Charakteristika des Werks

Seltsame Materie

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Seltsame Materie [ ↑ ]
Dem 1999 veröffentlichten Erzählband Seltsame Materie, bestehend aus elf zunächst scheinbar unzusammenhängenden Erzählungen, geht ein langer Entstehungsprozess voraus. Bereits zwei Jahre zuvor erhält Terézia Mora für die in diesem Band enthaltene Erzählung Durst den OpenMike-Literaturpreis und kurz vor der Veröffentlichung des Bandes den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis für Der Fall Ophelia. Der Grund, weshalb die Juroren Schwierigkeiten hatten eine Spontankritik zu Der Fall Ophelia zu formulieren, ist die Rätselhaftigkeit der mannigfaltigen Spannungen auf stilistischer und inhaltlicher Ebene, die sich durch alle Geschichten dieses Bandes hindurchzieht (vgl. Schlicht 2009). Fast alle Erzählungen werden aus der Ich-Perspektive eines jungen Mädchens präsentiert (Ausnahmen bilden zwei Erzählungen, in denen es männliche Ich-Erzähler gibt), deren distanzierter Blick in einem ständigen Spannungsverhältnis zu den sehr persönlichen Äußerungen steht. Dadurch generiert Mora das omnipräsente Gefühl des Fremdseins und eine Distanz zu der Umgebung und allen auftretenden Personen. Weiter unterbindet die Anonymität der Orte und der Figuren, denn es werden so gut wie keine Namen der Dörfer oder auftretenden Personen genannt, jegliche Möglichkeit einer Identifikation: Wenn nicht einmal die Ich-Erzählinstanzen sich mit ihrer Umgebung und mit sich selber identifizieren können oder gar mögen, dann kann dies auch nicht der Leser tun. Bemerkenswert ist, dass direkt in der ersten Erzählung, die gleichsam die Titelgeschichte des Bandes ist, die Programmatik des Erzählens in apodiktischer Weise vorgegeben wird: „Sag es einfach. Wort für Wort. Lege kein Pathos hinein. Schluchze nicht, Schmelze nicht. Sag es einfach. Wort für Wort.“ (S. 19). Dieses selbstauferlegte Gebot hält die Autorin aufrecht, indem sie sehr nüchtern, lakonisch, fast dokumentarisch, ohne Ausschweifungen und Schnörkel, dafür aber sehr metaphernreich erzählt. Neben der hohen Konzentration banaler Alltagssituationen gibt es in jeder Erzählung auch ein nahezu katastrophales Ereignis wie Tod, Missbrauch oder ein Selbstmordversuch, welche jedoch in ebenso sachlich-distanziertem Stil vorgetragen werden wie eben jene alltäglichen Gegebenheiten. Ein weiteres Element von Moras Erzählstil sind die immer wieder auftauchenden märchenhaften Elemente: So steigert sich in Der Fall Ophelia die Protagonistin in Phantasien des Ertrinkens, in Seltsame Materie stellt die Ich-Erzählinstanz das „unsichtbar werden“ (S. 19) als eine möglich Tatsache dar und in Ein Schloß steht ein anachronistisch wirkendes Schloss im Zentrum der Erzählung. Aber auch diese Elemente, als absoluter Kontrast zur rauen Realität, dienen nicht der Verklärung, sondern sie heben durch ihre Absurdität die Grausamkeit der Realität hervor.
Inhaltlich wird in den elf Erzählungen eine Fülle von Themen eröffnet, die aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt werden. Alle Erzählungen spielen in einem ländlich gelegenen Dorf an der ungarisch-österreichischen Grenze, das insgesamt als ein prekärer und trostloser Ort der Stagnation und Gewaltexzesse beschrieben wird. Besonders jene Grenzerfahrung ist das verbindende Motiv aller Erzählungen. So handelt die erste Geschichte (Seltsame Materie) von einem jungen Mädchen, das eine Schauspielerkarriere anstrebt, um ihrer aktuellen Situation zu entkommen. Ihre Kindheit ist stark geprägt von den Züchtigungen ihres Vater (zu Beginn erfahren die Leser*innen, dass der Ich-Erzählerin vom Vater die Haare abgeflammt wurden) und durch die mögliche Abstammung von einem adligen Geschlecht, dessen Schloss geplündert und dadurch nicht mehr dem Fantastischen zugehörend, sich in der Nähe befindet. Seltsame Materie bildet zusammen mit der letzten Erzählung Ein Schloß gleichsam den Rahmen des gesamten Bandes, da nur in diesen beiden Geschichten von einem Zusammentreffen gleicher Protagonisten berichtet wird. Auch diese handelt von einer Ich-Erzählerin, die bereits eine junge Frau ist, sich auf dem Weg in ein anderes Land befindet und in eben jenem Schloss nur Halt macht. Ein Hüter dieses Schlosses stiehlt der Protagonistin, nachdem er ihr zunächst geholfen hat, den Pass, sodass sie sich am Ende gezwungen sieht den Mann umzubringen, indem sie ihn von einer Leiter stützt. Auch die zweite (STILLE.mich.NACHT) und dritte Geschichte (Der See) thematisieren solche Grenzerfahrung ganz explizit, indem aus der Sicht eines Grenzsoldaten die Trost- und Sinnlosigkeit seines Alltags geschildert wird. Das Flüchtlingsmotiv Maria und Josephs in der Weihnachtsgeschichte wird durch die Nähe zum Weihnachtsabend suggeriert, jedoch fehlt jeglicher zugrundeliegende Hoffnungsaspekt. Dies lässt sich auch der Umgebungsbeschreibung des Grenzsoldaten entnehmen: „An der Gegend ist nichts Besonderes, schon gar nichts Gutes, steinig, moorig, alles voller Regen, Kalk, Schlamm, Insekten, nichts ist in den Wäldern, kein Tier, nur Fäulnis und alte Skelette, das Ende der Welt ist das hier auf jeden Fall, ob es diese Grenze gibt oder nicht“(S. 43).
Der See beschreibt die Geschichte eines gelungenen Fluchtversuchs über die Grenze des Bruders der Ich-Erzählerin. Diese einzige Tochter der elfköpfigen Familie, die skrupellos Flüchtlinge für ihre Unterstützung bei der Seeüberquerung ausbeutet, flüchtet sich in ihre Träume, wie sie es auch von ihrer schlagerhörenden Mutter vorgelebt bekommt.
Neben dem Thema der Grenzerfahrung und den damit verbundenen Handlungsoptionen von Flucht oder Resignation, spielt Gewalt eine allgegenwärtige Rolle in den Erzählungen. Gewalt wird in dem Erzählband äußerst facettenreich und auf allen Ebenen dargestellt. Wie bereits erwähnt flämmt z.B. ein Vater die Haare seiner Tochter ab (Seltsame Materie), ein Großvater wird von einem neuen Schwiegersohn mit dem Hammer erschlagen (Durst) oder ein Vater unterdrückt seinen Sohn und seine bereits psychisch krank gewordene Frau und spitzt die Lage dadurch zu, dass er sich eine andere Frau vor den Augen der Mutter ins Haus und in sein Bett holt (Die Lücke). Der Protagonist der zuletzt genannten Erzählung versucht die gesehenen und erlittenen Erfahrungen mit Boxtraining zu kompensieren, wobei er auch dort durch den Trainer gedemütigt wird und insgesamt aus dem Teufelskreislauf der Gewalt nicht ausbrechen kann. Dennoch werden nicht nur gewalttätige Väter dargestellt, sondern auch Mütter vergreifen sich an ihren Söhnen, wie in eben genannter Erzählung, in der die Mutter sich an ihrem Sohn sexuell befriedigt. Weiter wird sexuelle Gewalt ebenso in Durst und Ein Schloß thematisiert.
Häufig steht Gewalt ebenfalls in direktem Zusammenhang mit einem hohen und krankhaften Alkoholkonsum, was in äußerster Form in der preisgekrönten Erzählung Durst verhandelt wird. So heißt es programmatisch zu Beginn der Geschichte: „Großvater trinkt. Alle Erwachsenen trinken. Jeder nach seiner Begabung. Großvater mit Ehrfurcht […] Großmutter heimlich […] Mutter mit der märtyrerhaften Hysterie […] Vater mit der Hast und der Aggression der sich ewig im Kreis Bewegenden. Onkel Fred mit dem Schmatzen der Schamlosen […]“ (S. 205).
Besonders der Großvater konsumiert unkontrolliert Alkohol und vergeht sich an seiner Enkelin, die auch öfters in die Kneipe, die passenderweise „Notdienst“ (S. 209) heißt, geschickt wird, um Bier zu holen. All diese Gewalt- und Alkoholexzesse werden nicht als tragische Momente einer permanenten Leidensgeschichte, sondern aufgrund des nüchternen und distanziert wirkenden Erzählstils als unausweichliche aber alltägliche Gegebenheiten dargestellt. Die Ich-Erzähler wirken eher resigniert als hoffnungslos verzweifelt.
Hinzukommt, dass sich die Ich-Erzähler immer in einer Außenseiterposition befinden. Gleich in der Titelgeschichte wird das Geschwisterpaar verlacht und als wahnsinnig bezeichnet (vgl. S. 11). In Der See drückt sich die Außenseiterposition hinsichtlich sozialer Zugehörigkeit, „[i]m Dorf sind wir bekannt als ‚das letzte Ende‘ […]“ (S. 58), und lokal durch die Abgeschiedenheit des Hauses am See aus. Am intensivsten wird dieses Thema jedoch in der Erzählung Der Fall Ophelia behandelt. In dieser Geschichte geht es um die Tochter einer zugezogenen Familie, die aufgrund ihrer Heimatsprache aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird: „Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. […] Wir sind die einzige fremde Familie im Dorf“ (S. 116 f.). Die Tochter geht aufgrund ihres Gesundheitszustandes schwimmen und erhält vom immer betrunkenen Schwimmmeister den Namen Ophelia. Als einzige schwimmt sie immer im kalten Sportbecken, während der Rest des Dorfes nach der Kirche im warmen, von einer Schwefelquelle erhitzen Becken sitzt. Hier wird die Außenseiterposition so zugespitzt, dass dadurch gewalttätige Übergriffe bis hin zum Mordversuch legitimiert werden: Ein Dorfjunge drückt Ophelia  unter Wasser und nur aufgrund ihres Schwimmtrainings kann sie lange genug die Luft anhalten. Die Geschichte endet mit dem Ausspruch der Mutter, sie hätte den Jungen nicht so erschrecken sollen (S. 129).
Ein weiteres selbstreflexives Thema ist das des Erzählens und des Schreibens. Der gesamte Band beginnt mit dem Appell: „Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts“ (S. 9). Dieses Erzähltabu wird jedoch augenblicklich dadurch wieder gebrochen, dass die Protagonisten aus der Ich-Perspektive ihren Alltag und ihre ganz persönlichen Schicksale erzählen. Am Ende dieser ersten Erzählung wird der Tabubruch auch nochmal explizit genannt: „Sag es einfach. Wort für Wort“ (S. 19). Das Schreiben dient der Protagonistin in Durst als Fluchtmittel aus dem von Gewalt und Alkohol geprägten Alltag. Als sie von ihrem Fluchtversuch im Alter von 16 Jahren erzählt beschreibt sie, dass sie nichts als ihre Schreibmaschine dabei hatte: „Warum habe ich sie [die Schreibmaschine A.d.V.] mitgenommen? Warum habe ich nicht Schuhe mitgenommen?“ (S. 216). Das Schreiben wird damit zu einer existentiellen Notwendigkeit.

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Thematische Aspekte zu Seltsame Materie [ ↑ ]

Gewalt und Handlungsfähigkeit
Sowohl Gewalt als auch Handlungsunfähigkeit sind zwei Motive, welche eine große Rolle in Terézia Moras Textwelten spielen: Seit ihrem prosaischen Erstlingswerk Seltsame Materie greift sie diese Motive immer wieder auf.

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Formale Aspekte zu Seltsame Materie [ ↑ ]

Filmisches Erzählen
Eine durch Moras Drehbuchstudium motivierte Erzähltechnik sind harte Schnitte und eine an einigen Stellen filmische Erzählweise, wie zum Beispiel die Anmerkungen in den Klammern, verleihen den Romanen einen Drehbuchcharakter, welcher das Erzählte unmittelbarer wirken lässt. Eine ähnliche filmische Erzähltechnik findet sich auch in Seltsame Materie. In dem Erzählband enthaltenen Erzählungen hangelt sich der/die LeserIn in einer Aneinanderreihung von beschrieben Bildern durch die jeweilige Geschichte.    

Inter- und Intratextuelle Bezüge
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem Roman Das Ungeheuer um eine Fortsetzungsgeschichte von Der einzige Mann auf dem Kontinent. In dieser Feststellung verbirgt sich ein weiterer formaler Aspekt. So ist es also evident, dass zwischen den beiden Romanen auch zahlreiche Parallelen und Querverweise bestehen. Darüber hinaus existieren jedoch auch intratextuelle Bezüge zu anderen Werken Moras, wie zum Beispiel zu dem Erzählband Seltsame Materie. Auf Darius‘ Reise stellt sich heraus, dass Flora in ihrer Kindheit und Jugend in dem gleichen ungarischen Dorf gelebt hat wie die Protagonisten und Protagonistinnen aus den Erzählungen in Seltsame Materie: In dem archaischem Dorf mit der „Zuckerfabrik“ (S. 122) und dem „Thermalbad“ (ebd.). Außerdem wird angedeutet, dass es sich bei Flora selbst um eine Protagonistin aus einer der Erzählungen handelt, und zwar um die Protagonistin aus der Erzählung Ophelia, ein deutsch-ungarisches, junges Mädchen, welches ein paar Jungs versuchen zu ertränken: 

„Man hätte dich im Brunnen ertränken sollen, dreckiges Balg.

Später versuchte es einer im Schwimmbad.

Dass du nicht krepieren kannst.“ (S. 271)   

Doch nicht nur zwischen den beiden Teilen bestehen strukturelle Bezüge. Der Roman zeichnet sich insgesamt durch eine verdichtete Intertextualität aus, die in ganz unterschiedlichen Formen in Erscheinung tritt. Floras Tagebucheinträge beispielsweise verweisen immer wieder auf wissenschaftliche Texte, sie übersetzt fremdsprachige Literatur und bedient sich außerdem anderer Textgenres. So zitiert sie zum Beispiel aus Beipackzetteln von Medikamenten oder schreibt Rezepte nieder:

„Pesto-Spaghetti mit Calamari und Chorizo

50 g Haselnusskerne

60 g Parmesan-Käse

1 Bund Basilikum 

[…].“ (S. 434)

Interessant ist, dass Flora auch auf die Autorin Zsófia Bán hinweist, die Terézia Mora selbst ins Deutsche übersetzt hat und der man darüber hinaus eine große thematische und stilistische Ähnlichkeit mit Mora zuschreibt:

„Eine kleine Seele kann nicht groß aufgewühlt sein. Zsófia Bán

Ich bin tief.

