Michael Burghard ist auf der Geisterbahn aufgewachsen
Wir haben das Kirmes-Gen
- von Ulrike Bohnsack
- 15.12.2017
Work-Life-Balance? So etwas kennen Schaustellerfamilien nicht. Sie ziehen von Rummel zu Rummel. Nicht nur das macht sie besonders, findet Soziologin Dr. Daniela Schiek.
„Jetzt wieder einsteigen und mitfahren..., neue Reise, neue Fahrt.“ Die Frau am Mikro spricht mit rauer Stimme. Grell blinken die Lichter, rhythmisch wummert es aus den Boxen. Nebel steigt auf, als der Breakdancer anfängt zu rotieren und immer schneller wird. Das Summen seiner Maschinen vermischt sich mit der Musik, aus den Kabinen kreischt es laut. Ein paar Meter weiter in der Raupe krallen sich Finger in die Haltebügel, fliegen Haare. Beim Autoscooter stoßen Wagen aneinander, woanders purzeln Dosenpyramiden, und am Stand mit den übergroßen Plüschtieren und dem Plastik-Tand ist jedes Los ein Gewinn. Überall leuchtet es bunt, es riecht nach Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Frittierfett.
Auf der Geisterbahn aufgewachsen
Es ist die Welt, in der Michael Burghard und seine Familie zuhause sind. Bis zu acht Monate im Jahr sind sie mit ihren zwei Riesenrädern auf Tour. Im Schwerlast-LKW bringen sie das nostalgische „Roue Parisienne“ und das kleinere „Columbia III“ zu den Kirmesplätzen in ganz Deutschland, und manchmal noch weiter: In Krakau, Zürich und Amsterdam waren sie schon. 40 Mal seit April haben die Burghards ihr Vergnügungsgeschäft aufgebaut, jüngst am Alex in Berlin. Dort ist er ausnahmsweise ohne seine Frau; sie steht mit den Bierwagen – auch die gehören zum Betrieb – auf zwei Weihnachtsmärkten im Ruhrgebiet.
Wenn Michael Burghard spricht, dann nicht in dem gemütlichen Tempo, in dem sein Riesenrad sich dreht. Schnell kommen seine Sätze und unmissverständlich. Man hört den Unternehmer reden, mehr noch den leidenschaftlichen Schausteller, dem die Familientradition über alles geht. „Wir sind Kirmeskinder, ich mache das in der vierten, meine Frau sogar in der fünften Generation“, sagt er stolz. „Ich bin auf der Großgeisterbahn aufgewachsen, Susanne mit den Riesenrädern.“ Einen Berufsabschluss haben beide nicht, aber: „Unsere Eltern haben uns eine Top-Ausbildung gegeben.“
Heute lernen viele Kinder zunächst ein Handwerk oder was Kaufmännisches, bevor sie in das Geschäft einsteigen, in das sie hineingeboren wurden. Für sie ist es selbstverständlich weiterzumachen, selbst wenn es nur eine kleine Schießbude ist. Manche gehen aufs Internat, wie Burghards Sohn. Er hat bald Abitur und sieht seine Zukunft – wo sonst – auf dem Rummel.
Von Generation zu Generation
Für die Sozialforschung sind diese Biografien etwas Besonderes, sagt Dr. Daniela Schiek. Sie hat für ihre Pilotstudie „Hereinspaziert: Arbeit und Leben in Jahrmarktgenerationen“ Kirmesleute interviewt: „Da reden wir darüber, dass sich die Arbeitswelt wandelt und die Normalbiografie auflöst, diskutieren über die Work-Life-Balance und wie mobil man sein muss, und diese Menschen stellen das alles auf den Kopf. Es gibt keine Trennung von Beruf und Privatleben, keine dreiteilige Laufbahn: Ausbildung, Erwerbsphase, Rente.“
Dafür eine lebenszeitliche Totalinklusion in den Jahrmarkt, wie die Forscherin es nennt: „Der reisende Betrieb ist zugleich Wohnung, man sozialisiert seinen Nachwuchs auf dem Rummel und gibt damit nicht nur das Geschäft, sondern einen ganzen Lebensstil von Generation zu Generation weiter. Ganz gezielt und mit viel Stolz. Es ist üblich, aber aufgrund der besonderen Verhältnisse ja auch fast notwendig, innerhalb der Szene zu heiraten.“
Man müsse schon aus der Branche kommen, um dieses Leben zu lieben, ist Michael Burghard überzeugt. Wochenende oder Feierabend? Kennt er nicht. Dafür jedes Zahnrad und jedes Geräusch an seinen Riesenrädern.
