Sarah Kuttner
Charakteristika des Werks
Mängelexemplar
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Mängelexemplar [ ↑ ]
Kuttners Debütroman Mängelexemplar (2009) handelt von der siebenundzwanzig Jahre alten Karo Herrmann. Die Protagonistin in Kuttners Roman ist auf der Überholspur unterwegs. Nach ihrer Ausbildung zur Event-Managerin ist sie von der Agentur übernommen worden und organisiert als Eventberaterin PR-Veranstaltungen. Sie hat einen Freund, der wie sie ein Jetset-Leben in der Großstadt Berlin führt: „Ich bin ungeduldig. Sachen müssen schnell und ohne Wartezeit geschehen. Alles muss zackzack gehen. Ich kaufe Kleidung, ohne sie anzuprobieren, […] ich habe keine Zeit für Umkleidekabinen. […] Buffet ist meine liebste Art, auswärts zu essen, denn das Essen ist sofort verfügbar“ (S. 20). Dabei wirkt sie sehr gestresst und unausgeglichen: „Ich bin anstrengend. Ich werde sehr schnell wütend, traurig, überdreht und laut […] Kleinigkeiten machen mich irre, wegen einer Mücke werde ich zum Elefanten“ (S. 13f.).
Dann verliert sie ihren Job, zu ihrer persönlichen Unausgeglichenheit kommt die finanzielle Sorge hinzu und ihre Oma überweist ihr für die Miete heimlich Geld. Karo fällt in ein tiefes Loch, bekommt Herzrasen, Schweißausbrüche und Panikattacken. Zunächst tarnt sie ihre empfindliche Psyche und die Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe mit ständigem Quasseln und zynischen Witzen. Sie fängt an in einer Kneipe zu Kellnern, aber das Geld reicht für ein finanziell sorgenfreies Leben nicht aus. Auch ihr zwei Jahre älterer Lebensgefährte Philipp verdient nicht genug, denn er studiert noch Mediengestaltung. Karo fängt an, an ihrem Leben und an der Beziehung zu Philipp zu zweifeln: „Natürlich haben wir auch gute Zeiten, oder spielen uns gute Zeiten vor, aber eigentlich stolpern wir seit zwei Jahren nebeneinander her“ (S. 41). Der Kontrollverlust über ihr Leben, die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit veranlassen Karo zu einer Therapie bei der Psychologin Anette Görlich. Karo kommt zu dem Schluss die Beziehung zu ihrem Freund zu beenden. Sie glaubt nur aus Angst vor dem Alleinsein noch mit Philipp zusammen zu sein. Die Panikattacken nehmen zu und Karo zieht sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Sie hat kaum noch Freunde, bis auf Nelson, mit dem sie ihre Ausbildung zusammen begonnen hat. Sie wollte immer selbstständig sein, niemandem zu Last fallen, doch dabei bemerkt sie nicht, wie unglücklich sie das macht. „Weshalb denn Hilfe beanspruchen, wenn man es auch allein schaffen kann?“ (S. 64). Innerlich leidet sie unter dem Alleinsein und will ihre „Liebes-Flatrate“ mit Philipp zurück (S. 113). In ihrer Verzweiflung bringen sie eine herumliegende Schere und eine offene Balkontüre auf Suizidgedanken. Karo fühlt sich zunehmend leer und wird zunehmend empfindungslos, was sich für sie aber als angenehm anfühlt. Sie zieht bei ihrer Mutter ein und geht fortan zu der Psychiaterin Dr. Kleve, die ihr ein angstlösendes Antidepressivum verschreibt. In der ersten Nacht, in der Karo alleine schläft, bekommt sie eine Panikattacke. Einige Zeit vergeht, Karo scheint es besser zu gehen, sie geht wieder aus und beginnt eine kurze Affäre mit David, die allerdings nicht lange hält. Über einen längeren Zeitraum hat sie keine Angstanfälle mehr und eine Event-Management-Agentur bietet ihr sogar eine neue Zusammenarbeit auf Projektbasis an. Sie lernt bei der Arbeit einen neuen Mann kennen, ihren Kollegen Max. Karo will sich eigentlich nicht aus Sehnsucht nach einem Lebensgefährten in ihn verlieben. Sie will ihm gefallen und ein „Hauptgewinn“ für Max sein. Im Gespräch mit ihrem Freund wird Karo klar: "Du bist kein Hauptgewinn. Du bist ein Mängelexemplar. Ein zauberhaftes und liebenswertes Mängelexemplar" (S. 213). Die Beziehung beginnt harmonisch und unkompliziert, was Karo allerdings überfordert. Als sie ihr Antidepressivum absetzt, bekommt sie Stimmungsschwankungen. Sie beginnt Max zu kritisieren, wirft ihm vor, unpünktlich und konfliktscheu zu sein. Die Panikattacken häufen sich. Da ihre Therapeutin in Mutterschutz ist, geht Karo zu ihrer Vertretung. Zum ersten Mal versucht nun ein Therapeut mit ihr einen Grund für ihre Panikattacken zu finden. Sie spürt seit langer Zeit wieder ein Gefühl in sich: Wut. Auch mit Max macht sie Fortschritte und bittet ihn um einen „Exklusivvertrag“, eine ernsthafte Beziehung. Damit legt sie ihre aufgebaute Mauer um sich herum ab.