Und nun?“ (S. 276)

Die intertextuellen Bezüge auf wissenschaftliche und literarische Texte, welche im Zusammenhang mit dem Thema Depression stehen, Statistiken zu psychischen Krankheiten oder aber auch die Montage von einem Beipackzettel, der zu einem Antidepressiva-Medikament gehört, geben dem Thema Depression neben der subjektiven Erfahrung der Protagonistin noch eine allgemeine Rahmung. Gleichermaßen fungieren die Erzählungen zweier Fallgeschichten gegen Ende des Romans: Zum einen das Schicksal von Christina, Darius‘ Bekanntschaft aus Griechenland, deren Partner sich ebenfalls umgebracht hat, und zum anderen die Geschichte von dem Psychiater Dr. Adil K., der in seinem Leben alles erreicht hatte, aber sich trotzdem dazu entschied, zu sterben.
Eine weitere Form der Intertextualität findet sich in Moras Poetikvoresung. In dem vom Luchterhand Verlag abgedruckten Manuskript weist sie Fußnoten auf der einen Seite eine Kommentarfunktion zu. Diese kommentieren dennoch nicht nur ihre Vorträge in der fixierten Buchform, sondern sie verweisen auch auf der anderen Seite auf ihre eigenen Werke und werden auch in ihrer konventionellen Benutzungsweise zur Kenntlichmachung von Zitaten verwendet.

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Forschungspiegel zu Seltsame Materie [ ↑ ]

Grenzerfahrungen
Ebenso bedeutsam wie die Konzeption der Großstadt in Alle Tage ist das Motiv der Grenzerfahrung und des Grenzüberschreitens in Moras Erzählband Seltsame Materie. Zwar ist Abel Nema, da er aus seiner Heimat in die deutsche Großstadt B. flieht, ein Grenzgänger, jedoch steht dieses Motiv bei weitem nicht so im Vordergrund, wie es in den Kurzgeschichten behandelt wird. Brigitte Prutti untersucht jenes Grenzmotiv und konstatiert zu Beginn: „Grenzen ziehen heißt identitätsstiftende Differenzierungen vorzunehmen“ (Brutti 2006, S. 83). Erst über das Ziehen von Grenzen werden Fremdes und Eigenes erfahrbar: Moras Erzählband umfasst drei Geschichten, in denen die Grenze eine zentrale Funktion übernimmt und jeweils aus einem anderen Blickwinkel gedeutet wird. In der Erzählung Der See steht eine Familie im Mittelpunkt, die ein Außenseiterdasein direkt an einer Grenze führt und anderen als Fluchthelfer einen Weg über die Grenze ermöglicht. Das Schloß handelt als einzige Kurzgeschichte von einem konkreten Fall des Grenzübergangs: Die Protagonistin ist auf dem Weg über die Grenze in ein neues, besseres Leben und wird von einem Schlosshüter aufgehalten, der zu einer Generation gehört, „die weder drin noch draußen“ (S. 232) ist, also im Moment des Übergangs stagniert. Eben dieser jungen Frau gelingt als Einziger der Übergang aus der fremden Heimat, die für keinen der elf Protagonisten sinn- bzw. identitätsstiftend ist, und flieht, auch zum Preis eines Mordes, in ein anderes Leben, von dem der Leser nur hoffen kann, dass es ein besseres sein wird. Der erfolgreiche Grenzübergang ist zwar „der narrative Klimax“ (Prutti 2006, S. 98) des Erzählbandes, eröffnet jedoch gleichsam keine Hoffnung auf ein rettendes Jenseits (im Sinne eines Jenseits der Grenze), geschweige denn auf eine Besserung der gegenwärtigen Zustände diesseits der Grenze. Abschließend resümiert Brigitte Prutti, dass das Grenzmotiv „eine apokalyptische Chiffre für den Untergang eines totalitären Universums“ ist und dass alle Erzählungen gerade „diese Verfallsszenarien dieser heillosen Welt“ (Prutti 2006, S. 98) beschreiben. Als drittes steht in STILLE.mich.NACHT die Rolle des Grenzhüters im Zentrum der Erzählung. Dieser widmen sich insbesondere Birgit Lang und Johan Schimanski in einem gemeinsamen Aufsatz, der die Funktion und das Selbstverständnis jenes Grenzwärters im Kontext der Wiedervereinigung untersucht. Sie stellen fest, dass für den jungen Protagonisten gerade die Grenzen, trotz des Grenzfalls durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs, „zur Sackgasse wird“ (Lang u. Schimaski 2010, S. 165). Der Grenzwärter verharrt und stagniert auf der Grenze, die für ihn zu einem leeren Zwischenraum geworden ist, den zu dieser Zeit Menschen unterschiedlichster Nationen und Kulturen passieren. Die Autoren deuten die Grenzsituation für den jungen Protagonisten als „Manifestation einer Männlichkeitskrise“ (Lang u. Schimaski 2010, S. 169), da ihm jede Kraft fehle Veränderungen zuzulassen.

Das Gefühl des Anders-/ Fremdseins
„Fremd in der Welt. Über Heimat, Sprache und Identität […]“ (vgl. Schlicht 2006), „Zur Manifestation von ‚Anderem‘ und ‚Fremden‘“ (vgl. Burka 2010), „Poetiken der Identität und Alterität“ (vgl. Geier 2008), „Emigriert: zu Aspekten von Fremdheit, Sprache, Identität[…]“ (vgl. Kegelmann 20009), „Alle Orte sind gleich und fremd“ (vgl. Schlicht 2009). Dies sind nur einige Titel, die bereits auf den Aspekt von Fremdsein bezüglich der Identitätsproblematik referieren. „Fremdsein als eine existentielle Lebenserfahrung ist das zentrale Thema in den literarischen Texten [gemeint sind Seltsame Materie und Alle Tage, A.d.V.] Terézia Moras.“ (Geier 2006, S. 154) Dabei wird zwischen einer territorialen und objektiv beobachtbaren Fremde, d.h. nicht in der Heimat sein, und einer gefühlten Fremde, im Sinne einer interpersonalen Zuschreibung von Fremdheit und Anderssein, unterschieden. Beide Aspekte lassen sich in ihren ersten beiden veröffentlichten Werken herausarbeiten und durch den Einfluss auf die Fremd- und Selbstwahrnehmung als prägend für die Identifikation bezeichnen. Viele Erzählungen des Bandes Seltsame Materie behandeln insbesondere den zweiten Aspekt des Fremdseins, wie zum Beispiel Der See, denn dort heißt es: „Im Dorf sind wir bekannt als ‚das letzte Ende‘, die mit den goldenen Haare, den Ringen, den goldenen Nasen.“ (S. 58) An dieser und anderen Stellen wird die Außenseiterposition der Familie der jungen Protagonistin deutlich, die jene Fremdwahrnehmung unreflektiert zu ihrer Selbstwahrnehmung macht. Der Fall Ophelia ist sogar eine Erzählung, in der beide Aspekte des Fremdseins behandelt werden: Ophelia ist die Tochter einer zugezogenen Familie und somit zunächst eine Fremde im territorialen Sinne, da das Dorf nicht ihre Heimat ist. Eine wichtige Szene formuliert jedoch auch ihre soziale Ausgrenzung: „In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feindes. Die muß man doch als erstes wissen, sagt meine Mutter. Und: Mach dir nichts draus.“ (S.  116f.)
An dieser Stelle sind die Fremd- und Selbstbilder der Protagonistin nicht mehr zu unterscheiden, denn während die Mutter zwar eine distanzierte Haltung einnimmt, wird für sie die Alteritätserfahrung zur eigenen Identifikation (vgl. Geier 2006, S. 160f.). Bianka Burka untersucht ebenfalls die Manifestation von ‚Anderem‘ und ‚Fremden‘ in dieser Erzählung auf der sprachlichen Ebene. So stellt sie fest, dass das ‚Fremde‘ durch den Kontakt des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ zustande kommt (vgl. Burka 2010, S. 11). Indem zum Beispiel die Protagonistin den Pfarrer „in unserer Sprache“ (S. 117) begrüßt und ihm zu verstehen gibt, dass sie ihn nicht verstehe. In dem Augenblick, in dem das Possessivpronomen verwandt wird, entsteht eine Differenz zwischen den Personen und generiert das Fremde. Andreas Geier hebt abschließend zu Moras Erzählband eine übergeordnete Alteritätserfahrung aller Geschichten hervor, indem er den ländlichen Raum als soziales Gebilde beschreibt, „in dem eine Homogenität im Negativen stabilisiert werden soll.“ (Geier 2006, S. 162). Jegliche Abweichung von der dorfspezifischen Norm wird als das Fremde ausgegrenzt und paradoxerweise wird jede Anstrengung, dieser Norm zu entsprechen, als Täuschungsversuch abgelehnt. Auch die Erzählform spiegelt die Selbstentfremdung der Protagonisten wider, was an Katja Stopkas präziser Analyse deutlich wird: „Aus der Perspektive der dort beheimateten Ich-Erzähler(innen) werden die Landstriche wie die Menschen […] mit einer Schonungslosigkeit als Fremde betrachtet, die jeder Vorstellung von Geborgenheit und Vertrautheit den Garaus macht“ (Stopka 2001, S. 152). Aber zu den von Stopka erwähnten Menschen zählen auch die Protagonisten selbst, die häufig wie Fremde auf ihr eigenes Leben hinabblicken und kaum einen Zugang zu ihren Gefühlen und ihrer Wirklichkeitswahrnehmung haben (vgl. Geier 2006).

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Alle Tage

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Alle Tage [ ↑ ]
2004 erscheint im Luchterhandverlag Moras zweite große Veröffentlichung, ihr erster Roman Alle Tage. Der Sprachbegabte Migrant Abel Nema steht im Zentrum des Werkes und wird gleich zu Beginn als eine Art Märtyrerfigur eingeführt, indem er kopfüber vom Baum hängend von drei Arbeiterinnen gefunden wird. Dieses Anfangsszenario ist gleichsam das Ende und rückblickend wird nun die Geschichte fragmentarisch und diskontinuierlich erzählt. Der chronologische Anfang ist Abels Flucht als Deserteur im Alter von 19 Jahren aus seiner osteuropäischen Heimat. Er flieht jedoch nicht nur der Instabilität seines Landes wegen, sondern weil er sich seinem besten Freund Ilia als homosexuell offenbart und weshalb dieser sich von Abel abwendet. Er flüchtet in die westlich geprägte Großstadt B., in der seine wirre Passionsgeschichte und Odyssee beginnt. Zunächst verirrt sich Abel auf ständiger Wohnungssuche in völlig abseitige Gesellschaftskreise, wie die Wohngemeinschaft der exzentrischen Kinga und der drei Musiker Janda, Andre und Kontra, mit denen er auch eine Weile auf Tour ist, oder in den äußerst unseriösen Nachtclub „Klapsmühle“ (S. 201). Aufgrund eines Unfalls besitzt Abel Nema die ungewöhnliche Begabung, Sprachen schnell und perfekt zu lernen. Nach einiger Zeit beherrscht er zehn unterschiedliche Sprachen akzentfrei. Dadurch erhält er ein Stipendium von Professor Tibor B. und beginnt eine Dissertation im Bereich der komparatistischen Linguistik. Während seiner Arbeit bei Tibor lernt er die Assistentin Mercedes und ihren siebenjährigen, einäugigen Sohn Omar kennen, dem Abel Sprachunterricht gibt und zu dem er die einzige richtige zwischenmenschliche Beziehung aufbaut. Als seine Heimat zerfällt und Abel staatenlos wird, heiratet er Mercedes und sichert sich auf diese Weise seine Aufenthaltsgenehmigung. Trotz seiner wissenschaftlichen Erfolge und der sprachlichen Tätigkeiten als Lehrer, Übersetzer und Dolmetscher kann sich Abel nicht aus seiner Isolation und Verwirrung befreien. Die Situation spitzt sich zu, als er dem Strichjungen Danko begegnet, durch den er in eine Szene brutaler Gewalt gerät und sogar seine Dissertation verliert. Im vorletzten Kapitel verfällt Abel einem rauschähnlichen psychotischen Zustand, in dem er imaginiert, er kehre in seine Heimat zurück, in der er sich mit seinem verlorenen Vater ausspricht und den zwölf Geliebten desselben begegnet. Schließlich findet Abel sich vor einem Gericht wieder, das über ihn urteilt. Diese Imagination eines Selbstgerichts schenkt ihm seinen Frieden, welcher jedoch ein jähes Ende findet, da er von einer Bande Jugendlicher brutal zugerichtet und kopfüber an jenen Baum gehängt wird. Nun schließt sich der Erzählkreis und geht über den Anfang der Geschichte hinaus, denn es wird geschildert, dass Abel eine Zehn-Sprachen-Aphasie hat und sich sein Wortschatz nun auf wenige Worte der Landessprache beschränkt.

