Von Wunden so tief und so weit wie der Ozean und Geschichten, über die man nicht spricht. 

warm/sauber/satt von Ruth-Maria Thomas

Ein Beitrag von Sophie Schönberger

Der Text warm/sauber/satt von Ruth-Maria Thomas erzählt aus der Perspektive einer Sozialarbeiterin in einer Inobhutnahmeeinrichtung von Erlebnissen in der Betreuung von Jugendlichen mit Fluchterfahrung.
Zunächst beginnt der Text jedoch mit einer Präambel, die im Gegensatz zum Großteil des Textes rechtsbündig angeordnet ist und von tiefen Wunden erzählt, die nicht zu heilen scheinen. Daran anschließend findet sich eine Art Glossar, das wichtige Begriffe aus der Flüchtlingspolitik und dem Sozialdienst erläutert, hier linksbündig.
Im Folgenden beschreibt Ruth-Maria Thomas unterschiedliche Situationen im Leben einer Sozialarbeiterin, dabei wechselt die Szenerie von Gerichtssaal zu Kneipe zu Inobhutnahmeeinrichtung und in diesem Kontext zwischen einigen Schauplätzen, die mit den Jugendlichen in der Inobhutnahmeeinrichtung zu tun haben. Durch die Erzählung ziehen sich wie rote Fäden die Einzelschicksale der Jugendlichen aus der Inobhutnahmeeinrichtung, in denen schöne Situationen ebenso lebendig erzählt werden wie Situationen, die geprägt sind von Verzweiflung und Angst. Zusätzlich dazu werden die erzählenden Passagen aufgebrochen durch dialogische und monologische Sequenzen, in denen Ruth, die Protagonistin, Gespräche mit anderen aus ihrem Umfeld führt, Sprachnachrichten verschickt und Anweisungen erhält.
Die Autorin erschafft hier mit ihrem Text eine umfassende Kritik am Umgang mit minderjährigen Geflüchteten, die sie stark an persönliche Erfahrungen der Protagonistin knüpft und die im Folgenden näher erläutert und interpretiert werden soll. warm/sauber/satt beginnt mit einer Beschreibung dessen, dass die Ich-Erzählerin generalisiert über Erfahrungen berichtet, indem sie schreibt: „ich sah wunden, so tief und so weit, wie der ozean, der schuld an ihnen war“ (S.160) und bezieht sich damit sowohl auf tatsächlich physische Wunden, die später im Text noch einmal aufgegriffen werden (vgl. S. 162f.), sowie auf die Fluchterfahrung der Jugendlichen, mit denen die Erzählerin arbeitet. Dies wird auch im späteren Verlauf noch einmal aufgegriffen, wenn beschrieben wird, wie A. seinen Bruder und sein Handy auf der Flucht über das Meer in einem Schlauchboot verloren hat (vgl. S. 167). Durch die Formulierung, dass der Ozean schuld an den Wunden sei, wird bereits in den einleitenden Worten des Textes ein Ton für die folgenden Passagen bestimmt, der sowohl die Ich-Erzählerin als auch die Jugendlichen als machtlose Statist*innen positioniert, besonders dann, wenn die Leser*innen des Textes durch den Begriff Ozean in die meist von politischen Kräften des rechtskonservativen Spektrums geführten Debatten um Flüchtlingswellen und Flüchtlingsströme hereingesogen werden, die bewusst auch in 2015 schon eine Wassermetaphorik benutzt haben, um Geflüchtete zu entmenschlichen und als alles überspülende Gefahr darzustellen. Die Verdinglichung von Menschen findet sich auch in der direkt anschließenden Textstelle wieder, wenn Begriffe rund um die Unterbringung minderjähriger Geflüchteter wie ein Glossar aufgelistet werden (vgl. S. 160) und schließlich auch in der Auflistung von Einrichtungsgegenständen (vgl. S.163), der eine Situationsbeschreibung einer Selbstverletzung eines Jugendlichen aus der Inobhutnahmeeinrichtung vorausgeht. Diese ist rechtsbündig gesetzt, wirkt beinahe lyrisch und erzählt von der Situation, in der sich L. einen sehr tiefen Schnitt zugefügt hat, um nicht in sein „sicheres Herkunftsland“ zurückgeschickt zu werden (S.163). In dieser Passage wiederholt sich „Blut ohne Ende“ fünf Mal, was verdeutlicht, wie traumatisch diese Situation sowohl für die Erzählerin als auch für den Jugendlichen sein muss. Dabei steht das Blut ohne Ende jedes Mal in einem anderen Kontext, zunächst in dem des Messers, mit dem er sich die Schnittverletzung zugefügt hat, dann in dem des zitternden Beins, eine direkte Folge des Schnitts, darauf im Kontext dessen, dass er keine Schule mehr besucht. Nach diesen drei Wiederholungen ändert sich jedoch der Gesamtkontext: Auf die konkrete Beschreibung der Verletzung folgt eine abstrakte Ebene, die sich auf langfristige Folgen für seine Zukunft bezieht. Ruth-Maria Thomas schreibt hier nämlich: „nichts mehr dafür ein / sicheres Herkunftsland und / Blut ohne Ende“ und nimmt dabei Bezug auf die Debatte um vermeintlich sichere Herkunftsländer, in die unbegleitete Minderjährige unmittelbar nach ihrer Volljährigkeit wieder abgeschoben werden sollen. Ein prominentes Beispiel hierfür sind Abschiebungen nach Afghanistan, ein Land, in dem nachweislich Krieg herrscht und Menschen sterben. In eben diesem Kontext beschreibt sie auf zynische Weise auch „und noch drei Tage / bis zu seinem 18. / Happy Birthday / und als Geschenk / ein sicheres / Herkunftsland und / Blut ohne Ende“. Mit diesen Zeilen wird eindeutig, dass die Erzählerin davon ausgeht, dass L. nach seiner Abschiebung in ein Kriegsgebiet sterben wird. Darauf folgt die oben schon einmal erwähnte Auflistung der Gegenstände im Zimmer, klinisch, neutral, „als hätte er dort / nie gewohnt“, sagt die Erzählerin und fasst somit schon recht früh im Text in Kombination mit dem Titel des Textes warm/sauber/satt die umfassende Kritik am systematischen Entmenschlichen und dem unmenschlichen Umgang mit minderjährigen Geflüchteten zusammen. Denn warm, sauber und satt ist der Erzählerin zu wenig. Sie will Jugendlichen helfen, sie unterstützen, menschlich zu ihnen sein, was in der Szene mit Salim im Baumarkt deutlich wird, wenn sie gemeinsam Blumen, Obst und Gemüse für die Verandabegrünung aussuchen und als Schlussatz steht: „glasige Augen, er oder ich“ (S. 164). Sie interessiert sich für die Geschichten der Jugendlichen, die sie erzählen, aber vor allen Dingen auch die Geschichte von Trauma, Angst und Verzweiflung:

