identitäts- und Sinnsuche. Beide machen Konflikt- und Krisenerfahrungen in der Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Gesellschaft. Dabei werden sie sowohl mit kulturellen Vorstellungen als auch mit Geschlechternormen konfrontiert, an die sie anknüpfen und die sie in ihr Welt- und Selbstbild integrieren oder ablehnen. Der Roman ist als Wenderoman konzipiert, bei dem beide Romanvarianten im gleichen Setting mit ähnlichen Figuren spielen. Die Varianten werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, in denen beide Ich-Erzähler*innen jeweils in ihrer Erzählvariante den stillen Mitschüler Younes verprügeln. Daran anschließend stellt Shahira, die Mutter von Younes, die Eltern der Erzählerin bzw. des Erzählers zur Rede und vergleicht das Verhalten des Kindes mit dem eines wilden Tieres (vgl. Taha 2020, S. 9, Amal & S. 17, Raffiq). Während die Eltern des männlichen Erzählers Raffiq der Prügelei nicht viel Bedeutung beimessen, wird dieses Ereignis zum wichtigen Moment in der Geschichte der weiblichen Erzählerin Amal, die fortan als Mogli-Mädchen bezeichnet wird. Ausgehend von diesem Ereignis entwickeln sich die beiden unterschiedlichen Varianten. Die unterschiedlichen Erzähl-Enden treffen in der Mitte des Romans aufeinander. Das verbindende Element beider Romanvarianten sind die Figuren Shahira und Younes mit ihren Konflikten, die trotz zahlreicher Unterschiede die einzigen Figuren sind, die in den beiden Romanvarianten nicht wesentlich verschieden angelegt sind. Neben unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten und unterschiedlichen Erfahrungen der Erzähler*innen, schlagen beide zudem einen grundlegend anderen Ton an. Raffiq erzählt chronologisch aneinandergefügte Episoden mit einigen Rückblicken. Er erscheint als Erzähler des Geschehens des kurdischen Viertels. Amals Erzählen hingegen folgt keiner chronologischen Ordnung. Ihr sprunghaftes Erzählen wird durch Eindrücke, Emotionen und Assoziationen geleitet und vorangetrieben. Auf einer Meta-Ebene wird zudem das Erzählen selbst thematisiert. Amal stellt bspw. Überlegungen über Beginn und Ende von Erzählungen an (vgl. Amal, S. 129). Tahas Roman zeichnet sich darüber hinaus durch einen – vor allem im Amal-Teil – metaphernreichen Stil sowie durch intertextuelle und intermediale Verweise aus. Bereits im Titel Im Bauch der Königin lassen sich Hinweise zu den Geschichten aus Tausend und einer Nacht und zum biblischen Propheten Jona finden. In den Erzählvarianten von Amal und Raffiq werden zudem Figuren aus Kindermärchen und -serien zu Identifikationsfiguren, die mehr oder weniger hilfreich für ihre Identitäts- und Sinnsuche erscheinen.

 

Konzeption als Wenderoman

Bereits auf der materiellen Ebene fällt auf, dass der Schutzumschlag wie auch der Buchrücken so gestaltet sind, dass der Roman keine Rückseite hat. Die Unterschiede beider Seiten des Wenderomans beginnen also bereits auf der Ebene der Paratexte, denn sowohl das übliche Foto der Autorin als auch die Autorinnenbeschreibung unterscheiden sich je nach Romanseite voneinander; Taha ist einmal in schwarz, einmal in weiß gekleidet. Paratexte können „die Vorkategorisierung des Textes und somit die folgende Rezeption beeinflussen“ (Fludernik 2013, S. 27). Der*die Rezipient*in wird durch die unterschiedlichen Klappentexte bereits auf die jeweils nachfolgende Romanvariante vorbereitet. Aus dem Klappentext zur Romanvariante, in der Raffiq der Erzähler ist, geht hervor, dass dieser mit Younes befreundet ist. Younes Mutter „[bricht] durch ihre Freizügigkeit alle Regeln“. Raffiq ist davon „fasziniert“ und auch „abgestoßen“ und sieht, wie der promiske Lebenswandel der Mutter Shahira seinem Freund Younes schadet. Im Gegensatz zu Raffiq haben sowohl sein bester Freund Younes als auch seine feste Freundin Amal Zukunftspläne und wollen wegziehen. Der Klappentext zur Romanvariante, in der Amal die Erzählerin ist, beginnt wie folgt: „Als junges Mädchen tut Amal etwas Unerhörtes: Sie verprügelt ihren Mitschüler Younes“. Bereits hier wird in den Mittelpunkt gerückt, dass Amals Verhalten für ein Mädchen untypisch sei. Amal, aber auch Younes und dessen Mutter, die schließlich für Amal da sind, werden als „Außenseiter“ charakterisiert. Zudem begibt sich Amal in einem anderen Land auf die Suche nach ihrem Vater, der die Familie verlassen hat.
Bei der Lektüre der Klappentexte der beiden Seiten des Wenderomans wird bereits deutlich, dass es sich nicht nur um zwei unterschiedliche Sichtweisen auf das gleiche Geschehen handelt, sondern dass es trotz ähnlicher Figuren grundlegende Unterschiede in den beiden vorliegenden Romanvarianten gibt. Am deutlichsten fällt auf, dass in Raffiqs Erzählung er und Amal ein Liebespaar sind, während die beiden in Amals Erzählung verfeindet sind. Ausgehend vom Klappentext können zudem unterschiedliche thematische Schwerpunkte vermutet werden, die den*die Leser*in mit unterschiedlichen Erwartungen an die folgende Lektüre ausstatten. Tahas Erzähler*innen befinden sich zwar in derselben Umgebung mit ähnlichen Personen, dennoch handelt es sich bei beiden Romanvarianten um alternative Geschichten, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Die Geschichten beginnen sich ab dem Punkt zu unterscheiden, ab dem der*die jeweilige Erzähler*in den Mitschüler Younes verprügelt. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte entwickeln sich zwei alternative Handlungsstränge. „[B]eide Ergebnisse […] A und B und die daraus folgenden Entwicklungen existieren nebeneinander“ (Fludernik 2013, S. 41). In Amals Erzählung stellt diese Überlegungen zu alternativen, parallelen Welten und Realitäten an: „[W]er kann uns versichern, dass das dort draußen nicht echt ist […] und was würde passieren, wenn man die Folie verschieben würde, was würde passieren, wenn Younes, nein, wenn ich aus dem Bild verschwinde?“ (Taha 2020, S. 57, Amal) Eine Antwort auf die Frage, was wäre, wenn eine Sache anders wäre, wenn es bspw. die Freundschaft zwischen Amal und Younes nicht in der Form gäbe, die Amal in ihrer Erzählvariante wiedergibt, findet sich in der Romanvariante aus Raffiqs Sicht.

 

Erzählen bei Raffiq vs. Erzählen bei Amal

Ein Roman kann auf ganz verschiedene Arten verfasst sein. Der*die Autor*in entscheidet über Setting, Chronologie, Figuren, Sprache, Beginn, Ende etc. Taha lässt in ihren Romanvarianten zwei sehr unterschiedliche autodiegetische Erzähler*innen mit unterschiedlichen Erzählfunktionen und unterschiedlichen Klangfarben erzählen. Im Literaturforum im Brecht-Haus und im Podcast Dear Reader von detektor.fm berichtet Taha von ihrem Schreibprozess. Dieser beginnt mit einer Idee: Der Geschichte über Younes und seine Mutter Shahira (vgl. Literaturforum im Brecht-Haus, 3:53-4:12). Diese erzählt Taha zunächst ausschließlich aus der Perspektive von Raffiq, einem guten Freund von Younes. Innerhalb des Schreibprozesses stößt sie dabei aber an ihre Grenzen. Die von ihr entwickelte Figur Shahira würde aus Tahas Sicht ihre Geschichte nicht einem Jungen anvertrauen, sondern diese eher mit einer jungen Frau teilen (vgl. detektor.fm , 3:45-4:21). Ausgehend davon entwickelt sie eine alternative Realität, eine weitere Romanvariante, mit Younes und Raffiqs Mitschülerin Amal als Erzählerin. Taha sagt, dass es ihr „wichtig [war], dass beide Figuren, beide Erzähler*innen grundverschiedene Stimmen haben. […] Es ist nicht nur einfach eine andere Perspektive, sondern es ist auch eine andere Sprache“ (detektor.fm, 4:30-4:52). Die beiden Erzähler*innen unterscheiden sich bereits darin, dass sie die erzählte Welt auf verschiedene Weise präsentieren. Zu Beginn von Raffiqs Geschichte erfährt der*die Rezipient*in wenig über ihn, aber mehr noch über seinen besten Freund Younes. Younes und seine Geschichte erscheinen dadurch bedeutsamer als Raffiqs Erlebnisse. Seine Geschichte beginnt und endet mit Younes: „Keiner möchte gegen Younes kämpfen“ (Taha 2020, S. 7, Raffiq). Raffiq inszeniert sich als Erzähler der Geschichten anderer, nämlich der Figuren seines Viertels. Demgegenüber betont Amal von Anfang an, dass sie die Erzählerin ihrer eigenen Geschichte ist: „Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Besonderes vollbracht zu haben.[…] Aber es ist meine Geschichte“ (ebd. S. 7, Amal). Zum einen kommt sie sich bedeutend vor, weil ihr zugehört wird, zum anderen wird hier der Zwang des Erzählens deutlich, da die anderen immer wieder mehr von ihr hören wollen und sie sich weiter bedeutend fühlen will. Amals Sprachstil erscheint insgesamt als ruhelos und gehetzt, was u.a. durch einen additiven Satzbau realisiert wird, indem die Sätze und Satzbestandteile durch ein ‚Und‘ miteinander verbunden werden: „Und dann kam auch ihr Sohn, der Younes hieß, und mein Vater sagte, das sei ein schöner Name, aber der Junge bedankte sich nicht, er war nur traurig, und seine Mutter sagte, Younes sei ein schüchterner Junge, und ich dachte, er sei ein Feigling“ (Taha 2020, S. 14 f., Amal). Im Literaturforum im Brecht-Haus erläutert Taha den Sprachstil ihrer Amal-Figur: „Das, was [Amals] Sprache ausmacht, ist, dass sie keine Wertungen vornimmt. […] Sie nutzt eigentlich immer das kleine Wörtchen Und. Dieses Und ist für sie superwichtig, weil da kein Zusammenhang gestellt wird zwischen zwei Sätzen, sondern weil diese zwei Sätze nebeneinander existieren können“ (Literaturforum im Brecht-Haus, 35:37-36:05). Ganz anders gestaltet sich das Erzählen bei Raffiq, der ein erklärender, bewertender Erzähler ist. Er erklärt, warum Ereignisse eintreten, sucht nach Zusammenhängen und stellt Überlegungen zu den Motiven der Figuren in seinem Viertel an. Durch Raffiqs Wahrnehmungen, Deutungen und Wertungen von Beweggründen erfährt der*die Rezipient*in viel über dessen Ansichten.

