Charakteristika des Werks

Tschick

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Tschick [ ↑ ]
Ein „[e]ndkomischer Roadroman, der „cool, witzig, irgendwie realer als die Realität“ und „manchmal zum Brüllen komisch“ ist. So beschreiben die Zeitungen Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick, der 2010 erschien und für den Herrndorf mit drei Preisen ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Clemens-Brentano-Preis 2011. In dem Roman geht es um zwei 14-jährige Jugendliche, die in den Sommerferien mit einem gestohlenen Lada eine Reise durch Ostdeutschland unternehmen.
Der autodiegetische Erzähler Maik Klingenberg ist 14 Jahre alt, geht in die achte Klasse eines Berliner Gymnasiums, ist in seine Mitschülerin Tatjana verliebt und hat keine Freunde. Seine familäre Situation ist „so eine Art asoziale Scheiße“ (Tschick, S. 236). Seine Mutter ist alkoholkrank und immer wieder in der Entzugsklinik, während sein Vater eine Fehlinvestition getätigt und eine Affäre mit seiner Sekretärin hat. Sowohl zuhause als auch in der Schule wird er kaum beachtet und gilt als langweilig. Tschick dagegen, eigentlich Andrej Tschichatschow, ist neu in der Klasse und erst vor vier Jahren von Russland nach Deutschland gezogen. Er trägt billige, ungepflegte Klamotten, scheint an den meisten Dingen nicht interessiert zu sein und kommt mitunter betrunken zur Schule. Maik kann Tschick von Anfang an nicht leiden und ist demnach auch nicht erfreut, als Tschick in den Sommerferien in einem gestohlenen Lada vor seiner Tür erscheint. Sie freunden sich dennoch an und beschließen in die Walachei zu fahren. Ohne Landkarte oder Handy, damit „nicht jeder Schwanzlutscher [sie] orten kann“ (Ebd., S. 102), machen sie sich orientierungslos auf den Weg. Während der Reise haben Maik und Tschick einige kuriose Begegnungen mit Personen, die ihnen in schwierigen Situationen mehr oder weniger helfen. Zum Beispiel Friedemann und seine Familie, die ihnen zwar ein Mittagsessen ausgeben, aber nicht den Weg zum Supermarkt erklären oder eine Sprachtherapeutin, die ihnen nach einem ihrer Unfälle hilft, dabei aber ausversehen Tschick den Fuß bricht oder Horst Fricke, der sie erst mit dem Gewehr bedroht und sie dann zu sich einlädt. Als sie bei einer Müllkippe nach einem Schlauch suchen, begegnen sie Isa Schmidt, einem gleichaltrigen, verwahrlosten Mädchen, das Maik und Tschick,zunächst nach wüsten Beschimpfungen weiterhilft und sich schließlich für ein paar Tage den beiden anschließt. Mit Isa kommt  es zu einem ersten sexuellen Annährungsversuch für Maik. Die Reise endet für Maik und Tschick mit einem großen Unfall auf der Autobahn mit einem LKW, bei dem sie von der Polizei aufgegriffen werden. Vier Wochen nach dem Unfall haben Maik und Tschick einen Gerichtstermin. Es kommt zu einem Konflikt zwischen Maik und seinem Vater, der verlangt, dass er alle Schuld auf Tschick schiebt, und der ihn schließlich verprügelt, als Maik sich weigert. Am Ende kehrt Maik in die Schule zurück, wo sich einiges für ihn verändert hat, so ist Tatjana auf ihn aufmerksam geworden, Isa hat sich bei ihm gemeldet und seine Eltern haben sich getrennt.

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Thematische Aspekte in Tschick [ ↑ ]

