Zur Person – Dr. Lara Altenstädter

Zur Person – Dr. Lara Altenstädter

„Ich kann locker voranschreiten!“

Stimmt das eigentlich, was ich da lese? Wer hat den Aufsatz verfasst? Gibt es noch andere Ansichten zum Thema – außer den männlichen? Wer in einem Seminar von Lara Altenstädter sitzt, ist gefordert. Texte, die sie verteilt, einfach nur konsumieren? Nicht mit ihr. Stattdessen will sie ihre Studierenden zu einem (macht)kritischen Hinterfragen anleiten. „Argumentativ gut hergeleitete Kritik ist bei mir im Seminar willkommen, und ich nehme mich davon nicht aus.“ Das Lesen ist dafür die wichtigste Grundlage, findet Lara Altenstädter.

Gelesen hat Altenstädter schon viel. Los ging das bereits zuhause. „Meine Eltern haben nicht studiert, waren aber sehr belesen und sehr daran interessiert, dass meine Schwester und ich eine gute Bildung bekommen“, erinnert sich Lara Altenstädter. Sie zögert erst, ob sie überhaupt erzählen soll, dass sie aus einer nicht-akademischen Familie kommt. „Aber gerade weil die UDE eine diverse Uni mit Studierenden und Mitarbeitenden ganz unterschiedlicher Herkünfte ist, sollte man das nicht verschweigen. Ich kann auch aufgrund meiner Herkunft unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Das ist wertvoll und etwas, das mir in der Forschung nützt.“

Nach dem Abitur in ihrer Heimatstadt Hamburg weiß Lara Altenstädter erst einmal nicht, was sie beruflich machen soll. Eine akademische Karriere kommt ihr nicht in den Sinn, weil sie sie nicht als Beruf kennt. Sie entscheidet sich für eine pädagogische Ausbildung im Elementarbereich. Altenstädter ist zunächst überzeugt, dass die Arbeit mit Kindern etwas für die Zukunft sein könnte. „Doch bald stand für mich fest, ich will weiter in Richtung Soziale Arbeit gehen.“ Es kam die Zusage für den Studienplatz an der Fachhochschule Münster, für den Master wechselte Altenstädter an die UDE, studierte nebenbei an der Westfälischen Wilhelms-Universität-Münster anfangs auch noch Theologie und Chemie.

Hat sie eine Sache gepackt, lässt Lara Altenstädter nicht locker. Ihre begeisternde Art steckt an. Erklären liegt ihr. Das merkt sie bei ihrer Arbeit als Tutorin während des Studiums. Da wird ihr auch zum ersten Mal bewusst, dass sie ja an einer Universität arbeiten und in die Forschung gehen könnte – Bedenken hat sie trotzdem. „Es an der Uni zu schaffen, das war mir damals schon klar, ist keine sichere Bank, selbst wenn man gut ist. Deshalb hatte ich immer einen Plan B.“ Und der war vor allem weniger theoretisch. 10 Jahre lang arbeitete sie in der Wohnungshilfe für Frauen, auch hier wird ihr Faible für Genderfragen sehr praxisnah sichtbar. „Dafür schlägt mein Herz auf jeden Fall auch, ich könnte mir vorstellen, so etwas später wieder nebenbei zu tun.“ Ob sie noch einmal Soziale Arbeit studieren würde? „Ein klares Ja! Der Studiengang war breit aufgestellt: Politik, Sozialpolitik, Soziologie, das waren die Themen, die mich am meisten interessierten. Die Theorien waren für mich total schlüssig. Es ist ein guter Startpunkt, weil man damit viel machen kann und die Zielgruppe, mit der man sich später auseinandersetzt, offen ist – von älteren Menschen über Kinder und Jugendliche bis hin zu Straftäter:innen oder eben der Fokus auf Frauen.“

