Dissertationsprojekt Erika Knack

Untersuchung der Wissensentwicklung im Fach Chemie in der Oberstufe und der Bedeutung des schulischen Vorwissens für den Studienerfolg

Ausgangslage und Theoretischer Hintergrund

In verschiedenen Studien auf Schul- und Hochschulebene wird immer wieder deutlich, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende gravierende Defizite im chemischen Fachwissen aufweisen (Averbeck, 2021; Busker, Parchmann & Wickleder, 2010; Busker et al., 2011; Celik & Walpuski, 2018). Vor allem Erstsemesterstudierende in Chemiestudiengängen, die keinen Chemiekurs in der Oberstufe belegt haben, verfügen zu Beginn des Studiums über ein geringeres Fachwissen als Studierende, die einen Grund- oder Leistungskurs belegt haben. Diese Wissensdefizite werden im Verlauf des ersten Semesters nicht kompensiert und beeinflussen den Fachwissenserwerb im weiteren Studium (Averbeck, 2021). Dies kann vor allem durch das Fehlen einer systematischen Wissensstruktur verursacht sein, wodurch der kumulative Aufbau einer vernetzten Wissensstruktur erschwert wird (Averbeck, Fleischer, Sumfleth, Leutner & Brand, 2017; Fischer, Glemnitz, Kauertz & Sumfleth, 2006). Fehlt Lernenden eine systematische Wissensstruktur, wird kumulatives Lernen erschwert.

Einen möglichen Ansatz zur Betrachtung von Kompetenzentwicklungen bietet die Entwicklung von sogenannten Learning Progressions. Learning Progressions ermöglichen die Beschreibung von Kompetenzentwicklungsprozessen und geben eine Abfolge von Kompetenzen (Kernideen) an, die über einen bestimmten Zeitraum von Schülerinnen und Schülern erworben werden sollen (Corcoran, Mosher & Rogat, 2009; Duncan & Hmelo-Silver, 2009; Duschl, Schweingruber & Shouse, 2007). Die Darstellung der angenommenen Lernwege kann analog zur American Association for the Advancement of Science [AAAS] (2007) über eine Strand Map (Beziehungsnetz) erfolgen, in der die Kernideen in einer systematisch hierarchischen Reihenfolge abgebildet werden.

Die AAAS haben Learning Progressions zu verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaft, wie zum Beispiel Nature of Science, entwickelt, die den Zusammenhang verschiedener Kernideen von Beginn des Kindergartens bis zum Ende der High School darstellen (AAAS, 2007). Im deutschsprachigen Raum erhalten Learning Progressions im Fach Chemie aufgrund der hierarchischen Struktur des Faches ebenfalls zunehmend Aufmerksamkeit. Für den Sekundarbereich I wurden bereits verschiedene Learning Progressions entwickelt, die sich auf die Basiskonzepte Struktur der Materie und Chemische Reaktionen fokussieren (Weber, 2018) oder alle drei Basiskonzepten des Fachs Chemie umfassen (Celik & Walpuski, 2018). Dagegen wurden für die Sekundarstufe II bisher keine chemiespezifische Learning Progression entwickelt.

Ziel und Forschungsfragen

Die Erarbeitung einer Learning Progression stellt einen Ansatz dar, die Wissensentwicklung im Fach Chemie genauer zu betrachten und zu analysieren, welche Konzepte einen Einfluss auf das Vorwissen und den Fachwissenserwerb in der Allgemeinen Chemie haben können. Aus diesem Grund wird im Rahmen des Projektes eine chemiespezifische Learning Progression für die Sekundarstufe II entwickelt und folgenden Forschungsfragen nachgegangen:

FF1: Können die Abhängigkeiten zwischen den Kernideen in der hypothetisch aufgestellten Learning Progression empirisch nachgewiesen werden?

FF2: Welche Kernideen erweisen sich als ausschlaggebend für den Fachwissenserwerb in der Allgemeinen Chemie im Studium?

Studiendesign und Methode

Auf Basis der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK], 2020), dem Kernlehrplan für NRW (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [MSW NRW], 2014) und verschiedenen Fach- und Schulbüchern werden Kernideen herausgearbeitet, die für die Entwicklung von Wissen über die Sekundarstufe I hinaus von Bedeutung sind. Jede Kernidee wird durch eine Beschreibung von Erwartungen, Grenzen und Schülerfehlvorstellungen charakterisiert und anschließend in einer hierarchisch-logischen Reihenfolge angeordnet und vernetzt. Zur Objektivierung der Inhaltsvalidität (Hartig, Frey & Jude, 2012) der Kernideen werden im Rahmen einer Expertengruppe die Erwartungen, Grenzen und Schülerfehlvorstellungen überprüft und gegebenenfalls angepasst.

Um die Vernetzung zwischen den Kernideen zu überprüfen, werden zu jeder Kernidee fünf Items im Multiple-Choice-Single-Select-Format konstruiert, die im Rahmen einer Pilotstudie im Multi-Matrix-Design in allen Jahrgängen der Oberstufe eingesetzt und auf ihre Testgüte überprüft werden. Nach erfolgter Auswertung des Fachwissenstests mittels Item-Response-Theorie soll der Fachwissenstest überarbeitet und im Rahmen der Hauptstudie erneut in Oberstufenkursen eingesetzt werden.