Reise
Die Thematik der Reise und des Unterwegs-Seins ist ein wiederkehrendes Element in Tschick und Bilder deiner großen Liebe. Die Reisen der Protagonisten verlaufen parallel und überkreuzen sich für ein paar Tage, als sie aufeinander treffen. In beiden Romanen gibt es eine Aneinanderreihung von Episoden, die bei Tschick mit einer „spannenden Story“ (Hoppe 2016, S. 152) verknüpft sind.
Während Maik und Tschick mit einem gestohlenen Lada losfahren, macht sich Isa alleine zu Fuß auf den Weg. „Die Reisenden […haben] kein konkretes Ziel vor Augen, sondern das Wandern selbst ist der Zweck der Reise“ (Bartsch 2016, S. 115). Zwar wird in Tschick das Erreichen eines Ziels, die Walachei, formuliert, jedoch wurde es „schon vor dem Aufbruch als unwichtig angesehen“ (Ebd., S. 116). Dafür spricht ebenfalls, dass sie weder eine Landkarte noch einen Kompass mitgenommen haben. Stattdessen entscheiden Maik und Tschick per Münzwurf, in welche Richtung es als nächstes gehen soll.
Es finden sich zudem weitere Parallelen in der Handlung. In beiden Texten begehen die Protagonisten Straftaten (vor allem Diebstahl), flüchten vor der Polizei (in Bilder deiner großen Liebe kommt zwar nicht die Polizei vor, jedoch flieht Isa beispielsweise vor dem Schiffskapitän, weil er sie der Hafenpolizei übergeben möchte). Zudem sind beiden Reisen insofern archaisch zu nennen, als dass die Figuren scheinbar aus der Zeit gefallen sind und nicht über digitale Medien kommunizieren oder sich ihren Weg erschließen. Maik und Tschick lassen ihre Handys sowie andere digitale Medien bewusst zuhause und haben im Auto nur einen alten Kassettenrekorder. Isa hat am Beginn ihrer Reise nur zwei Tabletten, ihr Tagebuch und einen Zettel dabei, dafür aber keine Schuhe. Beide Reisen sind außerdem von verschiedenen Begegnungen geprägt. In Tschick führen diese Begegnungen dazu, dass Maik sein „grundpessimistisches und misstrauisches Menschenbild“ (Wölke 2016, S. 63) revidiert: „Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. […] Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. […] Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, der nicht schlecht war“ (Tschick, S. 209).

Landschaft und Natur
In Tschick spielen Naturerlebnisse eine große Rolle. Sie werden präzise und ausführlich beschrieben und es kommt zu einer intensiveren Wahrnehmung von Natur. In Tschick löst die Betrachtung des Sternenhimmels bei Maik ein „tiefes Nachsinnen über die Verlorenheit des Menschen in einem gigantischen Universum [aus], dessen Sinn sich ihm nicht erschließt, während es doch zugleich sein Zuhause ist“ (Pütz 2016, S. 93).
Die Natur wirkt demnach meist beruhigend und friedlich auf Isa und Maik, was besonders darin auffällt, dass sich die Beschreibungen sprachlich sehr deutlich vom Jargon der Protagonisten abheben und teilweise ins Poetische gehen (vgl. Kramper 2016, S. 86). „Das Naturerlebnis reinigt [im Original fett] nicht nur ihre Sprache, sondern auch sie selbst von Frustration, Aggression und deprimierenden Gedanken [im Original fett]“ (Ebd., S. 87).

Tod und Vergänglichkeit
Ein wiederkehrendes Motiv ist die Beschäftigung der Protagonisten mit den Themen Tod und Vergänglichkeit. In Tschick löst der Anblick einer Gruppe von Rentnern bei Maik Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens aus. Es erschreckt ihn, dass alle Rentner mit ihren beigen Klamotten, die die „gleiche graue Haut und fette Nasen und Ohren“ (Tschick, S. 118) haben, identisch aussehen. Am meisten deprimiert ihn, „dass unter diesen Rentnerinnen auch welche sein mussten, die nicht langweilig oder öde gewesen waren in ihrer Jugend“ (Ebd.) und dass man sie jetzt nicht mehr unterscheiden könne. Die Rentner, die „wie bloße Bestandteile einer Masse wirken“, sind als Gegenbild zu der Suche von Maik „nach sich selbst und dem, was an ihm unverwechselbar ist“ (Wölke 2016, S. 45) zu verstehen. Die Thematik der Vergänglichkeit wird in dem späteren Gespräch mit Horst Fricke wieder aufgegriffen. Dieser kann nur noch in Erinnerungen schwelgen und betont die „Sinnlosigkeit des Lebens und die Mühen des Alterns“ (Ebd., S. 60), wobei er Maik und Tschick zum „Carpe Diem“ (Tschick, S. 185) rät.
Über den Tod denkt Maik auch nach, als er mit Tschick und Isa Schnitzereien von Namen und Daten an einer Hütte auf einem Berg findet. Die älteste Inschrift, die er findet, ist von „Anselm Wail 1903“, was ihn darüber nachdenken lässt, dass „wir in hundert Jahren alle tot wären“ und auch alles, was Anselm Wail in seinem Leben gebaut, geschaffen oder hinterlassen hatte tot sei und dass es „nie wieder jemanden interessieren“ (Ebd., S. 174) würde. Das Nachdenken über den Tod und das Schicksal eines Unbekannten verleitet Maik dazu, Tschick und Isa zu einem Packt zu überreden, dass sie sich in fünfzig Jahren wieder an dieser Stelle treffen sollen, mit der Hoffnung, dass sie dann noch lebten und „im Innern wahrscheinlich noch genau dieselben geblieben wären“ (Ebd., S. 176).

