Geschichte der Zweigeschlechtlichkeit
Frauen und Männer als voneinander sich fundamental unterscheidende Wesen zu betrachten, ist ein vergleichsweise junges Phänomen im europäischen Raum - es hat sich im 18. Jahrhundert entwickelt. Heute zeigt sich die Polarisierung vor allem in der Teilung der Arbeit: Überspitzt formuliert wird Frauen aufgrund ihrer „Natur" die Sorge um Haushalt, Kindererziehung und die Pflege der Alten zugewiesen, Männer hingegen eigneten sich für die Arbeit außerhalb des Hauses. Sie haben qua ihrer vermeintlich natürlichen Eigenschaften die Ernährer zu sein. Trotz eines enormen gesellschaftlichen Wandel gelten diese Zuschreibungen zumindest implizit noch. Dies zeigt sich in der Verteilung von Arbeitszeit, der geschlechtsspezifischen Besetzung von Berufen sowie der Entlohnung von Erwerbsarbeit.
Abschied vom Eingeschlechtermodell
Bis etwa zum 18. Jahrhundert war die Vorstellung vorherrschend, Frauen und Männer hätten ein Geschlecht, beim Mann sei dies nach außen, bei der Frau nach innen gestülpt. Der Historiker Thomas Laqueur zeichnet in seiner Studie (Laqueur, Thomas: Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge 1990.) die Entwicklung vom Eingeschlechter- zu Zweigeschlechtermodell nach: wie etwa bestimmte Körperflüssigkeiten, anatomische Anordnungen (innen/außen) sowie Metaphern (heiß/kalt) in der Bestimmung der Menschlichkeit im Vordergrund standen und nach und nach an Bedeutung verloren. Auch war es möglich, dass Menschen im Verlauf ihres Lebens das Geschlecht wechseln konnten, in dem sie sich z. B. entsprechend kleideten. Mann und Frau galten als dasselbe, als das eine Menschengeschlecht - „nur" galt der Mann hingegen als der „vollkommenere" Part. Der "Unterschied" zwischen Frauen und Männern war also ein gradueller.
Abschied vom "ganzen Haus"
Von einer Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, zumindest in europäischen Gesellschaften, konnte dennoch nicht die Rede sein. Die Gesellschaft war ständisch organisiert, Zugang zu höheren gesellschaftliche Positionen war in der Regel nicht möglich. In einen Stand (z.B. Bauern) wurde man hineingeboren.
Die Organisation der Familie unterschied sich deutlich von der Kleinfamilie wie wir sie heute kennen - sie hat sich erst im 18. bzw. 19. Jahrhundert entwickelt. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte das Modell des „ganzen Hauses" vor, Produktionsarbeit (Herstellen von landwirtschaftlichen Produkten oder Handwerk) und Reproduktionsarbeit (Aufzucht von Kindern) wurden unter einem Dach organisiert. Die Stellung und Rolle der Frau war über ihre soziale Position, insbesondere innerhalb des Hauses, definiert. Ihre Position wurde der ehelichen, väterlichen und herrschaftlichen Gesellschaft zugeordnet. Die erforderlichen Tugenden waren hier Gehorsam gegenüber dem Ehemann sowie Tüchtigkeit im Wirtschaften und Arbeiten. Von vermeintlich „anderen Charaktereigenschaften" der Frau war hier nicht die Rede. Im Vordergrund standen Rechte und Pflichten in Bezug auf ihren Stand in der Gesellschaft und im Haus.
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Polarisierung
Die Historikerin Karin Hausen zeichnet in ihrem 1976 erstmalig erschienenen Aufsatz „Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere'" die Entwicklung nach. Sie veranschaulicht dies an Definitionen in einschlägigen Lexika.
1735 wurde „Frau oder Weib"
als eine „verehelichte Person (...) ihres Mannes Willen und Befehl unterworfen" verstanden, welche die „Haushaltung führet, und in selbiger ihrem Gesinde vorgesetzt ist." (Hausen S. 370).