Die zehn Kapitel sind in eine weitere Vielzahl von Unterkapiteln gegliedert, die auf den Ebenen von Handlung, Raum und Zeit entweder dicht beieinander liegen oder auch ganz getrennt voneinander stehen können. Diese Diskontinuität spiegelt sich in allen Bereichen des Erzählstils wider: So lässt sich zunächst feststellen, dass es keine einheitliche Erzählinstanz gibt. Die Handlungen werden im ständigen Wechsel zwischen einer personalen und einer auktorialen Instanz dargestellt wobei wie in Seltsame Materie auch hier immer das Gefühl der Distanz und der Fremde vorhanden ist. So werden Informationen zum Protagonisten kaum durch diesen selber gegeben, sondern Abel erhält meistens durch Aussagen, Reaktionen und Gedanken der anderen Figuren Kontur. Weiterhin wird das Moment der Unbestimmbarkeit von Raum und Zeit programmatisch zu Beginn des Romans vorgegeben. Dort heißt es: „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier“ (S. 9, kursiv im Text). Mit diesem Satz wird deutlich, dass vieles, wie z.B. lokale und temporale Zuordnungen, Charaktere, Handlungsmotive, usw. unkonkret und offen bleiben. Darüber hinaus ist der Stil noch mehr als in Seltsame Materie von einer sehr eigenen und ungewöhnlichen Interpunktion geprägt. Moras Roman ist durchzogen von Auslassungszeichen, Gedankenstrichen, Doppelpunkten, und Anhäufungen von Ausrufe- und Fragezeichen in jeglichen Kombinationen. „Manche haben sogar Instrumente dabei! Reiskocher! Ferngesteuertes Spielzeug! […] Eines Tages werde ich nach Hause kommen, und ein gemütliches Lagerfeuer! Wird in der Mitte des Zimmers! Lodern! Schluss! Sagte er, hörst du!, mit diesem verdammten! Transitbahnhof in meiner Wohnung!“ (S. 113). Weiter wird an diesem Zitat deutlich, dass Mora keine Marker wörtlicher Rede benutzt, wodurch auf eine weitere Weise, neben dem fließenden Wechsel von Erzählinstanzen, Außen- und Innensichten und Tempora, die Intransparenz und die Schwierigkeit eindeutiger Zuordnungen und Identifikationen potenziert werden. Darüber hinaus zeugt es davon, wie sehr der Roman von einer konzeptionellen Mündlichkeit geprägt ist.
Neben den besonderen formalen Auffälligkeiten gibt es eine Vielzahl von thematischen Schwerpunkten in dem Roman Alle Tage. Zunächst ist durch Abel, als der Außenseiter, als der Fremde eine Nähe zum Erzählband Seltsame Materie gegeben. Jedoch ist Abel Nemas Geschichte nicht mit einer Flucht, oder der Vorstellung dieser, beendet, sondern beginnt mit einer erfolgreichen Flucht. Er flieht aus seiner Heimat, da ihn dort nichts mehr hält, ohne zu wissen, was ihn in einem anderen Land erwartet. So bleibt Abel die gesamte Handlung über ein Außenseiter und ein Fremder, der rastlos auf der Suche nach einer Identität bzw. nach einem Sinn ist. Zurück in die Heimat, der traditionell sinn- und identitätsstiftende Funktion zugeschrieben wird, kann er auch nicht, da diese durch die politischen Umbrüche praktisch nicht mehr existiert. Sprache, als weitere tragende Thematik in Moras Roman, könnte die Funktion der Heimat übernehmen. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein weltordnendes und identitätsstiftendes System, mit dessen Hilfe der Protagonist sein Leben strukturiert und überhaupt einen erfahrbaren Sinn schafft, wie in der Erzählung Durst, in der die Sprache und das Schreiben eine Alternative zur prekären und gewaltvollen Wirklichkeit darstellt, sondern bloß ein System von Konstruktionen, ähnlich wie Mathematik, jedoch bestehend aus grammatischen und lautlichen Eigenschaften. Obwohl Abel Nema zehn Sprachen beherrscht, bleibt er – von außen betrachtet – durch seine unkommunikative Art sprach(en)los, was daran deutlich wird, dass er als ein sehr stiller, zurückhaltender Mann beschrieben wird. Das Thema der Sprache wird sogar am Ende bis zum Sprachverlust zugespitzt: Der Protagonist verliert all seine erlernten Sprachen und kann zum Ende hin nur noch wenige Worte der Landessprache.
Ein weiteres Thema, welches in Seltsame Materie noch nicht vorhanden gewesen ist und welches ab Der einzige Mann auf dem Kontinent tragend sein wird, ist das der Wahrnehmung der globalisierten Welt und die damit einhergehenden Folgen und Auswirkungen großer Metropolen, wie Rastlosigkeit, existentielle Unsicherheit, Identitäts- und Ortlosigkeit.

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Forschungsspiegel zu Alle Tage [ ↑ ]

Auch wenn Terézia Moras Erzählband Seltsame Materie bereits 1999 viel Aufsehen erregte, so erhält sie jedoch erst 2004 mit ihrem Roman Alle Tage besondere Aufmerksamkeit in der germanistischen Literaturwissenschaft. Beide Werke stehen sich sowohl formal als auch thematisch sehr nahe und so können einige Forschungsschwerpunkte festgehalten werden.
In einigen Aufsätzen, die sich insbesondere auf Alle Tage beziehen, steht die spezifische Großstadtkonstruktion und deren Einflüsse auf die handelnden Figuren im Zentrum. Im Zusammenhang mit der Installation von Orten spielen immer lokale Grenzen und Grenzerfahrungen eine besondere Funktion und nehmen großen Einfluss auf die Protagonisten. Die Mehrheit der Aufsätze beschäftigt sich jedoch mit den unterschiedlichen Formen inter- und intrakultureller Alteritätserfahrungen (vgl. Geier 2006 u. Burka 2010), die häufig mit einer Schwierigkeit der Identitätsbildung einhergehen. Das Moment der Identitätssuche/ -stiftung wird zwar bereits in Seltsame Materie mit der Funktion von Sprachen in Verbindung gebracht, aber erst explizit im Roman Alle Tage verhandelt. Diese Funktion der Sprache wird ebenfalls in vielen Arbeiten untersucht (vgl. Kegelmann 2009 u. Schlicht 2006). Darüber hinaus gibt es einige wenige Versuche, Moras Werke im Genderdiskurs zu verorten (vgl. Distefano 2010 u. Schlicht 2006). So viele Arbeiten es zu den ersten beiden Werken Terézia Moras gibt, so wenige gibt es zu ihren beiden neuesten Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer. Die wenigen, die bisher verfasst wurden, untersuchen in Der einzige Mann auf dem Kontinent entweder die Figurenkonstellation (vgl. Kegelmann 2009) oder die besondere Konstruktion der Dialoge und die wiederkehrenden Motive aus den beiden ersten Werken Moras (vgl. Ramshorn-Bircsák 2012).
Insgesamt lassen sich grob zwei unterschiedliche Gesamtinterpretationen des Romans Alle Tage unterscheiden. Einige Autoren der wissenschaftlichen Sekundärtexte deuten diesen Roman als eine Migrationsgeschichte: „Mora will eine Migrationsgeschichte erzählen“ (Sieg 2010, S. 204). Christian Sieg z. B. gelangt durch die Untersuchung der Stadtkonstellation und Abels Fluchtmotiven zu dieser Deutung. Dabei stellt er fest, ähnlich wie René Kegelmann (2011), dass die Installation der Großstadt B. (Sieg setzt diese gleich mit der Stadt Berlin) „seltsam konturlos“ (Sieg 2010, S. 201) bleibt, da keinerlei topographische Informationen genannt werden. Dies sei ein Indiz dafür, dass „Berlin aus der Sicht des Protagonisten, eines Migranten, geschildert wird.“ (ebd.) Dabei sind zuvor schon Aufsätze erschienen, die gerade die fragmentarische und multiperspektivische Erzählform des Romans herausarbeiten und dadurch widerlegen, dass es sich ausschließlich um die Sichtweise des Protagonisten handelt (vgl. Geier 2008, S. 130). Als weiteren Indikator nennt Christian Sieg, dass Abel Nemas Fluchtmotiv in der politischen Situation seines Heimatlandes läge (Sieg 2010, S. 201) – dabei ist dies nur ein Motiv von vielen und deutlich existenzieller ist seine bereits in der Heimat begonnene Krise, die durch eine abgewiesene Liebe ausgelöst wird (vgl. Schlicht 2006, S. 56). Darüber hinaus verlässt ihn sein Vater bereits in seiner Kindheit und so er wächst bei seiner Mutter und seiner Oma auf. „Abel fehlen somit drei für einen Menschen wichtige identitätsbildende Faktoren: die Heimat, die Familie, die Liebe.“ (Distefano 2010, S. 90) Somit ist die zerrüttete Situation in der Heimat nur ein Faktor von vielen. Über die Deutung der Migrationsgeschichte könnte viel eher, aufgrund der Ausgangssituation der fehlenden identitätsbildenden Faktoren, Moras Roman vordergründig als eine ‚Entwicklungsgeschichte‘ oder sogar als eine ‚Adoleszenzgeschichte‘ gedeutet werden (Schlicht 2006, S. 56). Der Weggang des Vaters und die amouröse Zurückweisung aufgrund seiner homoerotischen Zuneigung sind traumatisch prägende Faktoren eines Heranwachsenden (vgl. ebd.), jedoch möchte Mora durch die fragmentarische und nicht direkt durch den Protagonisten erfolgte Informationsvergabe gerade kein individuelles Schicksal, „sondern vielmehr […] Grundsätzliches“ (ebd.) erzählen. Aus unterschiedlichen und oft nicht zusammenhängenden Perspektiven und Situationen heraus wird Abel Nemas Suche nach einem Ort und Identität erzählt. Corinna Schlicht deutet diese Faktoren als die später viel zitierte Kreation einer modernen Odysseus-Figur, die eher eine „allgemein-menschliche Erfahrung“ (Schlicht 2006, S. 61) beschreibt, als eine individuelle Migrationsgeschichte. Mit dieser Deutung stimmt auch René Kegelmann überein, indem er abschließend zur Konstruktion Abel Nemas sagt: „Insofern kann man durchaus davon sprechen, dass der Roman von Terézia Mora das Schicksal eines schwer einordbaren oder fassbaren Fremden/Migranten […] gestaltet und gewissermaßen durch eine Überzeichnung und Einarbeitung von symbolistisch- metaphorischen Elementen auf eine allgemein-existenzielle Ebene hebt.“ (Kegelmann 2011, S. 424)
Einen ganz anderen Deutungsversuch unternimmt Erika Hammer, indem sie versucht Alle Tage als einen „autoreflexiven Architext“ zu verstehen, „der zwar auf den Bildungsroman rekurriert, jedoch viel eher in der Tradition der Hofmannsthalschen Skepsis zu situieren wäre“ (Hammer 2010, S. 514). Sie untersucht, ob und in wieweit die typischen Grundmuster des Bildungsromans vorhanden sind und ob die Unmöglichkeit einer sinnhaften und stringenten Entwicklung eines autonomen Ichs damit vereinbar sind. Dabei weist Moras Roman zahlreiche bildungsromantypische narrative Strukturen und Elemente auf, die jedoch bis ins Extreme verschoben und ad absurdum geführt werden. Abschließend hält sie fest, dass alle Versuche eine identitätsstiftenden Reise, im Sinne der ‚Lehrjahre‘, zu erzählen unmöglich sind und aufgrund moderner epistemologischer Überlegungen „dem Subjekt und der Sprache ständig der Boden weggezogen“ (Hammer 2007, S. 533) wird. Anstelle von Sinn entstehen sinnlose Störungen, die eine Identifikation unmöglich machen.

Gestaltung des urbanen Raums
Sekundärliteratur, die sich mit der Gestaltung des urbanen Raums in Moras Werken auseinandersetzt, bezieht sich ausschließlich auf Alle Tage, da zu den beiden neueren Romanen noch keine Aufsätze erschienen und zum anderen die Erzählungen in Seltsame Materie in ländlichen Grenzgebieten angesiedelt sind. Abel Nema, der Protagonist aus Alle Tage, flieht in die deutsche Großstadt B., – in einigen wenigen Aufsätzen wird diese Großstadt B. auch mit Berlin gleichgesetzt (vgl. Chiarloni 2008 u. Sieg 2010) – die eingangs folgendermaßen charakterisiert wird: „Eine Stadt, ein östlicher Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau womit gefüllte Lagerräume und vollgestopfte Menschenheime, im Zickzack an der Bahnlinie entlang laufend, in plötzlichen Sackgassen an eine Ziegelmauer stoßend.“ (S. 9)
„Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier“ (S. 9, kursiv im Text). Beide Zitate werden immer wieder aufgegriffen, um die bewusst unkonkrete Darstellung der Zeit und des Raumes zu demonstrieren. Terézia Mora verlagert die Handlung in einen westlichen, großstädtischen Raum, der jedoch konturlos, undurchschaubar und nicht fassbar bleibt. Christian Sieg weist darauf hin, dass es nicht um die Partikularität der Großstadt und ihren lokalen Charakter gehe, denn: „[b]eschrieben wird hier die globalisierte Stadt per se“ (Sieg 2010, S. 201). Trotz der vielen Wohnungsumzüge und Bekanntschaften Abel Nemas, erlangt die Stadt keine neuen Konturen, da dieser es nicht schafft handelndes Subjekt zu werden und sich die Stadt anzueignen. Sie bleibt damit ein „deterritorialisierte[r] Sozialraum“ (Sieg 2010, S. 202), in der viele Migranten separiert von der übrigen Gesellschaft leben. Insgesamt deutet Christian Sieg Alle Tage als Migrationsgeschichte ungeachtet der schon bekannten Distanzierung Moras, eine Autorin der Migrationsliteratur zu sein (vgl. Literaturen 4/2005, S. 28) und der bereits erschienenen Arbeiten, die über die Deutung, Alle Tage als Migrationsroman zu sehen, hinausgehen (vgl. Schlicht 2006, S. 56 u. S. 60): „Mora will eine Migrationsgeschichte erzählen, die in jeder westlichen Großstadt spielen könnte“ (Sieg 2010, S. 204). 
Weitere Charakteristika der Stadt B. werden im Laufe des Romans angedeutet. So pendelt Abel Nema ständig zwischen einem sehr prekären und zwielichtigen Milieu aus extrovertierten aber psychisch instabilen Frauenfiguren, wie Kinga, und Männerfiguren, wie den Musikern und den gewaltbereiten Gangmitgliedern um Danko einerseits und dem wohlhabenden und weltoffenen Emigrantenzirkel, zu dem unter anderen Prof. Tibor, seine Hilfskraft Mercedes und ihr Sohn Omar gehören, andererseits. Beide Extreme liegen lokal sehr weit auseinander und sind völlig entgegengesetzt strukturiert. Das prekäre Männerwohnheim ist verschachtelt und zum „direkten Nachbarn kommt man mitunter erst über komplizierte Umwege, wenn einem der Durchgang nicht vollends durch Feuerschutztüren o.ä. versperrt wird.“ (S. 94) Hinzu kommt der zwielichtige Nachtclub Klapsmühle, welcher direkt neben seinem späteren Wohnort über einer Fleischerei liegt und vor welchem er brutal zusammengeschlagen wird. Kegelmann arbeitet trotz der kaum vorhandenen und allgemeingehaltenen Beschreibungen ein grobes Stadtkonzept heraus, das nicht untypisch für die Wahrnehmung globalisierter Großstädte ist: „Die Stadt ist im Wesentlichen zerschnitten in zwei Hälften, in einen wohlhabenden, geordneten Westen (wo auch Tibor und Mercedes wohnen) und in den über den Ostausgang des Bahnhofs erreichbaren Osten der Stadt, ein ehemaliges Kleinindustriellengebiet, das viele Wandlungen durchlief und schließlich den Randexistenzen und Gescheiterten überlassen wurde.“ (Kegelmann 2011, S. 421)
Seine Bewertung der Stadtinstallation ist, dass diese eine laut umkämpfte Kulisse für Isolation aller und damit nicht zwangsweise ein Problem der Migranten, sondern gleichsam eine allgemein anthropologische existenzielle Herausforderung des modernen Menschen sei (vgl Kegelmann 2011, S. 424 u. Schlicht 2006, S. 61).
Besonders die Elemente der störenden Akustik und des ständigen Kampfes werden bereits 2007 in Jenny Willners Aufsatz thematisiert. Sie stellt fest, dass „Beschreibungen von Lärm und Störgeräuschen […] die Texte wie eine ohrenbetäubende Tonspur“ (Willner 2007, S. 154) durchziehen. Bei Mora tauchen immer wieder Formulierungen auf wie: „Rundherum hämmerte, klirrte, schepperte, heulte, jauchzte es umso lauter […]“ (S. 57) oder an anderer Stelle stolpert Abel Nema „ungeschickt durch Radioklänge, Bohrmaschinenlärm“ (S. 192) hindurch. Diese akustische Omnipräsenz von Lärm und Störgeräuschen deutet Willner als modernen Kampf gegen Angriffe auf Physiologie (in Form von Sinnesreizen) und Psyche des Menschen, der in Alle Tage häufig mit einem Versagen der Sprache einhergeht (vgl. Willner 2007, S. 155).

