Schart, Aaron: Review of Zenger, Erich, [Ed.]: “Wort JHWHs, das geschah …” (Hos 1,1)
Schart, Aaron:
Review of Zenger, Erich, [Ed.]: “Wort JHWHs, das geschah …” (Hos 1,1). Studien zum Zwölfprophetenbuch. Freiburg u.a.: Herder 2002. VII, 222 S. gr.8° = Herders Biblische Studien 35. ISBN 3-451-27493-0
Der Sammelband umfasst Studien, die im Rahmen von Symposien der Kommentatoren des Zwölfprophetenbuchs der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ vorgelegt wurden. Dazu kommen thematisch passende Beiträge aus dem Sonderforschungsbereich „Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients“ der Universität Münster. Das gewählte Thema, nämlich die Untersuchung des Zwölfprophetenbuchs als einer redaktionell intendierten Großeinheit, ist in Kommentatorenkreisen noch wenig verbreitet, da die Schriften des Zwölfprophetenbuchs zumeist an verschiedene Kommentatoren vergeben werden, die das Buchganze dann leicht aus dem Blick verlieren. Um so begrüßenswerter ist, dass sich alle Beitragenden der Aufgabe gestellt haben, von ihren Einzelschriften aus nach schriftenübergreifenden Zusammenhängen zu suchen. Die Anhänger der These vom Zwölfprophetenbuch als einer redaktionellen Großeinheit werden sich freuen, dass alle auch tatsächlich solche Zusammenhänge gefunden und für die Interpretation der Einzelschriften fruchtbar gemacht haben. Die Abfolge der Beiträge folgt der masoretischen Ordnung des Zwölfprophetenbuchs, der erste Beitrag beschäftigt sich dagegen mit dem Thema des „Tages YHWHs“, das das ganze Buch durchzieht.
Rolf Rendtorff (1-11) spürt dem „key word“ yom YHWH „Tag YHWHs“ nach, das ganz offensichtlich in markanter Weise das Buch prägt. Im Leseverlauf des masoretischen Zwölfpropetenbuchs erscheint es nämlich so, dass Joel die Erwartung eines die Weltgeschichte wendenden Tages YHWHs aufbringt und sich seine Nachfolger dann in verschiedener Weise darauf beziehen. Dieser Tag werde nach Joel das endgültige Gericht über die Feinde Israels und die Rettung derer bringen, die YHWH aus einer bußfertigen Haltung heraus anrufen. Schon Joels unmittelbarer Nachfolger Amos müsse sich allerdings mit Leuten auseinandersetzen (Am 5,18-20), die diese eschatologische Erwartung Joels auf ihre eigene Zeit bezögen und dabei selbstverständlich davon ausgingen, sie gehörten zu denen, die gerettet werden. Amos dagegen kündige ihnen an, dass der Tag YHWHs Finsternis und Tod bringen werde (Am 5,18). Obadjas Bezugnahme auf den Tag YHWHs (Zitat von Joel 2,27 // 4,21 in Obd 21) scheine dann so gemeint zu sein, dass nach den Missverständnissen in der Zeit des Amos Joels Botschaft ausdrücklich bekräftigt werde. Während die Schriften Joel, Amos und Obadja nach der Vorstellung der Buchendredaktion in die Zeit der assyrischen Expansion gehörten, aktualisiere Zefanja die Botschaft vom Tag YHWHs für die babylonische Zeit. Der letzte Prophet des Tages YHWHs, der zugleich der letzte Prophet des AT sei, greife erneut auf Joel zurück: Mal 3,1f zitiert Joel 2,11 („Wer kann ihn ertragen?“), Mal 3,22 spielt auf Joel 3,4 an. Die Nennung von Mose in diesem Zusammenhang mache, am Ende des Kanonteils Nebiim deutlich, dass die Prophetie auf die Tora des Mose bezogen bleibe: Nur wer sich an die Tora hält, kann auch des eschatologischen Heils teilhaftig werden.
