© UDE/Bingel Lab

Placeboforschung

Die Macht der Erwartung

Wir schlucken optimistisch die Tablette, weil sie schon einmal half. Oder wir nehmen sie zum ersten Mal und lesen beunruhigt deren mögliche Nebenwirkungen. Unsere Erwartung in den Situationen ist grundverschieden – und damit vermutlich auch die Wirkung des gleichen Medikaments.

Das eine Bein locker über das andere geschlagen und mit dem Fuß wippend, sitzt der etwa 20-jährige Proband der Ärztin gegenüber am Tisch. Auf einem stützenden Keilkissen liegt sein Unterarm, an dessen Innenseite ein spielkartengroßes Gerät befestigt ist.

Der junge Mann nimmt teil an einer Studie der Abteilung „Klinische Neurowissenschaften und Translationale Schmerzforschung“ an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Essen (UK Essen). Das Team um Leiterin Prof. Dr. Ulrike Bingel beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Schmerz und kognitiven Prozessen: ein weites Feld, das von molekularen Mechanismen bis zu subjektiven psychologischen Prozessen reicht.

Im Mittelpunkt der Forschung des „Bingel-Labs“ steht derzeit der an der UDE angesiedelte Sonderforschungsbereich/Transregio (SFB/TRR) 289, dem Bingel selbst als Sprecherin vorsteht. Die hier beteiligten Wissenschaftler:innen untersuchen, welche Effekte die Erwartungshaltungen von Erkrankten haben, die wegen Schmerzen oder Depressionen behandelt werden. Besonders bedeutend ist dabei der Placebo-Effekt. Er wird in der Medizin definiert als positive gesundheitliche Wirkung, die sich allein aus der Annahme ergibt, dass eine bestimmte Behandlung helfen wird. „Der Placebo-Effekt ist in klinischen Studien oft der Buhmann, weil er die Einführung neuer Medikamente torpedieren kann. Wir sehen das von der anderen Seite: Wir möchten den Effekt nutzen, indem wir ihn wie ein Sahnehäubchen zur pharmakologisch wirksamen Therapie addieren“, erklärt Sprecherin Bingel das Ziel des Verbunds. „Dazu untersuchen wir, wie Erwartungshaltungen im Körper wirken, um sie als Verstärker in der Therapie einzusetzen.“

Für ein konkretes Beispiel muss Bingel nicht lange überlegen: Auf ihrem Tablet ruft sie eine Studie auf, bei denen Proband:innen mit chronischer Migräne Botulinumtoxin – kurz Botox – erhielten: Ihnen wurden Injektionen an rund 30 Stellen an Kopf und Nacken gesetzt. Das Ergebnis: Die mit einem Placebo versorgten Proband:innen litten pro Monat sechs Tage weniger an Migräne. Die mit Wirkstoff Behandelten kamen auf siebeneinhalb Tage – nur wenig mehr. „Hier ist sogar der Löwenanteil des Effekts auf die Erwartungen zurückzuführen“, fasst Bingel zusammen.

Unterdessen schließt der junge Mann kurz die Augen und zieht die Brauen zusammen. Der Fuß wippt nicht mehr, der Proband sitzt aufrecht, sein Körper wirkt angespannt.

Schmerz entsteht im Gewebe an freien Nerven-Enden, verarbeitet wird er aber im Hirn. Jedes „Au!“ ist eine Balance aus schmerzauslösenden sowie -hemmenden körpereigenen Reizen. Auf diese komplizierte Kaskade können Vorerfahrungen einwirken: positiv wie negativ. Haben wir positive Erwartungen – weil ein Medikament uns schon zuvor geholfen hat –, aktiviert das die evolutionär in uns angelegte Schmerzhemmung. Körpereigene Opioide werden ausgeschüttet, es gibt zudem Hinweise, dass der Botenstoff Dopamin beteiligt ist. So werden komplexe Signalkaskaden ausgelöst, durch die sich bereits im Rückenmark eine aktivierte Schmerzbremse nachweisen lässt.
 

DER GEMEINE BRUDER DES PLACEBOS

Auch den gegenteiligen Effekt gibt es, genannt Nocebo: Dabei gehen Betroffene davon aus, dass die Behandlung nicht wirkt oder ihnen gar schaden könnte. Auslöser für diese negative Annahme kann zum Beispiel ein üblicher Beipackzettel sein, der seitenlang Ausschlag, Übelkeit und allergische Reaktionen bis hin zum Ableben klinisch-sachlich auflistet, aber den Nutzen des Medikaments in nur einem Satz abhakt. In der Folge können tatsächlich negative Symptome auftauchen, die pharmakologisch nicht nachzuvollziehen sind.

„Beipackzettel sind wie ein Turbo-Nocebo-Auslöser“, urteilt Bingel und setzt sich dafür ein, diese künftig anders aufzubauen. Sie möchte eine positive Erwartung schaffen und keine unnötigen Befürchtungen aufkommen lassen: „Als Erstes möchte ich da lesen, warum ich das nehmen soll. ‚Dieses Medikament verhindert jeden 10. Herzinfarkt.‘“, nennt Bingel ein Beispiel. „Darüber hinaus hilft es vielen Menschen, wenn sie verstehen, was ein Wirkstoff in ihrem Körper auslöst. Das ließe sich über verlinkte Videos oder andere weiterführende Informationen einbinden. Und schließlich ist es wichtig, das Auftreten von Nebenwirkungen aus einer anderen Perspektive darzustellen. Momentan steht die Angabe ‚Übelkeit: sehr häufig‘ für einen Menschen aus zehn, dem übel wird. Also nur zehn Prozent! ‚Mehr als 90 Prozent vertragen das Medikament gut‘ wäre die viel sinnvollere Angabe für die psychische und körperliche Wirkung.“

Der Proband entspannt sichtlich, denkt nach und gibt die Zahl 76 in den vor ihm stehenden Rechner ein. Der Studienaufbau ist komplexer als hier dargestellt und vertraulich, aber Grundlage des Experiments sind unangenehme Hitzereize, die dem Probanden auf seinen Unterarm gesetzt werden. Die Temperatur variiert, jeder Reiz dauert 20 Sekunden. Der Proband trägt anschließend auf einer Skala von 0 bis 100 ein, als wie schmerzhaft er den Reiz empfunden hat.