Identität und Alterität
Der Hauptaspekt der meisten Sekundärliteratur ist der der Identitätsbildung, die sowohl in Seltsame Materie als auch in Alle Tage im Vordergrund stehen soll. Häufig wird der Frage nachgegangen, wie das Selbstverständnis der Protagonisten sei, welche Aspekte ihre Identität präge oder was sie in ihre Identitätslosigkeit führe. Dabei lassen sich zwei bedeutsame Indikatoren herausarbeiten, auf die Bezug genommen wird: Erstens eine Alteritätserfahrung, die die Protagonisten auf der Identitätssuche beeinflussen und zweitens Sprache als identitätsstiftendes Moment.

Das Gefühl des Anders-/ Fremdseins
Abel Nema vereint als Protagonist in Terézia Moras Roman Alle Tage beide Aspekte des Fremdseins. Andreas Geier spricht von ihm sogar als einer „Figur des Fremden par excellence“ (Geier 2006, S. 169), da er erstens als Exilant aus seiner Heimat in die deutsche Stadt B. kommt und darüber hinaus zweitens als fremd und andersartig wahrgenommen wird. So wird er als „Mensch ohne Menschheit“ (S. 119) oder als jemand, „der nirgends herkommt“ (S. 170) bezeichnet. Diese Charakterisierungen verdeutlichen das interpersonale Verhältnis, das durch Fremdzuschreibungen und Alteritätserfahrungen gekennzeichnet ist.
Hinsichtlich des Fremdseins und seiner Identitätslosigkeit wird Abel Nemas Name in vielen Aufsätzen etymologisch untersucht, wobei dieser auf einen slawischen Ursprung zurückgeführt wird und so viel bedeutet, wie ‚niemand‘, ‚stumm‘ oder ‚jemand, der nichts sagt‘ (vgl. Schlicht 2006, S. 55).
Als weitere Potenzierung der Fremdheitserfahrung wird in einigen Aufsätzen die besondere Erzählperspektive genannt. Speziell durch den bereits oben erwähnten multiperspektivischen Erzählstil, der erstens zwischen den homodiegetischen Instanzen verschiedener Sichtweisen auf Abel Nema wechselt und zweitens eine heterodiegetische Instanz einer Erzählstimme beinhaltet. Der Perspektivwechsel erfolgt ohne Markierungen auf der Textoberfläche, so dass häufig erst später deutlich wird, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird. Dies macht jedoch das Erfahren von sozial konstruierten Differenzen und den damit verbundenen Einfluss von Fremdbildern auf das Selbstbild Abels möglich (vgl. Geier 2008, S. 130).

Sprache als identitätsstiftendes Moment
Genauso wie die Alteritätserfahrung und deren Einfluss auf die Selbstbildkonstruktion sind in der Sekundärliteratur insbesondere die Sprache und ihr Zusammenhang mit der Identitätssuche von großem Interesse. Auch hier wird der Schwerpunkt, gleichsam wie in der Stadtkonstruktion, auf den Roman Alle Tage gelegt, denn Abel Nema ist ein Sprachgenie. Eigentlich scheint dieser Umstand die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration in die neue Gesellschaft zu sein und anfänglich sieht der Integrationsprozess auch vielversprechend aus, denn er erhält aufgrund seiner Fähigkeiten ein Stipendium, promiviert in komparatistischer Linguistik und arbeitet nebenher als Übersetzer und Sprachenlehrer. Doch Sprache beinhaltet mehr als das Lernen und Anwenden von Wissen: Kommunikation, interpersonale Handlungen und soziale Beziehungen werden mittels der Sprache aufgebaut und gepflegt. Dieser zweite, identitätsstiftende Aspekt, geht Abel völlig abhanden. René Kegelmann hält präzisiert fest, dass Abel Nema im gesamten Roman kaum ein einziges wirkliches Gespräch im Sinne eines Dialoges mit einer anderen Person führe (Kegelmann 2012, S. 206). Bemerkenswerterweise ist die einzige Person, mit der er sich unterhält, Mercedes´ kleiner Sohn Omar und „[n]ur mit diesem sprachbegabten Kind spricht er über sich selbst“ (Willner 2007, S. 158). An einer anderen Stelle heißt es, dass man glaube, „dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlabor erworben hat, so wie ich es sage: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern, wenn er nie mit einem einzigen lebenden Portugiesen oder Finnen gesprochen hätte“ (S. 13). Das Zitat verdeutlicht die Reduktion der Sprachen auf das Aneignen von Wissen und sein Desinteresse an zwischenmenschlicher Kommunikation. In diesem Zusammenhang kann auch erneut die Untersuchung seines Namens herangezogen werden, da Nema ‚stumm‘ oder ‚jemand, der nichts besitzt‘ (vgl. Schlicht 2006), also auch keine Sprache oder genauer die Fähigkeit zu kommunizieren, bedeutet. Weiter heißt es in diesem Zitat: „Deswegen ist alles, was er sagt, so, wie soll ich sagen, ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt.“ (S. 13, kursiv im Text) Dies verdeutlicht darüber hinaus, dass sein Verständnis von Sprache ihn erneut zu einem Fremden macht, der nicht nur heimatlos, sondern auch ‚ortlos‘ ist und damit ein weiteres identitätsprägendes Merkmal nicht vorhanden ist. Besonders den künstlichen Aneignungsprozess der Sprache und die damit paradoxerweise erzeugte Ortlosigkeit Abels stellt Jenny Willner in ihrem Aufsatz dar. Sie merkt an, dass das Fortschreiten des Lernens mit einer „Metaphorik des Landgewinns geschildert“ (Willner 2007, S. 158) wird. Abel Nema kartographiert geradezu das Innere seines Mundes: „Das einzige Land, dessen Landschaften er bis ins Letzte kannte. Die Lippen, die Zähne, die Alveolaren, das Palatum, das Velum, die Uvula, die Lingua, der Apex, das Dorsum, die Zungenwurzel, der Kehlkopf.“ (S. 100) Paradoxerweise macht ihn genau dieser, durch Sprachenerwerb gewonnene ‚Landgewinn‘ vollends ‚ortlos‘, da er nur in seinem Mund stattfindet. Kurz vor der Scheidung konstatiert Abels Schein-Ehefrau Mercedes über die Funktion Abels Sprachfähigkeiten: „Seine zehn Sprachen hat er auch nur gelernt, um einsamer sein zu können als mit drei, fünf oder sieben.“ (S. 329) Abschließend ist also festzuhalten, dass Sprache in Alle Tage im Falle Nemas kein Mittel zwischenmenschlicher Interaktionen ist, sondern geradezu die entgegengesetzte Funktion, d.h. die Isolation, erfüllt: „Es sind die Sprachen, die ihn [Abel Nema A.d.V.] abschotten“ und „die scheinbar neutrale Sprache Abel Nemas ist Teil eines kraftaufwendigen Distanzierungsmanövers“ (Willner 2007, S. 150f.). Damit wird Sprache zum Mittel der Alteritätserfahrungen. 

Geschlechterspezifische Perspektive
Neben den erwähnten identitätsstiftenden Elementen der Sprache und der Alteritätserfahrung, gehen einige wenige Autoren auch der Frage nach der Rolle des Geschlechts nach (vgl. Schlicht 2006 u. Distefano 2010). Aurora Distefano charakterisiert Abel Nema anhand der Verbindungen zu den Nebenfiguren hinsichtlich der Rolle des Körpers und des Geschlechts (vgl. Distefano 2010, S. 89). Zunächst stellt sie bei der Untersuchung der weiblichen Figuren fest, dass es in Alle Tage keine Frauenfigur gibt, die der klassischen medialen Präsentation einer begehrenswerten, weiblichen Schönheit ähnelt. Meisten werden sie als „moderne Frauen, oftmals Mütter, die alleinerziehend oder auch Flüchtlinge wie Abel“ (Distefano 2010, S. 91) sind, dargestellt und selbst Kinga, die noch am offensichtlichsten Versucht eine körperliche Beziehung zu Abel aufzubauen, erhält häufig mütterliche Züge. Die meisten Frauenfiguren erhalten eine optische oder charakterliche Nähe zur ikonischen Mariendarstellung, wie zum Beispiel Elsa, die Abel kurzfristig aufnimmt, die als „schwarze Madonna mit einem riesigen Knaben auf dem Arm“ (S. 115) dargestellt wird und sich, um die Nähe zum Mutter-Gottes-Vorstellungsgehalt zu perfektionieren, als ihre ältere Schwester Maria ausgibt. Auch seine Frau Mercedes (spanisch für Gnade) ist sehr bemüht, ihn zu unterstützen, ohne jedoch eine Gegenleistung einzufordern (nur an einigen Stellen wird deutlich, dass sie sich von ihm intime Zuneigung wünscht). Jegliche körperliche Zuwendungen Seitens der Frauenfiguren (Kinga, Mercedes, Ann, die Dolmetscherin oder Bora, die erste Liebe seines Vaters) werden von Abel übergangen und abgeblockt. Aurora Distefano erklärt dies damit, dass Abel durch den frühen Verlust der identitätsstiftenden Faktoren (Heimat, Familie, Liebeserfahrung) ein gewisser seelischer und körperlicher Entwicklungsstand fehle, sodass er Frauen vor allem als Mutterfiguren wahrnehme (Distefano 2010, S. 95).
Sein Verhältnis zu den männlichen Figuren ist ähnlich konstituiert und wird häufig als eine Unterordnung seinerseits betrachtet. Entweder bleibt Abel immer in einer vorsichtigen Distanz oder es entsteht eine gewisse Vater-Sohn Rollenverteilung. Insgesamt zeigt sich jedoch, „dass Abel keinen freundschaftlichen Zugang zu den Männern findet.“ (Distefano 2010, S. 98)
Wie bereits Corinna Schlicht (2006) in ihrem Aufsatz Abel als „eine androgyne Figur“ (Schlicht 2006, S. 59) beschreibt, die die Geschlechterdifferenz überwindet, so charakterisiert auch Aurora Distefano Abel als eine solche. Abel Nema faszinieren die knabenhaft androgynen Figuren (Omar, der Sohn Mercedes und der Lustknabe in seiner Wohnung), jedoch keines Falls hinsichtlich einer sexuellen Begierde, sondern „weil sie ihm ähnlich sind. Sie verkörpern die Vergangenheit, […] den Punkt in Abels Leben, als er noch ein Junge war und ihm der Krieg seine Heimat und Familie noch nicht genommen hatte“ (Distefano 2010, S. 100). Sowohl Abel als auch die anderen androgynen Figuren seien hinsichtlich ihrer persönlichen und körperlichen Entwicklung Grenzfiguren, da sie männliche sowie weibliche Züge aufwiesen (vgl. Distefano 2010, S. 101).
In vielen Aufsätzen wird auch auf die geschlechtsspezifische Darstellung von Kopp und Flora eingegangen. So werden die beiden als sehr gegensätzliche Menschen dargestellt. Zum einen beruht dies auf Äußerlichkeiten, da Kopp übergewichtig und unansehnlich ist, während Flora eine zierliche und hübsche Frau ist. Darüber hinaus ist sie ein Mensch, der fürsorglich, tiefsinnig und fleißig ist. Er ist hingegen faul und nicht in der Lage, differenziert nachzudenken und Dinge einzuordnen. So nimmt er auch ihre Hypersensibilität gepaart mit unerfülltem Berufs- und Kinderwunsch sowie Überlastung –, zwischen Ratlosigkeit und Gleichgültigkeit schwankend, hin. Weitere Gegensetzte finden sich auch in der Abhandlung von Stadt und Natur, denn während Flora die Wochenenden auf dem Landhaus kaum erwarten kann, wird Kopps Stimmung immer schlechter, je weiter sie die Stadt verlassen und je schlechter der Handyempfang wird. Nach Gellai werden damit „die klassischen Zuschreibungen Mann/Technik vs. Frau/Natur […] mehrfach persifliert“ (Gellai 2013, S. 242). Da Flora auch die meiste Zeit damit beschäftigt ist ihren Mann mit Essen und Sex zu versorgen, akzeptiert sie damit die traditionelle Frauenrolle, die auf die Versorgung und Befriedigung der Wünsche ihres Mannes ausgelegt ist (vgl. Shafi 2013, S. 323). Der Roman zeigt damit, “how gender, ethnicity, class, and socio-economic environment interact leaving someone like her, who is also frail and sensitive, with very few options. The power imbalance in her marriage could also point to the masculine bias inherent in the neoliberal economy and culture since its lead figure is ‘the entrepreneur’ (whom Kopp tries to embody)” (ebd.).