Frank Crüsemann (13-31) setzt sich mit Hos 4-11 auseinander. Als wichtiges Rückgrat der ansonsten recht amorph wirkenden Kapitel bieten sich seiner Meinung nach die neun mit עתה „jetzt, nun“ eingeleiteten Aussagen an (Hos 4,16; 5,3.7; 7,2; 8,8.10.13; 10,2.3), die „in der Gegenwart bestehende Gegebenheiten oder Vorgänge“ benennen(19). Hos 4-11 böten also eine Analyse der Gegenwart und nur ganz am Ende, in Kap. 11, auch Zukunftsansagen. Wie stark die Texte in zeitgeschichtlichen Konflikten verwurzelt seien, zeige sich daran, dass einige, sogenannte „dunkle“ Textstellen (4,6; 5,1-2.7; 10,14) einer ganz bestimmten Situation entstammen müssen. Schon wenige Jahre nach ihrer Abfassung hätten diese Reminiszensen keine Bedeutung mehr gehabt. Sie wären bestimmt nicht weiter überliefert worden, wenn der Text nicht bereits in diesem frühen Stadium schriftlich fixiert gewesen wäre. Dies zeige auch ein Blick auf ähnliche Phänomene in der griechischen Literatur (Rösler, Wolfgang: Dichter und Gruppe, 1980). Wie Crüsemann ausgerechnet von diesem Befund aus, ernsthafte Zweifel daran begründen will, dass den Texten überhaupt eine mündliche Verkündigung vorauslag (27), ist unerfindlich. Der Befund spricht gerade für die gegenteilige Annahme, dass nämlich Schüler des Propheten, die vermutlich noch Augenzeugen der prophetischen Auftritte waren, sich bei der Verschriftung der Texte noch an den Originalwortlaut gebunden wussten, so sehr sie die Einzelworte, im Rückblick, auch zu einem übergreifenden Ganzen formen wollten.
Erich Zenger (33-45) spürt der Entwicklung der Gott-Metapher vom brüllenden Löwen im Zwölfprophetenbuch nach. Diachron gesehen werde aus einem unheilverkündenden, den Menschen Schrecken einjagenden Brüllen des beutehungrigen Löwen in Am 3,8 im redaktionellen Vers Am 1,2 das Hoffnungssignal, dass Gott, der König, zur „Wiederherstellung der Schöpfungsordnung“ (40) vom Zion aus aufbriche. Dabei werde die Stimme des brüllenden Löwen mit den Worten des Propheten identifiziert. In Joel 4,16 (und 2,11) werde das Brüllen mit dem Ruf zur Umkehr in Joel 2,12-14 gleich gesetzt. Zuletzt verstehe der sekundäre Vers Hos 11,10 das Brüllen des Löwen als rettendes Eingreifen zu Gunsten seiner Kinder (43). Der literargeschichtlich zuletzt entstandene Metaphergebrauch präge im synchronen Leseablauf des Endtextes gesehen das erste Auftreten der Metapher. Dieses setze aber den Horizont, in dem die folgenden Belege verstanden würden. Die Strafperspektive bleibe so umschlossen von Gottes umfassendem Rettungswillen. Zenger zeigt damit an einem wichtigen Beispiel, wie sich der Assoziationshorizont einer bestimmten Metapher im Leseverlauf gleichsam auflädt und die Einzelschriften mit neuen Bedeutungspotentialen ausstattet.
Ruth Scoralick (47-69) widmet sich der Passage Joel 2,1-14. Sehr schön zeigt sie auf, wie der Autor durch Ambiguitäten und unklare Metaphernverknüpfungen eine mehrdeutig schillernde Drohkulisse aufbaut, die sich in dem eindringlichen Ruf „Auch jetzt noch“ (2,12) entlädt, der sich nicht nur an die Landesbewohner der Textwelt, sondern auch direkt an die Leserschaft richtet (59). Dieser Ruf bleibe der Leserschaft des Zwölfprophetenbuchs im Gedächtnis haften und werde in weiteren Schriften wieder eingespielt.