 

Intertextualität und Intermedialität

In Tahas Roman finden sich zahlreiche intertextuelle und intermediale Verweise. „Unter Intermedialität versteht man die Beziehung zweier oder mehrerer unterschiedlicher Medien. In literarischen Texten entstehen intermediale Beziehungen zwischen Text und Bild, Text und Film, Text und Musik, sowie Text und Text“ (Berndt & Tonger-Erk 2013, S. 228). Die intermedialen Verweise bei Taha fallen sehr unterschiedlich aus. Es finden sich Hinweise und Anspielungen, aber auch die direkte Nennung von Titeln u.a. zu religiösen Schriften, Sagen und Märchen, aber auch zu Kinderserien und zu Musik.
Die folgende Aufzählung zeigt in alphabetischer Reihenfolge die Bandbreite verschiedener Intertexte und -medien, die Tahas Roman aufweist.

 

As-Saffat (Sure 37)

Bibel; hier u.a. Das Buch Jona

Walt Disney Company: Chip und Chap – Die Ritter des Rechts

Erdewan Zaxoyî: [Lied über die Stadt Zaxo]

Gebrüder Grimm: Dornröschen

Gebrüder Grimm: Rapunzel

Hesiod: Theogonie

Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch

Koran

Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem in d-Moll (KV626)

Tausend und eine Nacht

 

Tahas Roman erweist sich somit auch als Produkt einer Leseerkundung von Welt: Das Lesen geht immer dem Schreiben voran. Und mehr noch, das Gelesene geht in das Geschriebene ein“ (Berndt & Tonger-Erk 2013, S. 39). Sie lässt bspw. Raffiq die Disney-Serie Chip und Chap schauen, in der zwei Streifenhörnchen und ihre tierischen Freunde, Verbrechen aufklären und man erfährt, dass Raffiq früher Detektiv werden wollte. Auch Verweise auf Erzählungen aus Tausend und einer Nacht und zu Märchen der Gebrüder Grimm finden sich in Tahas Roman. „Märchen spiegeln Realitäten wider […]. Es sind jeweils Themen, die Kindern bereits begegnet sind: Es geht um Gut und Böse, um das Übertreten von Verboten oder um Recht und Ungerechtigkeit“ (Frey & Münster 2017, S. 7). Zudem ziehen sich Verweise auf Übernatürliches und Göttliches durch den Text, darunter die Titanen der griechischen Mythologie, aber auch intertextuelle Verweise auf Koran und Bibel. Weiterhin gibt es im Text Verweise auf Musikalisches und auf das soziale Medium YouTube.
Mit dem Romantitel Im Bauch der Königin klingt die Geschichte des biblischen Propheten Jona an, der drei Tage im Bauch eines Fisches ausharren muss. Im Romantitel ist die Anspielung auf die Geschichte von Jona und dem Wal noch vage, wird jedoch bei der ersten Erwähnung im Text deutlich: „Spätestens an dieser Stelle […] [erfolgt] das intertextuelle Aha-Erlebnis“ (Broich 2011, S.  45) des*der Rezipient*in.
Intertextualität spielt durch Erzählkultur und das kulturelle Gedächtnis auch eine Rolle in der Kulturtheorie.
Dabei wird nicht nur der Text-Text-Bezug, sondern auch das Verhältnis zwischen Text und Kultur bzw. Kontext betrachtet. Literarische Texte können Bezug nehmen auf: Geschichte, Archive, Formen und Interdiskurse (vgl. Berndt & Tonger-Erk 2013 S. 255). Jeder Text tritt mit seinem Kontext in Verhandlungen. „Er zeichnet sich durch ein Netz von Text-Kontext-Beziehungen aus“ (Berndt & Tonger-Erk 2013, S. 231). Diese Erzählkultur wird in Tahas Roman durch die Figuren des kurdischen Viertels und durch fiktive Figuren aus anderen Geschichten verhandelt. Shahira erzählt Amal ihre eigene Geschichte und bittet sie, sie weiterzutragen. Amal und Raffiq hören und lesen Geschichten über die Figur Shahrasad aus Tausend und einer Nacht, der Ur-Erzählerin, die erzählt, um zu überleben. Amals und Raffiqs Vater erzählen ihren Kindern Geschichten und Märchen, darunter auch die Geschichten aus Tausend und einer Nacht, die so weitergetragen und in Tahas Roman neu erzählt und interpretiert werden.

 

Amal – Mogli-Mädchen vs. Märchen-Prinzessin

Sowohl Amal als auch Raffiq verprügeln in ihren jeweiligen Erzählrealitäten den Jungen Younes. Beide werden daraufhin von einer aufgebrachten Shahira mit wilden Tieren verglichen (vgl. Taha 2020, S. 9, Amal & S. 17, Raffiq). Bei Raffiq wird die Prügelei nicht weiter thematisiert und sein Vater sagt lediglich, Raffiq „solle den Jungen nie wieder anrühren“ (Taha 2020, S. 18, Raffiq). Amals Eltern werden hingegen nach dem Vorfall zur Schuldirektorin gerufen. Im Gespräch mit der Direktorin sagt diese zu Amals Mutter: „Amal ist wie ein Bursche, völlig außer Kontrolle“ (ebd. S. 11, Amal). Auch Jungen, mit denen Amal spielt und tobt, fragen sie, ob sie ihnen ihren „Bizeps zeigen könne […] und ein anderer fragt […], ob [sie ihren] Schwanz zeigen könne“ (ebd. S. 8, Amal). In beiden Fällen wird deutlich, dass nicht Mädchen sondern Jungen mit aggressivem Verhalten und körperlichen Auseinandersetzungen assoziiert werden.

 

Fremdbezeichnung als Mogli-Mädchen:

Dass Amal aus Sicht der Direktorin kein typisches Mädchen ist und sie Amals Art und Verhalten ablehnt, gipfelt letztlich in der Bezeichnung „Mogli-Mädchen“ (Taha 2020, S. 11, Amal). An dieser Stelle erfolgt durch die Figur Mogli erstmals der intertextuelle Verweis auf Rudyard Kiplings Das Dschungelbuch. Die darin enthaltenen Erzählungen und Gedichte handeln von einem indischen Jungen namens Mogli, der infolge einer Tigerattacke von seiner Familie getrennt und daraufhin im Dschungel von Wölfen aufgenommen und aufgezogen wird. Da Amal laut ihrer Direktorin „wie Mogli, der mit den Wölfen aufgewachsen ist [sei]“ (Taha 2020, S. 10, Amal), suggeriert die Bezeichnung Mogli-Mädchen, dass Amal als nicht ‚richtig‘ weiblich und nicht menschlich, sondern als wild wahrgenommen wird. Amals Mutter zögert nicht, diese Bezeichnung zu übernehmen. Sie schiebt die Verantwortung für das Verhalten ihrer Tochter von sich und sagt, dass sie Amal nicht so erzogen habe, und glaubt, dass das ständige Spielen mit anderen Jungen auf Amal abgefärbt haben müsse. Wie Mogli verhält sich Amal laut Mutter und Direktorin ungezähmt und unangebracht. Daher brauche es nach Ansicht der Direktorin eine „Resozialisierung“ (ebd. S. 11, Amal). Die jungenhaften Eigenschaften sollen ihr durch eine strengere Erziehung der Mutter aber auch mit Hilfe der Mitschülerin Sanye, die „[in] der vierten Klasse neben sie gesetzt wird, damit sie [Amal] erzieht“ (ebd. S. 27, Amal) ausgetrieben werden. Dass sowohl Amal als auch ihre Mutter nicht nur die Bezeichnung Mogli-Mädchen, sondern auch die durch die Direktorin empfohlene Resozialisierung verinnerlicht haben, wird deutlich, als Amal davon berichtet, dass sie ihrer Mutter anbietet, ihr die Haare kämmen und flechten zu dürfen. Die Bändigung der Haare stellt hierbei auch einen Versuch der Bändigung des Wilden dar. Dies ist für Amal zwar mit körperlichen Schmerzen verbunden, doch sie beschließt die Schmerzen zunächst auszuhalten; zum einen um nicht mehr Mogli-Mädchen zu sein, zum anderen um Anerkennung durch ihre Mutter zu erhalten. Daraufhin lassen die Jungen Amal aber nicht mehr mit ihnen spielen und nennen sie „Rapunzel“ (ebd. S. 13, Amal).

 

Fehlschlagende Identifikation mit Märchen-Prinzessinnen:

