Benjamin Lebert
Charakteristika des Werks
Crazy
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Crazy [ ↑ ]
Bei diesem Roman von 1999 handelt es sich um das frenetisch gefeierte Debüt von Benjamin Lebert.
Der Roman erzählt die Geschichte des Jungen Benni, der von seinen Eltern auf das Internat Neunseelen in Bayern geschickt wird, damit er dort seinen Schulabschluss absolviert. Die Interessen des halbseitig gelähmten Benni liegen allerdings woanders, nämlich insbesondere bei den Mädchen und den ersten sexuellen Erfahrungen. Er wird Teil einer Gruppe von männlichen Heranwachsenden, deren Anführer Janosch Schwarze heißt. Bennis Behinderung wird von den Gruppenmitgliedern nicht oder nur kaum zum Thema gemacht, wodurch dieser sich unter ihnen relativ schnell wohlzufühlen beginnt. Ihn plagt jedoch Heimweh und die Angst um die Beziehung seiner Eltern, die sich im Verlauf der Erzählung trennen. Neben diesen Problemen werden auch die Probleme des Schülerlebens dargestellt. Der Ich-Erzähler Benni muss sich aber vor allem mit den vielen Krisen und Erfahrungen des Erwachsenwerdens auseinandersetzen, wozu auch das Erleben des ersten Geschlechtsverkehrs mit Marie im Laufe des Romans zählt. Neben den eigentlichen Geschehnissen steht aber besonders das Innenleben Bennis im Vordergrund, seine Gefühle, Gedanken, Meinungen usw. Insgesamt wirkt er sehr unsicher.
Später in der Erzählung brechen die Jugendlichen aus dem Internat aus und besuchen mit einem Mann namens Sambraus ein Striplokal in München. In diesem Etablissement werden die Jungen mit Sex konfrontiert, was für Benni ab dem Punkt zu viel wird, an dem er einer Stripperin Geld in den Slip stecken soll. Kurze Zeit nach dem geglückten Abenteuer wird er, aus Überforderung, ohnmächtig. Ferner trifft Benni hier auf den Besitzer des Ladens, Herrn Lebert. Dieser stellt mit seinem selbstsicheren Auftreten und seinem Beruf als Inhaber eines Striplokals das totale Gegenteil zur jungen, unsicheren Hauptfigur dar.
Zum Ende ist klar, dass Benni den von seinen Eltern gewünschten Schulabschluss erneut nicht erreicht, ebenso wendet sich Marie, das Mädchen in das er sich verliebt hatte, von ihm ab.
Der Teil, der sich auf die Schule und die schulischen Probleme bezieht, hebt den Roman von den folgenden Werken ab. Themen dieser Art werden in den jüngeren Werken nur noch selten aufgegriffen.
Thematische Aspekte zu Crazy [ ↑ ]
Themen und Motive
Wirft man einen genauen Blick auf die einzelnen Werke wird klar, dass sich der Autor Benjamin Lebert sehr stark mit der Innenwelt von Menschen befasst. Dies kann bei allen Werken als Oberthema gesehen werden. Lebert richtet sein Augenmerk verstärkt auf die Gefühle und die Psyche des Menschen. Ferner sieht er die auf dieser Ebene liegenden Probleme, Konflikte und Krisen. Er beschreibt dies mit großer Sorgfalt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln, auch wenn sich die Probleme, die beschriebenen Herangehensweisen und Handlungen ähneln. Lebert bietet nicht für jede dieser Schwierigkeiten eine Lösung oder einen Lösungsvorschlag an, doch gibt er den LeserInnen Anknüpfungspunkte und die Möglichkeit, sich selbst in den Figuren zu finden.
Die Romane befassen sich ebenso mit den Problemen und Krisen der Adoleszenz und des Erwachsenwerdens. Auch hierfür gilt, dass die Darstellung der Handlung aus verschiedenen Perspektiven auf unterschiedlichen Ebenen gedeutet werden können und eröffnet somit den LeserInnen einen eigenen Vorstellungsraum. Eine besonders starke Rolle in den Romanen Leberts spielt auch das Thema Sexualität. Oft springen die Texte Kapitelweise von der eigentlichen Handlung zu Reflexionen und/oder Erinnerungen seiner Figuren an Sex.
Es fällt auch auf, dass sich wiederholt Elemente aus dem Leben des Autors in den Werken wiederfinden. Abgesehen von Crazy, der deutliche autobiografische Züge aufzeigt, wird dies auch in allen weiteren Werken, wenn auch in abgeschwächter Form, deutlich. So bildet unter anderem die Auseinandersetzung mit den Problemen eines jungen Autors nach einem frühen Sensationserfolg, wie auch der Fluchtversuch aus dem eigenen Leben oder das Beschreiben der Essstörung eine deutliche Spur zum Autor.
Formale Aspekte zu Crazy [ ↑ ]
Schreibweise
Was die Schreibweise angeht, fällt der stark parataktische Satzbau auf, besonders in den frühen Werken Leberts. So beschreibt er die erste sexuelle Erfahrung für Benni in Crazy wie folgt: „Ich ziehe meine Pyjamahose ein Stück weit nach unten. Marie kann meinen Schwanz sehen. Sie kramt ein Kondom aus den auf dem Boden liegenden Sachen hervor. Beißt mit den Zähnen die Packung auf. Sie zieht mir das Kondom über. Es geht schnell. Ein komisches Gefühl.“ (Crazy, S.80).
Pressespiegel zu Crazy [ ↑ ]
In nahezu sämtlichen Presseberichten zu Benjamin Lebert und seinem Werk erfolgt der Bezug auf Crazy. Es gibt kaum einen Artikel, der nicht an den Debütroman anknüpft, ihn noch mal beschreibt oder das jeweilige neue Werk mit Crazy vergleicht.
Niklas Maak bemerkt dazu 1999 in Der Spiegel, dass in Crazy normale junge Menschen mit ihren Problemen im Mittelpunkt stehen. Das Werk wurde stark umjubelt und nicht nur von Jugendlichen gekauft, sondern auch von Eltern, die durch das Lesen des Werkes versuchen ihre Kinder besser zu verstehen. Viele der deutschen Kritiker lobten Werk und Autor sehr, so auch Martin Wolf.
Bezogen auf die Verfilmung ist zu sagen, dass ein Film solcher Art nicht häufig in deutschen Kinos zu finden ist. So werden die Szenen nicht übermäßig dramatisch aufgebauscht, sondern haben, wie in der Romanvorlage, einen alltäglichen Charakter, so lobt Wolfgang Höbel im Jahr 2000. Es wird weder auf eine Typisierung der Charaktere gesetzt noch liegt das Hauptaugenmerk auf „schnellen Lachern“, sondern auf der Arbeit der am Film beteiligten Schauspieler. Alles wirkt unbekümmert, wobei die Fragen der jungen Erwachsenen im Vordergrund stehen.
