Ausgabe 1/2016 - Themenschwerpunkt: Alles in Bewegung

Der durchleuchtete Mensch

  • von Ulrike Bohnsack
  • 29.04.2016

Gehen ist mehr, als nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der ganze Körper macht mit – vom Scheitel bis zum Zeh. Wie sich Skelett und Muskeln verhalten, lässt sich im Gang­labor nachvollziehen. Dort können Fachleute dank 4D-Visualisierung in jede Bewegung hineinschauen und überprüfen, wie sich Therapien individuell auswirken. Solche Systeme entwickelt die Biomechanik mit Partnern aus Medizin und Industrie. Von Ulrike Bohnsack

Jeder Mensch geht anders: schnell, gemächlich, schreitend, trippelnd, steif, anmutig oder wie ein Seemann. Da werden die Füße abgerollt bzw. platt aufgesetzt, hängen oder schwingen die Arme, ist der Oberkörper mal vorgebeugt, mal kerzengerade. „Wie sich jemand bewegt, ist so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck“, sagt Professor Dr. Andrés Kecskeméthy. „Hieran lassen sich Geschlecht, Alter und sogar die geografische Herkunft ablesen.“

Gehen hat viel mit Mechanik und Robotik zu tun – sein Fachgebiet: „Der Gang ist nichts anderes als ein komplexes mechanisches Sys­tem, das nach kinematischen und dynamischen Prinzipien funktioniert.“ Vereinfacht gesagt besteht der menschliche Bewegungs­apparat aus Knochen, Muskeln, Bändern, aus starren und elastischen Elementen, die mit einander verbunden sind. „Bewegen sich mehrere gekoppelte Glieder, entstehen Gelenkkräfte und -momente. “

All dies spielt mit dem Nervensystem sowie äußeren Einflüsse zusammen – manchmal eben auch nicht richtig: Denn viele Rücken-, Knie- und Hüftprobleme rühren vom Gang her, umgekehrt können Krankheiten ihn beeinträchtigen. Ein Schlaganfall beispielsweise. Er kann Körperteile lähmen, das Laufen erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen. Wie gut wäre es da, in das knifflige System Gehen hineinschauen zu können. Um Störungen festzustellen, Therapien anzupassen, Operationen besser zu planen oder um sie gar zu vermeiden.

Genau an dieser Innenansicht forschen die UDE-Ingenieure mit Medizinern und Industriepartnern. Die Teams um die Professoren Kecskeméthy und Kowalczyk haben seit 2005 ein Ganglabor mit drei Standorten aufgebaut – eines in Duisburg, zwei an Essener Kliniken. „Unser Labor hebt sich nicht von anderen ab“, stellt Kecskeméthy klar. „Besonders ist vielmehr, was wir an Methoden entwickeln und wie eng wir mit Orthopädie und Neurologie zusammenarbeiten.“

60 bis 90 Minuten dauert eine Analyse. Und die funktioniert so: „Der Proband – bis auf die Unterwäsche entkleidet – wird vermessen und bekommt zwischen 16 und 46 Sensoren angelegt. Barfuß bewegt er sich auf einem Laufband bzw. über eine zehn Meter lange Bahn“, erklärt Laborleiter Dr. Dominik Raab. „Mit Trackingkameras, Druckmessplatten und anderen Systemen zeichnen wir mehrmals das gesamte Gehverhalten auf – von der Knochen- bis zur Muskelaktivität.“

Eine Software stellt es im zeitlichen Ablauf dreidimen­sional dar und extrahiert die funktionellen Eigenschaften; am Bildschirm kann man interaktiv durch die Bewegung navigieren. Gibt es vom Patienten MRT- und andere Schnittbilder, um so besser: Mit diesen Daten wird das virtuelle Skelett noch genauer.

Einen Menschen derart in 4D zu durchleuchten, bedeutet einen riesigen Rechenaufwand. Den haben die Ingenieure mit ihren selbst geschriebenen Programmen auf wenige Minuten verkürzt. „Dafür haben wir übrigens teilweise die gleichen Methoden verwendet wie bei der Modellierung von Achterbahnen“, so Professor Kecskeméthy. „Denselben Algorithmus, der die optimale Geometrie der Schienen berechnet, damit die Fahrt später sowohl kickt als auch sicher ist, nutzen wir, um etwa den Verlauf der Wirbelsäule während des Gangs zu messen. Letztlich forschen wir Ingenieure immer nach dem Muster: verstehen, beeinflussen, steuern.“ Zurzeit arbeiten sie mit der Stanford University an einem neuen Verfahren, um die Verläufe der Muskelpfade zu kalkulieren und visualisieren.

Schon jetzt ist die virtuelle Gang-Analyse sehr präzise. Als objektives Diagnose-Instrument könnte sie in der Medizin ähnlich wichtig werden wie die bildgebenden Verfahren MRT und CT, glaubt der Biomechaniker. „Ärzt/innen bekommen widergespiegelt, ob sie etwa bei Befund und Therapiewahl richtig liegen. Oder wenn neue Knie oder Hüftgelenke eingesetzt werden, lässt sich berechnen, wie fest die Prothetik sitzt, ob sich womöglich der Knochen verändert oder der Kraftverlauf.“ Dass Kranke schneller gesund werden und möglichst wenig Kosten verursachen, interessiere auch die Kassen.

Biomechanik sei ein Zukunftsmarkt, auf dem die UDE gut mit­mische, betont Kecskeméthy und führt zwei Projekte an: ReHabX-Stroke – ein bereits beendetes Vorhaben mit verschiedenen Partnern, das von Land und EU mit 1,3 Millionen Euro gefördert wurde. Es ging darum, Reha-Maßnahmen bei Schlaganfallpatienten mit Geh­störungen individuell abzustimmen. Die geeigneten Medikamente, Orthesen, Übungen wurden im Ganglabor virtuell durchgespielt. So entstand auch eine große Patientendatenbank, die weiter wächst.

Das Projekt MoBiMon (Mobiles Biomechanisches Monitoring) hingegen läuft noch. Die Ingenieure entwickeln mit zwei Firmen günstige Mess-Systeme für Arztpraxen, damit die Ganganalyse künftig auch dort möglich ist.

Unsere Gesellschaft altert, und das fordert auch die Forschung heraus. „Spannend dürfte sein, was sich bei der intelligenten Prothetik und Orthetik tun wird.“ Andrés Kecskeméthy berichtet von Schätzungen, wonach 2025 der Markt der intelligenten mechanischen Hilfsmittel – zusammen mit der Robotik – bei mehreren Billionen Dollar liegen soll. „Die Entwicklungen werden immer besser. Denkbar ist, dass Rollstühle ersetzt werden durch eine Technik, die viel mobiler macht und bei der man sich an motorgetriebenen Gestängen fortbewegt. Erste Systeme gibt es schon. Noch sind sie allerdings unbezahlbar.“

Mehr unter:
www.uni-due.de/bewegungsanalyse

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