Während Amal die Bezeichnung Mogli-Mädchen für sich übernimmt, kann sie sich mit der Märchenfigur Rapunzel nicht identifizieren. Im Märchen Rapunzel der Gebrüder Grimm wird ein Mädchen, als es zwölf Jahre alt wird, also zu Beginn der Pubertät, von einer Zauberin in einen hohen Turm eingesperrt. Die Zauberin besucht und versorgt das Mädchen, indem sie an dessen langem Haar heraufklettert. Eines Tages hört ein Prinz die Zauberin rufen: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter“ (Grimm & Grimm 2014, S. 79) und sieht sie an Rapunzels Haaren hinaufklettern. Er imitiert diesen Ruf, klettert heimlich zu Rapunzel und die beiden verlieben sich ineinander (vgl. ebd. S. 78ff.). Rapunzel wird im Märchen „das schönste Kind unter der Sonne“ (ebd. S. 78) genannt und ihr Haar wird als „prächtig […] [und] fein wie gesponnen Gold“ (a.a.O.) beschrieben. Die schöne Rapunzel steht kontrastiv zum wilden, ungezähmten Jungen Mogli. Während Amal sich selbst nicht als Rapunzel sieht, beschreibt sie ihre Mitschülerin Sanye wie folgt: „Sanye ist groß und, wie soll es auch anders sein, auch schlank, ihr laufen alle Jungen hinterher, weil sie keinen beachtet. Ihre Haare trägt sie lang und offen und schwarz und glatt, perfekt zum Dranziehen“ (Taha 2020, S. 27, Amal). Sanye entspricht Amals Vorstellung einer Märchenprinzessin. Ihre Haare eignen sich zum Dranziehen, also auch dazu, dass ein Märchenprinz, wie bei Rapunzel, zu ihr gelangen könnte. Während im Märchen die Zauberin Rapunzel die Haare zur Strafe abschneidet, trennt sich Amal die Haare selbst ab, da sie die täglichen Schmerzen nicht mehr aushält, die dem geschuldet sind, dass ihre Mutter ihr den Zopf sehr eng bindet.
Des Weiteren lässt sich ein intertextueller Verweis auf das Märchen Dornröschen der Gebrüder Grimm in Amals Geschichte finden. Als Amal bei Shahira zu Besuch ist, nimmt sie Gerüche und Farben verschiedener Gegenstände auf Shahiras Schminktisch bewusst und intensiv wahr und denkt: „[I]ch wollte, dass sie mich in diesen Duft einlegt und mir erlaubt, neben ihr zu schlafen, während sie mir erzählt, bis ich hundert Jahre alt wäre“ (ebd. S. 62, Amal). Im Märchen Dornröschen laden ein König und eine Königin nur zwölf der eigentlich dreizehn Feen des Reiches zur Taufe ihrer Tochter ein. Die dreizehnte Fee verflucht daraufhin die Prinzessin. Sie soll sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und sterben. Eine der anderen Feen mildert diesen Fluch allerdings; das Mädchen soll in einen hundertjährigen Schlaf fallen. Der König verbannt daraufhin alle Spindeln aus seinem Königreich. Als Dornröschen sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag dennoch an einer Spindel sticht, fällt sie und mit ihr alle Bedienstete in einen tiefen Schlaf und eine Dornenhecke wächst um das Schloss. Ein junger Königssohn überwindet schließlich nach den hundert Jahren die Hecke und erweckt das schlafende Dornröschen mit einem Kuss. Alle wachen auf und der Prinz und Dornröschen heiraten. Als Shahira Amal anbietet, sie zu schminken, sagt sie, dass in den Gegenständen des Schminktisches „Zauberkraft stecke“ (Taha 2020, S. 62, Amal). Ähnlich wie die Feen Dornröschen u.a. mit Tugend, Reichtum und Schönheit beschenken (vgl. Grimm & Grimm 2014, S. 238), schenkt Shahira Amal, indem sie sie schminkt, ein wenig Weiblichkeit. „[D]ie Geschichte Dornröschens [kann] auch als Anspielung auf das Erwachen der Sexualität im Jugendalter betrachtet werden. Der fünfzehnte Geburtstag […] stand in alten Zeiten symbolisch für geschlechtliche Reifung und erwachende bzw. erwachte Sexualität“ (Gerstung & Urquiaga 2017, S. 295). Dornröschen erlebt die erwachende Sexualität im Märchen zunächst nicht, sondern fällt in einen tiefen jungfräulichen Schlaf. Anders als Dornröschen verweilt Amal keine hundert Jahre in einer Traumwelt. Sie wird von Shahira aus dem Zimmer geschickt, da diese eine Verabredung hat. Ins andere Zimmer verbannt, wartet sie auf ihren Freund Younes, um ihm Shahiras Gaben, das Make-Up, also die Weiblichkeit, zu präsentieren (vgl. Taha 2020, S. 62, Amal). Younes verhält sich hier jedoch konträr zur Rolle des Märchenprinzen. Anstatt sich mit Amal zu freuen, ist er traurig und wütend. Er bezeichnet Amal als „Nutte“ (a.a.O.), schlägt ihr ins geschminkte Gesicht und bricht ihr so die Nase.

 

Stigmatisierungsprozess und Identifikation mit der Bezeichnung Mogli-Mädchen:

Amal findet in keiner der beiden Märchenprinzessinnen eine Identifikationsfigur und im Endeffekt scheitern alle Versuche der durch die Direktorin empfohlenen Resozialisierung, der Anpassung an die Gesellschaft. Jeder Anpassungsversuch misslingt, indem Amal sich selbst verletzt oder von anderen angegriffen wird. Die Jungen lassen Amal mit den langen Haaren nicht mitspielen und der streng geflochtene Zopf verursacht ihr Schmerzen, sodass sie sich diesen abschneidet. Younes, der nicht will, dass seine Freundin Amal wie seine Mutter Shahira wird, schlägt Amal in das von Shahira geschminkte Gesicht. Und als Amal sich die Nägel „sanyerot“ (ebd. S. 64, Amal) färbt, entfernt sie sich schließlich den Nagellack mit ihren Zähnen. Sie „schmeck[t] Blut, bis der Lack ab ist und [sie] mit pochenden Fingern dalieg[t] und hass[t], was [sie] nicht [ist]“ (ebd. S. 74, Amal). Die Außenwelt, die Gesellschaft, in der Amal lebt, hat starre Vorstellungen davon, was als typisch weiblich und was als typisch männlich gilt. Frauen sollen lieb, klug, brav, harmoniebedürftig und in gewisser Weise schwach (vgl. ebd. S. 27, Amal) wie Sanye sein. Amal, die das weibliche Ideal in Sanye repräsentiert sieht, kann sich nicht mit den Märchenprinzessinnen identifizieren, in denen sich das traditionelle Frauenbild widerspiegelt. Beide Prinzessinnen sind schön, tugendhaft und passiv, sie werden von Prinzen gerettet und geheiratet. In diesem Modell verfügen Männer also über den Körper der Frau, die willenlos (Dornröschen ist bewusstlos und Rapunzel wird gefangen gehalten) und sexuell inaktiv der Männer harren, die sie begehren und sie zu ihren Ehefrauen machen. Amal sieht sich jedoch als Kämpferin. Ihre „Nägel sind zum Kratzen da“ (ebd. S. 71, Amal). Ihre Haare schneidet sie immer wieder kurz, um ihren vermeintlichen Prinzen, Younes, beschützen zu können, der von Mitschülern schikaniert wird. „[I]ch lernte, was es heißt, jemandem den Rücken freizuhalten, und ich hatte nicht die Muskelkraft, also biss ich zu und sie zogen an meinem lang gewordenen Haar“ (ebd. S. 21, Amal). Daran, dass sie kratzt und beißt, um Younes vor den anderen Kindern zu beschützen, zeigt sich Amals Wildheit und zugleich wird ihre selbstauferlegte Beschützerrolle deutlich. Amal sieht sich nicht in der Rolle der Märchenprinzessin, sondern übernimmt die Rolle des Prinzen, des Befreiers und Retters der Prinzessin bzw. in diesem Fall die Rettung ihres Freundes Younes.
Anfänglich abwertend von der Rektorin als Mogli-Mädchen bezeichnet, übernehmen sie und ihre Mutter den Begriff und jede langfristige Identifikation mit dem durch die Gesellschaft vorgegebenen, traditionellen Frauenbild scheitert, da sich Amal den Begriff Mogli-Mädchen aneignet. Im Laufe von Amals Geschichte vollzieht sich demnach ein Prozess der Stigmatisierung. Mit dem Besuch ihres Vaters im Irak versucht sie einen verlorenen Teil ihrer Identität zu finden, so erzählt sie ihrer Stiefschwester: „[I]ch glaube, es gibt in allen Vierteln ein Mogli-Mädchen oder in jeder Stadt eins, oder in jedem Land eins, es muss sie geben, […] und irgendwann […] durchkreuzen sich unsere Wege, und wir werden erzählen von den Mogli-Mädchen, die wir wurden und waren“ (ebd. S. 113, Amal). Hierin spiegelt sich die letztliche Akzeptanz von sich selbst als Mogli-Mädchen wider. Amal sucht nicht mehr in Märchenprinzessinnen oder Frauenfiguren ihrer Lebenswelt nach Identifikationsfiguren, sondern hofft darauf, dass es weitere Mädchen gibt, mit denen sie sich austauschen kann, die wie sie, Mogli-Mädchen, sind.

 

