Wie Rollenbilder entstehen
Junge oder Mädchen? Kind!
- von Birte Vierjahn
- 16.12.2020
Darf Henry einen Rock tragen? Ist Mechatronikerin der richtige Beruf für Jana? Unser Rollenverständnis entscheidet über unsere Antworten.
„Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und Blau für die Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt, während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen hübscher aussieht.“
So war es im Jahr 1918 im amerikanischen Magazin „Earnshaw’s Infants’ Department“ zu lesen. Blau assoziierte man mit der Jungfrau Maria. Rosa galt als „das kleine Rot“ und stand wahlweise für die verblassten Blutflecken auf den Uniformen heimkehrender Soldaten oder für die abgeschwächte Variante herrschaftlichen – und damit männlichen – Purpurs. Warum sich diese Zuweisung ab den 1940er-Jahren ins Gegenteil umkehrte, dazu gibt es verschiedene Theorien. Unter anderem soll die blaue Uniform von Matrosen, die als raue Burschen galten, die Wahrnehmung der Farbe verändert haben.
Rollenbilder als Orientierung
Die Forschung geht davon aus, dass wir bereits im Alter von 14 Monaten erste Rollenbilder formen – durch Vorbilder und Nachmachen: Was ist für mich erlaubt, was lasse ich besser? Das beginnt zunächst bei den Eltern und Geschwistern und setzt sich in späteren Jahren mit Gleichaltrigen in Kindergarten und Schule fort. Dabei können Rollenbilder zunächst etwas Positives sein, weiß Esther Booth, die sich seit anderthalb Jahren in ihrer Promotion mit dem Thema auseinandersetzt: „Kinder versuchen grundsätzlich, alles einzuordnen und zu kategorisieren, um Sinn in ihr Lebensumfeld zu bringen. Durch Rollenbilder lernen sie grundlegende Regeln des Zusammenlebens.“
Später sind Kindergruppen wichtig, um das Erlernte auszutesten: Das klassische „Jungen gegen Mädchen“ lässt sich in jeder KiTa beobachten, und wir erfassen ganz genau, was die anderen um uns herum machen – und was nicht. Neben Gleichaltrigen, Eltern und Geschwistern haben auch Medien einen großen Einfluss auf unser Selbstbild: Da ist die Werbung, die seit den 1950er-Jahren mit pinkig-glitzrigen Ponys und waffenstrotzenden Actionfiguren starre Rollenklischees zementiert und damit offenbar gut fährt.
Doch auch wer ein Buch für ein Kind sucht, wird im Laden nicht etwa gefragt, wofür dieses sich interessiert. Stattdessen: „Junge oder Mädchen?“. Und dann folgen nur zu oft Empfehlungen für „Mädchenbücher“, die – das belegt eine Analyse der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2019 – im Wesentlichen von Freundschaften und sozialen Beziehungen handeln. Jungen hingegen schreibt man Abenteuer, Reisen, Detektivarbeit und ganz allgemein viel abwechslungsreichere Themen zu. Was für die Leserschaft zutrifft, gilt auch für die Handelnden: Mädchen pflegen Pferde, Jungen reisen zum Mond.
Feuerwehrfrauen und Erzieher
Im Alter zwischen etwa acht Jahren und dem Beginn der Pubertät sind Kinder wieder etwas offener in Bezug auf Rollenbilder. Gerade Schulen versuchen sich diesen Zeitraum zunutze zu machen, um starre Mann/Frau-Verteilungen aufzubrechen. Doch spätestens in der Pubertät steht fest, ob wir den Berufswunsch „Kindergärtner“ unseres Freundes belächeln oder unterstützen. Als erwachsener Mensch ist es zwar möglich, eigene Rollenbilder noch einmal zu ändern, aber „das muss man wirklich wollen“, erklärt Booth, „denn man muss Dinge, die man eigentlich für selbstverständlich hält, immer wieder hinterfragen.“
Dabei gibt es allen Grund, Rollenbilder nicht als gegeben hinzunehmen, so die 28-Jährige. Auf lange Sicht schränken sie uns nämlich ein: Durch eine zu starre Meinung, was für Männer oder Frauen angebracht ist, verfolgen wir bestimmte Interessen beispielsweise gar nicht erst, obwohl die Neugierde und das Potenzial vorhanden wären. Oder die hochgezogene Augenbraue kommt vom Gegenüber: „Du willst ernsthaft Feuerwehrfrau werden?!“ Viele Berufe schließen wir so von vornherein aus.
Konservative Berufsstatistik
Ein Blick auf den Arbeitsmarkt belegt das: Allen MINT-Förderungen und Girls’ Days zum Trotz lassen sich Frauen am häufigsten als Kauffrau für Büromanagement, (Zahn-)Medizinische Fachangestellte oder Verkäuferin ausbilden. Bei den Männern dominieren die Kfz-Mechatroniker, Fachinformatiker und Elektroniker – exakt so wie vor 20 Jahren. Bei Studierenden sieht das Bild ähnlich aus: Erziehungswissenschaft ist weiblich, Maschinenbau männlich. „Sieht man sich die vergangenen 50 Jahre an, kann man schon feststellen, dass Frauen heute mehr im Arbeitsleben stehen“, berichtet Booth. „Aber nach wie vor dominiert in vielen Familien das Breadwinner/Caregiver-Modell: Der Mann verdient das Geld und sieht sich als Familienoberhaupt, aber die eigentliche Organisatorin der Familie ist die Frau. Sie hat alles im Kopf und managt das Unternehmen Familie.“
Traditionelle Frauenberufe werden auch traditionell schlecht bezahlt. „Früher nahm man eben an, dass Frauen ‚eh nur nebenbei‘ arbeiten“, so die Soziologin. „Später wurde es dann verschlafen, das anzupassen.“ Ob das der Grund ist, warum es so wenige männliche Erzieher und Grundschullehrer gibt oder ob dieser Beruf sich mit dem eigenen Selbstverständnis beißt – fest steht, dass es eine Lose-Lose-Situation ist: Viele Männer geben einem Beruf, der sie möglicherweise erfüllen würde, nie eine Chance. Kinder hingegen werden fast ausschließlich von Frauen begleitet, erzogen und unterrichtet.
Geborene Puppenmütter gibt’s nicht
Nach Geschlechtern getrennter naturwissenschaftlicher Unterricht ist nach Booths Meinung auch nur ein Versuch, vorher gemachte Fehler wieder auszubügeln: „Jungen haben keinen genetischen Vorteil in den Naturwissenschaften, sie werden aber eher in dieser Ausrichtung bestärkt. In den kleineren Gruppen beim getrennten Unterricht können die Mädchen die fehlende Unterstützung besser wettmachen.“ Denn zahlreiche Analysen zeigen, dass individuelle Unterschiede zwischen Menschen deutlich größer sind als allgemeine Frau/Mann-Variationen. Genetisch vorgeprägte Raufbolde und Puppenmütter gibt es also nicht.
Doch Studien zeigen ebenfalls: Durchbricht jemand vermeintliche Rollenschranken, ziehen andere nach. Daher einfach mal mit der Tochter das Regal aufbauen und mit ihr Fußball spielen. Vielleicht wird sie dann Ingenieurin. Oder doch eine glückliche Erzieherin. Zumindest aber hatte sie alle Optionen.
Esther Booth
hat einen Master in Soziologie und ist Doktorandin in der Arbeitsgruppe „Schulforschung“. In ihrer Promotion untersucht sie, inwiefern Grundschulkinder bei ihrer Einschätzung von MINT-Berufen von Rollenbildern beeinflusst werden.