Thematische Aspekte zu Mängelexemplar [ ↑ ]
Quarterlife Crisis: Depressionen, Kontrollverluste und Orientierungslosigkeit
Wenn 20- bis 30-Jährige eine Phase durchlaufen, in der sie ihr Leben neu ausrichten wollen, bei der Kontrollverluste, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit den Alltag beherrschen, spricht die Populärpsychologie von einer Quarterlife Crisis. Depressionen und Kontrollverluste sind bei allen Protagonistinnen in Kuttners Werken vorhanden. Die Frauen sind stets unzufrieden mit ihrem Leben, stecken in disharmonischen Liebesbeziehungen, arbeiten in nicht zufriedenstellenden Berufen und führen soziale Beziehungen, die sie enttäuschen.
In Mängelexemplar gehen die negativen Gefühle bis hin zu einer Depression und einer therapeutischen Behandlung. In Wachstumsschmerz beschreibt Kuttner diese Krise wie folgt: „Die Rede ist von einer Sinnkrise, nachdem man das erste Viertel seines Lebens hinter sich gebracht hat“ (Wachstumsschmerz, S. 162). Die Gründe für diese Krise können unterschiedlich sein. In Mängelexemplar gerät die Protagonistin Karo emotional in ein tiefes Loch, nachdem sie ihren Job und ihren Freund verloren hat. Sie erlebt Panikattacken, kann nachts nicht schlafen und zieht sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Sarah Kuttner beschreibt ganz detailliert die Gefühle während einer Depression und den Angstzuständen; so behaupten die Texte nicht einfach die psychische Verfasstheit der Figuren, sondern führen sie unmittelbar vor. In Mängelexemplar etwa wird eine Panikattacke von Karo ausbuchstabiert: „Ich wache mit einem Brennen in der Brust auf. Ich bin schlagartig wach und so aufgeregt, dass ich glaube, platzen zu müssen. Mein Herz rast wie das eines kleinen Vögelchens. Ich stehe im Bett und versuche, die Situation zu erfassen, mich irgendwie zu beruhigen“, (Mängelexemplar, S. 100).
Weibliche Protagonistinnen
Sarah Kuttner setzt in ihren Romanen Frauen um die 30 Jahre ins Zentrum der Textwelten und erzählt ganz aus der subjektiven Sicht junger emanzipierter Frauen heraus. Sie sind selbstironisch und kritisch mit sich, was das folgende Beispiel aus Mängelexemplar zeigt: „Mir persönlich ist beispielsweise ein Bein, das aus Gründen einer messerscharf diagnostizierten Krankheit amputiert werden muss, deutlich lieber als Angstanfälle, die keiner versteht und die deshalb nicht abgeschnitten […] werden können. Aber genau das ist wohl der Punkt. Ich habe zwar noch beide Beine, stecke aber in einer neuen Angstspirale“ (Mängelexemplar, S. 9). Diese Frauen sind in einer Phase ihres Leben, in der sie sich selbst finden wollen, stets aus unterschiedlichen Beweggründen heraus. Die Protagonistinnen sind allesamt Antiheldinnen. In Mängelexemplar ist es Karo mit ihrer emotionale Schwäche und ihrem selbstkritischen Umgang mit ihrer Depression: „Ich bin anstrengend, Ich werde sehr schnell wütend, traurig, überdreht und laut“ (Mängelexemplar, S. 13).
Formale Aspekte zu Mängelexemplar [ ↑ ]
Sprache und Stil
Sarah Kuttners Sprache ist das, was ihre Bücher ausmacht. Sie schreibt umgangssprachig, flapsig, bildreich und füllt ihre Texte mit zeitgenössischen Anglizismen und Berliner Jargon. Dabei findet sie ausgefallene Bilder wie: „Fanclubleiter des kategorischen Imperativs“ (Mängelexemplar, S. 43).