Kritik üben durchs Lesen

Nochmal zurück zum Lesen. Wie wichtig ihr das ist, wurde ihr erst durch ihre Dissertation bewusst. „Um so eine Arbeit zu schreiben, braucht man einen annährend vollständigen Überblick über den Forschungsstand“, erklärt Altenstädter. Da jedoch jeden Tag so viele neue Texte und damit auch neue Daten erscheinen, braucht es Lesestrategien, um über das eigenen Fachgebiet informiert zu bleiben. „Da man besonders in der Qualifizierungszeit unter Zeitdruck steht, haben viele Forschende nur noch Spezialwissen. Sie lesen dann, um die Artikel-Flut zu händeln, vor allem fachspezifische Literatur.“ Lara Altenstädter findet das problematisch, denn: „Wir haben dadurch zu wenig Wissensaustausch zwischen den Disziplinen.“ Dass sie mit dieser Wahrnehmung nicht alleine ist, konnte sie mit Ihrer Dissertation nachweisen.

Dafür fragte sie bei Juniorprofessor:innen nach, wie die eigentlich ihre berufliche Situation wahrnehmen, zwischen Nachwuchshoffnung und weit entfernt vom eigenen Lehrstuhl. Statt nur auf Interviews setzte Altenstädter auf Visuelles und bat die Teilnehmenden um Fotos aus ihrem Berufsalltag. Die Fotoserien zeigen, dass die Juniorprofessor:innen im Bus und Zug, am Nachmittag auf dem Spielplatz, während die Kinder im Hintergrund spielen, und sogar auf dem Heimtrainer noch Texte für die Arbeit lesen. „Es ist omnipräsent und gleichzeitig ein gefährliches Nebenbei.“ Es zeige aber, wie hoch der Zeit- und Konkurrenzdruck auch auf dieser Qualifizierungsebene ist.

Was auf den Fotos auch immer wieder auftauchte: Kleidung. Locker über den Stuhl gehängt fotografiert, das Schuhwerk am eigenen Fuß aus der Ich-Perspektive oder auch Fotos vom inneren des Kleiderschranks. „Eigentlich hatte ich gar nicht vor, den Fokus darauf zu legen, aber es handelt sich dabei um implizite fachspezifische Kodizes, dass man in gewisser Art und Weise gekleidet sein muss, um dazuzugehören. Das wird zwar nicht offen in der Wissenschaft kommuniziert, es ist aber da und wird von den Juniorprofessor:innen fotografisch thematisiert. Das hat mich interessiert.“

Kleidung sieht jeder und verhält sich dazu. „Die von mir begleiteten Juniorprofessorinnen orientieren sich in den MINT-Fächern an der Kleiderwahl von Männern, eben auch, weil es nicht so viele Kolleginnen oder weibliche Vorbilder gibt. Man bemüht sich um Anpassung und darum, angemessen zu erscheinen. Es gibt aber auch andere, die Kleidung nutzen, um zu provozieren oder eine machtkritische Haltung zum Ausdruck zu bringen.“ Was Lara Altenstädter schnell merkte: Sie selbst ist in puncto Kleidung eher angepasst. „Kleidung ist nichts, worauf ich besonderen Wert lege. Es ist nicht meine Art, Machtkritik am System zu üben. Mein Medium ist eher das Lesen und Schreiben, das ich in der Arbeit ja auch untersucht habe.“

Herzensthema: Geschlechtergleichstellung

Altenstädters persönliches Forschungsinteresse gilt Geschlechteraspekten und der strukturellen Benachteiligung von Frauen. „Ich möchte wissen, wie wir das Gesellschaftssystem verändern können, so dass Gleichstellung erreicht wird und Frauen eben keine Bestärkung und Förderung mehr brauchen. Das heißt: auf verschiedenen Ebenen, sowohl in der Praxis, z.B. in der Wohnungslosenhilfe, als auch in der Theorie mit Forschungsprojekten an der Uni.“ Aktuell arbeitet sie im Forschungsprojekt „EXENKO – Exzellenz entdecken und kommunizieren“. Wissenschaftlerinnen sichtbarer machen, ist ihr ein Herzensthema.