Younes – Im Bauch des Wals

Mit dem Romantitel Im Bauch der Königin klingt die Geschichte des biblischen Propheten Jona an, der drei Tage im Bauch eines Fisches ausharren muss. Ähnlich wie Jona sich im Bauch des Fisches befindet, befindet sich Younes metaphorisch im Bauch der Königin, seiner Mutter Shahira. Die Parallelität zeigt sich zudem am Namen Younes, der eine Variante von Yunus ist. Yunus ist ein Prophet und Vorläufer Mohammeds im Islam. Die 10. Sure trägt seinen Namen und seine Geschichte wird im Koran in der Sure as-Saffat von Vers 139 bis 148 erzählt (vgl. Koran, Sure 37,139 ff.). Yunus gleicht dem biblischen Propheten Jona, dessen Geschichte im Buch Jona des Alten Testamentes erzählt wird. Jona erhält von Gott den Auftrag den Bewohnern der Stadt Ninive den Untergang ihrer Stadt anzukündigen. Er flieht allerdings via Schiff in die entgegengesetzte Richtung, woraufhin Gott einen Sturm heraufziehen lässt, der das Schiff in Seenot geraten lässt. Jona verantwortet sich für den Sturm und wird von den Seeleuten ins Meer geworfen. Im Meer ertrinkt Jona nicht, sondern wird von einem großen Fisch verschlungen. Im Inneren dieses Fisches betet er und wird nach drei Tagen und drei Nächten wieder an Land ausgespien. Gott erteilt Jona erneut den Auftrag nach Ninive zu gehen und diesmal verkündet Jona den Bewohnern der Stadt den Untergang. (vgl. Bibel, Jona 1,1 – 4,11, LU). Für Jona ist es Fluch und Segen zugleich, dass er von dem großen Fisch verschlungen wird. Er kann im Bauch des Fisches überleben, aber zugleich ist dieser auch ein Gefängnis, dem er nicht entfliehen kann. Parallel dazu findet sich Younes durch seine Mutter beschützt, aber verflucht diese auch. „Den Bauch kann man als Gefängnis lesen, […] aber auch als den Bauch der Mutter, nämlich dass sie die einzige Person ist, die ihm Trost und Geborgenheit schenken kann, dass sie die einzige Quelle ist, zu der er immer wiederkehren kann“ (detektor.fm, 7:40-8:06). Ähnlich wie beim Propheten Yunus immer der Fisch mitgedacht wird und er im Koran u.a. als der „Mann mit dem Fisch“ (Koran, Sure 21,87) und „der Gefährte des (großen) Fisches“ (Koran, Sure 68, 48) bezeichnet wird, sagt auch Raffiq über Younes: „Ich werde mir immer Shahira dazu denken, wenn ich ihn sehe“ (Taha 2020, S. 100, Raffiq). Die Ambivalenz von Younes̕ Situation, die der des Propheten Yunus bzw. Jona nicht unähnlich ist, spiegelt sich zudem in Raffiqs und Amals unterschiedlichen Sichtweisen auf Younes und Shahira wider. Raffiq sieht Younes als Gefangenen, der „dazu verdammt [ist], in [Shahiras] Bauch zu verharren“ (a.a.O.). „Jede Bewegung, jeder Blick, jede Eigenschaft [von Younes] ist wohlüberlegt, aber immer nur in die entgegengesetzte Richtung zu seiner Mutter. […] Dafür hasse ich Shahira, dass sie so viel Macht über Younes hat, indem sie einfach nur so ist, wie sie ist, und dafür sorgt, dass Younes nicht sein kann, wie er gern wäre“ (ebd. S. 33, Raffiq). Aus Amals Sicht hingegen wird Shahira als umsorgende Mutter charakterisiert. Zudem beschreibt Amal Younes wiederholt als Propheten und als Wunder Gottes: „[Shahira] tröstete ihren Sohn, ihren Propheten“ (ebd. S. 66, Amal). „Younes ist ein verlassener Wald und die Ruhe in ihm ist wahr, und die Ruhe wächst in seinen Händen[.] […] Später werden Menschen zu Younes finden und in seinem Schatten anfangen zu glauben.“ (ebd. S. 57, Amal). Als alleinerziehende Mutter kümmert sich Shahira um ihren Sohn Younes. Während sein Vater die beiden verlässt und er von seinen Mitschülern schikaniert wird, tröstet sie ihn, gibt ihm Zuflucht, „bietet ihm als einzige Schutz. Das sieht er aber nicht, weil er seine Mutter […] durch die Brille der Gesellschaft […] sieht“ (detektor.fm, 8:12-8:22). Diese Gesellschaft verachtet Shahira, weil sie die Mutterrolle als sexuell aktive Frau erfüllt. Wie der Prophet Jona, dem von Gott Rettung und Leben in Form eines Fisches geschickt wird, der er aber an den göttlichen Auftrag gebunden bleibt, findet Younes zwar Trost und mütterliche Wärme bei Shahira, er nimmt seine Mutter aber immer von der Warte der Gesellschaft wahr, die Shahira für ihre Lebensweise verabscheut.  Younes wird als ihr Sohn immer mit ihr assoziiert, wodurch er Schwierigkeiten hat, eine eigenständige, von Shahira unabhängige, Identität zu entwickeln.

 

Shahira – Geschichten aus Tausend und einer Nacht

Sowohl Amal als auch Raffiq werden von ihren Vätern Geschichten aus Tausend und einer Nacht erzählt. Es handelt sich dabei um eine in der Spätantike von Indien nach Persien überlieferte Geschichtensammlung ohne Autor, die sich aus Rahmen- und Binnenhandlung zusammensetzt. Zu Beginn der Geschichtensammlung entdeckt der jüngere von zwei Königsbrüdern, dass seine Frau ihn mit dem Koch betrügt, woraufhin er beide tötet. Als er zu seinem Bruder reist, beobachtet er dessen Ehefrau bei einer Orgie mit ihren Sklav*innen. Als er seinem Bruder alles erzählt, beschließen sie zusammen die Welt zu bereisen und nur zurückzukehren, wenn sie jemanden finden, dem es noch schlechter ergeht als ihnen beiden. Die Königsbrüder begegnen auf ihrer Reise dem mächtigen Ifrit. Sie erfahren, dass auch er von seiner Frau betrogen wird, und sehen dies als Beweis dafür, dass alle Frauen untreu und hinterlistig sein müssen. Der ältere Bruder kehrt nach diesen Erlebnissen an seinen Hof zurück, lässt dort seine Frau töten und tötet selbst alle Dienerinnen und Sklavinnen. Von da an heiratet er immer nur für eine Nacht und lässt die jeweilige Frau am nächsten Tag von seinem Wesir töten. Als er jedoch Shahrasad heiratet, lässt er diese leben, da sie ihm in jeder Nacht spannende ineinander verwobene Geschichten erzählt, deren Ende der König in der nächsten Nacht erfahren will (vgl. Tausend und eine Nacht, S. 15ff.).
Anders als in den Geschichten aus Tausend und einer Nacht, in denen Shahrasad in der Rahmenhandlung die Erzählerin ist, sind bei Amal und Raffiq die Väter die Geschichtenerzähler. Sowohl bei Amal als auch bei Raffiq erfolgt eine Verknüpfung der Geschichten aus Tausend und einer Nacht mit der Figur Shahira. Amal hört bspw. wie ihre Mutter mit den Nachbarinnen über Shahira lästert und denkt dabei an Shahrasad (vgl. Taha 2020, S. 25f., Amal). Raffiq wird im Teenager-Alter von seinem Vater gesagt, dass er Younes nicht besuchen darf, weil dessen Mutter eine von den „verdorbenen Frauen“ (ebd. S. 45, Raffiq) sei. Raffiq realisiert daraufhin, dass sein Vater sagte, dass die „Frauen […] mit Männern dreckige Dinge taten“ (a.a.O.), als er seinem Sohn aus Tausend und einer Nacht erzählte, meinte, dass sie Sex mit den Männern haben. Raffiq verlässt sich ab diesem Punkt nicht mehr auf die Erzählungen seines Vaters. Er bestellt sich eine deutsche Ausgabe, liest die Geschichten selbst und ist dabei besonders fasziniert von dem, was sein Vater ausgelassen oder umschrieben hat, also vor allem von Mord und Sex (vgl. ebd. S. 25f., Raffiq). Die Themen Sex und Gewalt werden sowohl in den Nacherzählungen der Geschichten aus Tausend und einer Nacht durch Raffiqs Vater als auch in Amals und Raffiqs Wirklichkeit durch andere Figuren versteckt und verschleiert, obwohl beides sowohl in der Literatur als auch im Leben vorhanden ist. Im Literaturforum im Brecht-Haus sagt Taha über die Ur-Erzählerin Shahrasad folgendes: „[Sie] ist eigentlich eine Metapher dafür, wie wichtig Erzählen ist. Und dass sie […] nur durch die Erzählung, […] durch Spannung, […] durch ihre Sprache es schafft zu überleben. […] Warum werden alle anderen Frauen geschlachtet? Wegen ihrer Sexualität. Aber sie schafft es […] klarzumachen, dass eine Frau auch mit ihrer Sexualität auch andere Sachen hat, nämlich die Sprache, die es schafft, dass wir miteinander kommunizieren.“ (Literaturforum im Brecht-Haus, 17:07-18:10)
In der ersten Nacht, die Shahrasad mit dem König verbringt, bittet sie darum, sich von ihrer jüngeren Schwester verabschieden zu dürfen: „Der König schickte nach Dinarsad. Diese wartete, bis der Sultan sich an ihrer Schwester ergötzt und etwas geschlafen hatte, dann seufzte sie und sagte: O meine Schwester! Wenn du nicht schläfst, so erzähle uns von deinen schönen Geschichten“ (Tausend und eine Nacht, S. 26). Der Sex wird hier als beiläufiger Akt für die Frauen erwähnt, der einzig der Lustgewinnung des Mannes dient. Obwohl die Nachbarschaft sich abfällig über Shahira äußert und Sex und Freizügigkeiten verschleiert werden, nimmt Amal die Sexualität Shahiras als etwas Natürliches wahr. In ein paar Zeilen erzählt sie davon, wie sie eine Sexszene beobachtet hat: „Shahira war nackt, und ihre Nacktheit bedeckte den Mann unter ihr“ (Taha 2020, S. 56, Amal). Während der König in der Rahmenerzählung der aktive Part ist, der Shahrasad entjungfert, ist in Amals Erzählungen Shahira diejenige, die aktiv ist. Aus der Sicht von Raffiqs Vater entspricht sie so weniger Shahrasad, als vielmehr den Frauen, die die Männer dazu bringen „dreckige Dinge mit [ihnen] zu machen“ (ebd. S. 25, Raffiq).
Im Anschluss an die Entjungferung beginnt Shahrasad eine Geschichte zu erzählen. Als der nächste Tag anbricht, ist die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt, also lässt der König sie leben, damit er in der nächsten Nacht das Ende hören kann. Die Geschichte, die sie erzählt, handelt von einem betrogenen Ehemann und der Bestrafung seiner Frau. Der Mann nimmt sich eine Zweitfrau, weil seine Frau keine Kinder gebären kann. Die Frau verwandelt die Zweitfrau und den Sohn in eine Kuh und ein Kalb. Die Tochter eines Hirten kann alles aufklären und den Sohn retten, mit dem sie schließlich verheiratet wird (vgl. Tausend und eine Nacht, S. 33ff.). „Die kluge Erzählerin bestätigt das Wertesystem des königlichen Zuhörers und deutet zugleich an, dass die Erlösung ebenfalls durch eine Frau erfolgen wird, durch die Tochter eines Untergebenen – die Erzählerin Sheherazad“ (Neuhaus 2017, S. 59). Daraufhin erzählt Shahrasad Nacht für Nacht ineinander verschachtelte Geschichten. Nach tausendundeiner Nacht hat sie dem König drei Kinder geboren und wird begnadigt. Taha lässt Amal auch auf der sprachlichen Ebene über Shahrasad nachdenken: „Das kurdische Wort shahrasa klingt wie Shahrasad, der die Worte auch nie ausgingen. Shahrasa bezeichnet jemand Kluges, […] der weiß, wie man mit Menschen umgehen kann: jemand der weiß, wie man beim Ausländeramt so redet, dass die Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird, jemand, der einen blutrünstigen König mit Geschichten stillen kann“ (Taha 2020, S. 59f., Amal). Hierin drückt sich Amals Bewunderung für die Redegewandtheit und die emotionale Intelligenz der Shahrasad aus, die um ihr Leben erzählt und durch ihre Erzählungen überlebt. Tausend und eine Nacht ist „eine Geschichte, die eine Figur erzählt, und in dieser Geschichte wird wieder eine Geschichte erzählt (vertikale Achse) – die eingerahmte Erzählung ist jeweils in die intradiegetische Ebene eingebunden“ (Fludernik 2013, S. 40). Für Shahrasad und die Figuren, von denen sie erzählt, bedeutet das Erzählen zu leben und zu überleben; Schweigen ist lebensbedrohlich. Amal erzählt ebenfalls verschachtelt, aber gehetzt und so als müsse sie Angst haben, dass sie irgendwann nichts mehr zu erzählen hat. Durch das Erzählen fühlt sich Amal bedeutsam und hat daher im Umkehrschluss Angst durch Schweigen bedeutungslos zu werden, also in der Logik der Geschichten aus Tausend und eine Nacht zu sterben. Shahira hingegen erzählt Geschichten nicht „um zu überleben, sie erzählt […], um sich zu verzeihen“ (Taha 2020, S. 66, Amal). Zudem sieht sie Geschichten als Geschenke an, die Frauen untereinander austauschen und vertraut daher Amal ihre Geschichte an (vgl. ebd. S. 44, Amal). Darüber hinaus geht Shahira nicht davon aus, die alleinige Erzählerin mit der einzigen Wahrheit zu sein und bittet Amal, die gehörten Geschichten von und über Shahira weiterzutragen: „Erzähl es so, als wäre ich nicht da“ (ebd. S. 67, Amal).
Die Figuren in Tahas Im Bauch der Königin und die Figuren aus Tausend und einer Nacht erzählen aus unterschiedlichen Situationen und Motiven heraus: Um zu verzeihen, um zu leben oder gar um zu überleben oder um des Erzählens an sich. Durch das Wahrnehmen, Erinnern, Erzählen und auch Nicht-Erzählen konstruieren sie ihre Wirklichkeiten. Dies wird besonders bei Amal als Erzählerin deutlich. Während für sie zu Beginn ihrer Geschichte alles vom Erzählen abhängt, lernt sie im Laufe der Zeit, dass das Geschichtenerzählen nicht so wichtig ist und für sie das Leben und Überleben nicht davon abhängt. Am Anfang erzählt sie die Geschichte davon, wie sie Younes verprügelt hat unzählige Male, angetrieben davon, dass sie wahrgenommen wird, und dass sie jemand wird, wenn sie erzählt. Zudem wird sie immer wieder von ihrem Vater angetrieben, sieht sich dabei aber eher als seine „Handpuppe“ (ebd. S. 7, Amal). Sie begibt sich also auf die Suche nach ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Identität. Als Amals Vater die Familie verlässt, erzählt er ihr keine Geschichten mehr und immer, wenn sie ihn am Telefon darum bittet, wieder Geschichten aus Tausend und einer Nacht zu erzählen, sagt er jedes Mal ‚bald‘ und unterlässt es aber (vgl. ebd. S. 29f., Amal). Sie will ihren Vater unbedingt wieder treffen, einen Abgleich mit ihrer Realität und ihren Erinnerungen machen. Als sie schließlich zu ihm reist, will er ihr Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, „dass er [ihr] über den Kopf gestreichelt hat, weil [ihre] Haare so kurz waren“ (ebd. Amal, S. 125). An dieser Stelle geschieht ein Bruch, da Amal mittlerweile nicht mehr zuhörendes Kind, sondern selbst Erzählerin ist: „Das ist meine Erzählung, sage ich ihm, Vater, lass mich das mal kurz erzählen“ (a.a.O.). Stück für Stück realisiert sie, dass sie ein Bild ihres Vaters konstruiert hat, dass nicht mit der Realität, die sie in Kurdistan vorfindet, übereinstimmt. Während sie als Kind eine verklärte Bewunderung für ihren Vater als fantastischen Geschichtenerzähler empfindet, sieht sie, dass sie nicht mehr Kind ist und er sich in eine andere Richtung weiterentwickelt hat. Als sie ihm in Kurdistan schließlich ihre Geschichte erzählt, fühlt sie sich von ihm „als Shahrasad entlarvt“ (ebd. S. 126, Amal). Shahrasad wird nach tausendundeiner Nacht vom König begnadigt und ihr Leben hängt nicht länger vom Erzählen ab. Amal lernt im Laufe ihrer Sinn- und Identitätssuche, dass ihr Leben nicht vom Erzählen abhängt, nie vom Erzählen abhing. Als sie die verklärte Erinnerung an ihren Vater loslässt, gibt es für sie „keinen Grund mehr zu erzählen“ (ebd. S. 129, Amal) und die Romanvariante, in der sie die Erzählerin ist, schließt letztlich mit einer Entscheidung gegen das Erzählen und für das Schweigen: „[U]nd ich erzähle nichts“ (ebd. S. 131, Amal).