Im Roman Mängelexemplar ist vor allem die große Anzahl an Anglizismen, die sich durch alle ihre Romane ziehen, auffällig. Sie sind ein bewusst gewählter Szenejargon und geben den Romanen ihre zeitgenössische Verbundenheit. So wird etwa der Umstand, dass eine Depression beginnt, folgendermaßen beschrieben: „Das böse Tier hat sein Go, es ist Stage Time, die Verband ist endlich weg, der Main Act darf zeigen, was er kann“ (Mängelexemplar, S. 32). Anglizismen sind Nomen, die sich im deutschen Sprachgebrauch etabliert haben, wie zum Beispiel Skateboard. Dabei kreiert Kuttner viele neue Anglizismen, wie zum Beispiel eine „lose-lose-Situation“ (180° Meer, S. 142), angelehnt an den Anglizismus win-win-Situation. In diesem Fall eine Situation, bei der zwei beteiligte Parteien verlieren. Von der Wortstruktur angelehnt an den Anglizismus gedownloaded, beschreibt Kuttner in Mängelexemplar ein Abendbrotessen mit dem Wort geabendbrotet (Mängelexemplar, S. 80). Sarah Kuttners Verwendung der englischen Sprache geht darüber sogar noch weiter hinaus. Sie benutzt englische Worte, die bisher nicht ins Deutsche übernommen wurden und mixt zwei Sprachen ineinander: „You can get it if you really want. Ich wante vermutlich nicht really genug. Auf der einen Seite wante ich zumindest genug, um ordentlich unzufrieden zu sein, es nicht zu getten“ (Mängelexemplar, S. 54).
Als ein weiteres sprachliches Werkzeug fällt die durchgehende Ironie auf. Sie erzeugt Schnelligkeit und die Protagonistinnen wirken dadurch jugendlich. Ihre Sprache ist als Szenejargon zu charakterisieren, der überdies „aufgekratzt“ ist. Äußerungen der Protagonistin Karo in Mängelexemplar, wie „Und schwupps, fängt er an, mir zu fehlen. Der doofe Philipp. Scheiße!“ (Mängelexemplar, S. 53) bestätigen dies.
Pressespiegel zu Mängelexemplar [ ↑ ]
Sarah Kuttners Debütroman Mängelexemplar (2009) wird in der Presse vielfach besprochen. Das könnte daran liegen, dass Kuttner mit der im Roman besprochenen Thematik von Depressionen und Panikattacken eine Diskussion um psychische Krankheiten eröffnet. Depressionen sind zu dieser Zeit gesellschaftlich kein Tabuthema mehr, allerdings schafft es Kuttner durch ihren Roman die Krankheit nicht mehr Abstrakt erscheinen zu lassen. Gleichzeitig bestürzt die Krankheit Depression die Gesellschaft im Jahr 2009 etwa durch den Suizid des Profi-Fußballers Robert Enke, der an dieser Krankheit litt. Kathrin Buchner (Stern Online, 11.03.2009) bezeichnet diese Thematik von psychischen Krankheiten als wiederkehrendes Problem der Generation der über 30-Jährigen, besonders der der emanzipierten Frauen, die sich gleichzeitig stark nach Zuneigung sehnen, sich aber selbst finden müssen. Bei der Suche einer 30-Jährigen nach dem eigenen Ich, wird Kuttner in fast allen Rezensionen mit der Autorin Charlotte Roche verglichen, zwei Autorinnen mit ähnlichen beruflichen Lebensläufen. Sie beginnen ihre TV-Karriere als Moderatorinnen bei dem Musiksender VIVA. Beide veröffentlichen ihre ersten Romane in einem Zeitraum von einem Jahr. Thematisch behandeln sie ähnliche Aspekte: Selbstzweifel, Depression und gesellschaftliches Versagen durch genderspezifische Erwartungen. Überwiegend Beachtung findet Kuttner in der Presse durch ihre einfache Sprache, die die Depressionen und panischen Ängste für den/die Leser*in greifbarer scheinen lassen. Kathrin Buchner (Stern Online, 11.03.2009) lobt ihre klaren Formulierungen. Die Beobachtungen und Reflexionen der Protagonistin ermöglichen es Arne Willander (Die Welt, 12.04.2009) die Entwicklungen einer Depression nachzuvollziehen. Das Besondere an Mängelexemplar sei die Sprache- so etwa Ursula März (Zeit Online, 8.04.2009), die Kuttner bei ihrem dritten Roman für ihre Sprache kritisiert, lobt noch 2009 den Jargon, von dem Kuttners Debütroman lebt. Kristina Maidt-Zinke (Süddeutsche Online, 17.05.2010) kritisiert hningegen Kuttners Jargon, ihre Sprache sei überfüllt mit Anglizismen und es benötigt einen Code für Leser*innen, die die Jugendsprache nicht beherrschen.