In detektivischer Kleinarbeit spürt Franz Josef Backhaus Bezüge zwischen der Amosschrift und den Völkergedichten des Jeremiabuches auf (71-111). So werde z.B. im ersten Ägyptengedicht in Jer 46,5-6 auf Am 2,14-16 angespielt (81) und gleichzeitig auf Am 9,1b (83). Innerhalb der Amosschrift handele es sich dabei im ersten Fall um den kompositorischen Abschluss der Völkersprüche und im zweiten um die letzte der fünf Visionen, was vermuten lasse, dass der Jeremia-Text bei seiner Leserschaft den Grundaufriss der gesamten Amosschrift wachrufen wollte. Dramatisch werde in beiden Fällen vor Augen geführt, dass es vor YHWHs Strafaktion kein Entrinnen mehr gebe (85). Die Anspielungen auf Amos würden genutzt um deutlich zu machen, dass die „vordergründig dargestellte kriegerische Beziehung zwischen Babylon und Ägypten ... hintergründig eigentlich die kriegerische Beziehung zwischen JHWH und Juda“ (86) meine. Auf gleicher Linie lägen die Amosanspielungen in den anderen Völkergedichten. Backhaus kann wahrscheinlich machen, dass der amosische Völkerzyklus den jeremianischen beeinflusst hat. Ob die Einspielungen von Amos aber wirklich dazu dienen wollen, Juda heimlich zum eigentlichen Adressaten der Völkersprüche zu machen (104), erscheint fraglich. Eher soll doch wohl gezeigt werden, dass YHWH die Völker und das Gottesvolk in vergleichbarer Weise behandelt.
Gottfried Vanoni geht in zwei Studien den intertextuellen Bezügen nach, in denen die Jonaschrift steht. Deutlich herausgearbeitet wird der Bezug auf Elija (113-121), der doch wohl dazu dienen soll, das Verhalten Jonas durch Kontrastierung mit dem großen Elija lächerlich zu machen. Jona steht aber noch in einer Fülle weiterer literarischer Bezüge, die Vanoni in synoptischen Gegenüberstellungen der jeweiligen Bezugstexte übersichtlich darstellt. Ob ein Teil dieser Bezüge sich schriftenübergreifender Redaktionsarbeit verdankt (123-137), will Vanoni offen lassen.
Rainer Kessler interpretiert die Michaschrift als „Mitte des Zwölfprophetenbuchs“ (139-148). Den Masoreten war aufgefallen, dass Mi 3,12 die numerische Mitte des Wortbestandes des Zwölfprophetenbuchs darstellt. Ist damit auch eine thematische Schwerpunktbildung verknüpft? Kessler warnt zu Recht davor, im Rahmen der redaktionellen Arbeit zufällig entstandene Konstellationen überzubewerten. So erscheine es auf der Ebene des Endtextes z.B. so, als ginge es im berühmten Text Mi 4,1-4 darum, dass den Völkern dieselbe Tora gelte wie Israel, nämlich die Mose-Tora vom Sinai (147). Diese den Unterschied zwischen dem Gottesvolk und den Völkern nivellierende Interpretation würde jedoch die Intention des Einzeltextes Mi 4,1-4 in unzulässiger Weise ausweiten.
In einem weiteren Aufsatz (149-158) geht Kessler der These nach, wonach die Schriften Nahum und Habakuk eine redaktionelle Einheit bilden. Kessler bestätigt die redaktionelle Zusammengehörigkeit von Nah und Hab und spricht sogar von einem „spiegelbildlich-symmetrisch angeordneten Diptychon“ (150). Kessler bestätigt auch Scharts These (Entstehung des Zwölfprophetenbuchs, 1998), dass Nah und Hab zusammen in ein bereits bestehendes Vierprophetenbuch (Hos-Am-Mi-Zef) eingefügt wurden. Hatte Schart jedoch dazu tendiert, die redaktionelle Zusammenstellung von Nahum und Hab auf einer Ebene mit der Einfügung ins Zwölfprophetenbuch anzusetzen, behauptet Kessler dagegen eine eigenständige Existenz der Nah-Hab-Rolle bevor diese unverändert in das Zwölfprophetenbuch übernommen wurde (158). In dieser Frage läßt sich kaum große Sicherheit gewinnen. Dass die Eingliederung von zwei Prophetenschriften von ganz anderem Charakter als Hos, Am, Mi und Zef aber ohne redaktionelle Eingriffe in den Text von Nah und Hab vorgenommen worden sein soll, ist a priori unwahrscheinlich.