Forschungsspiegel zu Crazy [ ↑ ]
Auch die Forschung richtet ihr Augenmerk hauptsächlich auf Leberts Debüt. So setzt sich Matthias Luserke in seinem Buch Schule erzählt – Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert mit Crazy als Schulliteratur auseinander. Crazy ist das einzige Werk unter den Schultexten, welches von einem Autor verfasst wurde, der sich selbst im beschriebenen Alter befindet. Dies birgt einen hohen Grad an Authentizität. (Luserke, S. 137) Mit dem Untertitel „Roman“ gelingt Lebert ein Spiel zwischen dokumentarischer Wirklichkeit und der Ebene der Fiktionalität. Durch die Wahl des Ich-Erzählers verschwimmen diese Ebenen noch mehr, was dazu führt, dass der Roman zur Autobiografie wird und die Fiktion zu Realität. Hierdurch erhält der Roman seine Leichtigkeit. Es wirkt, als wenn jemand schreibt, wie er lebt. (Luserke, S. 138)
Die Gruppe von Jungs, der Benni sich anschließt, steht neben der Hauptfigur selbst im Vordergrund, wobei hier keine Machtkämpfe oder Ähnliches beschrieben werden, wie sie das Leben von Erwachsenen durchziehen. Das Augenmerk wird hingegen auf die freundschaftlichen Bande der Gruppenmitglieder gelegt. Luserke geht auch auf die bereits beschriebenen Themen im Roman ein und weist zusätzlich darauf hin, dass die ausschließliche Verwendung der Jugendsprache eine nachträgliche Distanzierung des Autors vom Werk ausschließt. Das einzige Kapitel, das einen deutlichen Bruch zeigt, ist das Kapitel welches den Ausbruch der Jugendlichen und die damit verbundenen Abenteuer in München umfasst. So werden die Sätze hier kunstvoll verknüpft.
Neben der Feststellung, dass Benni definitiv unter seiner Behinderung leidet, wird auf den Balanceakt zwischen Schul- bzw. Internatsroman auf der einen Seite und einem Pubertätsroman auf der anderen Seite eingegangen. Auf der ersten Ebene sind die schulischen Probleme und Auseinandersetzungen, wie aber auch die Jugendgruppe und ihre gemeinsamen Erfahrungen zu nennen, wohingegen auf der zweiten Ebene die sexuellen Bedürfnisse und Geschehnisse rund um Benni, sowie auch das Verhältnis zu seiner Familie, besonders zu seiner Mutter, anzuführen sind. Insgesamt geht Benni das Erwachsenwerden zu schnell. (Luserke, 138 ff.)
Abschließend kommt Luserke zu dem Ergebnis, dass Crazy weniger ein Dokument des Psychokrieges an der Schule ist, als viel mehr ein Zeugnis einer „ihren Weg suchenden“ Jugend (Luserke, S. 144).
Die Anthologie Neue Deutsche Popliteratur von Frank Degler und Ute Paulokat beleuchtet den Roman in Bezug zur literarischen Strömung der Popliteratur. Der Kinder- und Jugendliteraturforschung sieht allen voran die deutsche Popliteratur als Ausformung des Adoleszenzromans. Hierbei handelt es sich um einen recht jungen Gattungsbegriff aus den 1980er Jahren, dessen Hauptthema das Erwachsenwerden ist und eine Untergruppe der Jugendromane ausmacht. Die Hauptfiguren werden als unverwechselbare Individuen dargestellt, welche Krisen durchleben und auf der Suche nach dem Lebenssinn und der eigenen Identität sind. Es werden hierbei nicht nur erfolgreiche Ergebnisse aufgezeigt. (Vgl. Degler/Paulokat, S. 43f.). Crazy biete ein perfektes Beispiel dafür: so versammle der Roman alle spezifischen Themen wie die zeitliche und räumliche Beschränkung der Handlung auf Schulzeit und Schule. Es entstehen Freundschaften und familienähnliche Beziehungen usw. Demnach steht Crazy in Tradition zu früheren Adoleszensromanen wie etwa Goethes Die Leiden des jungen Werther (vgl. Degler/Paulokat, S. 48).
Werke wie Leberts Debütroman decken die Kehrseite einer liberalen Welt auf. Zwar verschwinden die Einmischungen und Kontrollen von Erwachsenen, wohingegen allerdings neue Konkurrenzkämpfe und Entscheidungszwänge in den Fokus gelangen, bei denen die inneren Monologe die Fläche zur Reflexion bilden. Ferner fehlt die Beschreibung eines Generationenkonflikts in Crazy vollkommen, was ebenfalls typisch für die neue deutsche Popliteratur ist (vgl. Degler/Paulokat, S. 50f.).
Fritz Gesing befasst sich in seinem Aufsatz Blütenstaub im Crazy Faserland. Stimmen der Jugend am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Frage nach den Emotionen und Gedanken der Jugend. Laut Gesing spricht in Crazy die Stimme der männlichen Pubertät. (Gesing, S. 342). Für Gesing stellen der Verlust der Jungfräulichkeit sowie der Besuch des Strip-Lokals die beiden zentralen Elemente der Handlung dar. Unter Bezugnahme auf einige Rezensionen unterscheidet Gesing zwischen den Ebenen der „Jugend als (Spät-) Adoleszenz“ und der „Jugend im Sinne von Pubertät“. (Gesing, S. 343). Ferner konstatiert Gesing, dass die verwendete Sprache gar nicht so modern ist, wie sie scheint. Viel eher handle es sich um eine Wortwahl und eine Stilistik, die aufgesetzt wirkt und an die literarischen Werke der älteren Generation erinnert. Nach besonderen Elementen der „heutigen“ Jugendkultur, wie etwa Techno- oder Rapmusik ist in Crazy vergeblich zu suchen (Gesing, S. 344).
Insgesamt problematisiert Gesing die scheinbare „Authentizität“ des Romans. Schlussendlich gelangt der Autor des Aufsatzes zu dem Ergebnis, dass es „kein wirklich konsistentes Bild der heutigen Jugend gibt“ (Gesing, S. 344 f.).
Ein Aufsatz, der sich mit dem Aspekt der Sexualität im Roman befasst, wurde von Ralf Wohlgemuth verfasst. In seinem Text Eroserleben als Macht- und Ohnmachtserleben. Robert Musils ‚Die Verwirrung des Zöglings Törleß‘ und Benjamin Leberts ‚Crazy‘ zieht er einen Vergleich beider Werke. Wohlgemuth stellt die Frage nach dem Umgang der Hauptfiguren mit ihren sexuellen Erlebnissen und deren literarischer Umsetzung.
