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Internet-Periodicum für mediävistische Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft
Essen im Sommer 1998
die ehemaligen Herausgeber
Perspicuitas stellt den ersten Versuch dar, in Deutschland eine elektronische Fachzeit‘schrift’ für Mediävistik im Internet anzubieten. Der Kontakt mit Benutzern unserer Homepage und die Resonanz auf dieses Angebot haben uns dazu ermutigt. Trotzdem sind wir uns der Probleme durchaus bewußt; sie betreffen die Geisteswissenschaften derzeit nur deswegen noch nicht so gravierend, weil die elektronischen Medien der Wissensdistribution hier noch nicht in dem Ausmaß genutzt werden, wie dies im Bereich der Naturwissenschaft und Technik einerseits, der auf eher populäre Informationsbedürfnisse zugeschnittenen Institutionen andererseits der Fall ist. Die wesentlichsten dieser Probleme im Bereich der Wissenschaft sind wohl die folgenden:
1. Die Möglichkeit, im Internet auf relativ kostengünstige Weise gleichzeitig als Autor/in, Herausgeber/in und Verleger/in aufzutreten, bringt die Gefahr mit sich, daß die einer Veröffentlichung in traditionellen Medien normalerweise vorgeschalteten qualitativen Kontrollinstanzen ausgeschaltet oder reduziert werden.
2. Trotz sog. Suchmaschinen und Agenten ist bei der Masse der angebotenen Informationen relevantes Material oft schwierig zu finden. Zumal im wissenschaftlichen Bereich fehlen dem neuen Medium noch Strukturen und Kanalisierungsmechanismen, die einen ähnlich effizienten Zugriff auf Material ermöglichen würden wie die für das Printmedium entwickelten und über lange Zeit hinweg immer wieder verfeinerten Instrumentarien der Informationssuche.
3. In den meisten Geisteswissenschaften ist das Printmedium derzeit überwiegend noch in der Lage, neues Wissen einigermaßen (!) rechtzeitig zu distribuieren. Die Möglichkeit zusätzlicher Wissensdistribution über das Internet könnte also zumindest insofern noch als redundant erscheinen, als man damit die vielzitierte ‘Informationsflut’ noch stärker ansteigen läßt. Als eines der Hauptprobleme des Internet ist aber mittlerweile erkannt worden, daß es weniger darauf ankommt, noch mehr Informationen einzugeben, als darauf, dieses Medium von Überflüssigem zu entlasten.
4. Wissenschaftliche Publikationen, gleich in welchem Medium, haben ihren eigentlichen Sinn in der Funktion, nicht nur über Forschritte und Erkenntnisse zu informieren, sondern auch als Material für weiterführende Arbeiten anderer zu dienen. Um diese Funktion zu erfüllen, müssen Identität und Identifizierbarkeit des Materials garantiert werden. Zu diesem Zweck haben die traditionellen Medien Systeme des Zitierens entwickelt, die einen fast lückenlosen Nachweis der Provenienz von Informationen garantieren. Natürlich gibt es auch hier Möglichkeiten, Sinn und Zweck des Zitierens zu umgehen oder zu korrumpieren (nicht gekennzeichnete Sekundärzitate; ‘Schauzitate’ zur Suggestion von Belesenheit, aber ohne inhaltliche Funktion; sinnentstellendes Zitieren durch gezielte Auslassungen etc.). Aber auch dann ist es Benutzer/innen in der Regel fast immer möglich, Fehler oder Betrug nachzuweisen, weil es bei Zitaten und bibliographischen Angaben im Printmedium feste, unabänderliche Referenzobjekte gibt – eben die zitierten und bibliographisch nachgewiesenen Schriften selbst, deren Textgestalt nicht oder doch nur unter erheblichem Aufwand und dann allemal nachweisbar verändert werden kann. Wer in bezug auf einen Drucktext, auf den ein anderer sich beruft, etwas überprüfen will, kann dies auch – manchmal unter Schwierigkeiten, aber die Tatsache, daß einem Mitglied der Wissenschaftszunft ein gedruckter Text vorgelegen hat, impliziert angesichts der Existenz von Bibliotheken, Referatenorganen, Bibliographien usw. stets auch die Möglichkeit, daß dieser Text auch anderen zugänglich ist. Für Internet-Texte jedoch gibt es so gut wie keine Referatenorgane und Bibliographien; und das Internet selbst ist zwar eine Art ‘Bibliothek’, aber eine, deren Bestände derzeit noch unüberschaubar (s.o.) sind und sogar unmerkbar verändert werden können. X kann sich den Internnet-Text, auf den er sich beruft, selbst schreiben; er kann einen Internet-Text, den er geschrieben hat und der von Y kritisiert worden ist, post festum verändern, den alten Text verschwinden lassen und in seiner Replik auf Y behaupten, er habe das, was da kritisiert werde, nie gesagt. Und selbst wenn man keine bösen Absichten unterstellt, verschwinden doch täglich tausende von Texten im Internet auf Nimmerwiedersehen oder werden verändert, stehen also für eine Kontrolle nicht mehr zur Verfügung, wenn Y sich auf X berufen will. Es kommt also nicht nur darauf an, Material zur Verfügung zu stellen; dieses Material muß auch (notfalls in allen verschiedenen Fassungen, in denen es präsentiert worden ist) zugänglich bleiben, darf nicht nur Tagesware sein.
