Wie man mit psychologischen Tricks Stimmen fängt
Wahlen gewinnen heißt: von der Türkei lernen
- von Professor Haci Halil Uslucan
- 12.07.2017
Wer glaubt, heute noch Wahlen allein durch überzeugende, vernünftige und nachvollziehbare Inhalte gewinnen zu können, ist für diese Naivität nur noch zu bemitleiden. Die Vorstellung, der Wähler habe seine Präferenzen stets klar vor Augen und könne von den Angeboten der Parteien genau jene identifizieren, die seinen Bedürfnissen am besten entsprechen, gehört allenfalls dem Menschenbild des letzten, vielleicht sogar des vorletzten Jahrhunderts an. Doch genau so unwahrscheinlich und unrealistisch ist, im Wahlvolk nur eine irrationale und beliebig manipulierbare Masse zu sehen. Denn die einmal Überzeugten wird man kaum umstimmen; jeder externe Versuch, das Weltbild diskursiv durch Argumente zu erschüttern, wird eher Gründe provozieren, um noch stärker daran festzuhalten.
Also, was tun?
Eine kluge Strategie kann darin liegen, sich an die nicht oder noch nicht Überzeugten zu wenden – mit subtilen psychologischen Mitteln.
Lasst uns daher von der Türkei lernen. Die regierende AKP hat gezeigt, wie man in den letzten 15 Jahren aus jeder Wahl als Sieger hervorgeht.
Gleichwohl man hier einwenden könnte, die Unschlüssigen bildeten doch allenfalls nur fünf Prozent, so ist zu entgegnen: Bei den letzten großen Abstimmungen internationalen Stils, und zwar dem Brexit-Referendum, der Wahl in den USA sowie dem Verfassungsreferendum in der Türkei Mitte April dieses Jahres waren es genau diese unentschlossenen fünf Prozent, die entscheidend waren.
Der Volkswille – eine unsichere Größe
An Letzterem kann gezeigt werden, wie gut die subtile Beeinflussung funktioniert hat. Anzunehmen, das türkische Wahlvolk hätte die 18 Punkte der Verfassung, über die es zu abzustimmen galt, gekannt, im Einzelnen verstanden und aus dieser Einsicht heraus zugestimmt, würde zwar dessen intellektuellen Fähigkeiten schmeicheln, wäre aber von der Wahrheit so weit entfernt wie Ankara von Atlanta.
Die gegenwärtige AKP-Regierung ist sehr beharrlich: Bereits im Herbst 2012 hat sie ihre politische Vision für das Jahr 2023, also für die Zeit hundert Jahre nach der Republikgründung, bekannt gegeben; und eines dieser Ziele war die Veränderung des politischen Systems hin zu einer Präsidialdemokratie, wonach der Staatspräsident, mit nunmehr massiv erweiterten Machtbefugnissen, nicht vom Parlament, sondern vom Volk gewählt werden sollte. Doch eigentlich ist ja der Volkswille eine ziemlich volatile und unsichere Größe, gerade in Zeiten des Terrors und des beginnenden wirtschaftlichen Abwärtstrends in der Türkei. Warum setzt also der gegenwärtige Staatspräsident Erdogan so siegessicher auf das Volk?
Weil er weiß, wie Überzeugungsbildung und Meinungsänderung psychologisch funktionieren. Beides lässt sich – neben tatsächlich rationalen Gründen – auf vielfältige Weise erklären:
1. Autoritätshörigkeit: Man macht etwas, weil man dergestalt sozialisiert ist, dass man Autoritäten nicht widersprechen kann (sorge also für entsprechende Sozialisierungsbedingungen).
2. Liebe und Sympathie: Jemand ist sehr smart; und im Befolgen seiner/ihrer Anweisungen meinen wir, der Liebe dieser Person gewiss zu sein.
3. Orientierung an der Mehrheit: Wenn ich nicht weiß, was ich machen / wen ich wählen soll, dann frage ich mich, was die anderen tun. Läuft in der Öffentlichkeit Werbung und Propaganda nur für eine Partei, wird diese vor der Wahl schon als Gewinnerin gehandelt, dann will ich doch meine Stimme nicht einem Verlierer geben.
4. Sanktionsdrohungen: Drohe einfach als Regierung, was passiert, wenn der Wähler das Kreuz nicht an der richtigen Stelle macht.
Bauernschlau?
Was manchmal etwas leichtfertig als „orientalische Bauernschläue“ Erdogans gewertet wird, weil er „volksnah“ ist und dessen Bedürfnisse nicht nur gut erkennt, sondern auch darauf gezielt antworten kann, ist keineswegs türkeispezifisch; es ist typisch für autokratische Herrschaftsformen, deren (rechte und linke) Analogien in Ungarn wie auch unter der Chavez-Regierung in Venezuela zu beobachten waren.