Crazy betreffend zeigt der Autor zum einen die schamfreie Art der Jugendlichen, in der sie über Sex sprechen. Zum anderen stellt Benni aufgrund seiner Behinderung eine besondere Position zum Thema Sex dar, denn er ist in eigentümlicher Weise unsicher über sein Sexualleben. So fühlt er sich körperlich unzulänglich und hilflos, was der Ausprägung eines gesunden Selbstvertrauens und Körpergefühls im Wege steht. Benni ist entsprechend nie in der aktiven Rolle (vgl. Wohlgemuth, S. 159). Der Gang zum Mädchentrakt, der in der Handlung beschrieben wird, stellt für die Hauptfigur eine Hürde in doppelter Hinsicht dar: so muss er zum einen seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen, zum anderen muss er seine innere Angst überwinden. Bei seinem "ersten Mal" wird Benni von der betrunkenen Marie dominiert, denn selbst hier trifft er keine Entscheidung. Hierbei zeigt sich kein Problem mit seiner physischen Behinderung, sondern viel eher mit einer psychischen Unsicherheit und die Situation führt zu keiner Veränderung in Bennis Selbstwahrnehmung. Auch die zweite Konfrontation mit Sex, im Striplokal in München, bringt keine Veränderung für den Hauptcharakter. Zwar schafft er es, der Tänzerin das Geld in den Slip zu stecken, doch seine Ohnmacht daraufhin ist mehrdeutig und buchstäblich (vgl- Wohlgemuth, S. 160f.).
Wohlgemuth zieht letztendlich das Resümee, dass man Crazy nicht als Entwicklungsroman bezeichnen kann, da die Hauptfigur keine inneren Veränderungen im Charakter zeigt. Es gibt keinen Erkenntnisgewinn, sondern alles bleibt beim Alten. Benni steht dem Eroserleben ohne Macht gegenüber.
Jan Wittmann widmet sich ebenfalls Crazy und der Sexualität. Im Wechselspiel von Identität und Sexualität Die Mitte der Welt sehen, sich Crazy fühlen oder etwas Kleines gut versiegeln- Sexuelle Identitätsentwicklung bei Steinhöfel, Lebert und Kutschke, so der Titel des Aufsatzes, welcher einen Blick auf die Adoleszenzphase wirft. Nach Wittmann ist das Wechselspiel von Identität und Sexualität nicht frei von Einmischungen von Außen, was die Suche nach der eigenen Identität auch immer mit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität erfordert. So bleibt der Gedanke des „anders Seins“ und des sexuellen Erlebens nur mit Einschränkung definitiv ein Teil von Benni (Wittmann, S. 27f.). Ferner zeigt Wittmann auf, dass der Ort der Handlung, das Internat, einen Schutzraum bietet, in dem der Hauptcharakter sich mit seiner Sexualität auseinander setzen und sich dem anderen Geschlecht behutsam nähern kann. Der offene Umgang mit dem Thema und das Aussprechen der Gedanken der Jungen zum Thema Sex ist jedoch nur gruppenhomogen möglich (vgl. Wittmann, S. 34). Benni findet aber trotz seiner Schwärmereien keinen Halt in seinen sexuellen Erlebnissen, auch wenn ihm sein Begehren Orientierungspunkte auf seinem Weg zum Erwachsenen bietet, denn offensiver Umgang mit Sex und Sexualität ist für die Hauptfigur mit großer Unsicherheit verknüpft (vgl. Wittmann, S. 38f.). Anders als Wohlgemuth erkennt Wittmann jedoch einen Entwicklungsprozess der Figur.
Der Vogel ist ein Rabe
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der Vogel ist ein Rabe [ ↑ ]
Vier Jahre nach seinem Debüt spielt auch in Der Vogel ist ein Rabe das Erwachsenwerden eine zentrale Rolle, allerdings ist das Werk wie die Folgenden von weniger autobiografischem Charakter. Insgesamt wird keiner der Folgeromane die Popularität von Crazy erreichen.
Die Handlung beginnt an einem Bahnhof in München. Hier bezieht der 20-jährige Paul ein Schlafwagenabteil in einem Zug auf dem Weg nach Berlin. Paul, der die Weihnachtstage bei seinen Eltern in München verbracht hatte, ist Student der Ethnologie. Nach kurzer Zeit trifft der 18-jährige Henry ein, der sich für die Zeit der Reise das Schlafwagenabteil mit Paul teilt. Schon bald beginnt Henry seine Lebensgeschichte zu erzählen, der Paul mit wenig Interesse lauscht. Henry berichtet von seiner Freundschaft zu Jens und Christine: er ist ess-, sie magersüchtig. Ferner geht er auf seinen Wunsch ein, ein Mädchen kennenzulernen und Sex zu haben. Dies ist ihm allerdings aufgrund eines Verdauungs- und Diarrhö-Problems nicht möglich. Beide Themen werden zusammengeführt und Henry beschreibt, dass er bei einer gemeinsamen Übernachtung der drei Freunde Geschlechtsverkehr mit Christine hatte, Jens bekommt dies mit, woraufhin die Freundschaft zerbricht, denn Jens ist schon lange heimlich in Christine verliebt.
Diese Erzählungen werden ein über das andere Kapitel immer wieder von der Beschreibung der Erinnerungen Pauls durchbrochen, welche er jedoch nicht ausspricht, sondern für sich behält. Er erinnert sich an sein Leben in Berlin, und es handelt sich nicht um positive Erinnerungen. So wird mehr und mehr Pauls eigene verzweifelte Situation klar. Ihm fehlen Halt und Liebe, die er versuchte bei einer Prostituierten zu finden. Diese geht allerdings nur ihrem Job nach, was Paul unglücklich macht.
Die Erzählung endet auf einem Bahnsteig am Berliner Bahnhof Zoo, hier lehnt Paul eine Weiterführung der "Freundschaft" zu Henry ab, was dieser erst nicht nachvollziehen kann. Kurze darauf wird Paul noch auf dem Bahnsteig und vor Henrys Augen von der Polizei wegen Mordes an der Prostituierten verhaftet.
Der Handlungsort (alles spielt sich im Zug ab) und auch der kurze zeitliche Rahmen (es handelt sich nur um eine Nacht) sind das Besondere an diesem Roman.
Formale Aspekte zu Der Vogel ist ein Rabe [ ↑ ]
Schreibweise
In Der Vogel ist ein Rabe beschreibt er die Erfahrungen Henrys auf einem Ball mit den Worten: „Auf solchen Bällen konnte ich nur eins gut. Das, was ich sonst auch am besten konnte: scheißen. Ich bekam regelmäßig tierischen Durchfall. Ich rannte auf die Toilette und schiss mir die Seele raus. Ich krümmte mich.“ (Der Vogel ist ein Rabe, S.18).
Pressespiegel zu Der Vogel ist ein Rabe [ ↑ ]
Der Vogel ist ein Rabe ist Leberts lang erwartetes zweites Werk und die Resonanz in den Medien ist dementsprechend groß. Nach Meinung von Amélie Fidric beschreibt der Roman insgesamt das Streben Jugendlicher etwas zu sein, was sie nicht sein können und die damit verbundenen Konflikte. Sehnsucht ist ein starkes Motiv und unter anderem auf Grund einer klaren, die Spannung steigernden Erzählstruktur sehr gut erfasst, wenn auch an manchen Stellen ein wenig „küchenpsychologische Ansätze“ angeführt werden.
Unter anderem die TAZ konstatiert, dass Lebert sich hier vom Adoleszezroman löst und dass das betrachtete Werk definitiv keine Wiederholung von Crazy darstelle. So geht es nach Meinung Henning Kobers um die Themen Mädchen und Gewalt. Vom Aufbau der Erzählung her wechselt die Figur des Paul zwischen der Perspektive des Raben und der des Spatzens hin und her. Durch die Besonderheit des erschreckenden Endes wird das Buch als „mutiges“ Werk betrachtet.
Auf die Sprache im Roman eingehend berichtet die Berliner Literaturkritik, dass diese den eigentlichen Zustand der Melancholie noch mehr untermauert, so wird die Sprache Leberts in diesem Roman mit Adjektiven wie schnörkellos und hechelnd beschrieben.
Zusammengefasst ist die Resonanz der Medien auf das Zweitwerk Leberts größtenteils positiv.
Kannst du
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Kannst du [ ↑ ]
Durch eine gemeinsame Freundin lernen sich Tim und Tina kennen. Er ist ein Anfang 20 und ein sehr erfolgreicher Jungautor, der schon in jungen Jahren einen Bestseller verfasste, es aber trotz immer weiterer Fristverlängerungen nicht schafft, ein zweites Werk zu schreiben. Auch in diesem Roman von 2006 finden sich autobiografische Anschlüsse zu Lebert. Tim flüchtet sich in Nebensächlichkeiten, um dem Erwartungsdruck, der auf ihm lastet zu entkommen (so geht er bspw. oft zu Prostituierten). Der Tod seines behinderten Bruders, der sich erst kürzlich ereignete, scheint ihn zwar zu berühren. Allerdings wirkt Tim nicht allzu betroffen. Als er auf die 18-jährige Tina trifft, sieht er die Chance auf eine ungezwungene Beziehung und sexuelle Abenteuer. Tina fasziniert Tim durch ihr selbstsicheres Auftreten und ihre Zielstrebigkeit. Sie hat bereits mehrere Praktika hinter sich, was eine Anspielung auf die sogenannte Generation Praktikum darstellt. Sie scheint mit großen Schritten auf eine sichere Karriere zuzugehen.
Die beiden begeben sich auf eine Interrail-Reise nach Skandinavien. Während der Reise wird jedoch schnell klar, dass beide etwas verbergen: Tim ist längst nicht so selbstsicher, wie er sich gibt und seine Hoffnung auf ein Abenteuer zerbricht an Tinas Verhalten. Mehr und mehr wird ihre Traurigkeit deutlich, sie weint viel und nutzt den Sex als Ausgleich, vollzieht den Akt aber ohne jedes Gefühl. Sie verletzt sich selbst und die Instabilität ihrer Psyche tritt deutlich hervor. Beide Hauptfiguren scheinen sich immer wieder voneinander zu entfernen, um dann doch wieder aufeinanderzuprallen.
Am Ende schwebt Tina in Lebensgefahr und wird von Tim zu ihren Eltern gebracht. Er äußert die Dringlichkeit des Problems und will die Eltern davon überzeugen, Tina in psychiatrische Behandlung zu geben. Ob sie diese erhält, bleibt jedoch offen.
Formale Aspekte zu Kannst du [ ↑ ]
Schreibweise
Diese staccato gleiche Form des Erzählens wird in beiden Werken nur selten aufgebrochen.
Kraftausdrücke sind typisch für Lebert und tauchen wie der parataktische Satzbau vor allem in den ersten Romanen auf. „Tokio: Ich schlief mit einem Mädchen, das ich kaum verstand, weil es sehr schlecht Englisch sprach. Während wir bei der Sache waren, sagte sie immer: ‚My father will kill you. He will kill everybody that comes close to me.’ Ich sagte: ‚Yes, but your father is not here!’”. (Kannst du, S.57). Die parataktische Form der Erzählung ist nicht mehr so prägnant, doch fällt hier, wie im Beispiel zu sehen ist, auf, dass englische Textpassagen verwendet werden. So ist auch der Titel des Romans Crazy ein Wort aus dem Englischen, Lebert bedient sich also der Jugendsprache.
Pressespiegel zu Kannst du [ ↑ ]
Bezogen auf Leberts Roman Kannst du, berichtete Der Spiegel wie folgt: Die Handlung erzählt von Lebensangst, Hass, Verliebtheit und Sehnsucht, auch nach dem Tod. Der künstlerisch besonders hervorzuhebende Aspekt sei, dass hier keine Tragödie beschrieben wird, sondern eine teilweise sogar komische, nicht allzu schwer verdauliche Geschichte. Die Sprache Leberts wirke eckig und relativ simpel, besitze aber auch poetische Anteile.
Andreas Hummel untertitelt in der „Stuttgarter Zeitung“ seine Rezension von Kannst du mit „Roman über eine getriebene Generation“. So erzähle die Geschichte von einer Generation, die ihren rebellischen Drang verloren habe und von Hauptfiguren, die drauf und dran seien, seelisch zu zerbersten. Vor allem in der weiblichen Hauptfigur spiegeln sich die Nöte und Ängste der Generation. Besonders hervorzuheben sei, dass sich der Roman an manchen Stellen wie eine Satire auf den deutschen Literaturbetrieb lesen lasse und dass auch hier viele Parallelen zum Leben des Autors zu erkennen sind. Neben einem Hinweis auf die staccato-artigen Sätze und zahlreichen Slang-Ausdrücke wird besonders auf die Darstellung der Hintergrundgeschichte eingegangen. So beweise Lebert hier besondere emotionale Tiefe.
Das Interessante an Kannst du ist, dass die Hauptfigur nicht das bekommt, wonach sie eigentlich sucht. Beide Figuren wollen Unterschiedliches und sind darum nicht imstande sich wirklich gegenseitig zu helfen. Insgesamt betrachtet sei das Thema des Romans aber nicht neu, wohingegen in der Art des Erzählens Selbstironie und Romantik zu finden sind. Allerdings wird auch hier nicht auf die Beschreibung „anatomischer Deutlichkeiten“ verzichtet. Es wird ebenso Bezug auf die Art der Beschreibung des Beischlafes genommen. So könnte es möglich sein, dass Lebert ihn auf diese Weise beschreibt, damit er sich gegebenenfalls von dem Adjektiv „kitschig“ befreien kann. So Julia Bähr in der FAZ.