„Konkret fragen wir uns: Warum verlassen nach der PostDoc-Phase so viele Frauen das System? Warum fehlt die Sichtbarkeit von Frauen in Forschungskontexten und warum werden sie so selten als Expertinnen von öffentlichen Medien angefragt und dargestellt? Wie kann man das ändern und dafür sorgen, dass diese Talente nicht verloren gehen?“, erklärt die 38-Jährige. Noch bis Ende 2024 sucht sie mit ihren Kolleg:innen der UDE Antworten auf diese Fragen.

In diesem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt hat das Team bereits Interviews geführt und erste Daten ausgewertet. Fest steht schon jetzt: Die Kriterien, die aktuell in der Wissenschaft angelegt werden, um zu bewerten, ob eine Institution oder eine Person exzellent ist, sind sehr output-orientiert. Es gibt wenig Reflexion. „Wer viele Drittmittel einwirbt und wissenschaftlich anerkannt und viel publiziert, der ist ‚top‘, aber ob er oder sie neben der außergewöhnlichen Arbeit noch andere Verpflichtungen hat oder sich gesellschaftlich engagiert, das wird wenig berücksichtigt und gewürdigt.“

Benachteiligung sieht das Team von EXENKO nach den Gesprächen mit den Nachwuchswissenschaftlerinnen vor allem auch bei der Anzahl an Publikationen, dem so genannten Gender-Publication-Gap, da Frauen selten als Erstautorinnen fungieren. Überhaupt griffen die gängigen Kriterien von Exzellenz zu kurz. „Viele äußerten sich kritisch und meinten, dass es doch auch um neue Ideen ginge, die die Gesellschaft voranbrächten. Es lassen sich eben weniger Artikel veröffentlichen oder weniger Auslandsaufenthalte machen, wenn man kleine Kinder hat.“ Altenstädter ist überzeugt: Die Kriterien für Exzellenz müssen erweitert bzw. neu gedacht werden.

Statt große Fußstapfen ausfüllen locker schreiten

Ihre eigene Rolle im Wissenschaftsbetrieb sieht Lara Altenstädter positiv: „Ich bin eine privilegierte weiße Person; ich hatte gute Rahmenbedingungen und sehr viel Glück mit meinen Stellen“, erinnert sie sich. „Denn es gab immer einen Anteil an Stunden, den ich für meine eigene Qualifikation nutzen konnte. Ich konnte lehren, mit tollen Kolleg:innen zusammenarbeiten und überhaupt so viele Erfahrungen sammeln. Und was mir sehr wichtig ist: Ich hatte und habe auch Zeit für meine beiden kleinen Töchter. Ich bin gerne mit ihnen zusammen, dann gehen wir Pilze sammeln oder machen Familienurlaub am Strand und suchen gemeinsam nach Steinen.“ Dass sie ein Arbeiterkind ist, sieht sie auch als Vorteil. Man müsse keine großen Fußstapfen ausfüllen, „ich kann locker voranschreiten.“

Wie geht es für sie nach der Doktorarbeit weiter? Lara Altenstädter überlegt. „Mehr Verantwortung wäre schön und dass ich mich nicht nur mit rein soziologischen Themen befasse. Ich frage mich gerne, wie man mit anderen Fachexpertisen neue Erkenntnisse kreieren kann. Mensch-Technik-Interaktionen, die Auswirkungen von KI auf unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben – das sind Themen, die mich sehr interessieren, und ich bin überzeugt, dass Interdisziplinarität die Zukunft der Wissenschaft ist. Uns gegenseitig in den verschiedenen Disziplinen bereichern und schauen, was die anderen machen und daraus Neues schaffen, das finde ich den spannendsten Ansatz.“ Am liebsten würde sie ihre wissenschaftliche Karriere – mit einer Juniorprofessur oder einer Gruppenleitung – vorantreiben.

Von Cathrin Becker.
Stand: 05/2024

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