Erinnerungsort Mercator?
Dürfen wir vorstellen? – Gerhard Mercator, Universalgelehrter, Geograph, Kartograph, oder Gerd Kremer…?
Im Jahr 2012 wird Gerhard Mercators 500.Geburtstag gefeiert. Das Stadthistorische Museum in Duisburg aktualisiert seine umfangreiche Mercator-Ausstellung unter dem Titel „500 Jahre GERHARD MERCATOR und der blaue Planet“. Eine Stiftung, deren Namenspatron Mercator ist, veranstaltete zusammen mit der Universität Duisburg-Essen eine Tagung, ein Duisburger Konditor kreierte eigens eine Mercator-Torte. Alle rüsten sich um IHN zu feiern. Nur Frevler würden an dieser Stelle wohl die ketzerische Frage stellen: „Wen feiern wir da überhaupt?“ Wie schon zu Mercators 400. Todestag im Jahr 1994, werden zu seinem Geburtstag im Jahr 2012 die obligatorischen Fragen von Presse, sonstiger Öffentlichkeit und auch Wissenschaft gestellt: „Wer war Gerhard Mercator?“ – „Welche Verdienste sind ihm für Wissenschaft und Forschung zuzuschreiben?“ Und: „Welche Bedeutung hat sein Werk überhaupt für unsere Gegenwart?“.
Welches Medium eignet sich heutzutage besser als Indikator für die Popularität einer Person als das Internet? – Wie viele moderne Wissenschaftler hat auch Gerhard Mercator eine Facebook-Seite. Mercator hat sogar mehrere Seiten, je nach Schreibweise und sprachlichem Kontext. Verglichen mit den Schwergewichten europäischer Wissenschaftsgeschichte hat Mercator jedoch nicht mehr als 500 so genannte Follower. Gallileo zum Vergleich hat zehnmal mehr. So stellt sich doch in dieser Gegenüberstellung die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen „Freundeszahl“ und Bekanntheit gibt. Im Fall Mercators ist das wohl zu bejahen, denn Gerhard Mercator stellt nur für wenige Menschen – und das gilt nicht nur für die Generation Facebook – einen Erinnerungsort dar.
Trotz einer intensiveren Beschäftigung mit Gerhard Mercator seit den 1970er-Jahren, sind die Dinge die wir heute von ihm wissen, relativ überschaubar und schnell erzählt: Vor 500 Jahren, im März 1512, wurde Gerhard Kremer, wie sein nicht latinisierter Namen lautete, in Rupelmonde bei Antwerpen geboren. Eine profunde schulische Ausbildung und Erziehung verdankte er seinem Onkel, der ihn nach dem Tod der Eltern im Haus eines Reformordens auf ein Studium vorbereiten ließ. Einem zweijährigen Studium an der Universität Löwen, das er mit einem Magistertitel abschloss, folgte die Zusammenarbeit mit Gemma Frisius (1508-1555), einem der führenden Mathematiker und Astronomen des 16. Jahrhunderts, der sich vornehmlich mit Fragen der Erdgestalt und Vermessungstechniken auseinandersetzte. Im Jahr 1544 wurde Gerhard Mercator unter dem Verdacht der Ketzerei verhaftet, aber dank prominenter Fürsprache entlassen. Einige Jahre später siedelte er mit seiner Ehefrau nach Duisburg über, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1594 lebte und arbeitete. Einblicke in das Leben Mercators verdanken wir seinem Nachbarn und ersten Biographen, Walter Ghim. Sein Nachruf, einer antiken Vita nachempfunden, bildete bereits die Erzählmuster aus, die in den folgenden Jahrhunderten in allen Darstellungen und Lexika, die Mercator überhaupt einer Erwähnung wert finden, fortgeschrieben wurden.
Zugleich setzte Ghim beim Werk Mercators deutliche Schwerpunkte auf die geographischen Arbeiten, die bis heute mit seinem Namen verbunden werden. Im Jahr 1569 hatte Mercator seine großformatige Weltkarte Ad usum navigantium publiziert, die mittels einer neuen Projektionsform und durch ein Gradnetz der Seefahrt die Orientierung erleichterte. Mit seiner Karte leistete Mercator einen gewichtigen Beitrag zur Lösung eines zeitgenössischen Problems, das Shakespeare in The Tempest literarisch verarbeitet hatte.
Mercators Vita beantwortet die stets gestellten Fragen scheinbar nur dürftig. Vielleicht ein Hinweis und Grund dafür, dass sie kaum variieren und sich konjunkturell zu den Mercator-Jubiläen wiederholen. Aber zunächst wollen wir noch den Zusammenhang zwischen ‚Erinnerungsort‘ und der Person Gerhard Mercator verdeutlichen. Mag der Begriff ‚Erinnerungsort‘ eher die Assoziation an einen geografischen Punkt, ein Denkmal, eine Grabplatte oder eine Kirche wecken, so muss doch auf das Konzept eines Franzosen verwiesen werden. Pierre Nora stellte im Jahr 1984 seine sieben Sammelbände unter dem Titel Les lieux de mémoire vor. Dieses Gesamtwerk wurde 1992 endgültig abgeschlossen. Erinnerungsorte sind in der theoretischen Konzeption Noras all jene Ereignisse, Gegenstände, Orte aber auch Personen, die als Kristallisationspunkt einer gemeinsamen Erinnerung dienen können. Sie sollten in Noras Werk für die öffentliche französische Erinnerungskultur gesammelt werden.
Titelblatt der " Lieux de mémoire"
Die abstrakte Metapher des Kristallisationspunktes ergibt sich aus folgender Überlegung: Das gemeinsame Gedenken an eine bestimmte Sache schafft eine gemeinsame Gruppe oder das Gefühl einer Gruppenzugehörigkeit - soweit die Forschung. . Entscheidend ist dabei für Nora jedoch der gemeinsame Wunsch, einen ‚Erinnerungsort‘ schaffen zu wollen und diesen in einem kollektiven Gedächtnis und somit einer gemeinschaftlichen Erinnerung zu festigen. Der Erinnerungsort hat daher für Nora einen „materiellen, einen symbolischen und einen funktionalen Sinn (…). Stets existieren die drei Aspekte neben- und miteinander. Erinnerungsorte sind aber selten konkret-dinglich (…).“1 Viel eher muss ihr Charakter in der öffentlichen Bedeutung gesehen werden, die ihnen beigemessen wird
Die offene Gestaltung und eher halbkonkrete Konturierung des Konzeptes ‚Erinnerungsort‘ ermöglichte es Historikerinnen und Historikern seit dem Ende der 1980er-Jahre, ähnliche Folgeprojekte für ihre Staaten zu entwickeln. In Österreich beispielsweise wurden in der Bevölkerung Umfragen durchgeführt. An der Sammlung der österreichischen Erinnerungsorte wurde deutlich, dass vor allem ‚Orte‘ nach 1945 benannt wurden.