Flug der Pelikane
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Flug der Pelikane [ ↑ ]
Die Figuren altern mit ihrem Autor. In seinem vierten Roman ist es die Welt der Mittzwanziger, die Lebert beleuchtet. Kurz nach seinem 24. Geburtstag trennt sich Eleanor von ihrem Freund Anton. Er, der in seinem Job als Altenpfleger keine Perspektive sieht und scheinbar in seinem derzeitigen Leben keine Erfüllung findet, verlässt Hamburg und geht nach New York. In New York lebt Onkel Jimmy, der eigentlich gar nicht sein Onkel ist, sondern ein früherer Freund seiner Mutter. Jimmy hatte ihm angeboten einige Zeit bei ihm zu verbringen und in seinem Laden, einem kleinen Imbiss, zu arbeiten. In den Vereinigten Staaten angekommen, lässt sich Anton schnell von Jimmys Leidenschaft bezüglich der Insel Alcatraz anstecken. Besonders fasziniert beide ein Ausbruch im Jahre 1962, als drei Gefangenen die Flucht möglicherweise gelungen sein könnte. Über den Verbleib dieser Personen ist nichts weiter bekannt geworden, man fand jedoch niemals ihre Leichen. Jimmy ist sich jedoch sicher, dass einer der Geflohenen in seiner Nachbarschaft lebt und das dort regelmäßige Treffen der Geflohenen stattfinden.
Im Verlauf werden mehr und mehr auch Einblicke in die Figur Anton gegeben. So erfährt der Leser, dass Anton sein Studium abgebrochen hat und auch für einige Zeit in stationärer psychologischer Behandlung gewesen ist.
Mit Jimmys plötzlichem Tod nach einem Herzinfarkt bricht diese Ebene der Geschichte ab und Anton begibt sich auf die Rückreise nach Hamburg. Er hat den Kontakt zu Eleanor wieder aufgenommen und beide freuen sich auf ein baldiges Wiedersehen.
Formale Aspekte zu Flug der Pelikane [ ↑ ]
Schreibweise
In seinem zweiten Roman fällt die Verwendung von Ausdrücken auf, die eher umgangssprachlich sind. Die Verwendung der englischen Sprache fällt auch in Flug der Pelikane auf. Da die Handlung zum größten Teil in New York stattfindet, ist dies nicht überraschend. Auch mit dem umgangssprachlichen Ton bleibt der Autor stilistisch ähnlich: „ICH WAR IN DIESEM SOMMER das erste Mal in New York. Aber mein New York, das waren nur etwa elf Blocks gewesen, wenn’s hochkommt. Vom Rubens Museum of Art in der 22sten bis zur Manhattan Mall in der 33sten Straße. Dort spielte sich für mich alles ab. Dort lernte ich, wann man einen Burger am besten vom Grill nimmt. Und dort wurde mir auch eine Geschichte nahegebracht. Von der sturmumtosten Insel der Pelikane.“ (Flug der Pelikane, S 36). Der Text folgt hier Antons ersten Eindrücken von New York, entsprechend der Figur ist die Passage in einem umgangssprachlichen Ton gehalten.
Pressespiegel zu Flug der Pelikane [ ↑ ]
Matthias Wulff fällt in „Die Welt“ ein sehr positives Urteil über Leberts Flug der Pelikane. So sei dieses Werk durchdachter, und gelungener als alle vorherigen. Lebert gelingt es den Figuren mit wenigen Sätzen Charakter zu geben und ihr Ausbrechen wird als Lebensphilosophie betrachtet.
Viele andere Kritiken teilen diese Einschätzung allerdings gar nicht. So handele es sich zwar um eine gute Grundlage, die Lebert für diesen Roman verwendet, aber die Verbindung der einzelnen Elemente der Handlung sei nicht gelungen. Der Roman ende zu plötzlich und der Teil über Alcatraz wirkt stark „zusammen gegooglet“, so Jochen Jung in Die Zeit.
Wilfried Mommerts kritisiert in der Berliner Literaturkritik, dass Lebert Alcatraz zu sehr als einen „mythischen Ort“ hervorhebt und dass die Hauptfigur immer wieder die Lebensgefühle des Autors wiederzugeben scheint. Zusammengenommen ist der Roman, dessen Leitmotiv die Sehnsucht ist, sehr melancholisch geschrieben.
Im Winter dein Herz
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Im Winter dein Herz [ ↑ ]
Nachdem ein Wissenschaftler Tabletten erfunden hat, mit denen sich die Menschen in Deutschland über die kalte Jahreszeit in einen Winterschlaf versetzen lassen können, wird dies zur Normalität. Es gibt nur wenige, die den Schlaf verweigern, die drei Hauptfiguren in diesem Werk gehören jedoch zu dieser kleinen Gruppe. Dieser ein wenig surrealistische Teil macht die Besonderheit an diesem Werk aus. Zwei der drei Schlafverweigerer, Robert und Kudowski, lernen sich in einer Hamburger Psychiatrie kennen. Wenig später kommt Annina, eine junge Frau, die an einer Tankstelle arbeitet, hinzu. Robert, der sich wegen einer Essstörung in der Klinik befand, begibt sich mit den anderen beiden von Hamburg aus auf eine Reise quer durch das verschneite Deutschland nach München. Dort möchte Anton seinen im Sterben liegenden Vater besuchen. Sie folgen der Winter-App auf ihrem I-Phone.
Der eigentliche Handlungsraum ist die Reise der drei, die durch Zufall miteinander verbunden sind. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Hintergrund, seine eigenen Erfahrungen, seine eigene Geschichte, Elemente, die nun verknüpft und ausgetauscht werden. So spielen Freundschaft, Liebe und auch der Glaube eine Rolle. Die Erlebnisse, die die drei auf ihrer Reise zusammen durchstehen, werden in Heftchen festgehalten.Die Erzählung endet in einer Kirche, wo die Figuren einer Messfeier beiwohnen. Von diesem Punkt aus bleibt unklar, was weiter geschieht.
Formale Aspekte zu Im Winter dein Herz [ ↑ ]
Schreibweise
„Der Tag war grau und kalt angebrochen. Keine Andeutung von Sonnenlicht. Schneegeriesel durchzog die Luft. Bleichgesichtig war der Ort Mengersgrund. Der Winter hielt ihn in seiner Umklammerung. Hatte nach und nach seine Adern verstopft.“ (Im Winter dein Herz, S. 23). Dieser Auszug aus dem bislang jüngsten Roman Leberts zeigt wieder deutlich Leberts parataktischen Stil, die Verknappung der Sätze und der Satzbruchstücke stützen zudem den Eindruck, dass es sich um Gedankenfetzen der Hauptfigur handelt. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Parataxen nie ganz verschwinden, auch wenn sich komplexere Satzgefüge verstärkt durchzusetzen scheinen. Hinzu kommt, dass sich gewisse romantische Elemente im Stil äußern. Dies ist vor allem in den Romanen Kannst du und Im Winter dein Herz zu bemerken.
Pressespiegel zu Im Winter dein Herz [ ↑ ]
Zum Werk Im Winter dein Herz sind ebenfalls viele Rezessionen und Interviews mit Benjamin Lebert in der Presse zu finden. Der eigene Verlag nennt als Thema des Werkes die Freundschaft und den Weg der Kälte zu trotzen. Der Roman wird als poetisch gewürdigt.
