Leerstelle Mercator? Mercator im WWW

Kartograph, Astrologe, Philosoph, Mathematiker. Betrachtet man die Erwähnungen Mercators in den Lexika und Sachbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts, scheint sich das Bild Gerhard Mercators bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum verändert zu haben. Eines wird allerdings deutlich: Der Name „Mercator“ steht unmissverständlich für wissenschaftlichen Fortschritt und den Ausgang aus dem „finsteren Mittelalter“. Um nun zu überprüfen, ob man in der Person Gerhard Mercator tatsächlich einen Erinnerungsort sehen kann, ist es unabdingbar, seine Präsenz auch in der heutigen Zeit einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen, um das Resultat mit den bereits existierenden Bildern vergleichen und mögliche neue Interpretationsansätze zur Person ausfindig machen zu können.

Dabei erscheint es sinnvoll zu überprüfen, ob es möglich ist, einen Wandel des Mercator Bildes im Spiegel der modernen Medien des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts auszumachen, um die Vermutung zu bestätigen, dass in ihnen die Konstruktion unterschiedlicher Mercator Bilder sichtbar wird. Hierfür ist es erforderlich, sich neben klassischen Textformen vor allem auch den Neuen Medien als Grundlage für weitere Untersuchungen zuzuwenden. Insbesondere deshalb, weil die Neuen Medien nicht nur die derzeitige gesellschaftliche Kommunikation prägen, sondern sie zunehmend unser Verständnis von Vergangenheit bestimmen.1 Als ein von vielen Menschen täglich genutztes, sich kontinuierlich veränderndes Medium, liefert das Internet ein Abbild von Vorgängen und Personen, welches von Nutzern weltweit eingesehen werden kann. Für eine große Gruppe an Menschen ist das weltweite Netz primärer „Lieferant“ von Nachrichten und Informationen und hat damit einen hohen Stellenwert bei der Informationspräsentation und -beschaffung.2 Die Reihenfolge der angezeigten Treffer der Suchmaschine Google kann daher häufig Aufschluss über das Interesse der Suchenden an einem Gegenstand geben.

Stiftung-Mercator

Googelt man den Namen "Mercator", so findet man unter den ersten Treffern der Suche, die " Stiftung Mercator". Die 1996 gegründete Stiftung mit Sitz in Essen widmet sich, nach eigenen Angaben, in erster Linie der Förderung von Wissenschaft, Bildung und internationaler Verständigung. Im Reiter "Geschichte" wird Gerhard Mercator als Namensgeber der Stiftung vorgestellt. Hier findet sich die Konstruktion eines Mercator-Bildes, mit welchem sich die Stiftung identifiziert: Mercator wird als „Bindeglied globalen Denkens, wissenschaftlicher Präzision und unternehmerischen Handelns“ präsentiert.3 Einzelne Attribute, die sich bereits in älteren Mercator-Bildern widerspiegelten, werden in diesem Bild gebündelt. Hinzu kommen zwei neue Attribute, "interkulturelle-" und "interreligiöse Toleranz"4, die Mercator zu seiner Zeit vertreten haben soll. Diese beiden modernen und sich gegenwärtig in aller Munde befindlichen Begriffe, beziehen sich auf Werte, für welche die Stiftung Mercator eintritt.5 Es scheint, als würden Mercator posthum Eigenschaften zugesprochen, welche Kritiker möglicherweise als unhistorisch abtun würden. Es fällt schwer, die oben genannten Attribute zu belegen, da sich die wenigen Quellen beispielsweise nicht eindeutig zu Mercators Konfession äußern. Es ist nicht verwunderlich, dass die Stiftung den Kartographen als Namensgeber heranzieht. War doch Gerhard Mercator ein prominenter Bürger Duisburgs und reflektiert so auch eine Ortsverbundenheit der Stiftung mit dem Ruhrgebiet. Der Titel des vierteljährlich erscheinenden (Print)Magazins der Stiftung Mercator, „51° - Unsere Koordinate für Ideen zwischen Kultur & Wissen“, stellt einen weiteren Bezug zum Werk Gerhard Mercators her: Die für den Titel verwendete Koordinate des Breitengrades, der durch die Stadt Essen verläuft und das Logo der Stiftung, dienen als direkte Anspielung auf die von Mercator entwickelte Projektion. Durch ihr großes Ansehen und ihre weltweite, starke Präsenz sorgt die Stiftung Mercator dafür, dass das von ihr konstruierte Bild Gerhard Mercators weiterverbreitet und so das „kollektive Gedächtnis“6 prägen wird. Neben diversen Schulen finden sich einige weitere interessante Webseiten von Unternehmen und Organisationen unter den Ergebnissen der Google-Suche, welche, mit dem Fokus auf das von ihnen vermittelte Mercator-Bild, im nächsten Abschnitt kurz vorgestellt werden sollen.