Wachstumsschmerz
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Wachstumsschmerz [ ↑ ]
Kuttners zweiter Roman Wachstumsschmerz (2011) handelt von der Protagonistin Luise. Sie ist 32 Jahre alt, von Beruf Schneiderin von Herrenanzügen in Berlin und hat beschlossen mit ihrem Freund Flo zusammenzuziehen. Das gemeinsame Wohnen ist für Luise ein großer Schritt im Leben: „Der erste Schritt von den drei offiziellen. Zusammenziehen, Heiraten. Kinder kriegen. Das wird von uns Liebenden erwartet“ (S. 189). Doch das Zusammenleben mit ihrem Freund engt Luise ein, gibt ihr ein Gefühl von Ernsthaftigkeit in ihrem Leben, für das sie sich noch nicht bereit fühlt. Zu viele "Wir-Gefühle", wie Luise es ausdrückt, zu wenige "Ich-Gefühle", zu viel "Wir-Zeit", zu wenig "Ich-Zeit" (S. 159 ff.). Es kommt immer wieder zum Streit mit Flo und beide leben sich auseinander: „Wir tanzen nicht mehr und schlafen kaum noch miteinander, unsere Verbindung flackert und knistert wie das Störbild eines alten Fernsehers […]“ (S. 229). Flo ist kein streitlustigster Mann und geht den Konflikten mit Luise aus dem Weg. Das verursacht bei Luise größeren Frust über die Beziehung. "Ich weiß nicht", sagt Luise immer wieder im entscheidenden Gespräch mit Flo (S. 235). "Aber jetzt grad kann ich dieses kaputte Wir nicht mehr ertragen. Ich brauche Abstand. Um es besser einschätzen zu können. Ich brauche Luft" (S. 236). Luise modelt nebenher, aber auch das stellt sie beruflich nicht zufrieden, da sie glaubt als Schneiderin mehr erreichen zu müssen, indem sie zum Beispiel für ein Theater schneidert oder eine eigene Kollektion entwirft. Zudem ist ihr Verhältnis zu ihrem Vater schlecht. Er liebt sie nicht so, wie Luise es gerne hätte. Halt findet sie nach der Trennung von Flo nur bei ihrer Schwester Jana oder ihrer Freundin Rieke. Sie befindet sich in einer Quarterlife Crisis, an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie die unzähligen Möglichkeiten des Lebens unter Druck setzten und überfordert: „Denn schließlich sind da all diese wunderbaren Möglichkeiten, oh, diese Möglichkeiten!“ (S. 155). Kuttner erzählt mit ihrer Protagonistin Luise von den unendlichen Chancen, die junge Menschen heutzutage haben. Diese motivieren sie zu täglich neuen Lebensentwürfen. Bei Luise schürt diese Flut von Möglichkeiten gleichzeitig Sehnsucht danach und Angst davor, ein erwachsenes Leben zu führen.
Thematische Aspekte zu Wachstumsschmerz [ ↑ ]
Quarterlife Crisis: Depressionen, Kontrollverluste und Orientierungslosigkeit
In Wachstumsschmerz kämpft Luise mit dem gesellschaftlichen Druck stets über sich hinaus zu wachsen und die persönlichen und beruflichen Ziele immer weiterstecken zu müssen. Dadurch entsteht bei ihr eine Distanz zu ihrem Freund Flo, weil sie immer unzufriedener mit sich ist: „Wir tanzen nicht mehr und schlafen kaum noch miteinander, unsere Verbindung flackert und knistert wie das Störbild eines alten Fernsehers, aber Kuscheln funktioniert noch, als wäre nichts gewesen“ (Wachstumsschmerz, S. 229).