Heinz-Josef Fabry geht der Rezeption von Nahum und Habakuk in der Septuaginta und in Qumran nach (159-190). In der Septuaginta zeige sich neben einem profunden Ringen um das Verständnis einer schwierigen hebräischen Textvorlage eine durchgehende Eschatologisierung der Zukunftsaussagen und eine Betonung der Güte Gottes. In sehr solider Kenntnis der Handschriften stellt Fabry im zweiten Teil dann den Umgang mit Nah und Hab in den Schriften aus der judäischen Wüste dar. Ein interessantes Detail ist, dass in den Höhlen von Qumran Hab 3 trotz zahlreicher Zwölfprophetenbuchfunde bisher nicht belegt ist, während der Habakuk-Psalm in der Rolle aus dem Wadi Murabba’at (Mur 88) und dem Nahal Hever (8HevXIIgr) erhalten ist. Sollte dies kein Zufall sein, ergeben sich redaktionsgeschichtliche Konsequenzen (186). Insgesamt zeigt Fabry eindrucksvoll, wie wichtig die Beschäftigung mit Septuaginta und Qumranliteratur ist. Sein Beitrag ist eine willkommene Erinnerung daran, dass ja auch die neutestamentlichen Autoren das Zwölfprophetenbuch nicht in hebräischer, sondern in griechischer Gestalt rezipierten.
Rüdiger Lux analysiert Aufbau und Struktur von Hag und Sach 1-8 (191-217). Er rekonstruiert eine ehemals eigenständige Schrift, in der Sach 1,1-6 noch fehlte (196) und deshalb die Nachtgesichte Sacharjas als unmittelbare Fortsetzung des Haggai-Orakels aus Anlass der Grundsteinlegung des zweiten Tempels (Hag 2,20-23) gedacht waren. Die Nachtgesichte „bildeten nach dieser Lesekonzeption die Voraussetzung für die Ankündigung eines davidischen ‚Sprosses’ in 6,9-15, der das ins Stocken geratene Tempelbauprojekt schon in Kürze wieder aufnehmen und vollenden würde.“ (209)
Der letzte Beitrag „Haggai im Zwölfprophetenbuch“ von Rolf Rendtorff (219-222) macht deutlich, dass mit Haggai ein grundlegender Wandel im Verständnis der Prophetie innerhalb des Zwölfprophetenbuchs eintritt. Ein kleines Indiz sei bereits, dass in Hag 1,12 der Prophet erstmals als „Gesandter“ (שלח) bezeichnet würde. Gegenüber der beliebten These, dass die Differenz zu den vorherigen Propheten damit zu erklären sei, dass Haggai und Sacharja Kultpropheten gewesen seien, während die vorherigen im weitesten Sinn oppositionellen Kreisen angehört hätten, meldet Rendtorff Bedenken an.
Es handelt sich um einen interessanten Sammelband, der die inzwischen zahlreichen Forschungen zum Thema weiter voran bringt. Einige Beiträge tragen noch den Werkstattcharakter an sich (z.B. Vanoni, Rendtorffs Beitrag zu Haggai). Es ist zu hoffen, dass die Kommentatoren von „Herders Theologischem Kommentar zum Alten Testament“ ihre jeweiligen Schriften dann auch im Rahmen des Buchganzen interpretieren. Alle Beiträge machen jedenfalls deutlich, dass die redaktionelle Bearbeitung der Einzelschriften nicht von der Entstehung des Zwölfprophetenbuches insgesamt getrennt werden kann.