Im Text des Brockhauses von 1815 wird eine qualitative Veränderung deutlich:
In „der Form des Mannes (offenbart sich) mehr die Idee der Kraft, in der Form des Weibes mehr die Schönheit... Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Plänen geneigter; unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechendem dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an, Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muss erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte und List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben, dieses dem stillen häuslichen Zirkel. Der Mann arbeitet im Schweiße seines Angesichtes und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immerdar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit. Der Mann stemmt sich dem Schicksal selbst entgegen, und trotzt schon zu Boden liegend noch der Gewalt; willig beugt das Weib sein Haupt und findet Trost und Hilfe noch in seinen Tränen." (Brockhaus 1815 in Hausen 1976, S. 366)
Männern und Frauen wurden unterschiedliche, komplementär zueinander stehende Charaktere zugesprochen - oder in der Sprache und den Stereotypen der Gegenwart: Frau und Mann unterscheiden sich psychisch, sind vom Mars oder der Venus, können einparken oder auch nicht, wollen nur reden oder lieber schweigen...
Was ist der Grund für die Veränderung? Eine einfache Erklärung gibt es nach Karin Hausen nicht - die Gründe sind mehrschichtig, anzusiedeln in einem Wandel der Ideengeschichte (Humanismus, Reformation), damit verbundenem Interesse am Individuum sowie der Infragestellung theologischer Weltbilder und Herrschaftsordnungen. So drohte die soziale Bedeutung der Familie zurückgedrängt zu werden. Dies erfolgte in einer „kritischen Zeit zwischen 1780 und 1810" (Hausen, S. 371). Die Auseinandersetzung spiegelte sich im z. B. literarischen Nachdenken über die Bedeutung der Ehe. Liebe als Konstrukt, gedacht als Verschmelzung der Ehegatten wurde ein bedeutsames Thema. Die Emanzipation der Menschen aus gegebenen Herrschaftsverhältnissen war außerdem von zentraler Bedeutung, was in der französischen Revolution deutlich wurde.
Quelle: Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von
Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.
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Folgen
Diese Entwicklungen hatten, so Hausen, weitreichende Konsequenzen für die soziale und häusliche Position von Frauen:
1) Zum einen „war die Forderung nach Emanzipation der Frauen aus dem ehemännlichen bzw. väterlichen Regiment und deren mit den Männern gleichberechtigte Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Diese Forderung wurde im Zuge der bürgerlichen Revolution erhoben und sogleich als Bedrohung der etablierten Ordnung und speziell der Familienverhältnisse eingeschätzt."
2) Zum anderen galt es eine neue Form der „Legitimation für die traditionellerweise auf die Familie eingeschränkten und dem Ehemann untergeordneten Aktionsspielraum der Frau" zu finden." (Hausen, S. 372)
Zusammengefasst ging es darum, die ideengeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auszusöhnen mit den als wünschenswert erachteten Ehe- und Familienverhältnissen (Sorge und Arbeit um Kinder und den Ehemann). Naturbegabungen, die eine vernünftige Persönlichkeit entwickeln sollten, wurden herausgearbeitet. Dies bedeutete die Aufspaltung und gleichzeitige vermeintliche "Harmonisierung" der menschlichen Persönlichkeit in männlich und weiblich. Der Gegensatz sollte zwar eine Gleichwertigkeit implizieren, faktisch bedeutete dies zugleich eine Zuweisung von gesellschaftlichen Positionen und Orten (Haus/Öffentlichkeit etc.) sowie der Einschränkung von Teilhabechancen (Politik, höhere Bildung, eigenes Geld).
Quelle: Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von
Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.
Bildnachweis: Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive), Bild 183-E0711-0011-001
Was sich nach einer Verschwörung der Männer gegen die Frauen klingt, war eine mehrdimensionale Bewegung, die sowohl von beiden Geschlechtern mitgetragen jedoch auch angefochten wurde. Die Anzahl der Männer, die dagegen anfochten, war jedoch kleiner als jene der Frauen. Auch diente und dient das Bild der sich gegenüberstehenden und ergänzenden Geschlechtscharaktere als Leitmotiv eines Teiles der Frauenbewegung und des Differenzfeminismus. Sie forderten eine Anerkennung der Verschiedenheit, die sich in gleichen Teilhaberechten widerspiegelt.
Die sich im 19. Jahrhundert zunehmend formierenden Frauenbewegungen verfolgten verschiedene Ziele. Es gab also nicht "die" Frauenbewegung und es entwickelten sich verschiedene Feminismen. Vieles was heute selbstverständlich erscheint, wäre ohne sie nicht erreicht worden.
Weitere Informationen zur Geschichte und Hintergründen der Frauenbewegungen finden Sie in einem Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung.
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