Bei der Echokardiographie: IMIBE-Mitarbeiterin Jennifer Pauli untersucht mithilfe von Ultraschall das Herz des Probanden.
© UDE/Jochen Tack

Volkskrankheiten auf der Spur

Proband Ruhrgebiet

  • von Ulrike Bohnsack
  • 25.07.2023

Seit über 23 Jahren werden in der international beachteten Heinz Nixdorf Recall Studie Herz-Kreislauf-Erkrankungen erforscht. Ein Ende ist nicht absehbar. Das ist gut so.

Schon die betuchten Menschen in der Antike litten an verkalkten Arterien und ihren Folgen. Heute stehen kardiovaskuläre Erkrankungen weltweit für einen traurigen Rekord: Sie sind die häufigste Todesursache, allen voran Herzinfarkt, Schlaganfall und koronare Herzkrankheit. Was verstopft die Gefäße, was hält gesund, und wie lässt sich das individuelle Risiko bestimmen zu erkranken? Die Fragen treiben die Forschung nicht erst seit Ende der 1990er-Jahre um. Damals jedoch wagt ein Team am Uniklinikum Essen einen neuen Ansatz: Statt sich wie üblich auf Patient:innen zu konzentrieren, soll im Langzeitverlauf ein breiter Querschnitt der Allgemeinbevölkerung untersucht werden – und damit auch gesunde Menschen. Folglich werden in der Metropole Ruhr knapp 5.000 Männer und Frauen zwischen 45 und 75 Jahren nach einem Zufallsverfahren ausgewählt und ab dem Jahr 2000 regelmäßig durchgecheckt und ausführlich befragt.

Es ist die erste Studie dieser Art in Europa; weltweit wird sie aufmerksam verfolgt. Aus gutem Grund: Sie ist repräsentativ für einen Ballungsraum in einer Industrienation, läuft seit 23 Jahren ohne Unterbrechung und produziert immer wieder wertvolle Daten und Erkenntnisse, zumal seit 2013 auch an die 3.000 erwachsene Kinder und Lebenspartner:innen der ersten Kohorte mitmachen. „Damit wird das Bild immer genauer, welche Faktoren bei den Volkskrankheiten zusammenspielen“, sagt Prof. Dr. Börge Schmidt. „Und wie wir heute wissen, sind das viele: Vererbung, andere Erkrankungen, psychosoziale Aspekte, lebensstil- und umweltbedingte Einflüsse.“

Schmidt selbst ist seit der zweiten Untersuchungsphase der Studie dabei. Als Biologie-Student war er ab 2006 zunächst in die Befragung der Proband:innen eingebunden. Dann wuchsen Aufgaben und Verantwortung. Heute ist er Professor in der Epidemiologie und stellvertretender Direktor des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE). Es führt die großen Bevölkerungsstudien durch und forscht in internationalen Verbünden. Wenn der 46-Jährige über seine Arbeit spricht, schwingt in jedem Satz Begeisterung mit. Auch über die Teilnehmenden, „die wirklich Lust haben mitzumachen und das teils über Jahrzehnte“.

AUSSAGEKRAFT WIRD IMMER BESSER

Die Proband:innen werden mit modernen bildgebenden Verfahren untersucht, u.a. Ultraschall und CT. Außerdem wird ein EKG gemacht, das Erbgut wird analysiert, Blut-, Urinwerte, Body Mass Index und Atmung werden gemessen, kognitive Fähigkeiten getestet – also Denken und Wahrnehmen – und die psychosozialen Belastungen und die Lebensumstände erfragt. Etwa alle fünf Jahre steht eine solche große Untersuchung an.

Die umfangreichen Fragebögen füllen die Teilnehmenden hingegen jährlich aus. Im Verlauf der Jahre zeigt sich, wer wann und wie erkrankt. Dadurch, dass die Erhebungen mehrere Generationen um- fassen, wird die Aussagekraft für die Krankheitsursachen immer besser, unterstreicht IMIBE-Direktor Prof. Dr. Andreas Stang: „Annahmen aus anderen Studien werden bestätigt, neues Wissen kommt hinzu.“