Sexualität
Ein weiterer zentraler Aspekt beider Romane ist die (erwachende) Sexualität der Protagonisten. Am Anfang des Romans Tschick ist Maik in seine Klassenkameradin Tatjana verliebt. Es handelt sich um eine Schwärmerei, die sich hauptsächlich auf ihr Äußeres bezieht, da er „Tatjana nämlich überhaupt nicht [kennt]“ (Tschick, S. 23). Er beobachtet von einem Kinderspielplatz aus ihr Haus und malt für sie ein Bild zum Geburtstag, jedoch traut er sich nicht sie anzusprechen. So kreisen sich seine Gedanken zwar immer wieder um Tatjana, diese allerdings beachtet ihn nicht. Erste Annäherungsversuche hat er dann mit Isa. Zunächst findet er sie abstoßend mit ihren versifften Klamotten, verfilzten Haaren und dem Körpergeruch, der von ihr ausgeht. Als sie jedoch anfängt zu singen, zeigt er erstes Interesse an ihr, denn „sie sang wahnsinnig schön“ (Ebd., S. 157). Als sie sich schließlich im See gewaschen und die Haare geschnitten hat, bemerkt er ihre tolle Figur. Isas direkte Fragen „Hast du schon mal gefickt?“ (Ebd., S. 171) und ob er mit ihr schlafen wolle, überfordern Maik, dem es zunächst genügt ihre Hand auf seinem Knie zu haben. Isa macht ihm danach das Angebot erst zu küssen, was jedoch nicht wahrgenommen werden kann, weil Tschick wiederkommt. Jedoch küsst ihn Isa zum Abschied auf den Mund, was der erste Kuss von Maik mit einem Mädchen ist. Dass Maik nach der Reise seine Schüchternheit ein wenig abgelegt hat, zeigt sich anhand der Schwesternschülerin Hanna. Generell findet Maik die Krankenschwestern „superjung und superfreundlich“ und „sie tragen diese dünnen weißen Kittel, die [er] so toll finde[t], wo man immer gleich sieht, was für Unterwäsche sie anhaben“ (Ebd., S. 15). Mit Hanna kann er dann flirten, wenn er ihr sagt, dass er sie „später wahrscheinlich einmal heiraten werde oder sowas“ (Ebd., S. 16). Jedoch könnte das auch daran liegen, dass es ihm leichter fällt mit Frauen wie Hanna zu reden, als mit Mädchen in seinem Alter, wie er betont.
Neben Maik spielt auch Tschicks Sexualität eine Rolle. Gegen Ende des Romans gesteht er Maik homosexuell zu sein. Auch wenn er zwischendurch Redewendungen wie „Du siehst aus wie’n Schwuler“ (Ebd., S. 82) verwendet, scheint er „seine Homosexualität völlig akzeptiert zu haben, zumindest wird an keiner Stelle des Romans eine innere Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Disposition beschrieben. Homosexualität wird auch nicht als problematisch thematisiert“ (Möbius 2015, S. 50f.).