Die Abhängigkeiten zwischen den Kernideen werden mit Hilfe verschiedener Methoden analysiert. Zum einen wird der McNemar-Tests verwendet, mit dem die Signifikanz der Häufigkeitsverteilung überprüft sowie der Zusammenhang zwischen zwei Kernideen untersucht werden kann. Zum anderen werden Bayes‘sche Netze hinzugezogen (Kruse et al., 2015), mit denen der Zusammenhang zwischen mehreren Kernideen untersucht werden kann.

Mit Fokus auf die zweite Forschungsfrage sind Erhebungen an Hochschulen zu Beginn und zum Ende des ersten Semesters geplant, um den Einfluss des Verständnisses verschiedener Kernideen auf den Fachwissenserwerb zu untersuchen. Dazu wird ein Testinstrument eingesetzt, welches das Verständnis möglichst vieler schulischer Konzepte untersucht und zur Klausurnote zum Modul Allgemeine Chemie regressionsanalytisch in Beziehung gesetzt wird.

Ertrag des Projekts

Der Ertrag dieses Projekt liegt in der Entwicklung und Evaluation einer Learning Progression für die Sekundarstufe II, die eine mögliche Wissensentwicklung im Fach Chemie verdeutlicht sowie eines dazu passenden Testinstruments. Die Learning Progression soll es ermöglichen, Lerneinheiten strukturierter zu planen und durchzuführen. Das Testinstrument kann dazu genutzt werden, den Wissensstand von Lernenden zu ermitteln, sodass anschießend gezielte Fördermaßnahmen entwickelt werden können.

 

Literatur

American Association for the Advancement of Science. (2007). Atlas of Science Literacy. Volume 2. Washington: DC: AAAS.

Averbeck, D. (2021). Zum Studienerfolg in der Studieneingangsphase des Chemiestudiums. Der Einfluss kognitiver und affektiv-motivationaler Variablen (Studien zum Physik- und Chemielernen, Bd. 308). Logos Verlag Berlin.

Averbeck, D., Fleischer, J., Sumfleth, E., Leutner, D. & Brand, M. (2017). Analyse chemischen Fachwissens und dessen Einfluss auf Studienerfolg. Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik: GDCP-Jahrestagung in Zürich 2016, 83–86.

Busker, M., Klostermann, Mareike, Herzog, S., Huber, A. & Parchmann, I. (2011). Nicht nur Schulwissen auffrischen: Vorkurse in Chemie. Nachrichten aus der Chemie, 59(6), 684–688. https://doi.org/10.1515/NACHRCHEM.2011.59.6.684

Busker, M., Parchmann, I. & Wickleder, M. (2010). Eingangsvoraussetzungen von Studienanfängern im Fach Chemie. CHEMKON, 17(4), 163–168. https://doi.org/10.1002/ckon.201010134

Celik, K. N. & Walpuski, M. (2018). Vernetzung von fachlichen Konzepten im Fach Chemie. Naturwissenschaftliche Bildung als Grundlage für berufliche und gesellschaftliche Teilhabe. Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik, Jahrestagung in Kiel, 472–475.

Corcoran, T., Mosher, F. & Rogat, A. (2009). Learning Progressions in Science: An Evidence-based Approach to Reform. https://doi.org/10.12698/cpre.2009.rr63

Duncan, R. G. & Hmelo-Silver, C. E. (2009). Learning progressions: Aligning curriculum, instruction, and assessment. Journal of Research in Science Teaching, 46(6), 606–609. https://doi.org/10.1002/tea.20316

Duschl, R. A., Schweingruber, H. A. & Shouse, A. W. (2007). Taking science to school. Learning and teaching science in grades K-8. Washington, DC: National Academies Press.

Fischer, H. E., Glemnitz, I., Kauertz, A. & Sumfleth, E. (2006). Auf Wissen aufbauen - kumulatives Lernen in Chemie und Physik. In E. Kircher, R. Girwidz & P. Häußler (Hrsg.), Physikdidaktik. Theorie und Praxis (Springer-Lehrbuch, S. 657–678). Berlin: Springer-Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-540-34091-1_22

Hartig, J., Frey, A. & Jude, N. (2012). Validität. In H. Moosbrugger & A. Kelava (Hrsg.), Testtheorie und Fragebogenkonstruktion (Springer-Lehrbuch, 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage, S. 143–171). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg.

Kruse, R., Borgelt, C., Braune, C., Klawonn, F., Moewes, C. & Steinbrecher, M. (2015). Bayes-Netze. In R. Kruse, C. Borgelt, C. Braune, F. Klawonn, C. Moewes & M. Steinbrecher (Hrsg.), Computational intelligence. Eine methodische Einführung in künstliche neuronale Netze, evolutionäre Algorithmen, Fuzzy-Systeme und Bayes-Netze (Lehrbuch, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 405–409). Wiesbaden: Springer Vieweg. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10904-2_23

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. (2014). Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Chemie. Zugriff am 02.04.2020. Verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/151/KLP_GOSt_Chemie.pdf

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. (2020). Bildungsstandards im Fach Chemie für die Allgemeine Hochschulreife. Zugriff am 15.12.2020. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2020/2020_06_18-BildungsstandardsAHR_Chemie.pdf

Weber, K. (2018). Entwicklung und Validierung einer Learning Progression für das Konzept der chemischen Reaktion in der Sekundarstufe I (Studien zum Physik- und Chemielernen, Bd. 263). Logos Verlag Berlin.