So wurde durch die Heinz Nixdorf Recall Studie erstmals für die Allgemeinbevölkerung in Europa klar, wie stark der Zusammenhang zwischen der Verkalkung der Herzkranzgefäße und dem Infarktrisiko ist. „Um Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorherzusagen, ist es heute gängige Praxis, den Koronarkalk mit bildgebenden Verfahren zu bestimmen – dazu hat die Essener Studie wesentlich beigetragen“, so Stang. Allerdings – auch das ist ein Ergebnis – ist es nicht sinnvoll, die Patient:innen alle paar Jahre erneut ins CT zu schicken, um eine genauere Prognose zu bekommen. „Eine einmalige Kalkmessung genügt im Normalfall, um jemanden in seiner Gefährdung gut einschätzen zu können.“

ARMUT MACHT KRANK

Wer in der Stadt lebt, hat ein größeres Risiko, an bestimmten Krankheiten zu leiden. Umso mehr noch, je näher ein Mensch an einer vielbefahrenen Straße wohnt. Das liegt an Lärm und Feinstaubbelastung, belegt die Studie. An Hauptstraßen sind die Mieten günstiger, weshalb es zumeist ärmere Familien dorthin zieht. Die Forschenden konnten feststellen, dass sich soziale Ungleichheit auf die Gesundheit auswirkt. „Wir haben uns z.B. den Biomarker Cystatin C angeschaut“, so Schmidt. „Dieser Laborwert für die Nierenfunktion gibt auch Hinweise auf kardiovaskuläre Risiken und war bei unseren Proband:innen ebenfalls ungleich verteilt: Menschen mit wenig Einkommen und einem niedrigen Bildungsgrad hatten die schlechteren Werte.“

Wie viel machen die Gene aus? Das ist eine Frage, die das Forschungsteam zurzeit beschäftigt. „Es gibt definitiv eine erbliche Komponente. Die erklärt aber nicht alles“, betont der Wissenschaftler. „Unsere Hypothese ist: Eltern geben nicht nur ihre negative Veranlagung für die Koronarverkalkung an die Kinder weiter, sondern auch ungünstige Verhaltensweisen. Wenn ich als Kind in einer Familie aufwachse, in der viel Fleisch, Zucker und Softdrinks auf dem Speiseplan stehen, prägt das vermutlich auch meine Ernährungsweise im Erwachsenenalter.“ So setzt sich ein ungünstiges Risikoprofil in der Familie fort und legt den Grundstein für Diabetes, Übergewicht, Herzprobleme und sogar Demenz.

„Eine schlechte Genetik muss dennoch nicht automatisch zu einer schlechten Gesundheit führen. Umwelt- und soziale Faktoren spielen eine Rolle.“ Schmidt nennt ein Beispiel: „Es gibt ein Gen, das einen starken Einfluss hat auf Demenz, Alzheimer oder auf die Vorstufe davon: die leichten kognitiven Beeinträchtigungen. In unseren Untersuchungen konnten wir feststellen, dass Personen mit einem schlechten Genotyp und einer hohen Bildung gar kein höheres genetisches Risiko haben, frühzeitig kognitive Defizite zu bekommen. Dagegen sind ein schlechter Genotyp und eine schlechte Bildung sehr ungünstig. Das war vorher so noch nicht klar.“

Für das Forschungsteam ergeben sich ständig neue Fragen – und neue Erkenntnisse. Sei es zu Depressionen, Migräne, chronischer Niereninsuffizienz oder ganz aktuell zur Long- Covid-Symptomatik. „Wir setzen all unsere Energie hinein, dass die Heinz Nixdorf Recall Studie auch über die nächsten Jahrzehnte gefördert wird. Idealerweise“, sagt Börge Schmidt, „soll sie so lange laufen, bis auch der letzte Teilnehmende verstorben ist.“

 

HEINZ NIXDORF RECALL STUDIE

Wie lässt sich die Vorhersage von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbessern? Das ist die zentrale Frage der bevölkerungsbasierten Kohortenstudie im Ruhrgebiet, die im Jahr 2000 begann und an der knapp 8.000 Menschen teilnehmen, darunter 1.878 Familien. Anhand ihrer Gesundheitsdaten wird epidemiologisch untersucht, wie häufig Volkskrankheiten in der Bevölkerung vorkommen, ob sie erblich bedingt sind und wie sich Lebensstil, soziale und Umwelteinflüsse auswirken.

Die Studien werden von der Heinz Nixdorf Stiftung gefördert. Die Leitung haben die Professoren Andreas Stang, Börge Schmidt und Raimund Erbel vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE).

Im Bild:
Bei der Echokardiographie: IMIBE-Mitarbeiterin Jennifer Pauli untersucht mithilfe von Ultraschall das Herz des Probanden.

Dieser Artikel ist im UDE-Forschungsmagazin Gesundheit erschienen.

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