Intertextualität und Intermedialität
In Herrndorfs Texten finden sich zahlreiche intertextuelle oder intermedielle Bezüge. So bildet das Motto in Tschick ein Zitat aus dem Film Welcome to the Dollhouse (1995). Ebenso gibt es mehrere Filmverweise im Text.
Sowohl in verschiedenen Rezensionen (wie z.B. der von Felicitas von Lovenberg in der FAZ: Tom Sawyer und Huck Finn kreuzen im geklauten Lada durch den wilden Osten: Wolfgang Herrndorf ist in seinem neuen Roman „Tschick“ ganz groß in Fahrt) oder in der Jurybegründung zum Deutschen Literaturpreis 2011 (Tom Sawyer alias Maik und Huckleberry Finn alias Tschick gehen auf große Fahrt.), immer wieder werden die Bezüge zu Mark Twain oder zu J.D. Salingers Der Fänger im Roggen (1951) hervorgehoben. Herrndorf selbst sagte dazu: „Ich musste eine Runde Bier ausgeben, als die erste Rezension ohne Salinger erschien. Aber es hat eine Weile gedauert“.
Die größte intertextuelle Verbindung besteht aber zwischen den beiden Romanen, Tschick und Bilder deiner großen Liebe, selbst. In Bilder deiner großen Liebe wird die Geschichte von Isa Schmidt, die man zuvor in Tschick kennengelernt hatte, erzählt. Die Reisen von den Protagonisten aus beiden Werken verlaufen parallel und überschneiden sich für wenige Tage, als Isa sich Maik und Tschick anschließt. Während sich die Begegnung der drei in Tschick über fünf Kapitel erstreckt, kommt sie in Bilder deiner großen Liebe in nur zwei Kapiteln vor. Diese umfassen das Kennenlernen auf der Müllkippe, das gemeinsame Baden und das Hinaufsteigen auf den Berg mit den Versprechen sich in fünfzig Jahren wiederzutreffen. Isas Darstellungen sind demnach um einiges knapper, während Maik die Situationen und Geschehnisse ausführlicher erzählt. „Isas abgeklärte Einschätzungen des Status quo stehen Maiks emotionsgeladenen Erinnerungen gegenüber und lassen Isa oft überlegen erscheinen“ (Hollerweger 2016, S. 181). So weiß sie, dass der Blonde, wie sie Maik nennt, sich in sie verliebt hat, auch wenn er das noch nicht weiß, und ihr ist sofort klar, was mit dem Russen (Tschick) ist (Vgl. Bilder, S. 121).
Die erste Begegnung der drei Protagonisten findet auf der Müllkippe statt. Interessant ist hierbei, dass sowohl Maik als auch Isa das Fotoalbum mit der lächelnden Familie und dem Hund unabhängig voneinander finden und es beide wieder wegwerfen: „In dem einen war eine Familie, lauter Aufnahmen von Vater, Mutter, Sohn und Hund, und auf jedem Bild strahlten sie alle, sogar der Hund. Ich blätterte das Album durch, aber am Ende warf ich es doch wieder weg, weil es mich deprimierte“ (Tschick, S. 149f/ Bilder, S. 118). Durch die beiden unterschiedlichen Erzähler werden in der parallelen Handlung Ereignisse verschieden wahrgenommen oder Leerstellen geschlossen. So denkt Isa, dass sie Maik und Tschick alles über ihre Herkunft und ihre Zeit in dem Heim und der „Klapse“ (Bilder, S. 122) auf der Autofahrt erzählt hat, während diese Unterhaltung in Tschick gar nicht erwähnt wird. Auch erfährt der Leser in Bilder deiner großen Liebe, was in der Holzkiste ist, die Isa mit sich trägt, während es in Tschick offen bleibt. Andersherum wird explizit Isas Schwester in Prag in Tschick erwähnt, während man in Bilder deiner großen Liebe die Verbindung der Prager Adresse und ihrer Schwester nur vermuten kann. Außerdem gibt es in Tschick noch den Brief von Isa an Maik, der über das offene Ende von Bilder deiner großen Liebe hinausgeht.

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Formale Aspekte in Tschick [ ↑ ]

Sprache
Die Sprache in Herrndorfs Roman Tschick orientiert sich an der mündlichen Alltagssprache mit Elementen der Umgangs- und Jugendsprache, in seltenen Fällen auch des Dialekts (vgl. Pütz 2016, S. 101). In Tschick werden außerdem viele Vulgarismen verwendet. Die Wörter aus der Vulgärsprache werden vor allem von Maik, Tschick und Isa benutzt, an einer Stelle in Tschick allerdings auch von Maiks Vater: „Ihr [Herv. im Original] habt überhaupt keine Scheiße gebaut, du Vollidiot! Dein asiger [sic!] Russenfreund hat Scheiße gebaut!“ (Tschick, S. 228) Der Verzicht einer ausgefeilten Literatursprache verstärkt den Effekt für die LeserInnen mitten im Geschehen zu sein (vgl. Pütz 2016, S. 101) und lässt die Figuren authentisch wirken (vgl. Wölke 2016, S. 85). Wolfgang Herrndorf selbst sagte in einem Interview, dass er bewusst auf das Verwenden von jugendsprachlichen Slang verzichtet habe: „Ich habe meinem Erzähler einfach zwei Wörter gegeben, die er endlos wiederholt, und den Rest über die Syntax geregelt. Wenn man erst anfängt, mit Slang um sich zu schmeißen, wird man doch schon im nächsten Jahr ausgelacht.

