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Pionierinstitutionen der Geschlechterforschung
- von Jennifer Meina
- 08.03.2024
Geschlechterforschung hat an der Universität Duisburg-Essen Tradition – vor allem durch das Essener Kolleg für Geschlechterforschung. Heute, am 8. März, wird nicht nur sein 25. Jubiläum gefeiert, sondern auch ein weiterer Meilenstein begangen: Der Kick-off des Instituts für Geschlechtersensible Medizin. Wie die vergleichsweise kurze Geschichte der Hochschule zu besonderer Innovationskraft führte, erklären Dr. Maren A. Jochimsen, Prof. Dr. Anke Hinney und Privatdozentin Dr. Andrea Kindler-Röhrborn* im Interview.
Geschlechtersensible Medizin ist für viele immer noch ein unbekanntes Thema. Dennoch ist allgemein bekannt, dass sich z. B. ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen anders äußert. Was steckt noch dahinter?
Prof. Dr. Anke Hinney: Zunächst muss man festhalten: Zwischen Männern und Frauen gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als Trennendes. Wenn jedoch diese Unterschiede vernachlässigt werden, dann ist das fatal für den Patienten – oder genauer: meistens für die Patientin. Die Problematik beginnt bei einer unterschiedlichen Diagnose und erstreckt sich über unterschiedliche Therapien und Medikationen. Das Spannende: Es betrifft fast alle Disziplinen. Alleine an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen beschäftigen sich rund 40 Kolleg:innen damit, z. B. aus der Transplantationsmedizin, Onkologie, Orthopädie, Molekulargenetik oder der KI-gestützten Diagnostik.
Können Sie uns ein Beispiel eines aktuellen Forschungsprojektes nennen?
PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn: In der Transplantationsmedizin beschäftigen sich Kolleg:innen im Tiermodell gerade damit, welche Gene nach einer Lebertransplantation von männlichen auf weibliche Tiere oder umgekehrt aktiviert werden. Das könnte mit erklären, warum es besser ist, eine Leberspende von einer Person gleichen biologischen Geschlechts zu bekommen.
Wenn das Thema so wichtig ist, kann man schon fragen: Warum gibt es das Institut erst jetzt?
Kindler-Röhrborn: Es wird wirklich höchste Zeit. Einen richtigen Schub hat das Thema aber durch die individualisierte Medizin bekommen, bei der es darum geht, Patient:innen gezielt nach bestimmten Merkmalen zu behandeln. Aber warum fängt man da nicht erst einmal beim Geschlecht an? Das ist mit dem Wissen, das in der Medizin inzwischen verfügbar ist, nicht nachvollziehbar.
Hinney: Und eigentlich arbeiten wir schon an der Auflösung des Instituts (lacht). Das klingt komisch, aber unser Ziel ist es, dass geschlechtersensible Medizin in jedem Forschungsbereich mitgedacht und miterforscht wird. Nur so kann es künftig funktionieren – doch so weit sind wir noch nicht. Insofern sind wir der Stachel, der andere daran erinnert, das Geschlecht mitzudenken.
Wie kann man sich die Institutsgründung vorstellen? Sitzt man eines Abends zusammen, entwickelt die Idee und geht am nächsten Tag zum Dekanat?
Kindler-Röhrborn: Im Grunde ist es so (lacht). Unser Vorteil ist, dass wir nicht bei null beginnen, sondern auf einem Spektrum von Aktivitäten aufbauen können, das wir in den letzten Jahren gemeinsam mit dem EKfG entwickelt haben. Anke Hinney und ich kommen beide aus der Genetik, haben durch Zufall zu dem Thema gefunden und uns nicht zuletzt über das EKfG-Forschungscluster „Biomedizinische Forschung und klinische Medizin“ näher kennengelernt. Das hat 2020 schließlich zum Wahlfach Geschlechtersensible Medizin geführt. Zu Beginn hatten wir wirklich Sorge, ob wir genug Kolleg:innen am Uniklinikum zusammenbekommen, die aus ihrer Disziplin im Seminar rund anderthalb Stunden berichten können.