Auch viele Rezensionen geben dem Roman Attribute wie feinfühlig und tiefgründig.
Susanne Neumann vom Norddeutschen Rundfunk rezensiert zwar in erster Linie die Hörbuchfassung des Romans, lässt sich aber auch auf den Inhalt und die Handlung ein. Dem Autor gelinge es, mit wenigen Sätzen die Figuren zu formen, die Sprache sei insgesamt bildreich und poetisch gehalten.
Daniela Weiland bezeichnet den Roman im Bayerischen Rundfunk als eine Art „poetisches Roadmovie“ und verweist darauf, dass auch hier Autor und Werk eng verwoben sind und dass dies weit über die Parallele der Essstörung hinaus geht.
Die Kälte sei eine Metapher für die fehlende menschliche Wärme, so urteilt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt . Ferner erkennt sie den „esoterischen Charakter“ des Romans.
Für den Hessischen Rundfunk fasst Marc Peschke den Roman zusammen als „melancholisches und utopisches“ Werk, das sich nicht mehr mit dem Erwachsenwerden, sondern eher mit den Schwierigkeiten des Erwachsenseins befasst.
Mitternachtsweg
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Mitternachtsweg [ ↑ ]
Den Roman Mitternachtsweg kann man als moderne Spukgeschichte bezeichnen. Thematisiert wird vor allem die Bestimmung des Schicksals, in diesem Falle bezogen auf die Liebe. Lebert selbst lässt seine Hauptfigur die erzählte Geschichte als „eine große Liebesgeschichte“ (S. 14) einordnen. Große Bedeutung haben vor allem alte Bräuche und Rituale, Lebert nutzt den eh schon bestehenden Aberglauben rund um die Sommersonnenwende, also die kürzeste Nacht des Jahres, für seine Geschichte. Innerhalb des Romans lassen sich außerdem Rückbezüge auf die Epoche der Romantik ausmachen. So kann schon die Grundidee der einzigen und vom Schicksal bestimmten Liebe dem Feld romantischer Motive zugeordnet werden. Hinzu kommt der eigentliche Mitternachtsweg, der die Motive der Sehnsucht, des Wanderns sowie der Nacht miteinander verbindet. Unterstützt wird der Eindruck des romantischen Gedankens dadurch, dass die beiden wichtigsten Charaktere des Romans sich mit der Romantik verbunden fühlen („Maydell liebte die Romantiker“, S. 9; „Was ein bisschen weiterhalf, war auch hier die Romantik gewesen, mit der sich der junge Student auszukennen schien“, S. 12). Innerhalb des Romans zitiert Maydell außerdem das Gedicht Abendständchen von Clemens Brentano, einem der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik.
Die eigentliche Handlung erstreckt sich auf drei verschiedenen Zeitebenen – Sommer 1939, Sommer 2005 sowie Sommer 2006. Der Sommer 1939 thematisiert die Geschichte rund um einen jungen, vorerst namenlosen Mann, der vor den Nationalsozialisten auf Sylt versteckt wird. Im Sommer 2005 setzt die eigentliche Geschichte bedingt durch einen Leichenfund auf Sylt ein, im Sommer 2006 endet die Geschichte. Handlungsraum sind die Stadt Hamburg sowie die Insel Sylt, die Lebert immer wieder detailreich beschreibt, wodurch auch deutlich wird, dass der Autor sich in diesen Gebieten gut auskennt. Hauptprotagonist ist Johannes Kielland, ein junger Student, der in seiner Freizeit geheimnisvolle Geschehen recherchiert und daraus entstehenden Artikel an einen Redakteur der Lübecker Nachrichten versendet. Obwohl der mittlerweile pensionierte Redakteur Peter Maydell in der Geschichte ebenfalls eine erhebliche Rolle spielt, kennzeichnet Lebert Kielland deutlich durch seine Perspektivwahl als Hauptfigur. So werden Kiellands Abschnitte allesamt aus der Ich-Perspektive geschildert, im Gegensatz dazu sind die Berichte aus der Vergangenheit sowie die Abschnitte des Redakteurs Maydell durch eine personale Erzählsituation geprägt. Gerahmt wird die Handlung durch das Reportagen-Manuskript von Johannes Kielland, dass er mit einem beigelegten Brief („Lieber Herr Maydell, dieses wird meine letzte Sendung an Sie sein. Ich will Ihnen die Geschichte erzählen, die das Unheil heraufbeschworen hat, dem ich – wie es jetzt aussieht – wohl nicht mehr entkommen kann.“, S. 14) bei dem pensionierten Redakteur Maydell abgibt. Maydell kennt Kielland durch seine Manuskripte schon länger und weiß, dass Kielland immer spannende und geheimnisvolle Begebenheiten ausfindig macht und für die Leser verschiedener Zeitungen aufbereitet. Bereits kurz vor Kiellands „letzte[r] Sendung“ erscheint in der Lübecker Zeitung, für die Maydell immer noch Berichte verfasst, ein kurzer Bericht von Kielland über einen Toten, der auf Sylt im Sommer 2005 angespült wurde. Der Mann, der scheinbar von niemandem vermisst wird, wird letztendlich in Sylt auf dem tatsächlich existierendem Friedhof der Heimatlosen beerdigt. Auf diesem Friedhof, der eigentlich seit 1905 geschlossen ist, wurden früher alle namenlosen, ertrunkenen Männer der See bestattet. Kielland erwähnt in seinem Bericht über den Fall auch, dass der Unbekannte an seiner rechten Hand einen schwarzen, völlig unbeschädigten Handschuh trug, an seiner Linken jedoch nicht. Bedingt durch diesen kürzeren Artikel gerät Kielland in eine Geschichte hinein, die er Maydell in seinem letzten Manuskript schildert.
Die verstrickte Geschichte beginnt für Kielland damit, dass er Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Helma Marie Brandt macht. Der eigentlich introvertierte Kielland verbringt eine Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen erzählt sie ihm, sie sei die Ex-Freundin des Verstorbenen, anhand der Schilderung des Handschuhs hätte sie ihren ehemaligen Freund identifizieren können. Dieser sei geradezu besessen gewesen von dem einen schwarzen Handschuh. Helma Marie Brandt kommt gebürtig von der Insel Sylt, ihre Familie leitete dort nach eigener Aussage eine Schankwirtschaft, sie wohnt nun aber in der Lüneburger Heide.