Seit dem Mittelalter gibt es Vorurteile
3.000 Betriebe sind im Deutschen Schaustellerbund registriert. Sie beschäftigen in der Saison etwa 40.000 Gehilfen – Menschen, die oft schwer vermittelbar sind. Amtliche Zahlen gibt es allerdings nicht, weil sich bislang niemand so richtig für das Schaustellerwesen interessiert hat. Auch die Soziologie nicht. Überhaupt tut sich die Gesellschaft schwer mit dieser alternativen Arbeits- und Lebensform. Viele Vorurteile sind uralt, so Daniela Schiek. „Bereits im Mittelalter galten Kirmesleute als abweichende Gruppe, die nicht nur herumzog, sondern angeblich unehrlich Geld verdiente. Während des Holocausts wurden viele Schausteller/innen verfolgt und ermordet.“
Wirklich geschätzt sei der Beruf des Schaustellers auch heute noch nicht, meint die Forscherin: „weil man dafür keine formale Qualifikation braucht, obwohl man viel können muss; weil diese Einheit von Betrieb und Familie als unmodern gilt und das Umherziehen im Wohnwagen
als arm.“ Dabei sind die meisten Familien alles andere als das. Die Burghards etwa leben in ihrem Haus in Dortmund, wenn sie nicht auf Tour sind.
Billige Unterhaltung oder Kunst?
Auffällig findet Daniela Schiek, wie mit zweierlei Maß geurteilt wird: „Schauspieler oder Zimmerleute führen ebenfalls ein unstetes Leben. Aber das wird ganz anders bewertet.“ Auch scheint es nicht egal, mit was man das Volk amüsiert. „Ein Karussell zu betreiben, wird als billige Unterhaltung gesehen, aber nicht als künstlerische Arbeit und schon gar nicht als Kultur. Dabei sind Schausteller kreativ: Viele halten Patente, erfinden Fahr- und Belustigungsgeschäfte oder entwickeln sie weiter.“
Ausgegrenzt? So fühlt sich Michael Burghard absolut nicht. Wertgeschätzt dafür, dass seine Familie und er oft am Limit arbeiten, zwischen 16 und 30 Leute beschäftigen und unternehmerisch viel riskieren? Da würde sich der 51-Jährige, der auch Bundesfachberater für den TÜV ist, tatsächlich mehr wünschen – von den Behörden. „Die letzten zehn Jahre waren schwierig. Die ganzen gesetzlichen Normen sind strenger geworden, die Sicherheitsauflagen höher. Wegen des Love-Parade-Unglücks, wegen der Terrorgefahr. Manchmal dreht man wirklich am Rad.“
Aufgeben? Nach 140 Jahren Familientradition? Nie habe man je daran gedacht, sagt Burghard. Das mache das Kirmes-Gen. „Ich sage immer: Wir sind wie die indischen Elefantenboys. Wir werden mit dem Karussell groß und lassen es nicht mehr allein.“
Zur Person:
Dr. Daniela Schiek (38) ist Privatdozentin für Soziologie. Ihre Schwerpunkte sind Soziale Ungleichheit und Methodenforschung. Zurzeit untersucht sie, ob Armut vererbt wird, und befragt dazu Hartz-IV–Familien. Mit dem Leben auf dem Rummel möchte sie sich weiter beschäftigen.
im Bild:
Michael Burghard hat auch im Winter keine Pause. Bis zum Jahresende steht er am Berliner Alex. Sein nostalgisches Riesenrad ist unübersehbar: Es ist 48 Meter hoch. Foto: Sebastian Höhn