Mercator School of Management

Die Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Universität Duisburg Essen ist eine im Jahr 2005 gegründete „Business School“ nach anglo-amerikanischem Vorbild. Studenten, die in den Schwerpunktfächern BWL, Logistik-Management und Wirtschaftspädagogik ausgebildet werden, haben die Möglichkeit einen Doppelabschlusses (MSM + Partnerhochschule in z.B. Amerika, China oder Dänemark) zu erlangen. Ziel ist die Vorbereitung der Absolventen für den Start in eine internationale Karriere. Auf der Webseite der Fakultät finden sich keine Informationen zum Namensgeber. Einzig ein kleines Logo auf der Seite der „Mercator Fachschaft BWL“ zeigt eine Karikatur Gerhard Mercators. Der Geschäftsführer der MSM, Dr. Sascha Slunder, erklärt auf Anfrage, dass die Fakultät den Namen der 2003 mit der Universität-Gesamthochschule Essen fusionierten Gerhard-Mercator-Universität Duisburg übernommen habe und bestätigt damit die Vermutung, dass das Fortführen des in der Wissenschaft bereits etablierten Namens ein möglicher Grund für das Aufgreifen eben dieser gewesen sein könnte. Ein weiterer Grund für das Zurückgreifen auf den Namen „Mercator“ könnte in der internationalen Bekanntheit und der Mehrdeutigkeit des Namens liegen. Denn auch derjenige, der nicht mit der Person Gerhard Mercators vertraut ist, kann den Namen schlicht in der Übersetzung aus dem Lateinischen lesen. Für eine betriebswissenschaftliche Fakultät würde sich tatsächlich auch die Berufsbezeichnung „Kaufmann“ im Namen eignen.

Mercator-Network.eu

Der Webauftritt der 1987 gegründeten Organisation „Mercator European Network of Language Diversity Centres“ erwähnt Gerhard Mercator mit keinem Wort. Dennoch scheint sich der Name der Verbindung multilingualer Verbände in Europa, die sich der Erforschung und Bewahrung von europäischen Minderheitssprachen widmet, von dem bekannten Kartographen abzuleiten. Ähnlich wie die Verwendung von „Sokrates“, „Erasmus“, „Comenius“ und „Leonardo da Vinci“ für EU geförderte Austausch- und Lernprogramme, wird Mercator als „Pate“ für Mehrsprachigkeit herangezogen.

Mercator-Océan.fr

Die französische Non-Profit Organisation Mercator Océan observiert kontinuierlich die Veränderung der Weltmeere und Gezeiten, von der Oberfläche bis hin zum Meeresboden, mit Hilfe von Satelliten und Bojen. Zu ihren Aufgaben gehört zudem die Erstellung von digitalen 4d Unterwasserkarten. In der Gründungsgeschichte der Gesellschaft findet sich ein Verweis auf den Namensgeber: „It was christened 'Mercator', in honour of the Flemish cartographer who mapped the world, produced one of the very first atlases and bequeathed one of the most widely-used map projection systems to today's oceanographers”.7Hier wird Mercator als flämischer Kartograph präsentiert und drei herausragende Leistungen gewürdigt: Die Kartographierung der Welt, die Erstellung des ersten Atlas und die Mercator-Projektion. Der Wert letzterer wird hier im kontemporären, nautischen Kontext gesehen.

MercatorNet.com

Die australische Internetseite MercatorNet versteht sich als eine Plattform für die „personenzentrierte“ Diskussion diverser Themenfelder. Der Leitspruch der Seite, „Navigating modern complexities“, scheint einen augenzwinkernden Gegenwartsbezug zu Mercators Kartenwerk herstellen zu wollen. Die Verantwortlichen der Webseite wünschen sich Meinungsaustausche, die auf „logischer Beweisführung“ und nicht auf Emotionen basieren und bieten Interessierten dafür einen scheinbar neutralen Raum: Die Betreuer der Seite verstehen diese als „nicht liberal“ und „nicht konservativ“, und sehen sich als Verfechter der Menschenwürde.8 Mercator selbst findet im Abschnitt „our ideals“ Erwähnung. Unter der Überschrift „Mercator who?“ wird zunächst Mercators Vita mit besonderer Erwähnung seiner Werke vorgestellt, bevor im zweiten Teil ein Mercator-Bild konstruiert wird, welches in dieser Art bislang noch keine Erwähnung gefunden hat: „He lived through the turbulent years of the Reformation and participated in fierce intellectual battles. He was even jailed for seven months on suspicion of being a Lutheran, although it appears that he was actually a good Catholic”.9Die Verfasser dieses Textes scheinen sich ihr Vorbild so formen zu wollen, dass es dem Charakter der Webseite entspricht: Gerhard Mercator, ein intellektueller Debattierer und vor allem, ein (zu Unrecht inhaftierter) „aufrichtiger“ Katholik. Im Abschnitt, der auf die Biographie Mercators folgt, wird der Bezug zwischen Mercators Leben und Werk und der redaktionellen Arbeit der Administratoren von MercatorNet hergestellt: „Mercator's life and work are metaphors for what we aspire to: craftsmanship, setting accurate courses, opening up new worlds and venturing upon stormy, uncharted seas. His maps were accurate in the center and distorted at either side -- a good image of Mercatornet’s editorial policy of balance and accuracy”.10 Hier steht Mercator deutlich für mehr als nur seine Werke. Das Mercator-Bild, welches konstruiert wird, ist das eines „Vor-Bildes“: Er inspiriert zum Entdecken neuer Welten, zum Eingehen von Wagnissen und zur Besinnung auf die Handwerkskunst. Selbst Mercators mathematisch nicht akkurater Kartenprojektion gewinnen die Verantwortlichen der Seite etwas Positives ab: Sie dient als Metapher für die redaktionellen Haltung der Administratoren der Plattform, im Bezug auf Ausgleich und Genauigkeit.