 

Fazit

Die intertextuellen und intermedialen Verweise in Tahas Im Bauch der Königin sind vielfältig. Sie dienen der Charakterisierung von Figuren des Viertels, der Erläuterung der Figurenkonstellation, sowie der Sinn- und Identitätssuche der beiden Erzähler*innen Amal und Raffiq. Durch das Erzählen ordnen sie ihre Umgebung ein und suchen nach ihrem Platz in der Realität. Viele der intertextuellen und intermedialen Verweise, wie Märchen, Zeichentrick-Serien und Geschichten aus dem Roman, werden typischerweise in der Kindheit rezipiert.
Raffiq tritt als Erzähler der Geschehnisse im kurdischen Viertel in Erscheinung. Es fällt ihm schwer seine eigene Rolle und seine eigenen Ziele zu definieren. In seiner Kindheit wollte er Detektiv werden, so wie Chip und Chap. Er „wollte immer Chip sein – das war der Coolere“ (ebd. S. 86, Raffiq). Diese kindliche Gewissheit ist jedoch einer Unsicherheit gewichen. Während er über Anknüpfungen zu Märchen und Geschichten aus dem Koran die Figuren des Viertels und ihre Beziehungen zueinander charakterisieren kann und diese bewertet, mangelt es ihm für sich selbst an einer Identifikationsfigur. Ähnlich wie Raffiq trifft auch Amal auf Schwierigkeiten, bei der eigenen Sinnsuche. Im Gegensatz zu Raffiq sucht sie dabei nach Identifikationsfiguren. Von außen wird sie bereits im Grundschulalter als Mogli-Mädchen charakterisiert. Da es sich bei Mogli um einen Jungen handelt, suggeriert dies, dass Amal nicht ‚richtig‘ weiblich sei. Infolgedessen sucht sie zur Abgrenzung davon Anknüpfungspunkte bei weiblichen Figuren aus den Märchen ihrer Kindheitstage, aus den Märchen, die ihr Vater ihr erzählt hat. Eine Identifikation mit diesen scheitert allerdings, da sie ihnen typisch weibliche Merkmale zuspricht, die sie in sich selbst nicht finden kann. Auch der Versuch sich mit Shahrasad aus Tausend und einer Nacht zu identifizieren scheitert letztlich, da sie keinen Sinn mehr im Erzählen sieht und sich dagegen entscheidet. Sie nimmt die Fremdbezeichnung Mogli-Mädchen an und hofft darauf, weitere Mädchen zu treffen, die so sind wie sie (ebd. S. 113, Amal). Die Koran-Allusion hilft sowohl Amal als auch Raffiq und dadurch schließlich dem*der Rezipient*in bei der Erschließung der Figurenkonstellation von Shahira und ihrem Sohn Younes. Beim Propheten Yunus wird im Koran immer der Fisch mitgedacht. Auf ähnliche Weise denkt Raffiq sich immer Shahira dazu, wenn er Younes sieht. Raffiq sieht Younes als Gefangenen von Shahira, während Amal Younes als Shahiras Propheten charakterisiert (vgl. ebd. S. 100, Raffiq & S. 66, Amal).
Für das Verständnis des Romans muss Wissen des*der Rezipient*in zu den intertextuellen Verweisen vorausgesetzt werden. Bei den von Taha gewählten intertextuellen Verweisen handelt es sich vor allem um religiöse und fiktive Geschichten, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Romans Teil einer Erzählkultur sind. Nicht nur Beziehungen zwischen Text und Text; Text und Musik; Text und Serie spielen in diesem Roman eine Rolle, sondern auch das Verhältnis zwischen Text und Kultur bzw. Kontext. Dies wird vor allem über die Geschichten aus Tausend und einer Nacht und der Erzählerin Shahrasad, sowie über Tahas Erzählerin Amal verhandelt. Amal hört erstmals in ihrer Kindheit von ihrem Vater Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Neben ihrem Vater wird sie jedoch nicht zur eigenständigen Erzählerin, sondern lediglich zu „einer seiner Anekdoten, als wäre [sie] seine Handpuppe“ (Taha 2020, S. 7 Amal). Taha lässt Amal über die Erzählerin Shahrasad nachdenken, die ihrerseits einer bestimmten Erzählkultur entsprungen ist. Für Shahrasad, wie auch die Figuren, über die sie erzählt, hängt das Leben vom Erzählen ab. Amal hingegen erzählt, um sich selbst zu finden. Als sie beim Besuch ihres Vaters schließlich erkennt, dass sie selbst nicht die Erschafferin ihrer Geschichte ist, sondern Produkt einer Erzählkultur ist, auf die sie keinen Einfluss hat, resigniert sie. Als sie erkennt, dass ihre eigene Geschichte nicht auf Verständnis und Bestätigung von außen trifft, entscheidet sie sich gegen das Erzählen und für das Schweigen gegenüber ihrem Vater und den Menschen ihres Viertels. Dennoch deutet Amal an, dass ihre Geschichte weitergeht: „Und wenn etwas anfängt, dann hat etwas geendet, und das, was geendet hat, hatte einen Anfang, der etwas beendet hat, und deswegen gibt es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur ein und“ (Taha 2020, S.129 Amal). Amals Geschichte endet mit einem Und. Dieses Und markiert ein offenes Ende, an das ggf. eigene und fremde Geschichten anschließen können. Während Amals Geschichte in ihrem kurdischen Viertel nicht Teil der Erzählkultur wird, knüpft Taha an Erzähltraditionen an und gibt einen Hinweis darauf, dass auch an ihren Roman, an Amals Geschichte, angeschlossen werden kann, und dass so dieser Roman selbst Teil einer Erzählkultur werden kann.

 

Literatur

Primärliteratur

Bibel: Lutherbibel 1984.

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 2014.

Koran: Der edle Qu’ran. Und die Übersetzung seiner Bedeutung in die deutsche Sprache. Übersetzt von Abdulla As-Samit und  Nadeem Elyas, 2013.

Taha, Karosh: Im Bauch der Königin. Köln: Dumont 2020.