Hinney: Das hat sich seitdem total gewandelt. Mittlerweile rennen sie uns die Tür ein, weil viele Kolleg:innen – auch durch uns – irgendwann diesen Aha-Moment erlebten „Moment, das unterscheidet sich ja deutlich zwischen Mann und Frau“. Außerdem sind die Studierenden immer stärker an dem Thema interessiert, und es wird zunehmend wichtiger im Curriculum. Die Fakultät steht von Beginn an dahinter, das alles hat uns in unserem Engagement bestärkt.
Was verändert sich durch die Gründung?
Kindler-Röhrborn: Wir erhalten eine höhere Aufmerksamkeit und können dadurch die Forschung und Lehre besser bündeln.
Hinney: Viele Kolleg:innen aus anderen Universitäten beneiden uns um die Möglichkeit und beglückwünschen uns zu dem Erfolg. Wir sind in Essen sehr gut aufgestellt, generell wird das Thema in NRW im bundesweiten Vergleich sehr gut erforscht. Im internationalen Vergleich hinken wir aber noch hinterher. Die Niederlande oder skandinavische Länder sind da schon weiter, nur noch übertroffen von Kanada und den USA.
Kindler-Röhrborn: Wir wissen auch: Ohne das EKfG hätten wir diesen Erfolg nicht erreicht.
Wie hilft Ihnen das Essener Kolleg für Geschlechterforschung?
Hinney: Bei mir ganz speziell: Meine Genderteildenomination wäre ohne das EKfG nicht möglich gewesen. Die Kolleg:innen haben mich beim Antrag sehr unterstützt. Das ermöglicht mir, mich speziell um das Thema Geschlecht in meiner Forschung zu kümmern.
Dr. Maren A. Jochimsen: Von diesen Netzwerkprofessuren haben wir an der UDE derzeit sechs. Sie wurden in den ersten Jahren vom NRW-Wissenschaftsministerium gefördert. Über die explizite Verankerung der Geschlechterforschung in ihrem Forschungs- und Lehrauftrag tragen Netzwerkprofessuren mit ihrer Schwerpunktsetzung zum Profil des EKfG, der Universität sowie der Hochschullandschaft NRW bei. Zudem berät und unterstützt das EKfG interessierte Wissenschaftler:innen der UDE etwa bei DFG-Anträgen, bei denen neben Gleichstellungsaspekten auch die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in Forschungsinhalten und Forschungsmethoden immer wichtiger wird.
Sprechen wir über das Essener Kolleg für Geschlechterforschung: Es wurde 1997 gegründet und nahm 1998 die Arbeit auf. Was wissen Sie aus der Zeit?
Jochimsen: Prof. Dr. Doris Janshen und ihre Mitstreiter:innen gründeten das Kolleg, um die Sichtbarkeit der Geschlechterforschung in NRW zu stärken. Ihr Ziel war eine Pionierinstitution mit innovativem Ansatz: Sie brachte Frauenforschung und Männerforschung in einen Dialog und setzte damit das Verhältnis der Geschlechter in den Fokus. Zudem betrachtete das Kolleg ‚Geschlecht‘ als eine Wissenskategorie, die in nahezu jeder Disziplin relevante Erkenntnisse liefert. Dieser Ansatz prägt nicht nur das Kolleg bis heute, sondern inzwischen auch die nationale und internationale Geschlechterforschung.
Sie sprechen von einem Pionierinstitut. Warum hat es an der UDE bzw. ihrer Vorgängerinstitution erfolgreich funktioniert, die Geschlechterforschung zu etablieren?
Jochimsen: Es war ein Vorteil, dass die Universität-Gesamthochschule Essen und später die UDE junge und innovative Universitäten waren und nicht getragen von jahrhundertealten Traditionen. Dies hat Spielräume für neue Ansätze eröffnet und sicherlich dazu beigetragen, dass Gremien und handelnde Personen an der Universität dem EKfG mit Offenheit und grundsätzlich unterstützend gegenübergetreten sind.