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Bilder deiner großen Liebe

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze in Bilder deiner großen Liebe [ ↑ ]
„Verrückt sein heißt ja nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert“ (Bilder, S. 7). Damit beginnt für das aus Tschick bekannte Mädchen Isa das „Roadmovie zu Fuß“. Obwohl Herrndorf in seinem Testament deutlich betonte: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen“ (Gärtner/Passig 2014, S. 136), stimmte er dennoch der Veröffentlichung von Bilder deiner großen Liebe zu. Zunächst sollte jemand anderes den Roman zu Ende schreiben. „Eine Rolle als Koautor konnte und wollte sich [jedoch] niemand vorstellen“ (Ebd., S. 137). So wurde das Manuskript nach Herrndorfs Tod von den Herausgebern Marcus Gärtner und Kathrin Passig redigiert und überarbeitet, wobei jedoch Unstimmigkeiten bewusst nicht beseitigt wurden, um die Autorintention nicht zu untergraben (vgl. Hoppe 2016, S. 150f.).
Am Anfang des Romans bricht Isa zunächst aus einer Psychiatrie aus, ohne Schuhe und nur mit zwei Tabletten, einem Tagebuch und einem Zettel in der Tasche. Sie fährt per Anhalter bei einer Atomgegnerin mit, die ihr jedoch, während sie schläft, zwischen die Beine fasst, sodass Isa flüchtet. Sie raubt daraufhin ein Geschäft aus, wo bei sie sich die Füße verletzt. Auf ihrem weiteren ziellosen Weg erfährt man mehr über Isa. Sie möchte wie ihre Cousine beim Fernsehen arbeiten, und seit ihr Vater mal mit ihr in einem Zelt im Garten übernachtet hat, schläft sie im Freien. Zwischendurch schreibt sie immer wieder in ihr Tagebuch. Als sie an einer Bushaltestelle vorbeikommt, glaubt sie ihren Vater zu sehen, der für sie ein Ticket hat, das sie aber zerreißt, sodass er ohne sie wegfährt. Als Isa ihre Tage bekommt, wäscht sie sich an einem Rasensprenger, wo sie von einer trainierenden Fußballmannschaft beobachtet und ausgelacht wird. Danach schreibt sie in ihr Tagebuch, dass sie immer ein Junge sein wollte und denkt über ihr erstes Mal nach, vor dem sie sich selbst das Häutchen mit einer Nagelschere entfernt habe. Auf einem Kanal entdeckt sie ein Schiff, auf das sie während der Fahrt aufspringt. Der Schiffer versorgt ihre Füße, bekocht sie und erzählt von sich. Als er Isa an der Schleuse der Hafenpolizei übergeben möchte, flüchtet sie, wobei sie eine Selbstmordnachricht findet, die sie jedoch ignoriert. Im weiteren Verlauf trifft Isa auf mehrere Personen, mit denen sie verschiedene Unterhaltungen führt. Einem taubstummen Jungen erzählt sie die Geschichte des Hunds Rudi, der, nachdem er ausgesetzt wurde, zurück nach Hause gefunden hat, von einem Fremden bekommt sie ein Schinkenbrot und erzählt ihm, dass sie eine Außerirdische sei. Ein Bauarbeiter, der ihr über seine erste Lieber erzählt, gibt ihr Wasser. Mit einem Jugendlichen vor einem Supermarkt raucht sie eine Zigarette. Schließlich kommt sie an einem Garten vorbei und mäht für einen Mann den Rasen. Er nimmt sie mit ins Haus, da es regnet, um ihr trockene Sachen aus dem Kinderzimmer seiner wahrscheinlich verstorbenen Tochter zu geben. Isa verschwindet jedoch aus dem Fenster. Im Wald findet sie die Leiche eines Jägers und nimmt ihm die Waffe weg. Sie fährt schließlich mit einem LKW-Fahrer mit. Als dieser Pause macht, tränkt Isa die Schweine, die im Laster sind. Der LKW-Fahrer beobachtet sie dabei und befriedigt sich selbst, bevor er ohne sie weiterfährt. Auf der Müllkippe findet Isa schließlich eine Schatulle für ihr Tagebuch und trifft auf Maik und Tschick (hier als Blonder und Russe bezeichnet), denen sie sich für ein paar Tage anschließt. In einem Traum oder einer Erinnerung steht Isa vor der Haustür ihrer Halbschwester, die sie verscheucht. Im Gras denkt sie darüber nach, wie sie sich umbringen würde. Auf einem Berg gibt sie einen Schuss mit der Waffe in den Himmel ab. Die Kugel fliegt senkrecht nach oben und schließlich „millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe“ (Bilder, S. 129).

