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30 Jahre mit einem neuen Herzen

Ein geschenktes Leben

  • von Cathrin Becker
  • 07.12.2018

Was ist bloß mit dem Jungen los, wundert sich Frau Kulot. Es ist Frühjahr 1988. Ihr Sohn Andreas kommt immer wieder mit dreckiger Kleidung aus der Schule, weil er so oft fällt. Er ist zu schwach. Der Hausarzt überweist den 16-Jährigen direkt ins Krankenhaus. „Die Diagnose lautete: Myokardschädigung des linken Ventrikels und eine Dilatation des linken Vorhofs“, liest Andreas Kulot aus den alten Unterlagen vor. Was heißt das? Die Familie  versteht bloß: Sein Herz leistet nur noch zehn Prozent. Im April steht er auf Platz eins der Warteliste, im Mai bekommt er im Uni­klinikum Essen sein neues Herz.

Eine Herzmuskelschwäche oder auch Schädigung durch Alkohol tritt häufiger bei jungen Menschen auf – eine virale Entzündung war es bei Andreas Kulot. Ältere kämpfen mit Verkalkungen der  Herzkranzgefäße und Infarktfolgen.

1.000 Menschen hoffen auf ein neues Herz
Was auch immer das lebenswichtige Organ krank macht, „wir sind die letzte Behandlungsoption“, erklärt Professor Dr. Markus Kamler. Er leitet die Thorakale Organtransplantation am UK Essen. Wenn Patient*innen auf Medikamente nicht ansprechen und Schrittmacher und Defibrillator nicht helfen, operieren Kamler und seine Kollegen Katheter- und Herzklappen, legen Bypässe. „Danach bleiben nur die so genannten Kunst­herzen, das sind mechanische Pumpen, bis das neue Organ da ist – wenn es denn eines gibt.“

Über tausend Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste, allein 429 wurden im letzten Jahr neu angemeldet, 257 Herzen wurden schließlich verpflanzt – ein Tiefstand. „Wir brauchen mindestens doppelt so
viele Spender. Wahrscheinlich müssten es sogar noch mehr sein, denn dadurch, dass es nicht viele Organe gibt, meldet man von vornherein weniger Patient*innen an.“

In Österreich, Italien oder Spanien kennt man diese Probleme nicht. Sie haben die Widerspruchslösung, die auch in Deutschland wieder diskutiert wird. Weigert man sich nicht, ist man automatisch Organspender, statt wie heute zustimmen zu müssen. „Die Spanier haben 46 Spender pro Million Einwohner, während es bei uns ungefähr neun sind. Leider verdrängen viele das Thema, und die Angehörigen lehnen im Zweifel ab“, erklärt der leitende Oberarzt Dr. Nikolaus Pizanis.

Sechs Wochen warten für 30 Jahre Leben
Zwei Jahre bevor Andreas Kulot operiert wurde, verpflanzen Herzspezialisten das erste Organ am UK Essen. Aktuell warten 15 Patienten auf ein neues Herz. „Parallel setzen wir rund 30 bis 50 Kunstherzen jährlich ein“, erklärt Pizanis. Davon profitieren ältere Kranke, die nicht mehr transplantiert werden können, und jene, die warten.

Warten musste auch Andreas Kulot. Aber was sind schon sechs Wochen für geschenkte 30 Jahre? Ein Jahr nach der Herzverpflanzung beginnt er seine Ausbildung zum Chemielaboranten, macht viel Sport, lernt seine Frau kennen. 26 Jahre arbeitete er Vollzeit, bevor er vor drei Jahren in Erwerbsminderungsrente geht. Drei Jahrzehnte mit einer fremden Pumpe zu leben, ist außergewöhnlich lang – und bleibt nicht ohne Folgen. „Mein zweites Herz ist leider nicht mehr ganz gesund. Die Stents, der Schritt­macher, eine Herzklappeninsuffizienz und viele Medikamente machen sich im Alltag bemerkbar.“

Was kann die Medizin für die Menschen wie ihn tun? Der Mangel an Organen treibt die Forschung voran. „Ein Herz aus Stammzellen ist noch weit weg, obwohl das eine Weile sehr gehypt wurde“, sagt Nikolaus Pizanis. Ein Herzschlag kann durch auf eine Matrix aufgetragene Zellen im Verband produziert werden, „aber das ist kein echtes Herz, sondern nur eine stundenweise überlebende Zellschicht.“ Auch beim Einsetzen von tierischen Organen, wie Schweineherzen, gibt es noch immer Abstoßungsreaktionen, die Überlebenszeit ist kurz.

Spenderherzen gut behandeln
Als eines von wenigen Zentren weltweit setzt das UK Essen auf Organ­perfusion. „Da wird das Spenderorgan in eine Maschine eingespannt und begutachtet. Wir messen die Leistung und durchspülen es mit Blut oder einer Nährstofflösung, so dass man die Gefäße sieht“, erklärt Markus Kamler. Das Besondere: Aus drei Stunden, die ein entnommenes Herz auf Eis sein kann, werden in der Maschine bis zu sechs. „Nahezu alle Patient*innen haben vor der Transplantation eine mechanische Pumpe, was zu Verwachsungen führen kann. Das macht die OP länger. Aber wenn die Perfusionsmaschine läuft, ist alles entspannter, weil dann nicht jede Sekunde zählt.“

Andreas Kulot weiß wenig über seinen Spender
Wie lange sein Herz auf dem Weg zu ihm war, weiß Andreas Kulot nicht. Auch nichts über seinen Spender. „Außer, dass er 20 Jahre älter war als ich.“ Mit einem fremden Herzen leben? Manche kommen damit nur schwer klar. Eine Selbsthilfegruppe hat der 46-Jährige nie besucht, seine Eltern, Geschwister und Freunde waren für ihn da. Natürlich ist er seinem Spender unglaublich dankbar, Kontakt zu dessen Familie wollte Kulot aber nicht. „Bin ich emotional bereit dafür? Kommen Schuldgefühle? Ich weiß es bis heute nicht.“

Für eine Transplantation sind  die richtige Blutgruppe und die vergleichbare Größe und das Gewicht des Herzens wichtig. Aber nicht nur das: Nur wer zuverlässig und emotional stabil ist, kommt nach Gesprächen mit Spezialist*innen aus Psychologie und Psychosomatik überhaupt in Frage.

Liebt es sich mit fremdem Herzen anders?
Andreas Kulot lebt sehr diszipliniert, nimmt seine Medikamente, geht regelmäßig zur Kontrolle. Er hofft, dass ihm noch viele Jahre bleiben, in denen er zum Fußball gehen, sich aufs Rad schwingen und den Garten genießen kann.

Liebt es sich mit seinem zweiten Herzen anders? „Schwer zu sagen“. Grübeln will er darüber nicht, stattdessen schmeißt er den Haushalt – auch aus Liebe. „Dafür ist mir meine Frau sehr dankbar“, sagt er und lacht. „Jetzt gebe ich ihr all die Unterstützung zurück.“

Info:
Am Essener Uniklinikum kümmern sich unter der Leitung von Professor Dr. Tienush Rassaf 15 Oberärzte, 35 Assistenz­ärzte und 96 Pflegekräfte um die Transplantationen.
Das HERZ-TEAM, eine auf Herzschwäche spezialisierte Abteilung, wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie als überregionales Zentrum zur Behandlung der Herzinsuffizienz ausgezeichnet.
www.uk-essen.de/kardiologie

 

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