[Hinweis: Da der Roman als Wenderoman mit jeweils unterschiedlichen autodiegetischen Erzählstimmen angelegt ist, wird bei den Zitaten in Klammern der Figurenname angegeben, auf deren Erzählung rekurriert wird.]

Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen. Übersetzt von Gustav Weil, 1865. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2013.

 

Forschungsliteratur

Berndt, Frauke/ Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2013.

Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Broich, Ulrich/ Pfister Manfred (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Berlin/Boston: De Gruyter 2011. S. 31-47.

Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 42013.

Frey, Dieter/ Münster, Paula: Einführung. Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie? In: Frey, Dieter (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissen-schaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können. Berlin/Heidelberg: Springer 2017. S. 5-10.

Gerstung, Katharina/ Urquiaga, Lorea: Dornröschen von den Gebrüdern Grimm (1819). In: Frey, Dieter (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können. Berlin/Heidelberg: Springer 2017. S. 291-296.

Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen: A. Francke.2017.

 

Interviews

Detektor.fm: Dear Reader - Der Literatur-Podcast. Karosh Taha über Sex und Sprache. Veröffentlicht am 21.08.2020.

Literaturforum im Brecht-Haus: Shut down? Read on! Karosh Taha & Rasha Khayat: Im Bauch der Königin. Veröffentlicht am 12.05.2020.

Werkcharakteristika

Beschreibung einer Krabbenwanderung

» Werkverzeichnis

Inhaltsangabe und Interpretationsansätze zu Beschreibung einer Krabbenwanderung. Ein Beitrag von Jana Frehn. [ ↑ ]

Inhalt

Der Roman Beschreibung einer Krabbenwanderung ist Karosh Tahas Debütroman und erschien 2018 bei Dumont. Er erzählt von den Familienkonflikten und der Identitätssuche der 22-jährigen Deutsch-Kurdin Sanaa, die in einer namenlosen deutschen Stadt lebt und zwischen der kurdischen Community ihres Viertels und der größeren Anonymität und Freiheit, die ihr die Universität bietet, ihren Platz sucht. Im Irak geboren und mit sechs Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, lebt sie seitdem mit ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester Helin und ihren Eltern Asija und Nasser in derselben Wohnung in demselben Hochhaus in demselben Viertel in derselben Stadt. Auch ihre Tante Khalida und ihr Onkel Agid wohnen mit ihren jugendlichen und erwachsenen Kindern im selben Hochhaus, ebenso das kurdische Ehepaar Zakholy. Da ihr Vater Nasser nur selten zu Hause ist und kein großes Interesse an seiner Familie zeigt, kümmert sich Sanaa um ihre noch zur Schule gehende Schwester Helin und auch um ihre Mutter Asija, die an Depressionen leidet und sich nicht um ihre Kinder kümmern kann. Tante Khalida hat sich aus diesem Grund vor vielen Jahren der Erziehung der beiden Mädchen verschrieben und verbringt seitdem ihre Tage rauchend und lästernd auf dem Sofa von Sanaas Familie. Zusammen mit ihrer unermüdlichen Gesprächspartnerin Frau Zakholy, die Sanaa insgeheim Baqqe nennt, überwachen und verurteilen sie alles, was in Sanaas Familie und im gesamten Hochhaus geschieht. Diesem von familiären Zwängen und Verpflichtungen geprägten Umfeld kann Sanaa nur stundenweise entfliehen, wenn sie zur Universität fährt oder ihre Liebhaber Adnan und Omer besucht. Doch schon bei einem von ihnen zu übernachten erlaubt sich Sanaa aus Sorge um ihre Mutter nicht, die ihre Tage im Bett und ihre Nächte auf dem Balkon verbringt und häufig vergisst zu essen, und aus Verantwortungsgefühl ihrer Schwester gegenüber, die mehr und mehr von Tante Khalida vereinnahmt wird. Ihre Familie und ihr Studentinnenleben außerhalb des Viertels sind für Sanaa nicht miteinander vereinbar. Als sie dann auch noch bemerkt, dass sie von einem fremden Kurden in einem Volvo verfolgt und beobachtet wird, scheint ihre mühsam erkämpfte Freiheit vollends bedroht.

Im Laufe des Romans geht Sanaa den Erinnerungen an ihre Kindheit im Irak und den Erzählungen der Erwachsenen, die in vielen Punkten voneinander abweichen, auf die Spur. Mit Hilfe ihres Cousins Kemal findet sie eine Videokassette von der Hochzeit ihrer Eltern, die jedoch nach wenigen Sekunden mit einer Tierdokumentation überspielt wurde und nicht die erhofften Erkenntnisse bereithält. Sie lässt sich die Geschichte, wie sich ihre Eltern kennengelernt haben, von Tante Khalida, Onkel Agid und schließlich auch von ihrer Mutter erzählen und muss erfahren, dass Erinnerungen manipulierbar sind und Erzählungen die Vergangenheit verzerren und so Einfluss auf die Gegenwart und Zukunft nehmen können. Besonders der Einfluss, den Tante Khalida auf ihre Familie hat, wird für Sanaa immer greifbarer. Sie erfährt, dass Kemal ihre Schwester nur deshalb mit einem Zirkel verletzt hat, weil er die mit Hilfe eines neveshti (das sind Haarlocken oder beschriftete Papierzettel) von seiner Mutter heraufbeschworene lebenslange Verbindung mit ihr abwenden wollte. Außerdem entdeckt sie, dass Tante Khalida vor vielen Jahren ein Versprechen nicht gehalten hat und dadurch dafür gesorgt hat, dass die Nachbar*innen Sanaas Mutter für verrückt halten. Schließlich findet Sanaa eine Haarsträhne, die Baqqe ihr als Kind abgeschnitten und mit einem Bannspruch belegt hatte. Sobald Tante Khalida den Knoten in der Strähne löst, würde Sanaa heiraten, hieß es damals. Als sie die Haarsträhne nun ohne Knoten vorfindet und sich kurz darauf ein potenzieller Ehemann ankündigt, der sich dann auch noch als der sie verfolgende Volvomann herausstellt, scheint der Plan der Tante aufzugehen. Doch Asija, die in der Zwischenzeit durch die Bekanntschaft mit einer neu zugezogenen kurdischen Hausfrau, Dayka Idris, neue Lebensenergie gewonnen hat und ihre Mutterrolle wieder in die Hand nimmt, stellt sich hinter Sanaa und bestärkt ihre Entscheidung, noch nicht heiraten zu wollen. Dank gemeinsam mit Kochen und Backen verbrachter Stunden und dem Ausschluss von Tante Khalida und Baqqe aus der Wohnung finden Sanaa, Helin und Asija langsam wieder zueinander. Nur Nasser bleibt weiterhin die meiste Zeit abwesend und die von Sanaa vermutete Affäre mit einer türkischen Frau wird nicht aufgeklärt. Auch wie es mit Sanaas Beziehung zu Adnan weitergeht, bleibt offen. Und obwohl am Ende des Romans noch nicht alle Wunden geheilt und noch nicht alle Erinnerungen aufgearbeitet sind, scheint mit ihm ein neuer Anfang für Sanaas Familie einherzugehen.

Struktur

Sanaa erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive. Der lineare Aufbau der Erzählung ist von zahlreichen Rückblenden durchsetzt, die Sanaas Erinnerungen an Erlebnisse aus der näheren Vergangenheit in Deutschland und der ferneren Vergangenheit im Irak wiedergeben. Beobachtend-beschreibende Passagen, die durch eine größere Distanziertheit einen humorvollen Blick auf bestimmte Situationen zulassen, wechseln sich mit unverblümt ehrlichen Passagen ab, in denen Sanaa ihre Gedanken, Gefühle, Ängste und Hoffnungen zum Ausdruck bringt. Die anderen Figuren des Romans lernen die Leser*innen ausschließlich aus Sanaas Perspektive kennen, sowohl durch die Beschreibung von Situationen und Gesprächen als auch durch die Gedanken, die sich Sanaa über ihre Mitmenschen macht. Durch die Ich-Perspektive enthält der Roman einige Leerstellen, durch die den Leser*innen auf den ersten Blick wichtige Informationen vorenthalten werden. Auf den zweiten Blick stellen sich diese jedoch häufig als nicht relevant heraus. So erfährt man beispielsweise nicht, was Sanaa eigentlich genau studiert – aber in ihrer sehr auf ihre Familie fokussierten Wahrnehmung scheint das auch keine Rolle zu spielen. Auch die Krankheiten ihrer Eltern (die Hautkrankheit ihres Vaters und die psychische Erkrankung ihrer Mutter) werden nicht benannt, sondern nur beschrieben, da in Sanaas Situation nicht die medizinische Diagnose, sondern der alltägliche Umgang mit ihnen wichtiger ist.

Die eine Wahrheit bekommen die Leser*innen an vielen Stellen des Romans nicht geliefert. So bleibt etwa unklar, ob sich Sanaa die Flinte unter dem Beifahrersitz des Volvomanns nur eingebildet hat oder ob sie wirklich existiert. Und wenn im Falle des Kennenlernens von Asija und Nasser mehrere Versionen der selben Geschichte nebeneinander existieren, stehen die Leser*innen genau wie Sanaa selbst vor der Entscheidung, welcher Version sie den größten Glauben schenken wollen und wie sie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Konstruktion umgehen. Das Motto am Anfang des Romans, in dem die Autorin ihre Hauptfigur selbst zitiert, bringt dieses Spannungsverhältnis auf den Punkt: „Diese Geschichte beruht auf tatsächlichen Begebenheiten in meiner Erinnerung.“ (S. 5)

Deutung des Titels

Der Titel Beschreibung einer Krabbenwanderung geht auf je einen wichtigen formalen und inhaltlichen Aspekt des Romans ein.