Im Vergleich zum Placebo- ist der Nocebo-Effekt noch deutlich weniger verstanden. Selbst im bereits gut untersuchten Bereich „Schmerz“ stehen die Publikationen 100:1 für den Placebo-Effekt. Obwohl man bereits weiß, dass einige Menschen sehr empfänglich sind für die Wirkung von Erwartungshaltungen, andere hingegen nicht, ist noch unklar, ob das automatisch auch an deren Nocebo-Antwort gekoppelt ist. Ein Grund für die Wissenslücke rund um den gemeinen Bruder des Placebos ist ein ethisches Dilemma: Um eine Nocebo-Antwort zu provozieren, müssten Proband:innen dazu gebracht werden, mit einer negativen Voreinstellung in die Studie zu gehen. Obwohl sie keinerlei schädliche Behandlung erhalten, könnten die Teilnehmenden sich im Ergebnis körperlich oder psychisch schlecht fühlen – allein ausgehend von ihrer negativen Erwartungshaltung. Das ist ethisch und klinisch ein schmaler Grat; ganz besonders, wenn man diese wichtigen Effekte in Erkrankten untersuchen möchte.

Kurze Pause im Versuchsraum: Der junge Mann lässt sich im Stuhl zurücksinken und schaut der Ärztin bei den Vorbereitungen für den nächsten Durchgang zu. Sie öffnet einen Wandschrank zu seiner Linken, in dessen Fächern Medikamente, Handschuhe, Desinfektionsmittel und andere medizinische Utensilien griffbereit und geordnet untergebracht sind. Irgendwo im Raum rauscht ein Lüfter, ansonsten ist es still – auch im Flur vor dem Versuchsraum. Die Ärztin zieht mit geübten Bewegungen Handschuhe an und öffnet eine weiße Tube: „Vor der nächsten Versuchsreihe trage ich Ihnen nun eine schmerzlindernde Salbe auf. Dabei handelt es sich um ein gebräuchliches Anästhetikum. Das sollte dazu führen, dass Sie den Hitzeschmerz als weniger schmerzhaft empfinden.“
 

WIRKUNG = ARZNEI + ERWARTUNG

Depressionen und Schmerzerkrankungen sind die Volkskrankheiten und verursachen entsprechende Kosten. Gleichzeitig ist bekannt, dass Erwartungshaltungen gerade solch subjektiv empfundene Symptome wie Schmerzen, Müdigkeit und eine veränderte Stimmungslage sehr stark beeinflussen können: Wie am Botox-Beispiel gezeigt, gehen sowohl bei chronischen Schmerzen als auch bei der Behandlung von Depressionen oft mehr als 50 Prozent der Wirkung auf Erwartungseffekte und nicht die pharmakologische Behandlung selbst zurück.

„Am schlechtesten werden Ärztinnen und Ärzte dafür bezahlt, wenn sie mit Erkrankten einfach ‚nur‘ sprechen, zuhören, einfühlsam sind. Dabei wirkt gerade das meist Wunder“, erklärt Bingel. „Wie man gut und sinnvoll kommuniziert, muss viel stärker in der Aus- und Weiterbildung vorkommen. Das gilt auch für Apotheken, in denen meist nur potenzielle Nebenwirkungen und Sicherheitsrisiken besprochen werden.“

Die Creme ist eingezogen, der nächste Durchgang startet. Gezielt steuert die Ärztin nacheinander Temperaturen an, die der Proband zuvor mit 40, 60 und seinem bisherigen Höchstwert 76 bewertet hat. Der erste Reiz: weniger Schmerz als vor der Behandlung.

Doch wie ließen sich Erwartungshaltungen und pharmakologische Therapie verbinden? Empathische Instruktionen und eine vertrauenerweckende Umgebung spielen dabei eine große Rolle: Arzt und Ärztin beschreiben die Wirkung einer Behandlung verständlich und sachlich, treten professionell auf, sind entsprechend gekleidet, vermitteln Kompetenz durch ihre Sprache und nonverbale Kommunikation. Der Raum ist sauber und mit medizinischen Instrumenten und Fachbüchern ausgestattet, vielleicht hängen Zertifikate und Urkunden an den Wänden. Kurzum: Es sieht aus, hört sich an und riecht, wie wir es von einer medizinischen Einrichtung erwarten, in der uns geholfen wird.

Die Schmerzwerte bleiben durchgehend niedriger, der Proband wirkt gelöster. Effekt der Creme? Gewöhnung? Erwartung? Ob der junge Mann wirklich eine schmerzlindernde Salbe erhalten hat, weiß er nicht. Da es sich um eine Doppelblindstudie handelt, gilt das auch für die Ärztin, die die Versuche durchführt. Die Ergebnisse der Studie werden vermutlich Ende 2023 publiziert.

 

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