Kielland, dem die Geschichte um Helma merkwürdig vorkommt, beginnt auf Sylt zu recherchieren. Durch ältere Inselbewohner erfährt er, dass Brandts Familie tatsächlich auf Sylt ansässig war, dass dies allerdings schon Jahre zurück liegt. Eine Helma Marie Brandt kennt man dort ebenfalls, diese wohnte während des Nationalsozialismus auf der Insel und war damals zwanzig Jahre alt. Diese Helma, so erfährt Kielland von einem ihrer früheren Verehrer, starb, als sie den sogenannten ‚Mitternachtsweg‘ gegangen ist. Hierbei handelt es sich um einen alten Brauch der Insel: „‚Zwei Liebende gehen also miteinander den Mitternachtsweg. Das heißt, sie gehen zu zweit hinaus auf das Wattenmeer. Und zwar traditionell am 23. Juni, zur Sommersonnenwende, wenn die Nacht am kürzesten ist. Sie laufen zu zweit raus auf das Wattenmeer und kehren wieder zurück. Sofern die Tide es zulässt. Das ist alles.‘ ‚Und wozu soll das gut sein?‘, sagte ich. Tham Nickels sah mich an. ‚Gut für die Liebe, junger Mann‘, sagte er. ‚Der Weg hinaus auf dieses kurzzeitig vom Meer bloßgelegte Reich steht für den Weg, den man in der Liebe miteinander geht, der uns erst ins Unbekannte und dann nach Hause zurück bringt. Der gemeinsame Weg, der uns durch die Mitternacht der Welt führt, wenn Sie so wollen.‘“ (S. 92)
Helma ging diesen Weg mit einem jungen Mann, den ihr Vater vor den Nationalsozialisten in seiner Scheune versteckte. Details aus dem Leben dieses jungen Mannes erfährt der Leser in den Abschnitten aus dem Jahr 1939. Nach und nach ergibt sich das Bild, dass der Gang des Mitternachtswegs schrecklich schief gegangen ist. Als der namenlose Junge und Helma sich draußen auf der Sandbank aufhalten, beginnt die Flut einzusetzen. Sie fliehen vor dem steigenden Wasser, doch Helma bleibt im Wattenmeer stecken. Der junge Mann, der noch versucht sie herauszuziehen, gibt letztendlich erfolglos auf und entfernt sich in der Dunkelheit von Helma. Zurückgelassen im Meer ertrinkt die junge Frau, der junge Mann hingegen überlebt, kommt bis zum Kriegsende ins Konzentrationslager Neuengamme und wird letztendlich dort befreit.
Kielland misstraut Helma Marie Brandt immer mehr, spätestens nachdem er vom Tod der Sylterin im Jahr 1939 erfahren hat, beschließt er von ihr Abstand zu nehmen. Dies gelingt auch zuerst. Doch kurze Zeit später taucht in seinen Habseligkeiten plötzlich ein einzelner schwarzer Handschuh auf. Obwohl er ihn mehrfach wegschmeißt und zerstört, findet Kielland den Handschuh immer wieder. Er beschließt, den Handschuh zu tragen und findet durch ihn zu einem Selbstbewusstsein, dass er vorher nicht besaß. Beflügelt von dem Handschuh schafft er es sogar, seine eigentlich Auserwählte anzusprechen und eine Beziehung mit ihr zu beginnen. Kielland meint, er hätte mit dem Thema Helma Brandt dadurch abgeschlossen, dass er sie ignoriert und den Handschuh in seinem Leben einfach akzeptiert. Als ihm seine Freundin jedoch eines Tages davon erzählt, dass sie eine nette junge Frau namens Helma Brandt kennengelernt hat, weiß Kielland, dass er sich seinem Schicksal nicht entziehen kann. Er trifft Helma und sie kündigt ihm an, während der kommenden Sommersonnenwende auf ihn zu warten. Kielland weiß nun um seine ausweglose Bestimmung. Er verfasst einen Abschiedsbrief an seine Freundin und bucht sich auf Sylt in einem Hotel ein. Dort schreibt er ebendas Manuskript zu Ende, das Peter Maydell zu Beginn des Romans erhält und sendet es mit einem Abschiedsgruß an Maydell ab. Kielland geht mit Helma Marie Brandt den Mitternachtsweg, überlebt diesen jedoch auf unerklärliche Weise. Maydell, der Kielland sofort nach Beendigung des Manuskripts in einem Krankenhaus ausfindig macht, erzählt Kielland bei einem Besuch seinen Teil der Geschichte. Nun erst erschließt sich sowohl Kielland als auch dem Leser, dass es sich bei Maydell um den jungen Mann handelt, der in Helmas Scheune versteckt gehalten wurde. Helma, die als Wiederkehrerin immer wieder junge Männer im Sylter Meer hat ertrinken lassen, versuchte über Johannes Kielland endlich ihren vom Schicksal bestimmten Mann zu erreichen. Aufgeklärt werden Kielland und der Leser nun auch über den mysteriösen Handschuh, der immer wieder in der Geschichte auftaucht. So schenkte Helma Peter Maydell kurz vor dem Mitternachtsweg schwarze, weiche Handschuhe, welche Maydell in der verhängnisvollen Nacht ebenfalls trug. Als Helma im Wattenmeer stecken blieb, reichte Maydell ihr seine Hand, doch auf Grund des Handschuhs konnte sich Helma nicht halten. Als Maydell entschied, Helma zurückzulassen, blieb das junge Mädchen mit seinem rechten Handschuh im Meer zurück. Helma, die ohne ihren Geliebten nie ihre Ruhe finden konnte, versuchte ihn so als Wiederkehrerin immer wieder zu erreichen („‚Sie hat mich gemeint, die ganze Zeit hat sie mich gemeint‘ […] ‚Wie viele junge Männer wohl schon sterben mussten? […] Wie viele sie wohl hinausgeführt hat auf das Wattenmeer seitdem? Wie viele von ihnen sind nicht an einen Strand gespült und aufgefunden worden? Wir werden es niemals erfahren. Hat sie sie in den Tod geführt, um mich zu erreichen? Hat sie so lange getötet, bis ich aufmerksam wurde, bis ich die Zeichen erkannt habe, bis ich wusste, dass sie niemals zur Ruhe kommen würde, ohne mich zu erreichen, ohne mich mitzunehmen‘“, S. 144f.)
Maydell weiß, dass er den Spuk um Helma beenden muss und kündigt Kielland gegenüber an, dass er nun selbst den Tod durch den Mitternachtsweg, dem er damals entkommen ist, wählen muss: „‚Doch das wird jetzt vorbei sein. Die Gefahr ist vorüber. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir die Augen geöffnet haben, dass Sie mir diese Geschichte geschickt haben. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie nun, nach so vielen Jahren, zu einem Ende kommen kann. Ich weiß jetzt, was zu tun ist.‘ ‚Was ist jetzt zu tun?‘, fragte der junge Mann. Der Alte blickte ihn an. ‚Ich werde zu ihr gehen‘, sagte er. ‚Ich werde den Mitternachtsweg mit ihr zu Ende gehen. Ich werde sie freisprechen von der See.‘“ (S. 145)
Im übertragenen Sinne lässt sich der Brauch des Mitternachtswegs auf das gemeinsame Leben als Paar beziehen, das Höhen und Tiefen aufweist. Der Mitternachtsweg verdeutlicht dabei, dass man etwas, was man gemeinsam beginnt auch gemeinsam beenden muss und dass man seinen Partner in schwierigen Zeiten genauso unterstützen muss, wie in guten. Benjamin Lebert entfernt sich mit seinem Roman Mitternachtsweg weitestgehend von dem, was er vorher veröffentlichte und widmet sich einer mystischen, auf lange Strecken verwirrenden Geschichte. Vor allem die Perspektivwahl verwehrt es dem Leser, bereits vor der eigentlichen Aufklärung durch Maydell den Schluss zu erahnen. So weiß der Leser zwar zu jeder Zeit, wie Kielland sich fühlt und was er denkt, Maydells Gedanken hingegen bleiben durch die eingeengte Perspektive verschlossen.