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Der einzige Mann auf dem Kontinent

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der einzige Mann auf dem Kontinent [ ↑ ]
Im Jahr 2009 erscheint im Luchterhand Verlag Terézia Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent. Dieser schildert eine Woche aus dem Leben von Darius Kopp, einem IT-Spezialisten Anfang 40. Als einziger Vertreter einer US-amerikanischen Firma für drahtlose Netzwerke in Mittel- und Osteuropa führt Kopp einen von Arbeit geprägten Alltag, für Freizeit und seine Frau Flora bleibt nicht viel Zeit.
Einer der zentralen Schlüsselbegriffe des Romans ist Sicherheit. Kopp ist Spezialist für drahtlose Netzwerkverbindungen und deren Sicherheit. Eine einzige Woche reicht jedoch aus, um ihm jegliche Sicherheiten aus seinem Leben zu rauben. Der Roman gibt einen tiefen Einblick in Geschäftspraktiken der heutigen Welt, zeigt, dass teilweise auch krumme Geschäfte gemacht werden. Mora liefert somit eine Form von Zeitdiagnostik. Sie beschreibt den Absturz einer Branche beziehungsweise eines Unternehmens und eines loyalen Mitarbeiters.
In einem Zeitalter der ständigen Erreichbarkeit, des permanenten Telefonierens und Mailschreibens ist es umso mehr verwunderlich, wenn man die Menschen, für die man arbeitet, plötzlich nicht mehr erreichen kann. Als Darius Kopp von einem armenischen Kunden 40.000 Euro in bar erhält, angeblich zur Begleichung einer Rechnung, will er sich in seiner Ahnungslosigkeit an seine Vorgesetzten wenden. Die kann er jedoch auch nach mehreren Wochen und zahlreichen Anrufen nicht kontaktieren. Isolation wird somit zu einem Leitmotiv des Romans. Kopp lebt in einer Blase. Kontakt hat er eigentlich nur abends zu seiner Frau Flora, ansonsten geistert er allein durch die Geschäftswelt Berlins. Die erfolglosen Anrufe zermürben ihn mehr und mehr. Er arbeitet für ein Kommunikationsunternehmen, innerhalb dessen keine Kommunikation möglich ist. Kommunikationsverlust entsteht auf allen Ebenen. Auch hier lässt sich ein weiterer, von Mora konzipierter, ironischer Gegensatz finden, der gleichzeitig eine akute Problematik der westlichen Gesellschaft anspricht.
„Ich kann nichts dafür oder dagegen, ich muss es fühlen, ich fühle es: seit geraumer Zeit nimmt meine Einsamkeit zu, wieso und seit wann genau, das weiß ich nicht, aber nun muss ich es deutlich sehen/spüren: ich bin allein. Hier und jetzt, aber auch allgemein. Seit geraumer Zeit, so war Darius Kopps Gefühl, hatte er keinen Kontakt mehr zu quasi niemandem herstellen können.“ (S.316)
Kopp nimmt nur ein Gefühl wahr. Wie es dazu kam, reflektiert er nicht.
Moras Protagonist ist einfach gestrickt. Darius Kopp denkt, wenn er nicht mit Arbeit beschäftigt ist, eigentlich nur an Essen, Trinken und Sex. Es braucht nicht viel, um ihn glücklich zu machen. Seine eigenen Gefühle reflektiert er so gut wie nie und auch sonst macht er sich kaum Gedanken um etwas außerhalb seines Jobs. Er hält sich selbst für einen sympathischen, netten Menschen, der bisher stets Glück im Leben gehabt hat.
Der extrem schnelle Rhythmus der Arbeitswelt steht hier im Kontrast zu Kopps Handlungsunfähigkeit. Oft surft er planlos mehrere Stunden im Netz herum, nur um die Zeit bis zur nächsten Mahlzeit zu überbrücken. Hilflos steht Kopp sowohl dem Chaos in seinem Büro gegenüber, das er seit einiger Zeit nicht mehr aufgeräumt hat, als auch dem Chaos seines Jobs, in dem nichts mehr in geregelten Bahnen zu verlaufen scheint. Mehr als ein paar Telefonate zu führen gelingt ihm an einem Tag meistens nicht. Oft scheint es, als ob die Welt mit all ihrer Hektik und Schnelllebigkeit Kopp verschlucken würde. In nur einer einzigen Woche verliert Kopp alles, was er lange in Sicherheit wähnte: Seine Frau braucht Abstand von ihm und zieht in eine Hütte im Wald, er selbst verliert seinen Job. Er erkennt erst zu spät, was sich seit längerer Zeit schon angedeutet hat, was er jedoch nicht im Stande war, zu realisieren. Am Ende platzt seine Blase vollständig: Er ist allein.
Der Name seiner Firma lautet Fidelis, was aus dem Lateinischen übersetzt ‚treu‘ bedeutet. Dieses Detail ist ein weiterer ironischer Seitenhieb des Textes, der auf grausame Weise zeigt, dass sich ein großer Konzern letztlich nicht um das Wohl seiner Mitarbeiter schert, sie fallen lässt, wenn sie keinen Gewinn mehr bringen. Der Einzige, der hier treu ist, ist Darius Kopp, der seiner Firma sogar seine Freizeit und seine Frau opfert. Zum Dank bekommt er dafür nichts.

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Thematische Aspekte zu Der einzige Mann auf dem Kontinent [ ↑ ]

Isolation
Thematisch greift Mora auch in ihren folgenden Romanen das Thema der Isolation wieder auf. So beschreibt sie beispielsweise in ihrem zweiten Roman die Ohnmacht des Einzelnen, der als Spielball der Geschäftswelt fungiert, entweder bis er durch Überarbeitung das Handtuch wirft, oder am Ende undankbar gefeuert wird. Der einzige Mann auf dem Kontinent ist daher auch eine Kritik an einer globalisierten Gesellschaft, in der das einzelne Individuum keinen Halt findet. Denn obwohl die technische Entwicklung es heutzutage ermöglicht, dass Menschen rund um die Welt miteinander vernetzt und ständig erreichbar sind, ist Darius Kopp dennoch in beiden Romanen isoliert von seiner Außenwelt. Zum einen kann er in Der einzige Mann auf dem Kontinent seine Vorgesetzten aus ungeklärten Gründen nicht mehr erreichen. Eigentlichen Kontakt hat er so nur zu seiner Ehefrau, aufgrund ihrer konfliktreichen Beziehung verfallen beide jedoch in einen Status der beidseitigen Isolation zueinander. Auch die kulturellen Gegensätze spielen hier eine Rolle. Kopps Kunden oder auch Vorgesetzte sind verschiedener Nationalitäten. Daraus entstehen einige Konflikte, wie zum Beispiel der Verdacht auf Geldwäsche durch den armenischen Kunden. Zum anderen ist Darius Kopp im folgenden Roman Das Ungeheuer aufgrund seiner Trauer um Flora und ihres Todes von ihr und dem restlichen Geschehen isoliert. In seiner Trauer hat er nur Floras Tagebuch als ständigen stetigen Begleiter auf seiner Reise. Dieses macht ihm aber gleichzeitig bewusst, wie wenig er seine eigene Frau gekannt hat, weshalb die Distanz und somit ihre gegenseitige Einsamkeit auch nach Floras Tod nur noch vergrößert wird.

Drastik/Gegensätzlichkeit
Erbarmungslos stellt Mora in ihren Erzählungen die Dinge so dar, wie sie sind. So auch Darius Kopp Äußeres in Der einzige Mann auf dem Kontinent: Die Erzählinstanz scheut sich nicht zu betonen, dass Darius Kopp fett ist. Bei 178 cm Körpergröße wiegt er 106 Kilo. Ständig isst er, ständig schwitzt er. Als er seine Ehefrau Flora kennenlernt, ein zartes, ruhiges Wesen, ist ihm vorher nach einem mächtigen Essen ein Hemdknopf geplatzt. So sind Kopp und seine Frau nicht nur äußerlich absolute Gegensätze: Sie zierlich, hübsch und elegant. Er übergewichtig, unansehnlich und ungeschickt. Sie ein Mensch, der sich viele Gedanken macht, er ist nicht in der Lage, differenziert nachzudenken und Dinge einzuordnen. Kopp kann Floras Welt nicht wirklich greifen, was für eine Distanz zwischen den beiden sorgt. Im Endeffekt spiegelt die Beziehung der beiden die Gegensätzlichkeit zwischen einer Wirtschaftswelt ohne Emotionen und der inneren Psyche eines sensiblen Menschen wider. Dennoch betont Kopp immer wieder, dass Flora die Liebe seines Lebens sei. Sie stellt für ihn eine Quelle erotischer Anziehung dar. 

Liebe
Liebe hat in Der einzige Mann auf dem Kontinent zwei verschiedene Ausprägungen. Auf der einen Seite die von Erotik und Sex geprägte Liebe zu Flora, auf der anderen Seite die familiäre Liebe zu Kopps Mutter und Schwester, die jedoch nicht sehr ausgeprägt ist. Eher aus Pflichtgefühl besucht er seine Mutter, redet mit ihr und seiner Schwester. Die intensive Leidenschaft, die er für Flora empfindet, lässt sich in seinen familiären Beziehungen nicht erkennen. Diese sind eher unterkühlt und distanziert. 

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Formale Aspekte zu Der einzige Mann auf dem Kontinent [ ↑ ]

Erzählinstanzen
Eine auffällige sprachliche Besonderheit in dem Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent ist der permanente Wechsel von personalem Erzähler und Ich-Erzähler. Dann heißt es zum Beispiel: „Normalerweise fällt mir so etwas nicht so auf. Vermutlich hatte er Durst. Ja, er hatte Durst […]“ (Der einzige Mann auf dem Kontinent S.187). Einen strikten Erzählrhythmus gibt es nicht, was vor allem in Der einzige Mann auf dem Kontinent zu der von ihr kreierten Welt andauernd wechselnder Unsicherheiten passt. Die Erzählsprache passt sich dem erzählten Sujet an.
Die Autonome Rede, ein typisches stilistisches Mittel in Terézia Moras Textwelten, kann einen ähnlichen Effekt erzielen wie der abrupte Wechsel der Erzählperspektive. Einerseits wirkt die Autonome Rede unmittelbar, in Der einzige Mann auf dem Kontinent spiegelt sie zudem den Rhythmus der inhaltlich thematisierten globalisierten Geschäftswelt wider. Andererseits kann sie den/die LeserIn auch irritieren, weil er/sie nicht sofort einordnen kann, welche Aussage zu welcher Person gehört. Dass es sich im Roman Das Ungeheuer in Darius Kopps Teil größtenteils um seine subjektive Gedanken- und Gefühlswidergabe handelt, veranschaulichen zudem die Durchstreichungen und Einklammerungen von Gedankengängen. Diese beiden Stilmittel visualisieren Darius‘ Zwiegespräch mit sich selbst und offenbaren insofern innere Konflikte, Selbstironie oder ‚geheime‘ Gedanken:
„Ich bin nicht… für eine Firma tätig. (Wiederhole das, diesmal mit der richtigen Betonung:) Ich bin nicht nur für eine Firma tätig. Ich bin ein unabhängiger Experte. (Gut gemacht. Independent Consulting Professional.)“ (Das Ungeheuer S. 583). Auf diese Art entsteht gleichzeitig auch eine Nähe zwischen LeserIn und Kopp, d.h. seine Figur erscheint plastischer.

Ironie
Weiterhin sind die Texte bei allem Ernst der Themen (Depression, Suizid, Trauer) von einer feinen Ironie durchzogen: „Nach einem Wochenende in der Natur war Darius Kopp ein neuer Mensch. Natürlich nicht.“ (Der einzige Mann auf dem Kontinent S.118) Auch in ihrer Poetikvorlesung erzählt Mora des Öfteren anekdotisch an der Schwelle zum Ironischen und in Form von privaten Exkursen, die ihre Vorlesungen lebendig und gut lesbar.

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Pressespiegel zu Der einzige Mann auf dem Kontinent [ ↑ ]
Zu Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent herrscht unter den KritikerInnen eine große positive Einstimmigkeit. Regionale und überregionale Presse sind sich einig, dass der Roman die heutige Wirtschaftswelt und die in ihr herrschenden Zustände eingängig und treffend beschreibt. Christoph Schröder bewertet den Roman in Der Tagesspiegel (16.08.2009) als „erschütternd zeitgemäß“ und Anton Thuswaldner von den Salzburger Nachrichten bezeichnet ihn als seine “ernsthafte Bestandsaufnahme unserer Zeit”. Auch Elmer Krekeler nennt den Roman in Die Welt (12.09.2009) den “Roman zur Zeit” und lobt Moras präzise Erzählweise.
Ein „Seismographisches Meisterwerk“ ist der Roman für Cornelia Staudacher von der Stuttgarter Zeitung (13.Oktober 2009).
In der FAZ heißt es weiterhin: “Terézia Mora gelingt mit ihrem neuen Roman ein bestechend hellsichtiger Kommentar zu den Auswüchsen einer auf Luft gebauten Geschäftswelt.” (Samstag, 15. August 2009).