Weibliche Protagonistinnen
In Kuttners zweitem Roman Wachstumsschmerz ist Luise die Antiheldin, die es schafft, den gesellschaftlichen Zwang nach ständiger Verbesserung zu überwinden. Ihre tiefe Unzufriedenheit äußert sich in ihren Mecker-Monologen, die zum einen ihr Anstrengendsein vermitteln und zum anderen die Schieflage in ihrer Beziehung entlarven, denn dass es ihr Freund ihr es kaum Recht machen kann, liegt wohl mehr an ihrer Unausgeglichenheit als an dem Mann: „Flos eingeschüchterte Versuche, mich zu trösten, bewirken nur das Gegenteil. Jede seiner vorsichtigen Gesten machte mich gereizter und unglücklicher“ (Wachstumsschmerz, S. 208). In Wachstumsschmerz geht es darum der gesellschaftlichen Rolle als Frau gerecht zu werden. Dabei beschäftigt sich Luise mit folgender Frage: „Der erste Schritt von den drei offiziellen. Zusammenziehen, Heiraten, Kinder kriegen. Das wird von uns Liebenden erwartet. […] Emanzipation und ‚Generation y‘ hin oder her. Und wenn wir uns diesbezüglich nicht richtig sicher sind, fühlen wir uns schlecht. Weil wir doch sollen. Klar. ‚Alles kann, nichts muss.‘ Aber sollte man von all dem ‚Kann‘ nicht wenigstens ein bisschen ‚müssen‘?“ (Wachstumschmerz, S. 189).
Einsamkeit und mangelnde Geborgenheit
Auch das Thema Einsamkeit ist zentral in Kuttners Romanen. Das bedeutet nicht, dass alle Protagonistinnen alleine sind, vielmehr fühlen sie sich trotz Partner oder Begleitung von Menschen in ihrem Leben nicht ausreichend geliebt und unterstützt. Einerseits lassen die Protagonistinnen niemanden an sich heran, andererseits wirken sie abgewandt und kalt. So findet sich die Protagonistin Karo in Wachstumsschmerz nicht in ihre Beziehung ein. Sie bleibt stets distanziert und erkennt ihre Distanz zu Flo selbst, ohne dass sie daran etwas verändern kann: „Plötzlich tut es mir Leid, dass ich in letzter Zeit so oft die Verbindung zu ihm verliere. Dass mir dauernd irgendetwas nicht passt. Mich unser Wir plötzlich irgendwie permanent einengt“ (Wachstumsschmerz, S. 191).
Formale Aspekte zu Wachstumsschmerz [ ↑ ]
Autodiegetische Erzähler
Kuttners Texte erzählen aus der Ich-Perspektive, sodass die Figuren aus subjektiver Sicht heraus auf sich und die Welt schauen und diese beschreiben. Kuttner schreibt monologartig und schlüsselt dadurch die Handlungsstränge auf. Aus der Handlung entwickelt sich nur selten das Geschehen heraus und der/die Rezipient*in erfährt den Inhalt aus den Erzählpositionen der Protagonistinnen. Das und die sehr detaillierten Beobachtungen und Selbstreflexionen der Frauen führen dazu, dass der/die Leser*in die momentane psychische Befindlichkeit nachvollziehen kann. In Wachstumsschmerz beschreibt Kuttner das Zusammenwohnen der Protagonistin Luise mit ihrem Freund Flo und integriert in ihre Beschreibungen auch den zeitlichen Ablauf der Beziehung: „Der Sommer vergeht und hinterlässt nur Mist. Als wenn die guten Sachen heimlich in sein Handgepäck geschummelt hätte und damit auf dem Weg Richtung Süden wäre. […] Flo geht mir furchtbar auf die eh schon fiebrigen Nerven. […] Was wir einfach nicht so richtig gut beherrschen, ist das Zu-Hause-Sein“ (Wachstumsschmerz, S. 158 ff.).
Pressespiegel zu Wachstumsschmerz [ ↑ ]
Kurrtners zweiter Roman Wachstumsschmerz findet große Beachtung in der Presse, besonders weil Kuttner sich mit einer Thematik beschäftigt, die viele Menschen, die älter als 30 Jahre sind, vielleicht nicht nachvollziehen können. DIe in dem Roman thematisierte Quarterlife Crisis ist die Unsicherheit und Angst darüber, zu viele Möglichkeiten zu haben. Zu viele Chancen können lähmend wirken, meistens werden sie aber mit dem Gefühl von Freiheit verstanden. Sich ständig selbst zu optimieren, bedeutet Stress zu haben und sich selbst unter Druck zu setzten. Genau dieses Paradoxon ist Kuttners Leitthema in Wachstumsschmerz. Und dieses Thema ist auch der Schwerpunkt in den Rezensionen zu Kuttners Roman. Die Hannoversche Allgemeine beschreibt die unterschiedlichen Auffassungen der unbegrenzten Möglichkeiten als Generationsproblem und als Tabuthema. In der Generation Kuttner sei jung zu bleiben, aber kein Problem mehr, da es die Gesellschaft einfordere: „Würdevoll erwachsen werden aber? Ist fast unmöglich geworden“ (Hannoversche Allgemeine, 29.11.2011). Gerrit Bartels (Süddeutsche Online, 13.12.2011) und Anna Maria Wallner (Die Presse, 12.12.2011) bezeichnen Kuttners Roman deshalb auch als Generationsroman. Damit reiht sie sich ein neben die Autorinnen Antonia Baum, Nina Pauer oder Meredith Haaf. Bartels nimmt die Probleme dieser Generation allerdings als Luxusprobleme wahr.