 

„und dazu gehört die Geschichte, über die er nicht spricht, 

die mit seiner Mutter, und die,

wegen der er immer noch weint und wegen der er die Zimmertür

zuknallt und wegen der er

nicht zur Schule geht und die wir kennen aber über die wir nicht

mit ihm sprechen“ (S. 166f.).

 

Die Zeilensprünge in dieser Aufzählung beeinflussen den Lesefluss, sodass die Leser*innen bei jedem Zeilensprung kurz stocken, um dann hektisch weiterzulesen, als würde man bei ungenauem Lesen etwas verpassen, etwas übersehen. Dennoch sorgen diese Zeilensprünge aber auch dafür, dass sich die Informationen über die Geschichte verlängern, genauso, wie sich A.s Aufenthalt in der „INOBHUTnahmeeinrichtung“ verlängert, der zu dem Zeitpunkt bereits 3 Jahre dauert und eigentlich „für maximal 2 Wochen gedacht ist“ (S.166). Die Kollegin der Erzählerin entgegnet daraufhin jedoch: „Du weißt, dass das nicht Realität ist“ und scheint damit einen wunden Punkt bei der Erzählerin zu treffen, die nach einem kurzen Wortwechsel zu dem vernichtenden Schluss kommt: „Bin bald fertig mit der Scheiße hier“ (ebd.). Als Verdeutlichung des Bedürfnisses nach Menschlichkeit lässt sich außerdem der Monolog einer Kollegin von Ruth deuten, der beschreibt, wie der Umgang mit den Jugendlichen zu handhaben ist, nachdem die Kollegin gesehen hat, dass Ruth E. umarmt hat:

 

„also sagen, dass es schon wird, das kannst du ja, aber umarmen, das geht einfach nicht, auch wenn sie […] grad erfahren haben, dass ihre Mutter gestorben ist / oder ihr Bruder verschleppt wurde, / umarmen ist tabu.“ (S. 170)

 

Dabei steht das „umarmen ist tabu“ wieder rechtsbündig und hebt sich deutlich vom restlichen Text ab, um zu verdeutlichen, dass das etwas ist, das eigentlich nicht ins Bild einer Sozialarbeiterin passt. Durch die Wortwahl „tabu“ wird auch deutlich, dass umarmen nicht nur etwas ist, das nicht gemacht werden darf, sondern vor allen Dingen etwas symbolisiert, das im Umgang mit Geflüchteten tabu ist, nämlich sie als Menschen anzuerkennen, die Bedürfnisse außerhalb von warm, sauber und satt haben. Statt einer tatsächlichen Inobhutnahme wird für physische und emotionale Distanz gesorgt, die Geflüchteten absichtlich die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse vorenthält. 
Insgesamt zeichnet der Text von Ruth-Maria Thomas ein höchst emotionales, persönliches Bild von der Arbeit mit minderjährigen Geflüchteten in einem System, das dazu gemacht ist, Jugendlichen weder Chancen zu geben noch sie tatsächlich in Obhut zu nehmen. Sie beschreibt eine Systematik der Ausgrenzung und Entmenschlichung und schafft durch alltagssprachliche Ausdrücke, die Verwendung konventionell mündlicher Sprache und grafischer Beschreibungen von Situationen ein Verständnis für die Entscheidung der Ich-Erzählerin zu kündigen und nicht mehr Teil des Inobhutnahmesystems zu sein, das aus ihrer Perspektive eigentlich gar keines ist.

 

 

Literaturangabe: Ruth-Maria Thomas: warm/sauber/satt. In: 30. Open Mike. Wettbewerb für junge Literatur. Die 17 Finaltexte. München: Allitera Verlag 2022. S. 160-175.