Thematische Aspekte in Bilder deiner großen Liebe [ ↑ ]

Reise
Die Thematik der Reise und des Unterwegs-Seins ist ein wiederkehrendes Element in Tschick und Bilder deiner großen Liebe. Die Reisen der Protagonisten verlaufen parallel und überkreuzen sich für ein paar Tage, als sie aufeinander treffen. In beiden Romanen gibt es eine Aneinanderreihung von Episoden. Dies ist bei Bilder deiner großen Liebe nicht der Fall, wie es auch Herrndorf in seinem Blog andeutete: „Und praktisch: Kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen, irgendwo aufhören“. Dies zeigt sich auch darin, dass nach Ende der Reise in Tschick ein Entwicklungsprozess bei Maik festgestellt werden kann. Dies findet bei Isa nicht statt, da es sich jedoch um einen unvollendeten Roman handelt, somit das Ende der Reise nicht erzählt wird, und Unstimmigkeiten vorhanden sind, die von den Herausgebern belassen wurden (Vgl. Gärtner/Passig 2014, S. 137), ist nicht mit Sicherheit zu sagen, wie sich die Handlung weiterentwickelt hätte. Zudem hat es die Form der titelgebenden Bilder; es handelt sich also mehr um Impressionen als um Geschichten, die Herrndorf entwirft, was durchaus der Haltlosigkeit der Hauptfigur Isa entspricht.
Während Maik und Tschick mit einem gestohlenen Lada losfahren, macht sich Isa alleine zu Fuß auf den Weg. „Die Reisenden […haben] kein konkretes Ziel vor Augen, sondern das Wandern selbst ist der Zweck der Reise“ (Bartsch 2016, S. 115). Zwar wird in Tschick das Erreichen eines Ziels, die Walachei, formuliert, jedoch wurde es „schon vor dem Aufbruch als unwichtig angesehen“ (Ebd., S. 116). Dafür spricht ebenfalls, dass sie weder eine Landkarte noch einen Kompass mitgenommen haben. Stattdessen entscheiden Maik und Tschick per Münzwurf, in welche Richtung es als nächstes gehen soll. Isa, die hingegen gar kein Ziel formuliert hat, benutzt ihr „Tagebuch wie einen Kompass“ (Bilder, S. 18), um sich für eine Richtung zu entscheiden.
Es finden sich zudem weitere Parallelen in der Handlung. In beiden Texten begehen die Protagonisten Straftaten (vor allem Diebstahl), flüchten vor der Polizei (in Bilder deiner großen Liebe kommt zwar nicht die Polizei vor, jedoch flieht Isa beispielsweise vor dem Schiffskapitän, weil er sie der Hafenpolizei übergeben möchte). Zudem sind beiden Reisen insofern archaisch zu nennen, als dass die Figuren scheinbar aus der Zeit gefallen sind und nicht über digitale Medien kommunizieren oder sich ihren Weg erschließen. Maik und Tschick lassen ihre Handys sowie andere digitale Medien bewusst zuhause und haben im Auto nur einen alten Kassettenrekorder. Isa hat am Beginn ihrer Reise nur zwei Tabletten, ihr Tagebuch und einen Zettel dabei, dafür aber keine Schuhe. Beide Reisen sind außerdem von verschiedenen Begegnungen geprägt.

Landschaft und Natur
In Bilder deiner großen Liebe spielen Naturerlebnisse eine große Rolle. Sie werden präzise und ausführlich beschrieben und es kommt zu einer intensiveren Wahrnehmung von Natur. Isa sucht in der Natur „Sicherheit, Schutz und Geborgenheit“ (Hollerweger 2016, S. 169). Dabei handelt es sich um die Dinge, die sie im Umgang mit den Menschen nicht erfährt. Ständige Begleiter sind für sie die Sterne, die sie sogar beim Namen kennt: „Ich halte inne und sehe in einer Pfütze die Sterne sich spiegeln. Sie tanzen und zittern und kommen zur Ruhe. Regulus steht im Westen, später steht Arktur im Westen, dann Gemma, M13 und Wega“ (Bilder, S. 11).
Die Natur wirkt demnach meist beruhigend und friedlich auf Isa und Maik, was besonders darin auffällt, dass sich die Beschreibungen sprachlich sehr deutlich vom Jargon der Protagonisten abheben und teilweise ins Poetische gehen (vgl. Kramper 2016, S. 86). „Das Naturerlebnis reinigt [im Original fett] nicht nur ihre Sprache, sondern auch sie selbst von Frustration, Aggression und deprimierenden Gedanken [im Original fett]“ (Ebd., S. 87).