Einen weiteren Schwerpunkt setzt die Presse auf Kuttners Protagonisten. Andrea Diener (Frankfurter Allgemeine, 2.12.2011) kritisiert, dass Kuttner mit ihrer Thematik zwar einer Generation aus der Seele spreche, die Handlung und Protagonisten Karo und Flo aber zu eintönig sei. Diener bezeichnet sie sogar als Menschenhüllen: „Das Paar lebt sich auseinander und trennt sich. Es tut das, was Millionen anderer Paare tun, es streitet und heult, es zappelt und resigniert, die Gründe sind langweilig und die Folgen absehbar. Luise zickt, Flo leidet stumm. Frauen halt, Männer halt. Dazu ein Haufen falscher Vorstellungen. Es ist so unendlich normal und öde. Und traurig.“ Dabei ist Diener die Figur der Karo zu sehr angelehnt an Kuttners erster Protagonistin im Roman Mängelexemplar und sie findet die Art der Protagonistin Karo anstrengend zu lesen. Auch Anna Maria Wallner (Die Presse, 12.12.2011) bezeichnet die Handlung als „so belanglos und sprachlich uninspiriert erzählt, dass sie einen nicht mitreißt, keine neuen Fragen aufwirft.“ Kuttner schaffe es nicht die Frage zu beantworten, warum sich die Generation um die Protagonistin von den unbegrenzten Möglichkeiten im Leben unter Druck gesetzt fühlt.
180° Meer
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu 180° Meer [ ↑ ]
Kuttners dritter Roman erscheint 2015 im S. Fischer Verlag und handelt von der Protagonistin Juliane, genannt Jule. Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, ist Jule mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter Monika aufgewachsen. Von ihrer Heimat Stralsund am Meer ziehen sie in die Großstadt Berlin. Zu Beginn von 180° Meer arbeitet sie in einer Bar als Sängerin, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zufrieden ist sie mit ihrem Job und ihrer Beziehung nicht. Nachdem sie ihren Freund Tim mit dem Betreiber der Bar André betrügt, beschäftigt sich Jule mit ihrer inneren Unzufriedenheit. Sie fährt zu ihrem Bruder Jakob nach London. Dort erhofft sie sich Ruhe und Anonymität. In seiner WG lebt der Hund Bruno, den Jule aus Langeweile zum Gassi gehen ausführt. In England erfährt Jule davon, dass ihr krebskranker Vater Michael im Sterben liegt. Durch diesen Umstand fühlt sie sich weder überfordert, noch berührt es sie, dass ihr Vater todkrank ist. Und genau diese Tatsache stört Jule. Im Gespräch mit ihrem Bruder versucht sie dies auszusprechen: „‘Mein Vater hat Krebs‘. Ich hoffe, dass es, laut ausgesprochen, spontan das dazu passende, vor allem echte Gefühle hervorbringt. Und das tut es: Ich fühle nichts“ (S. 83). In ihrer emotionalen Hilflosigkeit fährt sie mit dem Hund aus der Wohngemeinschaft nach Eastbourne ans Meer. Der Hund reagiert stets bissig auf ihre Zuneigungen. „Der Hund nervt. Er ist schlechtgelaunt und hat mich sogar schon gebissen“ (S. 99). Ihr Bruder Jakob erkennt dabei die Ähnlichkeit zu Jule, die Zuneigung auch immer erst abblockt. Diese Erkenntnis trifft Jule. Am Meer angekommen, fühlt sie sich heimisch, Erinnerungen an ihre Großmutter kommen hoch und auch das Gefühl von Aussichtslosigkeit ist in ihr da. Diese empfindet sie durch die Weite ihres Blicks auf das Meer: „Nur in seiner Weite und Unnahbarkeit berührt mich das Meer. Diese wunderbare, düstere Aussichtslosigkeit, die ein vor einem hingezogener Ozean vermittelt, fasziniert und rührt mich“ (S. 73). Das Meer ist für die Protagonistin ein Sehnsuchtsort und dieser Ausflug ans Meer gleichzeitig Therapie. Sie verarbeitet ihre seelische Überforderung, die in ihrer Kindheit durch die mangelnde Geborgenheit der Eltern hervorgerufen wurde. Mit der Zeit beginnt Jule sich ihrem Vater anzunähern, von dem sie bisher nur enttäuscht wurde, da er sie ihr Leben lang im Stich gelassen hat.
