Sommersemester 2012
Guy Helminger
Sprachanatomie
Sprache ist überall. Braucht man sich also nur zu bücken und kann mit einem Gedicht aufwarten?
Ich selbst bringe meine Funde immer in meinen Anatomieraum. Dort steht eine Tastatur, mit der ich Skalpelle von unterschiedlicher Größe bediene, daneben liegen Nadel, Nähfaden und Verband. Die Körperteile, Sehnen, Synapsen, die sich zeigen, sind von eigentümlicher Schönheit, manchmal kleben an ihnen Pläne, Fotografien, manchmal sind da dunkle Flecken, die sich nicht aufhellen lassen. Und manchmal schneide ich mich selbst, weil ich nicht zwischen Fremdkörper und eigenem Leib unterscheiden will. Laut wird es dabei, weil Sprache immer laut ist. Und natürlich sind diese Textkörper imstande zu lachen, aber bevor wir uns verbrüdern können, schiebe ich sie zurück in die Welt. Dort hängen und atmen sie wie Gespenstschrecken an den Wortstämmen, und viele Menschen gehen vorbei und halten sie für Blattwerk. Denn diese Verspräparate zappeln nicht ständig, rennen nicht herum, wiegen sich vielmehr wie ein Strauch im Wind, sich tarnend, wissend, die Literatur hat viele Feinde, man muß sie vor den Lesern schützen.
Publikation
Guy Helminger: Ein Sprachanatom bei der Arbeit.
Hg. v. Rolf Parr, Thomas Ernst, Claude D. Conter.
Heidelberg: Synchron Verlag, 2014
Der vorliegende Band mit den drei im Sommersemster 2012 an der Universität Duisburg-Essen erstmals gehaltenen Poetikvorlesungen von Guy Helminger, ergänzt um Aufsätze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Luxemburger Centre national de littérature Mersch, der Université du Luxembourg und der Universität Duisburg-Essen, ist das Resultat einer seit längerer Zeit bestehenden, grenzüberschreitenden produktiven Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen, vor allem aber auch das Ergebnis des gemeinsamen (nicht nur wissenschaftlichen) Interesses an der Literatur Luxemburgs. Ziel des Bandes ist es, über die bereits vorliegenden Rezensionen, Autorenportraits und vereinzelten wissenschaftlichen Aufsätze hinaus die enorme Spannbreite des Schreibens von Guy Helminger aufzuzeigen. Damit verbunden sollen seine Poetikvorlesungen neue Zugänge zu seinen Texten eröffnen. Gezeigt wird Helminger dabei als ein »Sprachanatom bei der Arbeit«, was durchaus emphatisch zu nehmen ist, denn wer sich die Poetikvorlesungen auf der beiliegenden DVD nicht nur anhört sondern auch genau anschaut, wird schnell verstehen, dass Dichten ›Arbeit‹ auch in einem körperlichen Sinne sein kann.