Schauen wir uns an, wie es die AKP erneut geschafft hat, ihr Anliegen, diesmal ein „Ja“ für die Verfassungsänderung, durchzubekommen:
Monatelang lief vor dem Referendum eine landesweite Kampagne, unter anderem mit Fußballstars, die an rhetorischer Cleverness kaum zu überbieten war: „Für eine starke Türkei – bist du auch dabei?“, hieß es im Fernsehen sowie auf riesigen Werbeplakaten. Wie will man auf so eine Frage antworten? Jede andere Antwort als ein klares „Ja“ geriete im türkischen Kontext in die Nähe eines moralischen Landesverrats. Die AKP hat es schnell geschafft, das „Ja“ zum Referendum positiv zu besetzen. Die Opposition – einige ihrer Vertreter wurden zeitig in Gefängnisse gesteckt und konnten kaum aktiv eingreifen – hat zwar versucht, dem mit kreativen Wortspielen/Doppeldeutigkeiten etwas entgegen zu setzen („Her şeyde bir Hayır var“: In allem gibt es etwas Gutes; in allem gibt es ein Nein), doch diese Nachdenklichkeit (des Nein) hat gegenüber der Entschiedenheit des Ja den Kürzeren gezogen. Der Unentschiedene soll ja nicht überlegen, sondern sich klar positionieren.
Nein zu sagen, ist deutlich anstrengender
Die AKP hat die aus der Psychologie bekannte Ja-Sage-Tendenz recht geschickt ausgenutzt: Denn unabhängig vom Inhalt sind Menschen in Befragungssituationen eher geneigt, mit „Ja“ zu antworten als „Nein“ zu sagen; vor allem aber, wenn sie unsicher sind, keine dezidierte Meinung und Einstellung haben. Ein „Ja“ ist kognitiv weniger aufwändig; gefühlt bleibt alles, wie es ist; für ein „Nein“ müssen sie Gründe aktivieren; und das ist deutlich anstrengender.
Die Disposition für die Ja-Sage-Tendenz geht gelegentlich einher mit autoritären Persönlichkeitsmustern, deren gesellschaftliche Grundlagen in der Türkei auch vor der AKP bestanden; sie wurden aber insbesondere mit der Bildungspolitik der Heranzüchtung einer „religiösen Generation“ der AKP verstärkt.
Es geht aber noch subtiler: So war bei den Abstimmungszetteln das „Ja“-Feld weiß unterlegt, das „Nein“-Feld hingegen braun. Die Farbe Weiß ist auch im Türkischen durch und durch positiv konnotiert. Die AKP bezeichnet sich selber auch als AK Parti (als eine „weiße“, „unschuldige“ Partei); die Farbe Braun ist allenfalls neutral, eher aber negativ besetzt; sie ist stark assoziiert mit Dunkelheit und Düsternis.
Opposition kaum in den Medien
Doch das könnte eventuell nicht ausreichen; vielleicht leben in der Türkei auch Menschen, die sich subtilen Beeinflussungen entziehen können. Wenn denn dem wohlinformierten, aufmerksamen Bürger die vielfältige Deutung seiner sozialen Wirklichkeit auch zugänglich wäre. Insofern galt es, auch dieses Einfallstor zu schließen: Experten schätzten, dass rund 90 Prozent der Medien eher AKP-nahe Nachrichten brachten; insbesondere in ländlichen Regionen können ohnehin nur die staatlichen Sender empfangen werden, die die Agenda der Regierung unterstreichen. Oppositionelle Sichtweisen konnten kaum gesehen und gehört werden. Bei einer Analyse etwa zehn Tage vor dem Referendum zeigte sich, dass der Staatspräsident und Politiker der AKP etwa 5.000 Minuten, die zweitgrößte Partei, die CHP, etwa 1.000 Minuten und die kurdische Oppositionspartei HDP etwa 33 Minuten medial präsent waren.
Hat Erdogan direkt Druck gemacht? Nein, nicht immer. Aber einige Medien sind Teil eines größeren Unternehmens, das enge geschäftliche Verbindungen mit dem Staat hat bzw. von staatlichen Aufträgen lebt. Sie überlegen sich es folglich zwei Mal, wie sie ihre Redaktion besetzen und was sie senden oder drucken.
Deshalb kann und konnte sich Erdogan recht siegessicher als Vollstrecker des Volkswillens präsentieren: weil er mit guten Gründen davon ausgehen kann, dass das Volk auch genau das will, was es wollen soll. So ist aus der Intelligenzforschung bekannt: Es ist leichter, das Volk zu überzeugen als das Parlament; dafür bedarf es weniger ausgeprägter kognitiver Ressourcen.
zur Person:
Dr. Haci-Halil Uslucan ist Professor für Moderne Türkeistudien und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung.