Mercator in den Enzyklopädien des 19./20. Jahrhunderts
Zwischen Biographie und Naturwissenschaft Mercator in Lexika des 19. und 20. Jahrhunderts
Nachdem wir festgestellt haben, dass Befunde zum Vorkommen Gerhard Mercators in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts eher dünn sind, teilweise falsche Informationen aufweisen, die Autoren häufig voneinander abschreiben und sich der größte Teil der Beiträge auf die Ghim-Biographie bezieht, wird nun untersucht, welche Rolle spielte Mercator in Lexika des 19. und des 20. Jahrhunderts spielt.
Tritt er hier als Erinnerungsort auf, und wenn ja in wie fern? Für diese Fragestellung untersucht wurden neun Lexika. Um ein möglichst breites Spektrum abzudecken, wurde folgende Auswahl getroffen: Zwei Lexika stammen aus dem 19. und sieben aus dem 20. Jahrhundert. Vier Lexika sind deutschsprachig, vier englischsprachig und eines auf Niederländisch. Drei Lexika decken thematisch eher das breite Allgemeinwissen ab; sechs sind naturwissenschaftliche Lexika. Es handelt sich um die Werke Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften (im folgenden kurz: Poggendorff), Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Who’s who in science from antiquity to present (kurz: Who’s who in science), A Biographical Dictionray of Scientists (kurz: Biographical Dictionary), Dictionary of Scientific Biography, Meyers Neues Lexikon, Abc Fachlexikon: Forscher und Erfinder, Neue Deutsche Biographie (NDB) und The Cambridge Dictionary of Scientists.
Naturwissenschaftliche Lexika
Das Lexikon Poggendorff wurde begründet vom deutschen Physiker Johann Christian Poggendorff (1796-1877). Die Bände 1 und 2 wurden 1863 veröffentlicht; 3. Band erschien 1898; 4. Band erschien 1904, 8. und letzter Band erschien Ende 2003. Das Werk enthält etwa 29.000 Biographien von Naturwissenschaftlern (aus Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Medizin, Biologie, Mineralogie, Geologie usw.). In diesem recht kurzen Lexikon-Eintrag werden die wichtigsten Werke Mercators in lateinischer Sprache aufgeführt. Er wird als Kartograph vorgestellt. Auch seine Tätigkeit als Kosmograph des Herzogs von Jülich wird erwähnt.1
In Who’s who in science wird er als Mathematiker, Geograph und Kartograph bezeichnet. Der Autor dieses Lexikon-Eintrags legt einen Akzent auf seine Korrespondenz mit mächtigen Herrschern: Seine Tätigkeit als Instrumenten-Bauer für Charles V. wird ebenso genannt wie seine Tätigkeit als Kosmograph für den Herzog von Jülich (Duke of Juliers). Auch wird erwähnt, dass er 1534 eine geographische Lehranstalt in Louvain gegründet hat.2
Das Dictionary of Scientific Biography beschreibt Mercator so: "a man of many talents, well versed in mathematics, astronomy, geography, and theology, and was also a great artist." Der Hauptakzent wird jedoch auch hier bei der Geographie gesetzt: Als erstes bekanntes Werk wird ein Globus 1536 angeführt; die erste Karte von Palästina 1537 wird ebenfalls erwähnt.3
Laut dem Abc Fachlexikon „gilt [Mercator] als größter Kartograph seiner Zeit“; seine Projektion lieferte die erste für die Seeschiffart verwendbare Karte. Sein Umzug nach Duisburg wird zwar erwähnt; ob dieser jedoch aus konfessionellen Motiven geschah, ist hier nicht sicher. Das geographische Werk steht laut diesem Eintrag hinter dem kartographischen zurück.4
Das Cambridge Dictionary of Scientists bezeichnet Mercator als holländischen Kartograph und Geograph. Wieder wird auf die Projektion eingegangen; außerdem prägten Mercator und seine Söhne den Begriff „Atlas“.5
Biographische Lexika
Im Biographisch Woordenboek der Nederlanden wird auf Mercators gesellschaftlichen Stand eingegangen. Er sei ein Mann „von geringem Stand“ gewesen, der aber durch Fleiß und harte Arbeit naturwissenschaftliche Kenntnisse erlangen konnte. Es ist anzunehmen, dass hier der Lebenswandel des Mercator ein Musterbeispiel für eine protestantische Lebensführung ist, wie sie durch den im 16. Jahrhundert begründeten Kalvinismus aufgezeigt wird. Als Werke werden der Atlas und die Mercator-Projektion genannt.6
Die Gründung der geographischen Lehranstalt in Louvain spielt auch im Eintrag im Biographical Dictionray eine Rolle. Seine Chronik „from the creation“ und die Mercator-Projektion sind wichtige Werke. Vor allem letztere wird als wichtig eingestuft, wörtlich heißt es: „[…] remembered primarily for his map projection […]”. Interessanterweise wird hier auch festgestellt, dass er Protestant war und deswegen oft verfolgt wurde; dies war wohl auch der Grund für seinen Umzug nach Duisburg.7
Laut einer DDR-Ausgabe von Meyers Neues Lexikon „zeichnete [Mercator] die ersten wissenschaftlich einwandfreien [sic!] Karten und Atlanten“8. Die Weltkarte mit der winkeltreuen Projektion von 1569, die auf seinem Entwurf basierte, wird als „epochemachend“ bezeichnet. Der bekannte Kupferstich von Frans Hogenberg, der ein Mercator-Porträt mit Zirkel und Weltkugel zeigt, ist abgebildet. Auch findet sich ein eigenes Lemma zum Stichwort „Mercator-Entwurf“9 – eine andere Bezeichnung für die Mercator-Projektion.
In der NDB heißt es, dass Mercator, von Beruf Kartograph und Kupferstecher, von Maria von Ungarn wegen lutherischer Ideen verfolgt wurde. Der Text in der NDB liefert die erste echte kritische Biographie Mercators, die nicht nur blindlings alle Informationen aus der Ghim-Biographie übernimmt. Beispielsweise sei sein Umzug nach Duisburg im Jahr 1544 sei aufgrund der Verfolgung durch Maria von Ungarn, der Statthalterin der Niederlande, geschehen. Ein ebenfalls völlig neuer Aspekt der Mercator-Forschung, den dieser Artikel aufwirft, ist die Kalligraphie, mit der sich Mercator befasst hat. Mercator schrieb Abhandlungen darüber, wie man mit einer ästhetischen Kursivschrift die Gestaltung von Karten verbessern kann. Dieser Stil habe sich auch tatsächlich durchgesetzt.10
In der Internet-Enzyklopädie Wikipedia11 wird Mercator als Mathematiker, Geograph, Kartograf, Kosmograph, Philosoph und Theologe bezeichnet. Letztere drei Facetten seien jedoch erst von der neueren Forschung berücksichtigt worden. Er sei „schon zu Lebzeiten als der Ptolemäus seiner Zeit angesehen“ worden und habe „mit seiner großen Weltkarte […] Weltruhm“ erlangt. Mercators Biographie wird zusammengefasst. Der Artikel zieht dabei die Biographie des Walter Ghim, sowie Forschungsliteraturaus den 1990er Jahren (beispielsweise von Rienk Vermij und Wolfgang Scharfe) und zwei Romane aus den 2000er Jahren (von Nicolas Crane undJohn Vermeulen) heran. Ältere Literatur wird nicht berücksichtigt. Alle wichtigen der Werke, Globen und Karten werden aufgelistet. Auch dem Atlas widmen die Wikipedia-Autoren einen eigenen Absatz, wobei sogar erwähnt wird, dass der erste Teil Mercators Werk über die Schöpfung „Mundi Creatione et Fabrica Liber“ enthält, der Atlas also nicht nur jene klassische Kartensammlung ist, die heute mit dem Begriff „Atlas“ in Verbindung gebracht wird. Der Absatz „Nachwirken“ zählt eine Reihe von Institutionen auf, die nach Mercator benannt wurden. Warum diese Institutionen nach Gerhard Mercator benannt wurden, wird nicht weiter ausgeführt. In einigen Fällen erklärt sich das wohl durch die regionale Verbundenheit des Duisburgers, z.B. bei der Gerhard-Mercator-Universität (heute Universität Duisburg-Essen), einer Straße in der Duisburger Innenstadt oder einem Duisburger Ausflugsdampfer. Warum allerdings auch eine Berliner Grundschule, ein Moerser Berufskolleg und eine Kaserne in Euskirchen nach Mercator benannt sind, erscheint zunächst unklar.
Zusammenfassend lässt sich sagen: In allen untersuchten Lexikon-Einträgen des 19. Jahrhunderts tritt Mercator als Erinnerungsort auf. Dabei steht die Mercator-Projektion als Leistung klar im Vordergrund. Andere Aspekte, außerhalb seiner geographischen und kartographischen Tätigkeit, werden zwar am Rande gestreift. Sie werden aber nicht ausführlicher geschildert.
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1 Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften, 1863, Band 2, S. 121
11 http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mercator, Stand: 14.11.2011, 13.55 Uhr