Eine „Beschreibung“ ist eine in literarischen Texten häufig verwendete Textsorte und meint eine „Darstellung von Figuren, Objekten, Örtlichkeiten, Tatsachen und Zuständen in ihrer phänomenalen Beschaffenheit. […] Konstitutiv für die B. ist die Übertragung einer nicht-sprachlichen Dimension von (realer oder fingierter) Wirklichkeit in sprachlichen Ausdruck.“ (Schmitz-Emans 2007, 78). In der Erzählliteratur dienen Beschreibungen hauptsächlich „zur Erzeugung einer spezifischen Perspektive der Darstellung […] aus dem Blickwinkel handelnder Figuren“ (Schmitz-Emans 2007, 78). Diese Merkmale lassen sich auch in Tahas Roman wiederfinden. Durch die Ich-Perspektive sind die meisten Beschreibungen von Orten, Personen und Situationen auf Sanaas Blickwinkel beschränkt. Innerhalb der Gespräche mit den anderen Figuren ergeben sich allerdings auch Beschreibungen aus anderen Perspektiven, was besonders in den verschiedenen Versionen des Kennenlernens von Asija und Nasser deutlich wird. Wie real oder fingiert die Wirklichkeit in den Beschreibungen sowohl von vergangenen (und damit erinnerten) als auch von gegenwärtigen Ereignissen ist, bleibt jedoch offen, da es keine auktoriale Erzählinstanz gibt, die Klarheit schaffen könnte. Durch diese Ungewissheit, mit der sowohl die Figuren als auch die Leser*innen umgehen müssen, thematisiert der Roman die Differenz zwischen Wahrheit, Wahrnehmung und Darstellung.

Der inhaltliche Aspekt der „Krabbenwanderung“ lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Zum einen beinhaltet er das Motiv der „Wanderung“, das in Anlehnung an das Motiv der „Reise“ als „Symbol des Lebens(ver)laufs, der Entwicklung eines Individuums oder eines Kollektivs“ (Schneider 2012, 343) gedeutet werden kann. Einerseits lässt sich die Migration vom Irak nach Deutschland als Reise ohne Wiederkehr sehen, die für die Generation von Sanaas Eltern einen drastischen Lebenswandel mit sich gebracht hat. Dessen Bedeutung kann Sanaa durch ihre Kindheitserinnerungen und einige wenige Erzählungen von Tante Khalida nur erahnen, während er für ihre Schwester Helin, „das deutsche Kind“ (S. 91), noch schwieriger nachzuvollziehen ist. Europa ist für Nasser gleichbedeutend mit Freiheit und er lässt sich nicht von seinem Ziel abbringen, für Asija bedeutet die Migration jedoch den Beginn ihrer Depressionen. Wie Sanaa selbst die erste Zeit in diesem fremden Land erlebt hat, kommt im Laufe des Romans nicht explizit zur Sprache.

Da eine „Wanderung“ im Gegensatz zu einer „Reise“ von Stetigkeit und einer längeren Dauer geprägt ist, lässt sich dieses Motiv auch auf Sanaas Entwicklung und Identitätssuche beziehen. Mit vielen kleinen Teilerfolgen, Rückschlägen, Fragen und Erkenntnissen verändert Sanaa ihren Platz in der Familie und nimmt so – bewusst und unbewusst – auch Einfluss auf die anderen Familienmitglieder. Die Emanzipation vom Einfluss ihrer Tante und die dadurch erlangte, innerhalb der kurdischen Community jungen Frauen nicht selbstverständlich zuerkannte Selbständigkeit hat auch Auswirkungen auf Helin, die in ihrer Schwester ein neues Vorbild erkennt. Asija kann, befreit von der ständigen Anwesenheit Tante Khalidas und gestärkt durch die neue Freundschaft mit Dayka Idris, ihre Mutterrolle wieder mehr annehmen, und nachdem jahrelang die Rollen vertauscht waren und Sanaa sich mehr um Asija gekümmert hat als umgekehrt, scheint sich nun wieder ein Gleichgewicht einzustellen.

Das Motiv der „Krabbe“ taucht im Laufe des Romans mehrfach auf und ist das verbindende Element zwischen Sanaa und ihrem Vater Nasser. Alles beruht auf einer Begebenheit in Sanaas Kindheit, als sie im Irak am Strand von einer Krabbe gebissen wurde und daraufhin Schutz und Geborgenheit im Schoß ihres Vaters erfahren hat. Dieses Gefühl fehlt ihr in ihrer aktuellen Situation jedoch völlig, da Nasser die meiste Zeit nicht zu Hause ist und an seiner Familie vorbeilebt. Von ihm kann sich Sanaa keine Unterstützung erhoffen, weder im Umgang mit Tante Khalida noch in der Erziehung ihrer Schwester noch in der Organisation ihres Alltags mit Asija. Auf bildlicher Ebene lassen die als Folge einer Hautkrankheit entstandenen roten Krusten auf Nassers Armen den Mann, der einst seine Tochter vor einer Krabbe beschützt hat, selbst zu einer Krabbe werden, die ihre Mitmenschen verletzt. Schutz und Geborgenheit sucht Sanaa nun bei ihren Liebhabern Adnan und Omer, oder – da diese Flucht vor der Familie immer nur für wenige Stunden möglich ist – in ihrem eigenen Bett in der Vorstellung, im Schoß ihrer Großmutter zu liegen.

In Sanaas teils bewusst konstruierten, teils unbewusst entstehenden Tagträumen kommt ebenfalls immer wieder eine Krabbe vor, die verschiedene Gefühlszustände widerspiegelt. Ähnlich wie die Krabbe aus der Geschichte ihres Vaters fühlt sich auch Sanaa einerseits von ihrer Familie verlassen, andererseits aber auch stark und unabhängig. Dass sie diese Bilder gerne mit jemandem teilen möchte, wird schon zu Beginn des Romans in der einzigen wörtlich zu nehmenden „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ deutlich: Sanaa imaginiert ein Gespräch mit Asija, in dem diese von einem Traum erzählt, in dem die ganze Familie auf einer Karawane aus Riesenkrabben durch die Wüste reitet (vgl. S. 45). Unmittelbar nach diesem Bild des familiären Zusammenhalts, das letztendlich nicht Asija, sondern Sanaa selbst konstruiert hat, erfährt sie von ihrem Cousin Kemal, dass sich ihr Vater mit einer anderen Frau trifft. Im Irak am Chabur oder im Traum in einer namenlosen Wüste ist die Familie noch bzw. wieder intakt, in der deutschen Wirklichkeit hingegen bricht sie immer mehr auseinander.

Der Raum als Miterzähler

Die Anzahl der Schauplätze innerhalb des Romans ist sehr begrenzt, der Großteil der Handlung spielt sich in der Wohnung von Sanaas Familie bzw. in ihrem Viertel ab. Die Universität und die Wohnungen von Adnan und Omer werden nicht genauer verortet oder beschrieben und bleiben dadurch vage Konstrukte, die Sanaa weder mit ihrer Familie noch mit den Leser*innen teilt. Sie bieten durch ihre Neutralität und Anonymität einen Rückzugsraum für Sanaa, die zu Hause nie alleine ist und nur wenig Privatsphäre hat. Ihr Zimmer muss sie sich mit ihrer Schwester teilen, das Wohnzimmer ist entweder von Tante Khalida und Baqqe oder von ihrem Vater besetzt, und Asija ist fast geisterhaft omnipräsent und dennoch kaum sichtbar. Ihr Platz ist der Balkon, auf dem sie die Nächte verbringt. Als einziger Ort innerhalb der Wohnung, an dem Entwicklung und Veränderung noch möglich sind, bleibt also die Küche, die sich Asija dank der Unterstützung von Dayka Idris und dem ehrlichen Interesse von Sanaa und Helin für ihre Koch- und Backkünste zurückerobert.

Karosh Taha geht in ihrem Essay Der Raum im Roman ist ein Miterzähler, das in der Taschenbuchausgabe des Romans veröffentlicht ist, auf die narrative Bedeutung von Räumen und Orten ein. Im Bezug auf Beschreibung einer Krabbenwanderungen sind das vor allem das Viertel und das Hochhaus, in dem Sanaas Familie lebt. Durch das enge soziale Gefüge der Hochhausbewohner*innen fühlt sich Sanaa dauerhaft beobachtet, überwacht und be- bzw. verurteilt: „Ich schaue auf das Hochhaus, das mit dreihundertachtundsechzig Augen zurückschaut. Die Anzahl der Augen entspricht nur zu einem Drittel der Wahrheit, trotzdem halte ich dem Blick stand, ziehe genüsslich an meiner Zigarette“ (S. 32). Sanaa schert alle Hochhausfrauen über einen Kamm, entindividualisiert sie dadurch und es wird deutlich, dass diese Gruppenidentität „ein Wertesystem und ein Regelwerk vor[gibt], mit dem sich Sanaa nicht identifizieren kann und will“ (S. 248). Ihr Gefühl des Eingeengtseins wird auch in ihrer Beschreibung des Hochhauses als Wimmelbild deutlich, das nur trostlose Entdeckungen bereithält: verwaschene Kleidung, Blumentöpfe ohne richtige Blumen, die Sicht auf die Fenster versperrende Antennen (vgl. S. 32). Durch die Personifizierung des Hauses macht Sanaa es zu einem Miterzähler und gibt gleichzeitig die Verantwortung für seinen Zustand an seine Bewohner*innen ab: „Seit zwei Jahrzehnten hat das Hochhaus verschlafen, sich zu entrümpeln. Vielleicht ist es auch tot.“ (S. 33)

Das Viertel mit dem Hochhaus als Mittelpunkt steht modelltypisch für viele andere Viertel in vielen anderen (deutschen) Städten, da es weniger durch äußere Gegebenheiten als durch seine Bewohner*innen charakterisiert wird. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Leser*innen alle Orte und Figuren nur aus Sanaas Perspektive kennenlernen und sie deswegen nur für eine bestimmte Gruppe verallgemeinert werden kann. In ihrem Essay weist Taha darauf hin, dass ein Großteil der Literatur aus der „Perspektive einer gebildeten Mittelschicht“ geschrieben wird und dass wir deshalb „neue Zungen [brauchen], die anders über diese Orte sprechen“ (S. 247). Wie sie ihren eigenen Beitrag dazu beurteilt, wird in verschiedenen Interviews deutlich: Literatenfunk (2020), Textland (2020), Choices (2020), Deutschlandfunk Kultur (2018), Edition F (2018).

Ein Ort, der innerhalb des Romans nur in der Erinnerung der Figuren existiert, ist die Heimatstadt der Elterngeneration Zakho im Irak. Sanaa denkt an Ereignisse am Fluss Chabur, auf dem Basar oder in ihrem Haus zurück und kennt diese Orte nur aus der Perspektive eines Kindes. Bilder, die ihr jedoch nicht aus dem Kopf gehen, sind die Flucht ihres Vaters vor seinen Brüdern über die Dächer der Nachbarschaft und die Frauen, die auf den Dächern die Betten für die Nacht vorbereiten. Diese Szenen stammen aus den Erzählungen ihrer Verwandten und verselbständigen sich in Sanaas Fantasie zu den Hauptcharakteristika ihrer Eltern: Nasser, ständig gehetzt und auf der Flucht, und Asija, nachts unter freiem Himmel, passiv und abwartend.