In Deutschland hingegen gab es erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein vergleichbares Projekt. Dies ist zum einen der späten Einheit und zum anderen der sich unterschiedlich entwickelnden Gedenkkulturen geschuldet. Betrachten wir die deutsche Ausgabe der Erinnerungsorte, wird schnell sichtbar, dass Goethe, Schiller, Grimms Märchen, der Führerbunker oder der Volkwagen genauso als Erinnerungsorte angeführt werden, wie etwa die Türken vor Wien, Willy Brandts Kniefall, oder der Schrebergarten. Wo aber sind Kepler, Einstein, oder gar Mercator? – Naturwissenschaftler sind im weitesten Sinne in dieser Ausgabe nicht vertreten. Und wenn die Genannten vertreten wären, bliebe doch die Frage offen, ob gleiches für Mercator gilt.2
Nach Angaben der Herausgeber orientiert sich die Auswahl der Erinnerungsorte im deutschen Fall an der des klassischen Bildungsbürgertums, bei dem Naturwissenschaftler zunächst ausgeklammert sind. Und was ist überhaupt mit der DDR? – Haben wir Erinnerungsorte aus der DDR übernommen, die für unser aller einheitsstiftende Erinnerung stehen? Der Palast der Republik wurde als einer jener Kristallisationspunkte gesamtdeutscher Identität aufgenommen, er musste unlängst der kritischen Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses,eigentlich ein Gebäude des. 18. Jahrhunderts, weichen.Aber bei beiden Orten ist es fraglich, ob bei ihnen von gesamtdeutschen Erinnerungsorten gesprochen werden kann. Erinnern wir uns nicht viel eher nur an die Bilder des Mauersturzes und der Wiedervereinigungsfeier mit den Menschenmassen, dem illuminierten Brandenburger Tor und dem Feuerwerk am nächtlichen Himmel Berlins? Wie sieht es eigentlich mit dem Volkswagen aus? – Erinnern Sie sich? Ist der Volkswagen überhaupt ein gesamtdeutscher Erinnerungsort? – Oder eher für diejenigen unter uns, die in ihren Kindertagen im Zuge des aufkommenden Italientourismus mit ihren Eltern im vollgepackten Familienauto tuckernd den Brenner passierten? Die Generation der 1990er-Jahre hat vielleicht noch einen Bezug zum Mauerfall, aber nicht mehr zum Volkswagen. Omas Schrebergarten jedoch könnte da noch mithalten. Schnell wird deutlich, dass an dieser Stelle historisiert werden muss. Das bedeutet, dass wir uns Erinnerungsorte in ihren zeitlich aber auch räumlich bedeutsamen Kontexten anschauen müssen, um im Falle des Volkswagens zu verstehen, wie er beispielsweise die Gegenwart der Generation der 1950/60er-Jahre berührte und wieso er für viele heute eben kein Erinnerungsort mehr ist.
Plakat zum Projekt "Erinnerungsort Mercator?"
Mit unserem Projekt haben wir daher versucht, das Gedenken an Gerhard Mercator seit dem 16. Jahrhundert nachzuvollziehen, um zu untersuchen, wie es sich bis heute veränderte und was von der Erinnerung an Mercator überhaupt noch präsent ist. So startet unsere kleine Reise im 16. Jahrhundert mit Mercators Lebensbeschreibung, die der bereits genannte Walter Ghim verfasste. Für das 17. und 18. Jahrhundert sollen uns die medialen Schlager jener Zeit, die Enzyklopädien, Aufschluss über das europäische Gedenken an Mercator geben. Wie sieht es aus mit den Stadtgeschichten? – Seit dem 19. Jahrhundert haben die Stadtgeschichten Konjunktur, so auch in Duisburg, mit dem Initiator Heinrich Averdunk. Diese Tradition wurde von Günther von Roden und anderen Stadthistorikern im 20. Jahrhundert fortgeführt. An dieser Quellengruppe können wir die Konjunkturen des städtischen Mercatorgedenkens gut nachvollziehen. Die geplante Umbenennung der Universität-Gesamthochschule Duisburg lenkte die Debatten und die Erinnerung an Mercator in andere Bahnen. Das Bild Mercator erfuhr die verstärkte Metamorphose vom Universalgelehrten und Ketzer hin zum Handwerker, Unternehmer, Universitätsprofessor und zum internationalen und weltoffenen Wissenschaftler. Narrative und Bilder, die sich streng genommen nur schwer mit dem Leben eines Gelehrten im 16. Jahrhundert vereinbaren lassen, zumindest im Hinblick auf die bisherige Forschung. Ist die historische Person Mercator heute überlagert von Erwartungen, Wünschen und Zuschreibungen der letzten Jahrhunderte? – Welche Mercator-Spuren können wir heute noch in unserem Erfolgsmedium des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, dem Internet, finden? Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Entblättern der Zeitschichten, die sich seit dem 16. Jahrhundert um Mercator festsetzten…
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1 Vgl. Christian Gudehus/Ariane Eichenberg und Harald Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 184.
2 Vgl. Etienne Fançois/ Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, 3. Bde., München 2001.