Thematische Aspekte zu 180° Meer [ ↑ ]
Quarterlife Crisis: Depressionen, Kontrollverluste und Orientierungslosigkeit
In Kuttners Roman 180° Meer kämpft Jule mit dem Problem der Orientierungslosigkeit. Nachdem sie ihren Freund betrogen hat und mit ihrem Job als Sängerin in einer Bar sehr unzufrieden ist, flieht sie zu ihrem Bruder nach London. Dort angekommen hadert sie mit dieser Entscheidung: „Klarheit ist eh der Teufel. Vielleicht könnte das hier alles gut sein. Ich habe schon wieder kein Ziel, aber ein bisschen Bock auf einen Weg“ (180° Meer, S. 61).
Weibliche Protagonistinnen
Es geht in Kuttners Romanwelten um Fragen des Scheiterns von Lebensentwürfen und damit um das Leben der Protagonistinnen, welches sie führen. In 180° Meer flieht Jule sogar in ein anderes Land, weil sie mit ihren Beruf als Sängerin und ihrer Liebesbeziehung gescheitert ist.
Einsamkeit und mangelnde Geborgenheit
Die klassische Familie hat sich in der vorigen Generation der Protagonistinnen stets aufgelöst. In 180° Meer zum Beispiel haben sich Jules Eltern im Streit getrennt: „‘Der feine Herr wohnt jetzt bei seiner neusten Schlampe in England! Sieh an, sieh an, es hat ihm wohl nicht gereicht, halb Deutschland zu besteigen, jetzt muss es eine Engländerin sein!‘“ (180° Meer, S. 77). Als Trennungskinder beschäftigen sie Jule, Luise und Karo immer wieder mit Verlustängsten, bauen emotionale Mauern um sich herum auf und versuchen diese im Laufe der Handlungen zu durchbrechen. In 180° Meer berührt es die Protagonistin Jule noch nicht mal mehr, dass ihr Vater an Krebs erkrankt, so sehr hat sie eine emotionale Mauer um sich herum aufgebaut: „Die Information macht überhaupt nichts mit mir. Dass überrascht mich nicht […]“ (180° Meer, S. 78). Emotionen zeigt Jule nur gegenüber ihrem Bruder und einem Hund aus der Wohngemeinschaft des Bruders, zu dem sie eine enge Beziehung aufbaut und sogar eine Reise ans Meer antritt. Beide zeigen ihr gegenüber Loyalität, gleichzeitig vermisst sie aber Liebe, die ihr nur ein Partner geben kann. Das tiefe Gefühl von Liebe scheint Jule aber gar nicht zu kennen.
Pressespiegel zu 180° Meer [ ↑ ]
Im Presseurteil befindet sich das gesamte Spektrum von sehr negativen bis überaus positiven Beurteilungen. Die Rezensionen zu 180° Meer (2016) lassen im Wesentlichen zwei Schwerpunkte erkennen. Wird Kuttners Roman Mängelexemplar noch als gut zu lesendes Buch mit einfachen Sprachstil gelobt, blickt die Presse bei 180° Meer kritischer auf Kuttners Wortwahl und ist sich mit seiner Bewertung nicht einig. Das mag daran liegen, dass Kuttner mit ihrem dritten Roman inhaltlich keine Unterschiede zu ihren letzten beiden Romanen anbietet, deshalb fokussiert die Presse die Betrachtung auf die Sprache. In der Presse entsteht die Diskussion, ob Kuttners Wortwahl zeitgenössischer Jugendsprachstil sei, oder literarisch ein sehr niedriges Niveau aufweist. Ursula März (Zeit Online, 12.05.2016) kritisiert dabei drastisch ihren Schreibstil: „Entweder kam der neue Roman von Sarah Kuttner mit dem Titel 180° Meer nie auf den Tisch eines Lektors. Oder er wurde unter der kulturpessimistischen Prämisse lektoriert, die vermutlich jüngere Leserschaft Sarah Kuttners ließe sich nur auf einem sehr schrägen Stil- und Sprachniveau erreichen“. Die Rezensentin bekennt, dass sie sich aufgrund der Stilblüten weder auf die Handlung konzentrieren noch das Seelenleben der Protagonistin verfolgen konnte. Kuttners Wortwahl gleiche der eines neun Jahre alten Kindes. Philipp Haibach (Welt Online, 21.01.2016) geht so weit zu sagen, dass ihre Sprache „unzureichendes, enervierendes Geplapper“ ist. Kathleen Hildebrand (Bücher.de, 12.04.2016) bezeichnet ihr Werk als „kluge Unterhaltung“, aber auch als „Dampfgeplauder“. Ronald Meyer-Arlt (Hannoversche Allgemeine, 30.03.2016) hingegen findet Kuttners Sprache schonungslos, verspielt und originell. Dies sei eine Kombination, die im Roman gut funktioniere. Sarah Kuttner schaffe es mit ihrer Sprache die Charaktere im Roman gelungen wiederzugeben. Vienna Online (Vienna Online, 17.01.2016) lobt und kritisiert Kuttners Charakterbeschreibungen, da sie einerseits brillant formuliert seien, die Charaktere sich aber nicht weiter entwickeln. Als Beispiel dafür wird der Freund der Protagonistin angeführt; in Kuttner Roman heiße es: „Er bildet gern Paare. Wenn es zwei bewegliche Komponenten in der unmittelbaren Nähe voneinander gibt, sollen sie miteinander verbunden sein. Bestenfalls mit einer Schleife” (S. 22). Gelobt wird, dass die losen Enden und Tims Wunsch, alles zusammenzuhalten, immer wieder im Roman auftauchen. Dass sich die Figuren im Roman nicht weiterentwickeln, kritisiert hingegen die Tiroler Tageszeitung (Tiroler Tageszeitung, 01.02.2016) und begründet damit, dass der Roman den/die Leser*in nicht packt.
Ein zweiter Schwerpunkt in der Presse sind Kuttners Beschreibungen der Emotionen der Protagonistin Jule. Die inneren Monologe sind zentrale Aspekte in allen Romanen Kuttners und führen zu unterschiedlichen Beurteilungen in der Kritik. Das Hamburger Abendblatt (Hamburger Abendblatt, 19.01.2016) kritisiert Kuttners immer wiederkehrende Monologe. Diese hemmen die Handlungsstränge. Die inneren Monologe bezeichnet Vienna Online (Vienna Online, 17.01.2016) als eignes Genre, typisch für die Gefühlswelt der Generation, der über 30-Jährgen, die innerlich unzufrieden und auf der Suche nach Orientierung seien. Trotzdem führen sie nicht dazu der Handlung Tiefgang zu verleiten. Spannung oder Interesse an den Protagonisten kommen nicht auf. Philipp Haibach (Welt Online, 21.01.2016) findet an den Gefühlsbeschreibungen von Jule nichts Positives. Von einer ehemaligen Moderatorin einen tragenden inneren Monolog oder aber eine interessante Handlung zu erwarten, sei unfair. Doch kommt er zu dem Schluss, dass die inneren Ausführungen der Protagonistin Küchenpsychologie sind und verreißt Kuttners dritten Roman. Auch Britta Heidemann (Der Westen, 12.01.2016) kommt zu dem Schluss, dass Kuttner mit ihren inneren Monologen zu sehr an der Oberfläche bleibt.
Forschungsspiegel zu 180° Meer [ ↑ ]
Pop-Feminismus
Hester Bear (Introduction: Resignifications of Feminism in Contemporary Germany, S. 14) betrachtet etwa weibliche Frauenbilder in der deutschen Literatur und nennt Kuttner neben Charlotte Roche als ein Beispiel für Texte, die sich mit aktuellen Geschlechterfragen auseinandersetzen.
Popliteratur
Kuttners Romane werden mitunter als Popliteratur gelesen. Kuttner baut in ihren Romanen Elemente der Populärkultur der Gegenwart mit ein. So sind die Texte durchzogen von expliziten Markennennungen aus der Warenwelt oder popkulturellen Zitaten, wie das Beispiel aus 180° Meer zeigt: „Denn hat man erst mal die magische Grenze, und so- mit Big Ben und den Buckingham Palace und Covent Garden und die Millionen Filialen von Topshop und Sainsburys und Caffé Nero hinter sich gelassen, steht man plötzlich […] in einem grauen […] Ozean aus zweistöckigen, trostlosen Einfamilienhäusern“ (180° Meer, S. 87). Daniel Unger vergleicht in seiner Masterarbeit die Autorin Charlotte Roche mit Sarah Kuttner. Er fasst Kuttners Roman Mängelexemplar als Text der neuen deutschen Popliteratur auf, gerade weil Kuttners Texte deutungsoffen sind.