  1. Soziale Netzwerke wie „Myspace“, „StudiVZ“ oder “Facebook“ spiegeln, wie das Internet im Großen, die Interessen der Generation “Web 2.0“ wieder.11

  2. Interaktiv können registrierte Nutzer der Plattform Facebook mit dem Klick auf einen virtuellen Daumen ihre Zustimmung oder Interesse an einem Gegenstand oder einem Thema bekunden. So ist es interessant festzustellen, dass von 750 Millionen aktiven Nutzern12 lediglich 16 Menschen auf der, für Gerhard Mercator angelegten deutschen Seite des sozialen Netzwerkes, „gefällt mir“, und 26 Menschen auf der englischen Seite „like“, geklickt haben (Stand: 15.08.2011). Um einen direkten Vergleich mit anderen Gelehrten zu bieten, sind einige im Folgenden aufgeführt: Galileo Galilei (16.924), Gemma Frisius (4), Sebastian Münster (8), Abraham Ortelius (15), Ptolemy (1000.08, dt. „Ptolemäus“).13 Betrachtet man die Summe der „Klicks“ als Spiegelbild der Bekanntheit der exemplarisch aufgeführten Gelehrten, erzielt Gerhardt Mercator ein deutlich schlechteres Ergebnis.

Aus der Betrachtung diverser Internetauftritte formt sich tatsächlich ein „modernes“ Bild Gerhard Mercators. Es ist das eines Menschen mit weltoffener Haltung, der nach Wissensaustausch strebt. Kurz: Mercator verbindet Altes mit Neuem. Scheint für die Stiftung Mercator und die Mercator School of Management unter Umständen der lokale Bezug zu Mercator eine größere Rolle zu spielen, so ist für die anderen Institutionen die Verknüpfung der von Mercator repräsentierten Werte mit der eigenen Philosophie von größerer Bedeutung.

Abschließend lässt sich eines festhalten: Mercator wird in den angeführten Beispielen als "Leerstelle" begriffen. Sein Name wird nahezu beliebig mit Werten und Einstellungen verknüpft. So ist Mercator einmal Kartograph, dann Wegbereiter einer globalisierten Welt oder ein "guter Katholik". An anderer Stelle wird er sogar als interkulturell operierender „Netzwerker“ präsentiert. Mehr noch: Mercators Koordinaten schaffen eine Grundlage für den weltweiten Austausch von Ideen und Handelswaren. So wird er als indirekter Wegbereiter der Globalisierung verstanden. In solchen Äußerungen spiegelt sich der deutliche Wandel von einem „Mercator der Wissenschaft“ hin zu einem „Mercator der Wirtschaft und Bildung“.

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1 vgl. Meyer, Erik (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0 – Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien. Campus Verlag. Frankfurt, 2009, S.7.

2 vgl. Purcell, Kristen (Hrsg,), Findings: Search and email remain the top online activities - Pew Internet & American Life Project, 2011 (Daten aus den USA).

3 http://www.stiftung-mercator.de/die-stiftung/geschichte.html (15.08.2011).

4 ebd. (15.08.2011).

5 ebd. (15.08.2011); vgl. auch: Pressemappe „Häufige Fragen“ (PDF).

6 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp. Frankfurt, 1985, S. 21.

7 http://www.mercator-ocean.fr/eng/mercator_ocean/societe/history (15.08.2011).

8 http://www.mercatornet.com/info/our_ideals/ (17.08.2011).

9 ebd. (17.08.2011).

10 ebd. (17.08.2011).

11 Gleich, Uli: Nutzung und Funktionen von Social Communities, in: Media Perspektiven, 02/2011, S.115ff.

12 http://www.facebook.com/press/info.php?statistics (13.08.2011).

13 Alle Daten: Stand 15.08.2011.