Das Bild eines unerfüllbaren Wunsches, der zwischen zwei Welten gefangen ist, war der Ausgangspunkt für eine Kurzgeschichte Tahas, aus der dann der Roman entstand: Sanaa alpträumt, „in einem Bett auf einem deutschen Spitzdach zu balancieren, das Bett schwankt hin und her, und sie droht, vom Dach zu fallen.“ (S. 244)

Mehrsprachigkeit

Obwohl Mehrsprachigkeit in Deutschland längst keine Ausnahme mehr bildet, ist bei literarischen Texten nach wie vor Einsprachigkeit der Normalfall. Da Phänomene wie Sprachmischung und Code-Switching hauptsächlich in mündlicher, informeller Kommunikation auftreten, sind sie in literarischen Texten wenn überhaupt in der Figurenrede zu finden (vgl. Dembeck 2017, 145f.). Dies ist auch der Fall in Tahas Roman. Die Autorin arbeitet überwiegend mit latenter Mehrsprachigkeit (vgl. Dembeck 2017, 167f.), was bedeutet, dass der gesamte Roman auf Deutsch geschrieben ist und den Leser*innen nur aus dem Kontext und durch einige wenige explizite Hinweise deutlich gemacht wird, dass die Gespräche in manchen Situationen auf Deutsch, in anderen Situationen auf Kurdisch stattfinden. Sanaa lebt seit ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland, hat Abitur gemacht und studiert. Helin ist in Deutschland geboren und ist gut in der Schule. Daraus lässt sich auf eine gute Sprachkompetenz in Deutsch der beiden Schwestern schließen. Über ihre Mutter sagt Sanaa zu Beginn des Romans, dass „Asijas Deutsch zum Einkaufen ausreicht, aber nicht für den Arzt“ (S. 21), was vermutlich auch für die anderen Figuren der Elterngeneration gilt. Umgekehrt wird nicht erwähnt, wie gut Sanaa und Helin kurdisch sprechen. Insgesamt handelt es sich um eine typische postmigratorische Sprachkonstellation, welche die Leser*innen im gesamten Roman mitdenken müssen und die nur an einigen wenigen Stellen explizit thematisiert wird. Ein Beispiel:

‘Du musst nicht jeden Tag bei Dunja sein.‘ [Sanaa]

‚Das hast du nicht zu entscheiden‘, sagt sie auf Deutsch. [Helin]

‚Ich habe das sehr wohl zu entscheiden. Solange Asija dir keine Grenzen setzt, muss ich das wohl tun.‘ […]

‚Was ist los?‘, fragt Asija irritiert.

Ich würde unsere Unterhaltung gerne für sie übersetzen, fürchte jedoch den Moment, wenn sie es Helin verbietet und Helin trotzdem geht. (S. 88)

Ein anderer Hinweis darauf, dass nicht alle Gespräche auch tatsächlich auf Deutsch stattfinden, sind Redensarten und Ausdrücke, die besonders Tante Khalida benutzt und die auf Deutsch nicht existieren bzw. nicht üblich sind. Hier handelt es sich also implizit um Übersetzungen der Autorin, die – wie alle Übersetzungen – nicht vollständig dieselben Konnotationen und Assoziationen transportieren können, welche in der Ausgangssprache enthalten sind. Doch möglicherweise geht es auch in diesem Punkt Sanaa ähnlich wie den Leser*innen, denn obwohl sie mit diesen Redensarten aufgewachsen ist, kennt sie sie doch nur von einem kleinen, familiären Personenkreis und kann deshalb nur einen Teil ihrer Bedeutung erfassen. Auffällig ist, dass Tante Khalidas Redensarten fast ausschließlich religiös geprägt sind: „Gott ist groß, und ich bin nichts anderes als eine Dienerin Gottes“ (S. 30), „Möge Allah deine Hände segnen“ (S. 134), „Genau so war es, bei Gott und den Propheten.“ (S. 156). Religion spielt ansonsten keine explizite Rolle in dem Roman, man erfährt nichts über Sanaas Religiosität oder ihre Meinung dazu. Somit wirken die Redewendungen wie übriggebliebene rhetorische Figuren aus dem Irak, die in Deutschland an Bedeutung verlieren und mit denen Tante Khalida dennoch versucht, ihre willkürliche Logik zu rechtfertigen.
An einigen wenigen, aber wichtigen Stellen werden die benutzten Sprachen explizit erwähnt, beispielsweise in Sanaas Kindheitserinnerung an die Verzauberung ihrer Haarsträhne: „Baqqe setzte sich auf die Couch, säuselte Suren vor sich hin, pustete in die Strähne, wisperte wieder ein Mischmasch aus Arabisch und Kurdisch, was ich nicht verstand, weder das Arabische noch das Kurdische“ (S. 60). Mit welcher Wirkungsabsicht Sanaa selbst ihre Sprachen einzusetzen weiß, zeigt sich in einem Gespräch mit ihrer Schwester: „‘Helin, noch ein Wort, und bei Gott, ich vergesse mich‘, sage ich auf Kurdisch, weil es bedrohlicher klingt.“ (S. 80)

Dass Sanaa zwar Kurdisch sprechen kann, jedoch nie die arabische Schrift gelernt hat, wird während der Suche nach der Videokassette von der Hochzeit ihrer Eltern deutlich. Um die Kassette zu finden, muss sie ihren Onkel bitten, die Namen ihrer Eltern in Arabisch auf einen Zettel zu schreiben (vgl. S. 125). Dies ist die einzige Stelle im Roman, an der arabische Schriftzeichen verwendet werden. Die mutmaßlich des Arabisch unkundigen deutschsprachigen Leser*innen befinden sich somit in der gleichen Situation wie Sanaa: sie können der mündlichen Kommunikation zwar problemlos folgen, doch die Schriftlichkeit bildet für sie eine neue Hürde, da sie die Verbindung zwischen Graphem und Phonem nicht kennen.
Neben den übersetzten Redensarten von Tante Khalida lässt die Autorin auch einige kurdische Wörter in die Gespräche und in Sanaas Gedanken einfließen, die durch Kursivdruck kenntlich gemacht werden. Dies sind zum einen Bezeichnungen für Gegenstände und Speisen, für die es keine deutsche Übersetzung gibt, wie zum Beispiel die die Gebetskette von Herrn Zakholy („tesbih“ (S. 66)) oder der Zettel, den Tante Khalida bei einem Mullah im Irak hat anfertigen lassen und auf dem steht, dass Helin und Kemal für immer zusammen bleiben werden („neveshti“ (S. 156)). Zum anderen handelt es sich um Ausdrücke, die von den Figuren oder von Sanaa selbst erklärt werden, zum Beispiel Baqqes Ausruf „Mashallah“ (S. 112), in dem sie Allah aus Dankbarkeit preist. Die Bedeutung des Wortes „azadî“, Freiheit, für das angeblich das auf Nassers Oberarm tätowierte „A“ steht, wird von Sanaa an mehreren Stellen des Romans hervorgehoben, sowohl in Gedanken als auch im Gespräch mit ihrer Schwester (vgl. S. 41, S. 99, S. 228). Auffällig sind darüber hinaus zwei Stellen, an denen Sanaa in ihren Gedanken deutsche Ausdrücke ohne äußeren Grund auf Kurdisch übersetzt: „‘Wie lecker du bist‘, sprach sie [Tante Khalida] zum Tabak. Candt xushi, xushike.“ (S. 108) und „Die Leute denken: alhamduillah, Tante Khalida kümmert sich um die Familie“ (S. 168).

Ein weiterer Bereich, in dem sich Kurdisch und Deutsch vermischen, sind die Namen und Anreden der Figuren. „Uda“ (S. 10) wird als Name für die Großmutter verwendet und die Mütter werden mit „Dayka“ (S. 28) angesprochen. Sanaa hat Frau Zakholy insgeheim den Spitznamen „Baqqe“ (S. 54) gegeben, der sich aus dem kurdischen Wort für Kröte ableitet. Mit den Namen von drei Figuren werden deutsche Wortspiele getrieben: „Sanaahäubchen“ (S. 27) wird Sanaa von ihrem Liebhaber Omer genannt, der Freund von Kemal Mahmut wird von allen nur „Mammut“ (S. 29) genannt, und Helin nennt Kemal „Kamel“ (S. 44), wenn sie verärgert ist.
Dass Sanaa in der deutschen Sprache zu Hause ist, wird auch durch weitere Wortspiele und Andeutungen deutlich, etwa wenn sie die den Spruch des Orthopäden „Wer rastet, der rostet“ (S. 21) mehrfach im Verlauf des Romans in verschiedenen Zusammenhängen wieder aufgreift. Das Zitieren von Kindersprüchen wie „Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir Nasser herbei.“ (S. 145) oder „Ich baue ein Schränkchen und verstaue darin“ (S. 189) in Anlehnung an das Spiel „Ich packe meinen Koffer“ zeugt außerdem davon, dass sie einen Teil ihrer Kindheit und die komplette Kindheit ihrer Schwester auf Deutsch erlebt hat.
Die Bedeutung, die eine gemeinsame Sprache für die kollektive Identität einer Gemeinschaft, hier für die aus dem Irak nach Deutschland migrierten Kurden, hat, wird durch die größtenteils implizite Thematisierung von Mehrsprachigkeit in diesem Roman nur unterschwellig deutlich. An entscheidenden Punkten der Handlung oder Sanaas Entwicklung lässt Taha das Thema jedoch deutlicher heraustreten, wodurch die einzelnen Sprachen einen Symbolgehalt erhalten und auch die Wahrnehmung der Leser*innen beeinflussen können.

 

Literatur

 

Zitierte Buchausgabe

Taha, Karosh: Beschreibung einer Krabbenwanderung. 2. Auflage. Köln: Dumont 2019.

Sekundärliteratur

Dembeck, Till: Mehrsprachigkeit in der Figurenrede. In: Dembeck, Till et. al. [Hrsg.]: Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. S. 167–192.

Dembeck, Till: Sprachwechsel / Sprachmischung. In: Dembeck, Till et. al. [Hrsg.]: Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. S. 125–166.

Schmitz-Emans, Monika: Beschreibung. In: Burdorf, Dieter et. al. [Hrsg.]: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Metzler 2007. S. 78.

Schneider, Mirjam: Reise. In: Butzer, Günter; Jacob, Joachim [Hrsg.]: Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2. erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2012. S. 343–345.