Tod und Vergänglichkeit
In Bilder deiner großen Liebe sind vor allem der Tod und das Sterben durchgängige Themen, die Isa intensiv beschäftigen. Als sie auf einem Friedhof entlanggeht und sich die Grabsteine anschaut, fällt ihr besonders einer mit der Inschrift „Daniel Franz, 1918-1943?“ (Bilder, S. 19) ins Auge. Sie überlegt, was gewesen wäre, wenn Daniel Franz nicht mit 25 Jahren im Krieg gestorben wäre, sondern überlebt und noch fünf Minuten zu leben hätte. „Was macht es für einen Unterschied, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden? Keinen“ (Ebd., S. 20). Als sie wenig später eine Selbstmordnachricht findet mit der Bitte die Polizei zu verständigen, schaut sie sich kurz um, ignoriert sie dann jedoch einfach, weil sie keine Leiche sieht und nicht weiß, wie sie die Polizei rufen soll. Später in einem Wald entdeckt sie dann die Leichen von einem Reh und einem Jäger. Sie dreht die Leiche des Jägers um und schaut in seinen Taschen nach. Als sie eine Pistole findet, steckt sie diese ein. Sie betrachtet das tote Reh und den Mann. Der Tod beschäftigt Isa zwar immer, erschüttert sie aber nicht zu. So macht ihr der Anblick der Leiche, die mit dem Blut des Rehes beschmiert ist und Maden im Bart hat, nichts aus. Sie kommentiert stattdessen recht emotionslos: „Vielleicht hat ihn der Schlag getroffen“ (Ebd., S. 100). Dass sie selbst schon häufiger an Selbstmord gedacht hat, zeigt sich, als sie beschreibt, wie ihr Selbstmord aussehen würde: „Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde. Ich würde Tabletten schlucken und mich dann auf den Rand eines Hochhauses setzen, damit ich runterfalle, wenn ich müde bin. Das wollte ich schon mit fünf. Ich meine, ich wusste, dass ich so sterben will: fallen“ (Bilder, S. 126f.).
Da Wolfgang Herrndorf in seinem Tagebuchblog den Tod thematisiert („Ich will tot sein, jede Stunde, nur noch tot sein.“) und über Selbstmord nachdenkt („Ich [habe] mir für diesen Fall von Anfang an ein bestimmtes Vorgehen überlegt […]: Selbstmord, solange ich noch einen Rest von Kontrolle habe über das Gemüse, das einmal meinen Namen trug. Ich sehe die Walther PPK in meiner Hand, ich sehe sie in meinem Mund.“), kann man hier auch autobiographische Verknüpfungen unternehmen, zumal Herrndorf sich vor Fertigstellung von Bilder deiner großen Liebe mit einer Pistole erschossen hat.

Sexualität
In Bilder deiner großen Liebe geht es nicht um eine erwachende Sexualität wie bei Maik, sondern um eine Auseinandersetzung von Isa mit dem eigenen Körper und ihrer Weiblichkeit. Isa distanziert sich von ihrem Geschlecht, indem sie sagt, dass sie nicht so sei wie andere Mädchen und dass sie immer ein Junge sein wollte. „Als Mädchen ist man wie behindert, man hat auf einmal einen Körper“ (Bilder, S. 29). Ihre Abneigung gegenüber ihrem eigenen Körper und ihr Wunsch nach Kontrolle zeigen sich auch darin, dass sie sich vor ihrem ersten Geschlechtsverkehr das Jungfernhäutchen selbst mit einer Nagelschere entfernt hat. Bestärkt wird diese Problematik durch die übergriffigen Komplimente und sexuellen Annährungsversuche von den Männern, denen sie auf ihrer Reise begegnet. So wird ihr beim Trampen zwischen die Beine gefasst, eine Fußballmannschaft wirft ihr allerlei Sprüche und Kommentare zu, als sie sie beim Waschen entdecken, und ein LKW-Fahrer befriedigt sich selbst, als sie die Schweine im Lastwagen tränkt. Der Schiffskapitän ist der einzige, der sie fürsorglich behandelt, ihre verletzten Füße versorgt und ihr Essen kocht. Nicht immer erkennt Isa die Absichten der Männer, denen sie begegnet, (vgl. Hollerweger 2016, S. 170). Sie selbst nimmt den provokativen Angriffston auf, der ihr entgegenschlägt, wenn sie ausruft: ist „Aber du würdest mich jetzt auch gern zwischen die Beine ficken?“ (Bilder, S. 116).

