Teil II: Kindheit in Deutschland
Teil II: Kindheit in Deutschland
Ihr anderer Forschungsschwerpunkt betrifft Jessica Schwittek auch privat: Die Mutter eines Dreijährigen forscht zu Kindheit in Deutschland und interessiert sich dafür, wie neu zugewanderte Kinder hierzulande aufwachsen. „Wir Deutsche haben sehr prägende und wirkungsvolle Vorstellungen davon, wie eine gute Kindheit auszusehen hat und wie gute Eltern zu sein haben. Das merke ich auch oft in meinen Seminaren, dass sich die Studierenden erst mal bewusst davon freimachen müssen. Unsere Normen gelten halt in dieser Form nur hier.“ Sie selbst wisse aus Erfahrung, wie schnell man sich in dem schmalen Korridor zwischen Glucke und Rabenmutter bewege und wie viel Verantwortung dabei auch heute noch hauptsächlich auf Frauen laste.
Total umsorgt
Kindheit in Deutschland sei, zumindest in der Mittelschicht, stark institutionalisiert, pädagogisiert, verinselt: „Die Kinder werden von ihren Eltern von einem kindspezifischen Ort zum nächsten transportiert. Die Kinder sind nicht wirklich präsent in der Öffentlichkeit, sie haben wenige Räume, in denen sie von sich aus aufeinandertreffen und die sie sich alleine erobern können.“ In Kirgisistan oder auf dem Balkan sei das ganz anders: Da wären Kinder sichtbarer, würden sich draußen viel leichter begegnen und von sich aus, ohne die Eltern, Zeit miteinander verbringen. „Ein Junge aus Serbien sagte mir mal: ‚In Serbien ist immer ein Kind draußen, mit dem du spielen kannst, hier sind immer alle drinnen, selbst wenn mal die Sonne scheint!‘“
„Ich kann mich noch gut an unseren Besuch bei einer Familie während meiner ersten Feldforschung in Kirgisistan erinnern“, sagt Soziologin Schwittek. „Ein etwa achtjähriges Kind stand am Gasherd über einem großen Topf, bereitete gerade Kartoffeln für das Mittagessen vor und beaufsichtigte dazu noch seine kleine Schwester, während wir mit den Großeltern über den Familienalltag sprachen.“ Die Selbstständigkeit der Kinder dort, die stolz und selbstbewusst schon in jungen Jahren Funktionen für die Familie übernehmen, sei eine ganz andere als bei uns. Gleichzeitig ist ihr klar: Kirgistan ist das zweitärmste Land in Zentralasien, und dass Mädchen und Jungen hier von klein auf mithelfen, ist kein Modell für Deutschland. Hier sehe die Vorstellung von der „guten Kindheit“ anders aus: möglichst entlastet und freigestellt von funktionalen Verpflichtungen, dafür mit bildungsorientierten Hobbys, die von den Eltern ermöglicht werden.
Apropos Hobbys: Ihre Freizeit verbringt Jessica Schwittek mit ihrer Familie oft draußen in der Natur, gerne im neugekauften Camper. Und sie geht gerne ins Theater – ein Ort, den sie sich lange auch als Arbeitsplatz hätte vorstellen können. Regie führt sie heute zwar nicht, aber: „Ich verfolge mit wissenschaftlichen Methoden, was im Theater künstlerisch umgesetzt wird. Das ist wie ein Brennglas, unter das man die Gesellschaft legt, mit all ihren kleinen und großen Dramen.“
Von Cathrin Becker.
Stand: 03/2022
Bildnachweise: privat