Männlich, weiblich, divers
Wie, nur drei?
- von Isabelle Sprang
- 16.12.2020
Das dritte Geschlecht ist keine neumodische Erfindung, sagt der Historiker Frank Becker. Viele Gesellschaften kennen seit Jahrtausenden mehr als nur zwei.
Männlich, weiblich, divers. Seit letztem Jahr stößt man bei Stellenanzeigen auf das Kürzel: m/w/d. Oder es werden Sternchen bzw. andere Zeichen genutzt, um zu zeigen, dass es mehr als nur zwei Identitäten gibt. Was mit der dritten Option gemeint ist, wissen die meisten nicht so genau. Im Grunde genommen brachte erst die Vorbereitung zu dem neuen Personenstandsgesetz im Jahr 2017 Diversität ins Bewusstsein der Mehrheit. Dabei hatten sich schon vor langer Zeit weit mehr Kategorien als ‚Frau‘ und ‚Mann‘ etabliert.
„Viele denken, die Moderne hätte das Intersexuelle erst entdeckt und Diskriminierten zu ihrem Recht verholfen. Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen kamen schon immer auf die Welt, aber sie wurden nicht immer stigmatisiert“, stellt Professor Frank Becker klar. Selbst wenn Gesellschaften oft versuchten, Menschen gewaltsam als Frau oder Mann einzuordnen – ging es hin und wieder auch anders.
Eins, zwei, drei ...
Weltweit finden sich in verschiedenen Zeitaltern und etlichen Kulturen Alternativen zur binären Geschlechterordnung. Geschlechtliche Identität, wie auch Sexualität, können flexibel konstruiert sein. So gab es bei einigen nordamerikanischen Stämmen bis zu sechs Geschlechter – biologische und soziale. Durch den Einfluss der christlichen Kolonialmächte verschwand diese Vielfalt.
Dabei ist sie noch länger bekannt. Überlieferungen aus Babylonien verdeutlichen: Schon vor 4.000 Jahren wurde Menschen ein drittes Geschlecht zugestanden. „Interessant ist auch die Figur des Hermaphroditen aus der griechischen Mythologie, dessen Körper weiblich und männlich ist. Man kann davon ausgehen, dass diese Figur ein Reflex auf die Realität war“, erklärt der Historiker.
Hijra und Burrnesha
Welche weiteren Konzepte gibt es? In Indien heißen Transsexuelle, Homosexuelle und Kastraten Hijras. Früher galten sie als göttlich Inspirierte mit magischen Talenten. „In einigen Gesellschaften außerhalb Europas waren Menschen mit einem anderen Geschlecht sogar privilegiert, man sprach ihnen übermenschliche Fähigkeiten zu“, so Becker. Er nennt verblüffende Beispiele von Transgender. Bis heute leben manche Frauen in Albanien als Burrnesha. Sie verpflichten sich zu lebenslanger Enthaltsamkeit, damit sie als Mann anerkannt werden. Der Grund für den sozial-kulturellen Geschlechtertausch ist meist eine Notlage – wenn der Familie ein männlicher Erbe fehlt und der Rollenwechsel der einzige Weg ist, im patriarchalen System Besitz zu vermachen.
Innovatives Preußen?
Selbst im deutschen Raum gab es im 18. Jahrhundert eine Zeit vermehrter Toleranz, in der ein Geschlecht jenseits von weiblich und männlich im Prinzip akzeptiert war. Der „Zwitterparagraf“ im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) regelte die Rechte von Intersexuellen. „Im 19. Jahrhundert wurde es erneut restriktiver, der Paragraf verschwand. Eine eindeutige Geschlechtszuschreibung war erforderlich. Erst im Umfeld des Transsexuellengesetzes von 1980 entstand eine neue Debatte, auch um Intersexualität.“
Dass das Binäre lange fest zementiert war, liegt auch am Christentum, das strikte Normen setzte. Becker bringt es auf den Punkt: „Da gibt es nur Eva und Adam, nur weiblich und männlich, dazwischen ist nichts. Jahrhundertelang war es üblich, dass geistliche Autoritäten gemeinsam mit Ärzten festlegten, was Menschen sein sollten, die man als ,geschlechtlich uneindeutig' klassifizierte. Einmal getroffene Festlegungen durften nicht mehr in Frage gestellt werden. Sonst wäre zum Beispiel eine Ehe, die nur unter gegengeschlechtlichen Partnern zulässig war, ungültig geworden.“
OP-Fixiertheit
Das 20. Jahrhundert brachte mit dem medizinischen Fortschritt Fluch und Segen zugleich. Einige Intersexuelle begrüßten die Chance einer operativen Vereindeutigung ihres Geschlechts, andere erlebten die Fixierung auf das Zweigeschlechtersystem als seelisches Fiasko.„Eltern wurden unter Druck gesetzt, ihre Säuglinge operieren zu lassen, damit sie als geschlechtlich eindeutig galten. Meist wurde Richtung Mädchen operiert, das war die einfachere Methode“, erläutert Becker. Die Alternative hieß: mit dem Geheimnis leben, das Anderssein verdecken. „In den letzten Jahren ist eine Offenheit und Buntheit entstanden, die in manchen toleranten Gesellschaften früher schon Realität war.“
Fortschritt ist relativ
Was als progressiv erachtet wird, hängt von der Epoche ab. Aus heutiger Sicht sind Be-griffe wie Hermaphrodit und Zwitter despektierlich, wir sprechen von Intersexuellen. Obwohl erste Quellen, die das Phänomen belegen, Jahrtausende alt sind, war es immer wieder eine Herausforderung, sich vorzustellen, dass Menschen nicht ins binäre System „passen“. Bis 2017 hielt man es für fortschrittlich, jenen, die nicht eindeutig zugeordnet werden können oder wollen, die Option zu geben, das Geschlecht im Geburtenregister offenzulassen.
Aber die binäre Logik blieb. Das Bundesverfassungsgericht machte den Weg für das dritte Geschlecht frei, seit Ende 2018 ist es in Deutschland offiziell. Frank Becker ist gespannt auf
die Vielfalt neuer Zwischenformen: „Trans, inter, queer, postgender … Aktuell wird diskutiert, das dritte Geschlecht stärker auszudifferenzieren. Das berührt Grundlagen unserer sozial-kulturellen Orientierung in der Welt. Die Geschlechterdebatte ist nicht nur eine Fußnote der Geschichte, sie ist etwas Fundamentales!“
Frank Becker
ist seit 2011 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der UDE. In der DFG-Forschungsgruppe „Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken“ untersucht er mit Kolleg*innen aus den Geisteswissenschaften, wie Gesellschaften mit Ambiguität, u.a. mit der Uneindeutigkeit von Geschlecht, umgehen.