Teil 3: Vielfalt – Mehr als ein Leben gelebt
Teil 3: Vielfalt – Mehr als ein Leben gelebt
Sie kommen aus Italien, lebten, studierten und arbeiteten fast zehn Jahre in Frankreich, forschen über China und leben in Deutschland: wie fühlt sich diese Mischung an?
Vielleicht verwirrend? Ein Scherz. Was ich vor allem spüre ist das Gefühl, sehr unterschiedliche Leben gelebt zu haben. Jede dieser Erfahrungen hat unauslöschliche Spuren hinterlassen, die mich langsam zu der gemacht haben, die ich bin. Ich habe mich oft sagen hören, besonders als ich hier ankam: „Wir in Frankreich…” – auch wenn ich keine Französin bin. Jetzt sagen mir meine Freunde dort, dass ich Englisch und Französisch mit einem deutschen Akzent spreche. Ich glaube das aber nicht (lacht). Irgendwie scheinen all die verschiedenen Erfahrungen so weit weg zu sein. Es kommt mir vor, als wäre ich viel älter als ich bin. Und das ist ein seltsames Gefühl. Aber vor kurzem habe ich entdeckt, dass ich nach so vielen Jahren des Herumreisens in der Welt und des Lebens im Ausland Italien wahnsinnig vermisse und mich in vielen Charaktereigenschaften meiner Landsleute wiedererkenne.
Inwiefern unterscheiden sich die Länder – in welchen Dingen ähneln sie sich?
Abgesehen von einigen Nuancen sind sich Italien und Frankreich in vielen Aspekten sehr ähnlich – angefangen bei dem, was wir auf den Tisch bringen. Ich schaue sehr gerne eine ARTE-Sendung namens „Karambolage”, in der die deutsch-französische Eigenheiten und Kuriositäten vorgestellt werden. Die französischen Beispiele kommen mir sehr bekannt vor, etwa wie die vorschulischen Jahre organisiert sind oder was die Kinder im Sommer machen. Während ich immer wieder über die deutschen Beispiele erstaunt bin, weil sie mir vorkommen als wären sie aus einer anderen Welt.
Die „Latte Macchiato“-Leidenschaft zum Beispiel, die die Deutschen auch nach dem Mittagessen zu trinken pflegen. In Italien trinken wir Espresso und ich habe in Frankreich keinen Latte Macchiato gesehen – zumindest nicht nach dem Mittag. Franzosen trinken im Allgemeinen zum Frühstück Milchkaffee und „tunken“ gerne ihr Baguette, Croissants oder Brioches hinein – ebenso wie die Italiener. Das finden die Deutschen merkwürdig – zumindest laut „Karambolage“. Ein anderes Beispiel ist das kalte Abendessen mit Brettchen, Brot, Wurst und Gurken um 17 oder 18 Uhr hier. In Frankreich und Italien ist es traditioneller, nach 19 oder 20 Uhr eine richtige Mahlzeit zum Abendessen einzunehmen.
Ich könnte unzählige Beispiele nennen, wie Hebammen oder Schultüten – die gibt es bei uns nicht. Natürlich ist die Realität heute vielfältiger, aber diese Traditionen lassen mich mein „grenzenloses“ Leben wirklich schätzen. Ach ja, wenn ich so darüber nachdenke, etwas, das mich sehr überrascht hat, als ich in Duisburg ankam: Leute, die morgens in der Kneipe Bier trinken und Wurst essen und sich draußen am Stammtisch aufhalten. Ich erinnere mich, wie ich sie mit offenem Mund anstarrte.
Was China betrifft, so ist das wieder eine andere Welt – aber dennoch haben wir auch Gemeinsamkeiten: Wir essen gern regionales und schmackhaftes Essen, und je mehr am Tisch sitzen, desto besser, auch wenn wir laut sprechen. Die Familie ist sehr wichtig und hat oft einen großen Einfluss auf unser Leben; wir haben viel über unsere Regierungen zu sagen und sprechen gerne und leidenschaftlich über sie. Es gab viele Momente, da habe ich mich auch in China wie zu Hause gefühlt.
Sie beherrschen die chinesische Sprache fließend. Wie reagiert man in China, wenn plötzlich eine europäisch aussehende Frau perfekt Mandarin spricht?
Die ersten drei bis vier Sätze spreche ich fließend, dann erkennen sie am falschen Tonfall, dass ich Ausländerin bin (lacht). In Wirklichkeit sind sie nicht so überrascht, denn viele sind davon überzeugt, dass ich aus Westchina komme, wo es nicht ungewöhnlich ist, Menschen zu finden, die ähnlich aussehen wie ich. Es ist nur einmal passiert, dass ein Mann sofort erkannt hat, dass ich Italienerin bin. Er ist ein Fußballfan, vor allem vom italienischen Fußball. Und er sagte mir, dass meine Nase und meine Gesichtsform ihn irgendwie an Roberto Baggio erinnert. Das hat mich dann sehr zum Lachen gebracht und ich wusste nicht, ob ich mich deswegen geehrt oder beunruhigt fühlen sollte (lacht). Aber es hat mich sehr überrascht, dass er an meinem Gesicht erkennen konnte, woher ich komme. Wir wurden schließlich Freunde.
Zur Person: Giulia (Clara) Romano, 36 Jahre alt, geboren in Alessandria (Italien), einer Stadt im Piemont – nicht weit entfernt von Genua und Turin und Geburtsort von Umberto Eco. Mittlerweile betont sie ihren zweiten Vornamen – denn es gibt mehrere Akademikerinnen mit dem Namen Giulia Romano, die in ganz unterschiedlichen Bereichen forschen.
Die Fragen stellte Jennifer Meina.
Stand: 11/2021
Bildnachweis: © UDE / Frank Preuß