Das Kolleg wandte sich innovativen Forschungsfragen zu wie Gender und Menschenrechte oder soziomedizinische Geschlechterforschung. Die Stärke des Kollegs liegt zudem in seinem interdisziplinären Ansatz, der eine breite Palette an Disziplinen zusammenführt. Durch die bewusste Einbindung von Wissenschaftler:innen aus den Natur- und Technikwissenschaften sowie der Medizin erreichte das Kolleg ein Ausmaß an Interdisziplinarität, das an herkömmlichen Forschungseinrichtungen noch sehr selten war.
Mit dem Maria-Sybilla-Merian-Programm, gefördert von der Deutschen Telekom, leistete Doris Janshen zudem Pionierarbeit in der Förderung junger Wissenschaftlerinnen in den MINT-Fächern und der Medizin.
Welche Forschungsprojekte gibt es gerade am EKfG?
Jochimsen: Unsere Mitglieder, Lehrende, Promovierende und Postdocs, bringen Forschungsthemen aus sieben Fakultäten ans EKfG. Die Themen sind u. a.: Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter; Visualisierung von Männlichkeit; Geschlecht im Umgang mit neuen Technologien; Geschlecht als erziehungswissenschaftliches Querschnittsthema; Geschlecht als zentraler Akteur bei Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte; Teilzeitarbeit und berufliche Karrieren von Frauen; Exzellenz und Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen. Dabei sind viele unserer Mitglieder an DFG-Forschungsgruppen, Graduiertenkollegs und anderen Verbundprojekten beteiligt.
Was waren die größten Meilensteine?
Jochimsen: Zu diesen gehören die Einwerbung von drei erweiterten Genderteildenominationen in den Ingenieurwissenschaften und der Medizin im Rahmen des NRW Landesprogramms geschlechtergerechte Hochschulen 2016 und damit die Verdopplung der Anzahl der Netzwerkprofessuren an der UDE. Im Hinblick auf die internationale Vernetzung des Kollegs war die erfolgreiche Nominierung der renommierten Soziologin Prof. Sylvia Walby aus Großbritannien für den ersten Anneliese Maier-Forschungspreis an der UDE ein sichtbarer Meilenstein.
Was wünschen Sie sich für die nächsten 25 Jahre?
Jochimsen: Ich wünsche mir, dass der Geschlechteraspekt sich als Qualitätsmerkmal in der Forschung durchsetzt. Dafür müssen alle Akteur:innen – Universitäten, Fördergeber, Publikationsorgane – an einem Strang ziehen. Dann wäre es eines Tages ganz selbstverständlich, die Analyse von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Geschlechter in wissenschaftlichen Untersuchungen mitzudenken. Dies würde im Übrigen auch einen Beitrag zu einer geschlechtersensiblen Wissenschaftskultur leisten und die Nachhaltigkeit von Gleichstellungsmaßnahmen unterstützen. Auf dem Weg dorthin würde sich das EKfG über noch mehr Beteiligung aller Fachbereiche, insbesondere der MINT-Fächer an der UDE freuen.
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*Dr. Maren A. Jochimsen, Geschäftsführerin Essener Kolleg für Geschlechterforschung
Prof. Dr. Anke Hinney, Institut für Geschlechtersensible Medizin, Sprecherin EKfG-Forschungscluster Biomedizinische Forschung und Klinische Medizin, Professorin für Molekulargenetik von Adipositas und Essstörungen unter Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Aspekten
Privatdozentin Dr. Andrea Kindler-Röhrborn, Institut für Geschlechtersensible Medizin, Sprecherin EKfG-Forschungscluster Biomedizinische Forschung und Klinische Medizin
Im Bild:
Privatdozentin Dr. Andrea Kindler-Röhrborn, Dr. Maren A. Jochimsen, Prof. Dr. Anke Hinney (v.l.)
Weitere Informationen:
Mehr zum Thema Geschlechtersensible Medizin gibt es auch hier: https://forschungsmagazin.online/de/bitte-ungleich-behandeln/
Mehr Informationen zur Veranstaltung am 8.März finden Sie hier: https://www.uni-due.de/ekfg/jubilaeum2024.php
Dr. Maren Jochimsen, Geschäftsführerin Essener Kolleg für Geschlechterforschung, Tel. 0201/183-4552, maren.a.jochimsen@uni-due.de
Redaktion: Jennifer Meina, Tel. 0203/379-1205, jennifer.meina@uni-due.de