Intertextualität und Intermedialität
Bilder deiner großen Liebe ist intertextuell angelegt, wie zum Beispiel durch die Autofahrerin, die Isa einen Vortrag unter anderem zu Jakob von Gunten und Ehen in Philippsburg (für Isa „Ehen in Harrisburg“, Bilder, S. 10) hält.
Die größte intertextuelle Verbindung besteht aber zwischen den beiden Romanen, Tschick und Bilder deiner großen Liebe, selbst. In Bilder deiner großen Liebe wird die Geschichte von Isa Schmidt, die man zuvor in Tschick kennengelernt hatte, erzählt. Die Reisen von den Protagonisten aus beiden Werken verlaufen parallel und überschneiden sich für wenige Tage, als Isa sich Maik und Tschick anschließt. Während sich die Begegnung der drei in Tschick über fünf Kapitel erstreckt, kommt sie in Bilder deiner großen Liebe in nur zwei Kapiteln vor. Diese umfassen das Kennenlernen auf der Müllkippe, das gemeinsame Baden und das Hinaufsteigen auf den Berg mit den Versprechen sich in fünfzig Jahren wiederzutreffen. Isas Darstellungen sind demnach um einiges knapper, während Maik die Situationen und Geschehnisse ausführlicher erzählt. „Isas abgeklärte Einschätzungen des Status quo stehen Maiks emotionsgeladenen Erinnerungen gegenüber und lassen Isa oft überlegen erscheinen“ (Hollerweger 2016, S. 181). So weiß sie, dass der Blonde, wie sie Maik nennt, sich in sie verliebt hat, auch wenn er das noch nicht weiß, und ihr ist sofort klar, was mit dem Russen (Tschick) ist (Vgl. Bilder, S. 121).
Die erste Begegnung der drei Protagonisten findet auf der Müllkippe statt. Interessant ist hierbei, dass sowohl Maik als auch Isa das Fotoalbum mit der lächelnden Familie und dem Hund unabhängig voneinander finden und es beide wieder wegwerfen: „In dem einen war eine Familie, lauter Aufnahmen von Vater, Mutter, Sohn und Hund, und auf jedem Bild strahlten sie alle, sogar der Hund. Ich blätterte das Album durch, aber am Ende warf ich es doch wieder weg, weil es mich deprimierte“ (Tschick, S. 149f/ Bilder, S. 118). Durch die beiden unterschiedlichen Erzähler werden in der parallelen Handlung Ereignisse verschieden wahrgenommen oder Leerstellen geschlossen. So denkt Isa, dass sie Maik und Tschick alles über ihre Herkunft und ihre Zeit in dem Heim und der „Klapse“ (Bilder, S. 122) auf der Autofahrt erzählt hat, während diese Unterhaltung in Tschick gar nicht erwähnt wird. Auch erfährt der Leser in Bilder deiner großen Liebe, was in der Holzkiste ist, die Isa mit sich trägt, während es in Tschick offen bleibt. Andersherum wird explizit Isas Schwester in Prag in Tschick erwähnt, während man in Bilder deiner großen Liebe die Verbindung der Prager Adresse und ihrer Schwester nur vermuten kann. Außerdem gibt es in Tschick noch den Brief von Isa an Maik, der über das offene Ende von Bilder deiner großen Liebe hinausgeht.

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Formale Aspekte in Bilder deiner großen Liebe [ ↑ ]

Sprache
Die Sprache in Herrndorfs Roman Bilder deiner großen Liebe orientiert sich an der mündlichen Alltagssprache mit Elementen der Umgangs- und Jugendsprache, in seltenen Fällen auch des Dialekts (vgl. Pütz 2016, S. 101). In Bilder deiner großen Liebe werden außerdem viele Vulgarismen verwendet.

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