5. Wenn die Konservierung von Material, das über das Internet angeboten wird, gesichert ist, wenn es also zitiert werden kann, stellt sich schließlich noch die Frage, wie man es zitieren soll. Hier existieren noch keinerlei verbindliche Konventionen, geschweige denn Regelungen. Oft wird dieses Problem überhaupt nicht als solches erkannt, vereinzelt sogar als nichtexistent abgetan.
Bevor zumindest diese Probleme nicht zufriedenstellend geregelt werden, befindet sich die Kultur der neuen elektronischen Medien bei all ihren Vorteilen in bezug auf Verbreitungsgrad, Schnelligkeit und Zugänglichkeit auf dem Stand einer Manuskriptkultur: Die in ihr produzierten Texte sind Unikate; die Herstellung von ‘Abschriften’ (durch downloading oder Ausdruck) bleibt allein den Benutzern vorbehalten. Da die Herstellung von Texten im ersten Arbeitsgang nach wie vor manuell vorgenommen wird und sorgfältige Korrekturen zwecks Zeitersparnis oft nicht vorgenommen werden, manchmal überhaupt nicht vorgesehen sind, bleibt Internettexten das Schicksal mittelalterlicher Abschriften nicht erspart: sie sind vergleichsweise meist recht fehlerhaft oder gewollt nicht ‘werkgetreu’.
Im Rahmen einer Internet-Fachzeitschrift kann man natürlich nur die Probleme angehen, auf die man selbst Zugriff hat. Dies ist bei den genannten Punkten in unterschiedlichem Ausmaß der Fall:
Zu 1. Perspicuitas ist keine ‘Hauszeitschrift’. Natürlich werden (vor allem im Anfangsstadium) die Herausgeber mit eigenen Beiträgen vertreten sein – nicht anders als bei traditionellen wissenschaftlichen Periodika; angesprochen ist aber in erster Linie das gesamte Fach. Eingereichte Beiträge werden, wie das üblich ist oder doch sein sollte, begutachtet; über die Gründe einer Ablehnung wird informiert, gegebenenfalls mit einem Auszug aus dem Gutachten (dessen Verfasser/in selbstverständlich anonym bleibt). Als zusätzliche Möglichkeit bieten wir innerhalb der Zeitschrift ein Diskussionsforum an: Zu veröffentlichten Beiträgen kann Stellung genommen werden. Diese Möglichkeit ist aus Platz- und damit Kostengründen bei den meisten Printzeitschriften nicht gegeben; hier kann das neue Medium also tatsächlich eine besondere Option ausspielen.
Zu 2. Kanalisierung und Erschließung des gewaltigen Materials, das im Internet angeboten wird, sind von uns nicht beeinflußbar. Eine wissenschaftliche (und damit in gewissem Sinn offiziöse) Zeitschrift, die sich mittels der o.a. Maßnahmen qualitativer Innen- und vor allem Außenkontrolle unterwirft, stellt aber in sich einen ‘Kanal’ dar, eine feste ‘Adresse’, unter der man das – und nur das – Material vorfindet, das man erwartet. Diese Funktion ist freilich nur dann realisierbar, wenn Perspicuitas als ein entsprechendes Publikationsorgan von der Wissenschaft angenommen wird.
Zu 3. Die in der Mediävistik angesichts der im ganzen doch zufriedenstellenden Ausstattung mit Fachzeitschriften sicher im Moment noch vorhandene objektive Redundanz eines elektronischen Publikationsorgans rechtfertigt sich vielleicht durch die Tatsache, daß in Zukunft wahrscheinlich auch in den Geisteswissenschaften eine zunehmende Verlagerung solcher Organe in elektronische Medien stattfinden wird. (Im Bereich der Naturwissenschaften forcieren etwa Verlage von sich aus diese Entwicklung, indem sie ihre Printzeitschriften immer mehr verteuern.) Damit diese Verlagerung nicht eines Tages überhastet und ohne Vorbereitung stattfinden muß, sollten entsprechende Versuche bereits in einem Stadium stattfinden, in dem sie inhaltlich noch nicht notwendig sind. Perspicuitas hat also sicher auch Testcharakter; und wir würden uns freuen, wenn andere Unternehmungen ähnlicher Art von unseren Versuchen profitieren könnten.
Zu 4. und 5. Testcharakter hat sicher auch unser Umgang mit den von uns für das neue Medium gewählten Modi des Zitierens, der Materialerschließung und der Textkonservierung. Wir sind weder willens noch in der Lage, auf der Basis unseres Einzelunternehmens verbindliche Konventionen zu schaffen; wir hoffen allerdings, auch hier Erfahrungen sammeln und weitergeben zu können, was Praktikabilität und Sicherheit betrifft.
Erfahrungen sammeln kann man nur in der Praxis. Trotz aller S Probleme und derzeitigen Insuffizienzen gilt: Schon heute werden im Internet zahlreiche Informationen angeboten, die für einzelne Geisteswissenschaften von Interesse sind, und die Zahl dieser Angebote wird steigen, folglich auch die der Benutzerinnen und Benutzer. Zu vermeiden ist diese Entwicklung mit Sicherheit nicht; es kommt darauf an, ihre Vorteile zu nutzen und Nachteile zu vermeiden bzw. bereits zu beobachtende Nachteile zu minimieren.