Thematische Aspekte zu Mitternachtsweg [ ↑ ]
Themen und Motive
Nachdem sich Lebert in seinen Romanen immer wieder mit dem Erwachsenwerden auseinander gesetzt hat, kann man bei der Betrachtung seines Romans Mitternachtsweg behaupten, er selbst sei nun ‚erwachsen‘ und bereit, sich von seinem Erfolg Crazy zu entfernen. So beschäftigt sich Lebert in Mitternachtsweg weder mit Problematiken des Erwachsenwerdens, noch kann man den Roman inhaltlich auf ihn rückbeziehen. Stattdessen steht die Bedeutung des Schicksals im Vordergrund des Romans, der als eine Art ‚Gespenstergeschichte‘ angelegt ist. Lebert thematisiert die Bestimmung zweier Menschen füreinander und die Folgen, wenn man sich seinem Schicksal widersetzt.
Formale Aspekte zu Mitternachtsweg [ ↑ ]
Schreibweise
Vor allem im Roman Mitternachtsweg zeigt sich Leberts Faszination der Romantik auch auf inhaltlicher Ebene. So interessieren sich die beiden wichtigsten Figuren des Romans für die romantische Epoche („Maydell liebte die Romantiker. Wenn er eine kurze Zeitreise hätte antreten können, dann wäre seine Wahl auf diese Epoche gefallen, wo die Menschen einen schmerzlich sehnsuchtsvollen Blick in die Weite warfen, die das Leben war, und hofften, sich selbst darin zu erkennen.“, Mitternachtsweg, S. 9). Innerhalb des Romans werden so unter anderem Gedichte zitiert, beispielsweise Abendständchen von Clemens Brentano, einem der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik.
Ferner ist festzuhalten, dass der Autor alle seine Romanen aus der Perspektive eines Ich-Erzählers erzählt und somit die Subjektivität des Blickwinkels dominiert. Obwohl es sich hierbei um ein typisches Merkmal von Adoleszenzromanen handelt, sind auch Leberts jüngere Romane, wie Mitternachtsweg, größtenteils aus der Ich-Perspektive verfasst („Kurz darauf befand ich mich auf dem Wattenmeer, wo Ebbe herrschte. Etwas in dieser Weite lockte mich. Ich hätte nicht sagen können, was es war.“, Mitternachtsweg, S. 104). Interessant ist jedoch, dass Lebert in ebendiesem Roman auch die personale Erzählperspektive nutzt, wenn er aus der Sicht einer Person berichtet, die nicht seine Hauptfigur ist („Sie trat aus der Tür des Gasthofes in die Nacht hinaus. Die Dunkelheit drang in ihre Augen, und es dauerte ein wenig, bis sie etwas erkennen konnte.“, Mitternachtsweg, S. 100). Durch diese Wahl der Perspektive hebt Benjamin Lebert deutlich seinen Hauptprotagonisten von anderen, ebenfalls bedeutenden Charakteren ab.
Pressespiegel zu Mitternachtsweg [ ↑ ]
Der Roman Mitternachtsweg, der 2014 erscheint, wird von der Presse zahlreich besprochen. Die Rezensenten urteilen dabei überwiegend positiv über Leberts sechstes Werk. Liliane Jolitz lobt den „Schauerroman“ in den Lübecker Nachrichten (13.08.2014) als „kunstvoll und spannend“ erzählt. Die Redakteurin der Lübecker Nachrichten merkt vor allem positiv an, dass Lebert von Orten erzählt, „mit denen er zumindest teilweise vertraut ist“. So ist es für den Leser leicht, sich in der Geschichte „zu verlieren“. Sie findet allerdings, dass man sich als LeserIn auf die Geschichte, die sehr „verschachtelt erzählt“ ist und zwischen „Zeiten, Orten und Perspektiven“ wechselt, einlassen müsse. Dann erst könne man als LeserIn mit „detektivischen Ambitionen“ die vielen Fährten erkennen, die „zur Lösung der rätselhaften Geschichte führen“.
Der Kulturspiegel (25.08.2014) hingegen findet die „Orts- und Zeitsprünge zu wenig überraschend“, das Ende sei „zu forciert“. Obwohl Lebert eine „poetische“ Sprache zugeschrieben wird, könne er mit Mitternachtsweg nicht „in die Riege der ganz großen Romanschreiber“ aufsteigen. Sein sechstes Werk sei so lediglich „ein nettes Buch für einen Tag am Strand“.
Diese Meinung des Kulturspiegels findet sich in den darauffolgenden Kritiken jedoch nicht wieder. So bewertet der Hessische Rundfunk (04.09.2014) das Werk als „stockfinster, unheimlich [und] spannend“. Die Stärke des Buchs liege in der „Unsicherheit, was Wahrheit und was Legende ist“, die dadurch entsteht, dass der „Autor […] uns bei der Frage, was und wem wir hier glauben sollen, nicht bei der Hand“ nimmt. Leberts Sprache sei dabei „unprätentiös“, der Kulturspiegel nennt sie „schnörkellos“. Für Neues Deutschland (02.10.2014) schließt sich Irmtraud Gutschke an, indem sie Lebert bescheinigt, dass er „genau“ formuliert, jedoch „nie ausufernd“. Sein Roman sei „untergründig eine Feier von Sensibilität, aber an der Oberfläche gekonnt inszeniert“. Den eigentlichen Mitternachtsweg sieht sie als „Sinnbild für das Leben“, als einen Pfad, „auf dem wir uns ängstigen, auf dem wir bestehen oder versagen“. Bei der Lektüre würde man sich nicht wirklich gruseln, obwohl auch Gutschke den Roman als „Gespenstergeschichte“ bezeichnet. Dennoch sei die Geschichte „auf anziehende Weise verwirrend, auf altmodische Weise abgefahren“. So ist sich ein Großteil der Rezensenten einig, dass die Geschichte „spannend gebaut“ ist. Für die Zeit (02.11.2014) schließt Ulrich Greiner seine Kritik mit dem Fazit, dass man sich als LeserIn in die Geschichte fallen lässt und schließlich „an einem Uferstück von Sylt wieder aus dem Wasser“ auftaucht. Damit fasst Greiner die Meinung der meisten Rezensenten, dass Lebert die Leser gekonnt in seine Geschichte zieht, bildlich treffend zusammen.