Blutbildende Stammzellen
Warum werden schwangere Frauen nicht anämisch?
- von Milena Hänisch
- 30.10.2024
Werden vermehrt rote Blutkörperchen im Körper benötigt – beispielsweise während einer Schwangerschaft - müssen die blutbildenden Stammzellen zur Produktion angeregt werden. Wie diese Stammzellen aktiviert werden, war bisher unklar. Forschende der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen haben in einer kürzlich in Science veröffentlichten Studie festgestellt, dass sogenannte Retrotransposons, kleine Erbguteinheiten, die sich innerhalb des Genoms hin und her bewegen können, die Aktivierung der Stammzellen auslösen und so die Blutbildung in Gang setzen.
Nicht alle Gene im Körper sind dauerhaft angeschaltet, viele bleiben stillgelegt, bis sie durch verschiedene Prozesse aktiviert werden. Auslöser können äußere Einflüsse wie der Lebensstil sein, aber auch Erkrankungen und deren Behandlungen. Ein aktuelles Beispiel sind die blutbildenden Stammzellen im Knochenmark. Sie werden erst aktiviert, wenn der Organismus vermehrt rote Blutkörperchen aufbaut, beispielsweise während einer Schwangerschaft oder nach einem größeren Blutverlust. Forschende der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und der University of Texas (USA) zeigen in ihrer kürzlich in Science* veröffentlichten Studie, dass genetische Elemente, sogenannte Retrotransposons, für die Aktivierung der blutbildenden Stammzellen zuständig sind.
Die Studie zeigt, auf welche Weise die für die Blutbildung erforderlichen Gene im Körper bei Bedarf angeschaltet werden können. Zunächst werden die Retrotransposons aktiviert, sie sind Teil des Erbguts und können sich innerhalb eines Genoms frei bewegen. Die Retrotransposons aktivieren wiederum die blutbildenden Stammzellen, die daraufhin mit der Produktion der vermehrt benötigten roten Blutkörperchen im Knochenmark beginnen.
„Wir haben beobachtet, dass Retrotransposons die Stammzellaktivität steigern, indem sie die Immunabwehr aktivieren und eine sterile Entzündungsreaktion fördern“, erklärt Prof. Dr. Dr. Alpaslan Tasdogan, Leiter der Studie und Professor in der Klinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Essen und Emmy Noether & ERC Starting Grant Fellow sowie Inhaber der Peter-Hans Hofschneider Stiftungsprofessur. Die Retrotransposons aktivieren zwei angeborene Immunsensoren, cGAS und STING, die für die Bildung des Signalmoleküls Interferon und Interferon regulierte Gene in den blutbildenden Stammzellen sorgen.
Die vermehrte Erzeugung roter Blutkörperchen ist beispielsweise während einer Schwangerschaft notwendig, um die Mutter und das Ungeborene mit ausreichend Sauerstoff versorgen zu können. Wenn die Aktivierung der Retrotransposons durch bestimmte Medikamente oder genetische Defekte unterdrückt wird, können die roten Blutkörperchen nicht in ausreichender Zahl produziert werden und es droht eine Anämie.
In enger Zusammenarbeit mit den Gynäkolog:innen der Universitätsmedizin Essen konnte das Team zeigen, dass das Schwangerschaftshormon Östrogen im Aktivierungsprozess eine wichtige Funktion hat. Die Forschenden haben die Wirkung von Östrogen auf die Aktivierung der Retrotransposons in nicht-schwangeren Mäusen untersucht. „Wir konnten zwar einen Aktivierungseffekt beobachten, er fiel jedoch schwächer aus als bei schwangeren Mäusen. Das deutet darauf hin, dass neben Östrogen noch weitere Faktoren an dem Aktivierungsprozess beteiligt sein müssen“, verdeutlicht Prof. Dr. Rainer Kimmig, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Universitätsklinikum Essen.
Die Aktivierung der Retrotransposons ist auch während der Schwangerschaft beim Menschen von entscheidender Bedeutung. Wenn beispielsweise dauerhaft Medikamente zur Behandlung von Viruserkrankungen wie HIV eingenommen werden müssen, können die Retrotransposons nicht aktiviert werden und die verstärkte Blutbildung bleibt aus.
Die Forschenden streben an, in Kürze mit klinischen Studien zu beginnen, um die Versorgung schwangerer Frauen mit Vorerkrankungen zu optimieren. „Dabei ist das Ziel, neue oder verbesserte Behandlungs- und Versorgungsstrategien gegen die Anämie zu entwickeln“, sagt Prof. Dr. Dr. Alpaslan Tasdogan.
Weitere Informationen:
Link zur Originalveröffentlichung: https://www.science.org/doi/10.1126/science.ado6836
Prof. Dr. Dr. Alpaslan Tasdogan, Institut für Tumor Metabolismus, Klinik für Dermatologie des Universitätsklinikums Essen, Tel. 0201/723-85356, alpaslan.tasdogan@uk-essen.de
Redaktion: Dr. Milena Hänisch, Dekanat der Medizinischen Fakultät, Referat für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, Tel. 0201/723-1615, milena.haenisch@uk-essen.de