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Forschungsspiegel zu Der einzige Mann auf dem Kontinent [ ↑ ]

Sprache als identitätsstiftendes Moment
Da sich Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent durch eine hybride Dialogform und eine achronologische Konstruktion des Plots auszeichnet, nehmen dies einige Aufsätze zum Anlass, um die Verwobenheit des Gesagten und Gedachten genauer zu untersuchen (vgl. Ramshorn-Bircsák 2011). Bohn Case geht in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter, indem sie behauptet, dass „Moras Figuren eine Sprache suchen, die ihre besonderen Erfahrungen und Emotionen ausdrücken kann, und dass diese Flexibilität der Sprache für eine erweiterte heutige deutsche Identität notwendig ist“ (Bohn Case 2015, S. 211). Dabei geht sie als einzige zusätzlich auf den Roman Das Ungeheuer ein, da zwischen den beiden Romanen auch zahlreiche Parallelen und Querverweise bestehen.
Kopp zeichnet sich im Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent durch seine Unfähigkeit zu kommunizieren aus. So führen seine Internetsuchen zu keinen verwertbaren Informationen und seine Anrufe bleiben auch meistens erfolglos. Dies ist zwar zum einen dem Rhythmus der Arbeitswelt und der digitalen Kommunikation geschuldet, zum anderen liegt es auch daran, dass Kopp zu Anfang noch eine in der Entwicklung gehemmte Sprache benutzt. So legt Bohn Case dar, dass Aspekte seiner Vergangenheit oder emotionale Momente meistens mit Stille beantwortet werden. Erst durch seine Frau Flora lernt er eine neue, emotionalere Sprache kennen und kann gegen Ende des Romans auch endlich seine Gefühle ausdrücken: „Mora develops the relationship between the couple, especially their relationship around language, and the story culminates with Kopp’s defining himself through Flora’s name and his relationship to her. The novel ends with Kopp […] opening himself to other more complex possibilities of German linguistic identity” (Bohn Case 2015, S. 221).
Diese sprachliche Entwicklung in Der einzige Mann auf dem Kontinent, wird auch nach Floras Tod, in der Fortsetzung Das Ungeheuer, weitergeführt. Zwar ist er zunächst von Trauer überwältigt, doch als er sich dann auf die Reise nach Osteuropa macht, um Floras Familiengeschichte und Sprache näher zu kommen, wird Kopps subjektive Gedanken- und Gefühlswidergabe als Ausdruck eines tiefgründigen und komplexen Gebrauchs der deutschen Sprache, sichtbar. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass er Floras Notizen nicht in einem Stück liest, so dass ihre Worte seine Reise und seine Erfahrungen beeinflussen: „At various moments the two texts work in parallel, and they also come together to interact and to drive the plot” (Bohn Case 2015, S. 223).
Darüber hinaus wird er durch Flora auch an seine eigene Familiengeschichte erinnert, da er selbst osteuropäischer Abstammung ist. Er fühlt sich im Laufe seiner Odyssee immer mehr dem Osten und seinen Bewohnern zugehörig, was auch an seiner immer noch andauernden Verbundenheit und Liebe zu Flora liegt: “On this journey, Kopp discovers his longing to distance himself from his cultural surroundings and a connection to other parts of Europe, which brings him closer to Flora“ (Bohn Case 2015, S. 225). Denn vor allem in den Momenten, in denen er als ‚der Andere‘ bzw. ‚der Fremde‘ wahrgenommen wird, fühlt er sich mit Flora und ihren Erfahrungen als die ‚Fremde‘ in Deutschland verbunden. Zusätzlich gewinnt Kopp auch durch das Lesen der Tagebucheinträge immer mehr Verständnis für ihre Situation, was schließlich dazu führt, dass er allgemein an Empathie dazugewinnt. Denn als er auf seiner Reise beobachtet, wie ein Hund am Straßenrand geschlagen wird, steigt er aus, um die Gewalt zu stoppen. Auch eine Internetrecherche auf seiner Reise durch Osteuropa resultiert in einer nützlichen Information, so dass schließlich doch noch digitale Kommunikation erfolgreich geworden ist.
So gelangt Kopp durch Floras Notizen, die sie paradoxerweise auf ungarisch verfasst hat, zu einem produktiveren Zugang zur deutschen Sprache und gewinnt damit auch einen verlorenen Aspekt seiner Identität zurück: „Of all Mora’s novels, this one has the most obvious translingual influence. By allowing Flora’s Hungarian text to infuse his experience, albeit via translation, Kopp shows his willingness to connect himself with language” (Bohn Case 2015, S. 225). Somit nimmt Sprache hier auch einen identitätsstiftenden Charakter angenommen.
Dass Sprache sowohl identitätsstiftend als auch ausgrenzend wirken kann (vgl. Albrecht 2009, S. 263) zeigt sich außerdem auch an Floras Situation. Flora, die nach dem Selbstmord ihrer Mutter nach Deutschland emigriert ist, beherrscht die Deutsche Sprache sehr wohl, benutzt sogar viele poetischere und kunstvollere Formen der deutschen Sprache, als Kopp sie im Vergleich beispielsweise benutzt. Doch dies birgt auch Probleme, denn „her emotional life reaches beyond what Kopp understands, and she struggles to find her way past her depression to express herself in German. The novel shows her struggle to express herself and communicate in this language despite the prejudice she encounters towards her foreignness and difference“ (Bohn Case 2015, S. 220). Denn trotz allem kann Sprache sie nicht von der Gewalt, die ihr als Fremde in Deutschland begegnet, schützen. Flora wird, genau wie Abel Nema, marginalisiert, weil sie Ausländerin ist. Letztendlich führt sie dieses Scheitern von Sprache auf ihren Akzent zurück und wird damit immer unfähiger auf Deutsch zu kommunizieren bis sie schließlich zum Ungarischen, eigentlich eine Sprache, die sie schon aufgegeben hatte, zurückkehrt, um sich selbst zu schützen (vgl. ebd., S. 226). So sind ihre Notizen auch alle in ihrer Muttersprache verfasst und sie findet darüber hinaus in einem Traum einen Gedichtband auf ungarisch, der ihr Hoffnung gibt, dass sie dieses Mal (in dieser Sprache) sicher zu sein scheint. Doch auf Grund ihrer Depression bleibt für sie am Ende nur das Schweigen übrig. Sie hat keine Sprache finden können, die es ihr ermöglicht, ihre eigene einzigartige Geschichte und Gefühle auszudrücken: “Instead of finding protection or safety either in German or Hungarian, Flora ends up losing both her languages and finally her life. Although she clings to language to survive her depressions, it ultimately fails her” (Bohn Case 2015, S. 226). Als sie am Ende aufs Land flieht, lässt sie ihre Bücher und Dokumente in der Stadt zurück. Ihre letzten Notizen sind auf 6 Monate vor ihrem Selbstmord datiert, was zeigt, dass sie bereits vor ihrem Tod aufgehört hat zu existieren, da sie letzten Endes unfähig war zu kommunizieren: „Mora also employs depression as a metaphor to illustrate the problems of contemporary Germany, which she perceives as a society suffering from an inadequate relationship to language “ (Bohn Case 2015, S. 223).

Der einzige Mann auf dem Kontinent
Der überwiegende Teil der Forschung liest den Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent als Kritik an einer globalisierten Gesellschaft und den Bedingungen der heutigen Arbeitswelt, die vor allem durch Instabilität, Unbeständigkeit und Ausbeutung gekennzeichnet ist. Indem Moras Roman den Absturz einer Branche beziehungsweise eines Unternehmens und eines loyalen Mitarbeiters beschreibt, wird die Literatur zum Medium, um über Globalisierung und Arbeit kritisch nachzudenken (vgl. Kraft 2012). Literatur ist  damit der Ort für eine kritische Zeitdiagnostik (vgl. Shafi 2013 und Gellai 2013).
Da etliche Szenen im Roman Kopp entweder essend oder ans Essen denkend zeigen, kommen einige Aufsätze zu dem Ergebnis, dass Kopp Essen als Ablenkung von Arbeit nutzt und dass diese Darstellung andererseits eine Kritik an der heutigen Konsumgesellschaft darstellt (vgl. Shafi 2013 und Bohn Case 2013). Der Aufsatz von Gellai wählt einen ganz anderen Ansatz, indem er Darius Kopps Verhältnis zu Räumen unterschiedlicher Art unter die Lupe nimmt und hierbei von Augés Begriffen des anthropologischen Ortes bzw. des Nicht-Ortes Gebrauch macht, um ihre Funktion im Zusammenhang mit dem Selbst-Bewusstsein des Romanhelden zu ergründen (vgl. Gellai 2013). Des Weiteren beschäftigen sich ein Teil der wissenschaftlichen Literatur mit der identitätsstiftenden Funktion von Sprache in Der einzige Mann auf dem Kontinent (vgl. Ramshorn-Bircsák 2011 und Albrecht 2009) und in Das Ungeheuer (vgl. Bohn Case 2015) und der Darstellung von Geschlechtern in den Romanen (vgl. Gellai 2013 und Shafi 2013).

Die Globalisierung der Arbeitswelt
Der Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent gibt einen tiefen Einblick in Geschäftspraktiken der heutigen Welt und zeigt damit, wie Arbeit unsere Lebensweise beeinflusst. Schließlich sind diese beiden Faktoren eng miteinander verknüpft und waren in den letzten Jahren einem stetigen Wandel unterzogen. Nach Shafi folgt Mora damit der Tradition des Zeitromans, da der Roman der Frage nachgehe, was als die soziale Frage von heute angesehen werden kann. Dabei geht Shafi davon aus, dass massive Veränderungen im Job in weitreichende soziale und kulturelle Veränderungen münden und diese darüber hinaus wieder von neuen Unsicherheiten begleitet werden. Mora folgt damit einer Reihe von zeitgenössischen Autor*Inn*en, die in ihren Romanen die wichtige Rolle von Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften untersuchen: „Der einzige Mann auf dem Kontinent can be understood as a perceptive and shrewd depiction of the new economy in the first decade of the millennium focusing on the work conditions in the neoliberal marketplace, in particular precarious labor and internet-based work with its fluid transitions between virtual and the real” (Shafi 2013, S. 308).
So untersucht der Roman auch die sich verändernden Arbeitsbedingungen und deren Einfluss auf das Privatleben, denn in Kopps Leben erfolgt keine Trennlinie zwischen den Lebenssphären ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘. Dies zeigt sich einerseits darin, dass er nackt mit seinem Laptop zuhause auf der Terrasse sitzt, um besser arbeiten zu können und andererseits auch dann nicht arbeitet, wenn er sich an seinem Arbeitsplatz befindet. Er ersetzt hingegen die tatsächliche Arbeit mit Objekten oder Ritualen, die Arbeit vortäuschen oder mit ihr in Zusammenhang stehen, um damit eine Illusion von ‚Arbeit‘ aufrechtzuerhalten (Vgl. Gellai 2013, S. 237). So ist er die meiste Zeit damit beschäftigt, Cappuccino zu trinken oder stundenlang ohne Ziel im Internet zu surfen, um die Zeit bis zur nächsten Mittagspause zu vertrödeln. Darüber hinaus versteht er, obwohl er ein begeisterter IT-Fachmann ist, die Zusammenhänge seiner Firma nicht und bemüht sich auch erst gar nicht darum: „Work generates income but it is not invested with meaning; the ideal of meaningful work as foundation of and conduit to a purposeful life holds no attraction for Kopp” (Shafi 2013, S. 313).
So könnte man Kopps Verhalten in Verbindung mit den Stereotypen eines faulen Drückebergers, den er verkörpert, auch als eine Form von Widerstand interpretieren. Folglich wäre er damit jemand, der sich dagegen weigert, sich die Anforderungen von Arbeit vordiktieren zu lassen (ebd.). Trotzdem ist er neben seiner Faulheit so sehr auf seine Arbeit fixiert, dass er auch am Wochenende auf dem Land, ohne Internetzugang, nicht abschalten kann und es so kaum abwarten kann wieder nach Hause zu kommen, da er noch arbeiten und ins Internet muss: “Work thus blankets all areas of his life, draping itself over marriage, family, and friends” (ebd., S. 314).
Darüber hinaus findet sich im Roman eine Reihe von fremdsprachigen Elementen, die zur Veranschaulichung der globalisierten Welt im Roman beitragen. Diese untersucht Burka in ihrem Aufsatz Erscheinungsformen der Mehrsprachigkeit in Terezia Moras Werken genauer und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass vor allem Englische Begriffe im Bereich des Beruflichen, des Internets und der Computertechnik zu finden sind (vgl. Burka 2014, S. 202ff.). Da Kopp die englische Sprache nicht so gut beherrscht, führt dies immer wieder zu Unsicherheiten. Dennoch muss er mit seinen Vorgesetzten auf Englisch kommunizieren und auch die Kommentare des autonomen Erzählers sind voll mit Englischem Vokabular und Kode-Umschaltungen: „Er muss downsizen“ (Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 16) oder „A crisp, thorough understanding. Was du nicht sagst!“ (ebd., S. 137). Zudem ist Kopp ständig vernetzt. Er bekommt täglich E-Mails und surft auf Internetseiten. Dennoch ist er isoliert. Kontakt hat er eigentlich nur abends zu seiner Frau Flora, ansonsten geistert er allein durch die Geschäftswelt Berlins. Die erfolglosen Anrufe zermürben ihn mehr und mehr. Er arbeitet für ein Kommunikationsunternehmen, innerhalb dessen keine Kommunikation möglich ist (vgl. Shafi 2013, S.313). So geht es in dem Roman „[z]wischen den Zeilen […] um Einsamkeit, Isolation und Zivilisationskritik, um die Folgen einer Wirtschaftskrise, um das Spiel mit den Welten, um die Notwendigkeit einer sinnvollen Rolle, um Flucht vor der Leere“ (Gallai 2013, S.242f.)

Die Darstellung von Essen als Kritik an der Konsumgesellschaft
Eng mit der Globalisierung ist das Thema Konsum verknüpft, das im Roman anhand von Essen dargestellt wird. Laut Kopps eigenen Aussagen, begann sein unstillbarer Hunger mit der Wiedervereinigung: „Mit der Wende kam der Appetit“ (Der einzige Mann auf dem Kontinent, S. 9). So denkt Kopp, wenn er nicht mit Arbeit beschäftigt ist, eigentlich nur an Sex, Essen und Trinken. Damit bildet Konsum die Basis seiner Identität (vgl. Bohn Case 2013, S.219) und da der Büroalltag für Kopp keine Leidenschaft oder Freude bereithält, bietet ihm Essen eine neue Form von Abwechslung und Lustbefriedigung. „Insgesamt macht der Protagonist den Eindruck eines Menschen, dessen Wohlbefinden sich nach Konsum statt nach Gesellschaft bemisst: Er verschlingt Daten, Speisen, Waren, Sex und die Energie seiner Frau. Sobald nichts durch ihn hindurch fließt, sobald er vom kontinuierlichen Strom der Dinge abgeschnitten ist, ist er überfordert“ (Gellai 2013, S. 254).
Darüber hinaus wird Berlin im Roman als Ort mit einer regen Gastronomie-Szene beschrieben. Essen aus den unterschiedlichsten ethnischen Küchen ist hier an jeder Ecke präsent und Kopp, schwach und undiszipliniert, wird beständig von den kulinarischen Verlockungen dazu verführt, auswärts zu essen. Trotzdem kann ihn dies nur kurzzeitig zufrieden stellen und die Fülle an Möglichkeiten überfordern ihn: „Food, perhaps more than any other product, participates in a global circuit of abundance and choice that is to provide even greater satisfaction and joy but in effect yields the opposite result“ (Shafi 2013, S. 320). Kopps Essgewohnheiten spiegeln auch im weitesten Sinne seine Arbeitsgewohnheiten wider: Beide sind durch globale Kontexte beeinflusst und durch Isolation, Ablenkung und Strukturlosigkeit gekennzeichnet. Sie bieten ihm weder Halt noch wirkliche Befriedigung. Darüber hinaus werden durch diese Darstellung des Essverhaltens auch gegenwärtige soziale und wirtschaftliche Tendenzen kritisiert: „One of the many functions of the literary representation of food and eating is to assess how these are used as social signifiers and to gauge changes in the relationship between food, identity, and community” (Shafi 2013, S. 318).

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Das Ungeheuer

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Das Ungeheuer [ ↑ ]
2013 erscheint ebenfalls im Luchterhand Verlag Moras dritter Roman Das Ungeheuer. In diesem wird die Handlung des Romans Der einzige Mann auf dem Kontinent fortgesetzt. Auf der einen Seite wird von Darius Kopp erzählt, der durch Osteuropa reist, um einen geeigneten Platz für die Asche seiner Frau Flora zu finden und bei seiner Reise eine Art Tagebuch seiner Frau liest, die Selbstmord begangen hat. Das augenfälligste Gestaltungsmerkmal des Romans ist die Zweiteilung der Seiten durch eine Trennlinie; unterhalb der Trennlinie ist Floras Tagebuch abgedruckt, in dem vor allem dargestellt wird, wie Flora gegen das „Ungeheuer“ – ihre Depression – versucht anzukämpfen. Nach und nach kristallisiert sich so heraus, worin der Konflikt zwischen Darius und Flora bestand, bevor ihre Beziehung durch Floras Selbstmord zum Ende kam: Darius hat Flora nicht vollkommen gekannt und vor allem nicht gänzlich verstanden. Das Tagebuch seiner verstorbenen Frau, das er während seiner Reise auf seinem Laptop liest – ihre Kindheits- und Jugenderinnerung, ihre Traumata und vor allem die Reflexionen über ihre psychische Krankheit – sind eine Offenbarung für ihn. Den Text ließ er vorab ins Deutsche übersetzen, weil seine Frau ihre Gedanken auf Ungarisch aufgeschrieben hatte – die Muttersprache, die sie in seiner Gegenwart nie sprach. Erst durch die Parallellektüre ihres Tagebuchs auf seiner Trauerreise durch Osteuropa lernt Darius Kopp seine Frau wirklich kennen und erhält Zugang zu ihrer Gedanken- und Gefühlswelt. Er wird mit dem „Ungeheuer“ konfrontiert und kann zum ersten Mal nachvollziehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass seine Frau sich das Leben nahm. Nach und nach wird immer deutlicher, dass die Zerstreuung der Asche nur ein Vorwand für Darius ist. Er isoliert sich vom Rest der Welt, weil er ahnt, dass er sich mit der Frage nach seiner eigenen Schuld auseinandersetzen muss.

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Thematische Aspekte zu Das Ungeheuer [ ↑ ]

Gewalt und Handlungsfähigkeit
In Das Ungeheuer stehen die beiden Motive insbesondere mit der Krankheit der Protagonistin im Zusammenhang. Die Träume, die Flora in ihrem Tagebuch beschreibt, zeigen beispielsweise, wie sehr sie an ihrem Sein in der Welt leidet:

„Hab geträumt, stehe an der Wand und jeder darf kommen und mich anfassen, wo er will.

Hab geträumt, stehe an der Wand und jeder darf kommen und mir gegen’s Schienbein treten.“ (S. 363)

Sie leidet an der Gewalt und an der Intoleranz, die ihr auf der Straße begegnet, und an der Schwierigkeit, für sie als Deutsch-Ungarin, einen festen Arbeitsplatz zu finden. Was bleibt ist Weltschmerz, denn „[d]er Wahnsinn des Einzelnen ist ein Ausdruck des Wahnsinns der Verhältnisse“ (S. 405). Die Handlungsunfähigkeit, welche ein Symptom ihrer manischen Depression ist, führt oft dazu, dass ganze Seiten ihres Tagebuchs einfach leer bleiben.
Aber auch bei dem Protagonisten Darius kann man eine Unfähigkeit zu Handeln beobachten: Sein einziges Ziel auf der Reise ist es, einen geeigneten Ort für Floras Asche zu finden, deswegen reist er mehrere Monate lang planlos durch Osteuropa. Am Ende des Buches hat er ihre Asche allerdings immer noch bei sich – vielleicht, weil er Flora noch immer nicht gehen lassen will.

Sexualität
Ein weiteres zentrales Motiv bei Mora ist die Sexualität, welche insbesondere in dem Roman Das Ungeheuer ein hohes Konfliktpotential in sich birgt. Mit Floras Depression geht der Verlust ihrer Libido einher – „[u]nd übrig geblieben ist nur der Schweiß“ (S. 621) –, den Darius Kopp nicht einfach so hinnehmen möchte. Das Thema Sex führt zunächst zu Auseinandersetzungen zwischen dem Paar, bis es schließlich zur Katastrophe kommt:
„Diesmal wehrte sie sich von Anfang an, unmissverständlich, schlug, trat und rief um Hilfe, aber sie hörten sie sich, hörten sie zu spät, er konnte seinen Samen in sie setzen, das war nicht einfach, denkst du, das war einfach […]“ (S. 675). Darius‘ Übergriff auf Flora wird erst auf den letzten Seiten des Romans von Darius reflektiert. Erst hier wird (ihm) klar, dass er auf seiner Reise nicht nur versucht, seine Trauer zu verarbeiten, sondern auch seine Schuldgefühle gegenüber Flora. Es kristallisiert sich heraus, wie sehr die Motive Sexualität und Gewalt miteinander verknüpft sind. Im Bereich der Sexualität wird Flora, die darunter leidet im Leben immer das Opfer zu sein, erneut zum Opfer, und Darius Kopp zum Täter.
Doch auch nach dem Tod von Flora spielt Sexualität eine große Rolle in Darius‘ Leben: „Bin nach Hause gegangen und habe mir wochenlang Brüste, Mösen, Anusse und die Schwänze anderer Männer angesehen, ohne dass es irgendetwas Nennenswertes bewirkt hätte“ (S. 565). Darius verguckt sich immer wieder in Frauen, die ihm auf seiner Reise begegnen, so zum Beispiel auch in die viel jüngere Oda. Jedoch kommt es zwischen den weiblichen Bekanntschaften und Darius letztlich nie zum Geschlechtsakt. Auch hier macht ihn die Trauer um seine verstorbene Frau handlungsunfähig.

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Formale Aspekte zu Das Ungeheuer [ ↑ ]

Erzählinstanzen
Eine auffällige sprachliche Besonderheit in dem Roman Das Ungeheuer ist der permanente Wechsel von personalem Erzähler und Ich-Erzähler. Manchmal wechselt die Perspektive sogar mitten im Satz. Durch den unmittelbaren Wechsel von Distanz und Nähe entsteht ein Verfremdungseffekt: „Wenn ich an Pflaumenkuchen denke, der so weich ist, dass man ihn mit dem Löffel essen kann, überkommt mich eine derartige Wut, dass Kopp in einer Kurve fast geradeaus gefahren wäre“ (Das Ungeheuer S. 328).

Achronologisches Erzählen
Ein weiterer formaler Aspekt, den man erläutern muss, ist die achronologische Konstruktion des Plots sowohl in Der einzige Mann auf dem Kontinent als auch in Das Ungeheuer. Darius Kopps Erleben geht nahtlos in sein Erinnern über: Oft weiß man zunächst nicht, ob das, was gerade erzählt wird, eine Erinnerung ist oder die von Darius Kopp erlebte Gegenwart. Das liegt auch daran, dass Darius vor allem in Das Ungeheuer in Gedanken stets bei Flora ist. Manchmal ist die Erinnerung an sie so lebendig, dass er sie sogar sehen und hören kann:

„Ich verspreche, wenn die Urne ganz bleibt, bringe ich dich auf den Ätna und werfe dich in den Krater, damit kein Mensch je wieder Hand an dich legen kann. […]

Was sagst du dazu?

Sie sagte nichts, sie lachte nur.“ (Das Ungeheuer S. 679)

Layout und Typographie
Das augenfälligste Gestaltungsmerkmal des Romans Das Ungeheuer, welcher 2013 den Deutschen Buchpreis erhält und in dem die Handlung des Romans Der einzige Mann auf dem Kontinent fortgesetzt wirdist das Layout, genauer die Zweiteilung der Seiten durch eine Trennlinie: Oberhalb der Trennlinie wird die Geschichte von Darius Kopp erzählt, der durch Osteuropa reist, um einen geeigneten Platz für die Asche seiner Frau Flora zu finden und bei seiner Reise eine Art Tagebuch seiner Frau liest, die Selbstmord begangen hat. Unterhalb der Trennlinie ist eben dieses Tagebuch abgedruckt, in dem Flora vor allem versucht, ihre Depression in Worte zu fassen. Wie sie dabei vorgeht, zeigt zum Beispiel die folgende Stelle, in der die Depression durch die Metapher des Ungeheuers verbildlicht wird:

„Fáj. Es tut weh. Jáf.

Das Ungeheuer.

Lieber ließe ich mich von einem afrikanischen Wurm auffressen.“ (S. 653)

Das Gestaltungsmerkmal der Zweiteilung lässt die Kontrastierung der beiden Themen Trauer (oben) und Depression (unten) besonders stark hervorstechen und unterstreicht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Zustände. Hinzuzufügen ist, dass die Figur Flora in ihrem Tagebuch nicht nur prosaische, sondern auch lyrische Elemente verwendet. Ein Großteil des Textes ist durchgehend in Kleinbuchstaben geschrieben, überwiegend wird der Text in Versen dargestellt und zeichnet sich durch Enjambements sowie durch eine bildliche Sprache aus.
Durch die Zweiteilung der Seiten kann der/die LeserIn den Text auf unterschiedliche Weise rezipieren. Jede/r LeserIn kann seine/ihre Lektürestrategie selbst wählen: Man kann der Kapitelnummerierung folgen oder abwechselnd erst Darius‘ oder erst Floras Teil lesen, beide Teile direkt hintereinander auf einer Seite oder man liest den ganzen Roman erst aus Darius‘ oder erst aus Floras Perspektive. Da sich die beiden Teile häufig aufeinander beziehen, vor allem weil es in dem oberen Teil auch um Darius‘ Rezeption von Floras Tagebuch geht, stechen die Zusammenhänge zwischen den beiden Romanteilen eher ins Auge, wenn man sich für eine kapitelumfassende Lektüre oder für eine Parallellektüre entscheidet. Dass beide Teile miteinander verknüpft sind und unter anderem auch einzelne Zeilen wiederholt werden, zeigt das folgende Beispiel. Auf Seite 668 schreibt Flora in ihrem Tagebuch: „Man kann aufhören zu existieren, ohne tot zu sein“. Acht Seiten zuvor reflektiert Darius bereits diese Aussage von Flora und stellt sie in Frage: „(Wie geht es, dass eine Person aufhört zu existieren, ohne tot zu sein?)“ (S. 660). 

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Pressespiegel zu Das Ungeheuer [ ↑ ]
Terézia Moras Das Ungeheuer schneidet in den Literaturkritiken der Feuilletons überwiegend sehr gut ab. Hubert Spiegel hält Das Ungeheuer beispielsweise für „ein großes, ein zutiefst humanes Buch“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2013); Rainer Moritz beschreibt das Werk als einen „grandiosen und formal riskanten Roman“ (Neue Züricher Zeitung, 25.9.2013).
Allein die Rezension von Katharina Döbler fällt ein wenig aus dem positiven Chor heraus; sie betont, dass der Roman zwar zeige, „wie gut Terézia Mora erzählen und wie kraftvoll sie schreiben kann“ (Die Zeit, 28. September 2013), die Figuren Darius und Flora seien allerdings nicht in sich rund bzw. authentisch. Flora sei zum Beispiel „keine literarische Figur mehr“, sondern ein Fall und „[d]ie empfindsamen Passagen von Kopps Reiseerzählung traut man ihm ohnehin nicht zu – sie zeigen die poetischen Fähigkeiten der Autorin. Und sie gleichen dem Sprachduktus der schmerzvoll klarsichtigen Flora.“
Vor allem das Verfahren der Zweiteilung und die außergewöhnlichen sprachlichen Gestaltungsmittel werden in der Presse allerdings überwiegend hoch gelobt. Hubert Spiegel bezeichnet die Zweiteilung des Romans zum Beispiel als „ein wenig sperrig, aber literarisch reizvoll und inhaltlich gut begründet“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2013) und den abrupten Wechsel der Erzählperspektive in dem Teil, der aus Kopps Perspektive erzählt wird, als „dynamisch“. Auch Rainer Moritz bewertet Moras Register- und Rythmuswechsel innerhalb des Romans als „sicher“ und „meisterhaft“ (Neue Züricher Zeitung, 25.9.2013). Sebastian Hammelehle und Hans-Jost Weyandt sehen den Reiz des Romans insbesondere in seiner Kontrasthaftigkeit und sind der Auffassung, dass der Sieg des Romans beim Deutschen Buchpreis 2013 mehr als gerechtfertigt sei: „die Tragik der Geschichte eines um die Liebe seines Lebens trauernden Mannes wird gekonnt von einer Komik abgefedert, die dreckig und zart sein kann, lakonisch und lyrisch“ (Spiegel Online, 07.10.2013). 

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Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung [ ↑ ]
Im Wintersemester 2013/14 hält Terézia Mora im Rahmen ihrer Gastdozentur für Poetik die Frankfurter Poetik-Vorlesung an der Goethe-Universität. Unter dem Titel Nicht sterben spricht Mora in insgesamt fünf Vorlesungen über ihre Überlegungen zu den Bedingungen und Grundlagen ihres eigenen literarischen Schaffens. In diesen vollzieht sie außerdem in chronologischer Reihenfolge die Entstehungsprozesse ihrer bis dato entstanden Texte nach: Ihre ersten Inspirationen und Überlegungen zu den Werken, wann ihr die Haupt- und Nebenfiguren zuerst begegnet sind und auf welche Weise sprachliche Bilder zur Umsetzung der Projekte gefunden werden mussten. 2014 erscheint im Luchterhand Verlag das Manuskript der Vortragsreihe unter gleichnamigen Titel. 
Im ersten Vortrag Aus der Höhle kommen, Das erste Buch beschreibt Mora die Entstehungsgeschichte ihres ersten Erzählbandes Seltsame Materie. Die Uridee zu diesem Erzählband liefert die Erzählung Durst, die sie als Bewerbung für den Open-Mike Wettbewerb einreicht. Bei der weiteren Arbeit an Seltsame Materie entsteht ein Arrangement an zyklischen Erzählungen, die sich zurück auf diese Urerzählung beziehen. Hierbei wählt sie, durch ihr Drehbuchstudium beeinflusst, die Technik der einzelnen Szenen- bzw. Bilderbeschreibung. Bild für Bild wird imaginiert und durch die chronologische Montage der Bilder die Geschichte zusammengesetzt und somit erzählbar gemacht. Thematisch berichten die Erzählungen aus der Perspektive einer kindlichen Ich-Erzählerin von Gewalt in einem totalitären System, den Menschen, die in diesem System leben und dem Wunsch, dieses System hinter sich zu lassen.    
Der zweite Vortrag Die Störung ordnen, Einen Roman schreiben befasst sich mit der Ideenentwicklung für Moras ersten Roman Alle Tage und den Recherchearbeiten hierzu. Im Unterschied zu Seltsame Materie sei ein Roman nicht in einzelne Erzählungen unterteilt, sondern müsse eine Ganzheit entwickeln. Ihre vorherige Schreibstrategie funktioniert daher nicht für einen ganzen Roman, weswegen eine andere und neue Schreibstrategie entwickelt werden muss. Weiterhin soll ihr erster Roman von der Komplexität der Gegenwart berichten, wozu eine Mädchenstimme nicht angemessen sei. So stellen sich für Mora die Fragen: „Was ist noch da? Was weiß ich darüber? Mit welchen Mitteln kann ich mich dem annähern?“ (S. 34) Zu diesem Zeitpunkt ihres poetischen Schaffens erhält sie Inspiration für ihre Romanhelden Abel Nema und Darius Kopp, die sie aus einer Kombination aus Beobachtungen von real existierenden Personen und der Hinzufügung ihrer eigenen Imagination kreiert. Das nächste Projekt, der Roman Alle Tage, soll sich mit Abel Nema beschäftigen, sodass der Hintergrund zu dieser Figur entwickelt wird. Wer ist Abel Nema? Was bewegt diese Figur? Warum handelt sie so, wie sie handelt? Bei diesen Überlegungen hat Mora die Idee zur Urszene von Alle Tage und bringt diese zu Papier. In ihr unternimmt Abel Nema mit seinem Freund Ilijas einen Spaziergang durch ihre gemeinsame Heimatstadt. Auf Basis dieser Urszene und ihrer eigenen Emigrationserfahrung entwickelt Mora hieraus Heimatlosigkeit, welche mit Abel Nemas Emigration nach Deutschland zu einer tiefschürfenden Identitätskrise heranwächst, als eines der Hauptthemen des Romans. Dennoch steht sie nach zwei Jahren Vorbereitungsarbeit, in der einen erdachter Held, eine Urszene und ein ungeordnetes Kompositum an Notizen aus ihrer weiteren Recherchearbeit entstanden ist, vor dem Problem, weder eine geeignete Sprache noch sprachliche Form für die Erzählung finden zu können. Abhilfe liefert ein Treffen mit dem Künstler Horst Müller. In einem kleinen anekdotischen Exkurs beschreibt sie, wie er sie auf die Idee gebracht hat, Abel Nemas Geschichte in Form eines Labyrinths aufzubauen. Mit dieser festgelegten Form kann der Verlauf der Geschichte abgesehen werden, d. h. das angesammelte Material kann angeordnet und in die Chronologie einer Erzählung überführt werden.       
Im dritten Vortrag Was ist aus Ophelia geworden? Über Figuren macht Mora die Erschaffung ihrer Figuren zum Thema. Von Natur aus ist Mora eine gute Beobachterin. Schon, wenn sie nur alltäglichen Situationen ausgesetzt ist, kann sie Beobachtungen darüber machen, wie wir sind und wie wir uns zu bewegen pflegen. Im diesem Sinne liegt der Ursprung ihrer Kreativität in der Weltaneignung. Letztere erlernen wir schon als Kinder (beispielsweise das Imaginieren eines anderen oder die Beseelung von Dingen) und diese früh erlernte Fähigkeit befähige auch, Figuren zu erdenken. Noch in Seltsame Materie entsprechen die Figuren einem festgelegten Rollenmuster (z. B. der Großvater, der Seemann usw.). Sie fungieren eher als märchenhafte Figuren und sind funktionsfixiert, wohingegen der Leser von Alle Tage und den Darius Kopp Romanen mit einer differenzierten Figurengestaltung konfrontiert ist. In Alle Tage trifft Mora die Entscheidung, den Weg von einer kindlichen Ich-Erzählerin hin zu einer erzählerischen Multiperspektivität zu vollführen. Durch die vorgegebene labyrinthartige Struktur des Romans Alle Tage gibt sie Abel Nema jeweils einen Begleiter in Form einer Nebenfigur an die Hand. Dieser begleitet ihn durch eine Episode der Geschichte und ist als Einziger neben der Erzählerfigur selbst in der Lage, Aussagen über Abel Nema zu treffen. Er selbst vermag dies nicht zu bewerkstelligen, außer im Kapitel mit der Überschrift „Zentrum, Delirium“. In diesem spricht Abel Nema in der Ich-Form. Dennoch ist er kein verlässlicher Vermittler seines eigenen Selbst, da er in dieser Episode unter Drogeneinfluss steht. Aus diesem Grund leitet sich die enorme Wichtigkeit der Nebenfiguren für den Roman Alle Tage ab.
Demgegenüber steht Darius Kopp, den Mora 1999 für den Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent zunächst mit der german angst und einem ständigen Zähneknirschen nach Börsencrashs und Finanzkrise ausstattet. Diese Figur wandelt sich jedoch mit den Jahren von einem nervösen, orientierungslosen Mann mit einer offensichtlichen Frustration hin zu einem penetrant positiven, leugnenden Dicken. Der neue Darius Kopp weigert sich zu handeln, dementiert Tatsachen, ist träge, stellt sich bewusst dumm und tarnt seine Angst mit Dumpfheit. Auf dieser Basis entwickelt Mora seinen Figurenhintergrund weiter und fügt ihm eine mit ihm untrennbar verbundene Nebenfigur hinzu. Flora, Darius Kopps Ehefrau, begleitet ihn im Laufe des Romans. Die Urszene zu Der einzige Mann auf dem Kontinent, die Hemdszene, enthüllt gleichermaßen das Wesen von Darius sowie von Flora. Darius Kopp stampft eines Morgens panisch und orientierungslos in deren beider Wohnung herum, erdrosselt sich bei dem Versuch, sich für das Büro fertig zu machen, beinahe mit seinem weißen Hemd und Flora errettet ihn aus seiner Notlage. Diese Szene zeigt, dass die beiden komplett entgegengesetzt beschaffen sind und Flora als Darius Helferin fungiert. Auf der Ebene der Erzählstruktur fügt Mora noch das Erzählmotiv der Beinah-Erfüllung hinzu. Zunächst soll ein fast paradiesischer Zustand aufgebaut werden, der aber mit dem Fortschreiten der Erzählung Darius und Flora Kopp Stück für Stück wieder entzogen wird, wodurch sich die Ereignisse zuspitzen. Zudem ist für die weitere literarische Planung festgelegt, dass Darius Kopp eine Trilogie einnehmen wird, in der Flora sterben muss/wird, um ihre Differenz zu ihm klarer deutlich werden zu lassen. Er wird seinen weiteren Weg ohne Flora beschreiten müssen, wie dieser jedoch genau aussehen wird, wisse Mora noch nicht.
Der vierte Vortrag Die Göttin der Barmherzigkeit zieht um, Zu Zeiten, an Orten behandelt Moras Recherchereisen. Ziel dieser Recherchereisen ist es, neue Orte zu entdecken und fremde Eindrücke zu sammeln. Ein Beispiel, das sie hierfür anführt, ist eine Ampelanlage vor ihrem Hotelzimmer in Japan. Die beiden sich  gegenüberliegenden Ampelmodule piepen jeweils in einer anderen Tonlage, sodass es sich anhört, als würden zwei Vögel miteinander kommunizieren. Am eigenen Leib wolle sie gleichsam mit ihren Figuren, die auf Reisen sind, die Orientierungslosigkeit, das Heimweh und die Strapazen einer Reise erfahren. Beispielsweise bereist Mora für Recherchen zu Das Ungeheuer Osteuropa. Auf dieser Reise findet sie nicht nur aufgrund ihrer Landschaft und Stimmung Handlungsreiz gebende Orte für ihre Geschichten, sondern sie begegnet auch Menschen, die weitere Figurenschablonen für ihre Erzählungen liefern. Dabei räumt sie aber auch einer flexiblen und künstlerischen Gestaltung von Orten Platz ein. Beispielsweise kann ein physischer Eindruck aus Ungarn in einer Griechenlandepisode verwendet werden.  
Der letzte Vortrag UNGEHEUER, Zum Äußersten/Innersten gehen behandelt das Thema der Drastik und die daraus abgeleitete Weiterentwicklung der Florafigur für den Roman Das Ungeheuer. Noch in Der letzte Mann auf dem Kontinent liegt der Darstellungsfokus auf das von außen Sichtbare der Figur, aus dem Grund, weil Darius Kopp seines nicht tiefreichenden Intellekts geschuldet ebenfalls kein besonders tiefschürendes Charakterkonzept entwickelt hat. Bei Flora sieht dies anders aus. Im Gegensatz zu Darius Kopp ist sie eine tiefsinnige und sensible Figur, dessen innerer Zustand einer an einer Depression Erkrankten gleicht und ein zentrales Thema in Das Ungeheuer sein soll. In der konzeptionellen Struktur des Romans findet sich eine Parallelschaltung von Darius Trauerreise frei nach dem Orpheus-Motiv und von Floras Zerfall in Form ihres Tagebuchs, das Darius Kopp auf seiner Reise Stück für Stück liest. Literarisch bilden diese Tagebucheinträge die Struktur des Destruktiven ab. Zu dem mentalen Zustand einer Depression ist ein passendes Sprachbild zu finden. Mora stellt sich Depressionen bildlich vor, als unermüdliche Bemühung des Erkrankten, aus einem hohen Trichter wieder heraus zu kommen. Dieses Vorhaben muss aber unweigerlich scheitern, bis sich die erkrankte Person schließlich aufgibt. Diese Überlegungen sind der erste Ansatzpunkt zur Umsetzung des Floratagebuchs. Wie kann aber nun der geistige und körperliche Zerfall, welcher schlussendlich in Selbstmord resultiert, mit Sprache abgebildet werden? Wie muss diese Sprache sein, um diesen Zerfall abbilden zu können? Zwei Jahre Recherche nimmt Mora in Kauf, in denen sie Fachliteratur (die ab einem gewissen Grad nicht mehr nützlich ist, denn der Leser will den depressiven Zerfall poetisch beschrieben wissen und nicht wie von einem Arzt), Angehörigenberichte (mit wenig Nutzen) und Betroffenenberichte (mit viel Nutzen) studiert. Insbesondere letztere bieten Einsicht in Prozesse der Seele, in den fortschreitenden Zerfall und die Drastik dieses Prozesses. Mora fasst die körperliche Reaktion des Selbstmords als den Triumph des Ungeheuers über den Helden auf; sonst verhalte es sich umgekehrt. Um diese Zustände abbilden zu können, ist Floras Text mit dem Fortschreiten der Erzählung von Diskontinuität, Inkohärenz und fragmentarischem Charakter gekennzeichnet. Wie es nach diesem Roman mit ihrem literarischen Schaffen weiter gehen soll, wisse Mora noch nicht genau; sie befinde sich genau im Dazwischen zwischen zwei Büchern.

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Thematische Aspekte zu Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung [ ↑ ]

Gewalt und Handlungsfähigkeit
Auch in ihren eigenen Schreibprozessen ist insbesondere die Handlungsfähigkeit ein essentielles Thema, mit dem sich Mora befasst. In Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung stellt sie sich daher die folgenden Fragen: Wie kommt man von der Stille zur Sprache? Wie werde ich handlungsfähig? Gibt es in der Gegenwart überhaupt noch Stoff zum Schreiben? Die erste und zweite Frage greifen unmittelbar ineinander. "Dir fehlt noch das Transportmittel, die Sprache, mit der du das erzählen kannst. Im Moment hast du keine." (S. 53). Einem Autor steht immer vor dem Problem ein geeignetes sprachliches Gerüst für seine Gedanken, die allumfassende richtige Sprache zu finden und somit handlungsfähig oder überlebensfähig in seiner Schreibtätigkeit zu werden. Gleichermaßen müssen aber auch seine Figuren in ihrem Wesen und Charakter handlungsfähig gemacht werden, sonst gibt es keine Geschichte, die erzählt werden könnte. Hieran schließt sich die letzte Frage. Gibt es heutzutage überhaupt noch Schreibstoff? Dass heute nichts mehr passiere, dementiert Mora vehement. Sie müsse nur ihre Wohnung verlassen und ihre Augen und Ohren offen halten, um Inspiration für ihre Werke zu finden. 

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Formale Aspekte zu Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung [ ↑ ]

Erzählinstanzen
In der Überlegung über und in der Darlegung ihres literarischen Schaffens (Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung) zeigen sich ähnliche Wechsel der Erzählinstanzen, die Mora auch in ihren Romanen und Erzählungen verwendet. Zum einen wechselt ein auktorialer Ich-Erzähler mit einem autonomen Erzählstil, was in seiner Kombination ein retroperspektives Zwiegespräch von Moras jüngerem und jetzigem Ich generiert. Somit konstruiert und bildet sie die Entwicklung ihrer Schreibideen authentisch ab: "Du sagst, das sei eine Liebesszene. Warum sagst du das?/Weil ich, als ich ein Kind war, meinen Großvater unter allen am meisten liebte, und er liebte mich am meisten. [...] Aber das kann ich so nicht hinschreiben./Warum nicht?/Es überwältigt mich zu sehr." (Nicht sterben, Frankfurter Poetik-Vorlesung S. 16).

Layout und Typographie
Weiterhin benutzt Mora nicht nur in diesem Roman, sondern auch in ihren anderen Werken verschiedene Typographien, um verschiedene Sprachmodi zu markieren. So werden z. B. in Nicht sterben, Frankfurter Poetikvorlesung Kommentare oder allgemeine Grundsätze zu ihrer Schreibpraxis mit unterschiedlichen Typographien markiert.

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Pressespiegel zu Nicht sterben. Frankfurter Poetikvorlesung [ ↑ ]
In Rezensionen der lokalen und überregionalen Presse wird Moras Frankfurter Poetikvorlesung durchweg positiv bewertet. So berichtet beispielsweise Andreas Breitenstein in der Neue Züricher Zeitung (8.4.2015) von einer „beeindruckende[n] Frankfurter Poetikvorlesung“, die „maßgebend und aufregend“ zugleich ist. Auch der Focus sowie die Neues Deutschland, Buchkultur und Bücher stimmen in dieses Lob mit ein. Des Weiteren verweisen die Rezensionen auf die schon von Mora gewonnenen Auszeichnungen, wie den Ingeborg-Bachmann-Preis (1999) und den Deutschen Buchpreis (2013 für Das Ungeheuer). Sie wird nicht nur als neue und „große Durchstarterin“ gehandelt, sondern wird in der oben genannten Presse auch in einem Atemzug mit namenhaften Autorinnen und Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts wie Ingeborg Bachmann, Reinhard Jirgl, Clemens Meyer, Martin Walser oder Juli Zeh genannt.

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